Universiteit Gent
Academiejaar 2009-2010
„Kein Anfang ohne Gedächtnis. Kein
Gedächtnis ohne Erzählen.“ Eine Untersuchung des Problems der zuverlässigen Erinnerung in
Timms Erinnerungsbüchern Am Beispiel meines Bruders und Der
Freund und der Fremde.
Promotor: Dr. Elke Gilson Verhandeling voorgelegd aan de Faculteit Letteren en Wijsbegeerte
voor het behalen van de graad van
Master in de Taal- en Letterkunde:
Duits-Scandinavistiek
door
Marijke Aspeslagh
Dankeswort
Ich möchte mich an erster Stelle bei meiner Promotorin Dr. Elke Gilson bedanken. Sie hat
mich immer mit großer Geduld und Flexibilität betreut und mich ihre umfassenden
Kenntnisse in der Gedächtnisliteratur genießen lassen. Ihre kritischen Bemerkungen und
interessanten Vorschläge haben mich angeregt, die Arbeit besser und deutlicher zu machen.
Ich danke auch meinen Eltern; meiner Mutter für ihr Zutrauen, dass ich meine Arbeit zeitig
fertigschreiben würde, und meinem Vater für seine Besorgnis, dass ich sie nicht zeitig
fertigschreiben würde, denn auf diese Weise hat er mich zu mehr gezielter und effizienter
Arbeit motiviert. Ich bedanke mich auch bei meiner Schwester, für ihre manchmal zu langen,
aber immer inspirierenden Besuche bei meinem Studierzimmer; bei meinen Freunden, um mir
die notwendige Erholung und immer wieder neue Energie zu besorgen, und insbesondere bei
Mathieu Berteloot, für seine willkommene Hilfe bei dem Lay-out machen dieser Arbeit.
Schließlich möchte ich Uwe Timm danken, denn er hat mir gezeigt, wie wichtig es ist, einen
kritischen Blick gegenüber den eigenen und fremden Erinnerungen zu wahren und sich nie
mit Selbstverständlichkeiten zu begnügen.
Inhalt
1. EINLEITUNG 1
2. DIE GATTUNGSFRAGE 4
2.1 Am Beispiel meines Bruders 4 2.1.1 Eine Autobiographie? 4 2.1.2 Die Techniken zur Problematisierung der Gattungsfrage 7
2.2 Der Freund und der Fremde 9 2.2.1 ‚Eine Erzählung’ 9 2.2.2 Das Problem der Literarisierung 13
3. DAS SCHREIBEN: EINE SUCHE 17
3.1 Der Entstehungsprozess von Am Beispiel meines Bruders und Der Freund und der Fremde 17 3.1.1 Der Schreibanlass 18 3.1.2 Versuche zum Schreiben 20 3.1.3 Was macht das Schreiben schließlich möglich? 22
3.2 Individuelles und kollektives Gedächtnis 25 3.2.1 Gedächtnistheoretischer Hintergrund: die vier Gedächtnisformationen nach Aleida Assmann 25 3.2.2 Die Erinnerung in Am Beispiel meines Bruders 29
3.2.2.1 Die Gefahr des glättenden Erzählens 30 3.2.2.2 Arten von Erinnerung 32
a) Das Familiengedächtnis 32 Die individuelle Erinnerung 32 Der Bruder aus der Sicht der Eltern 36 Die festgeschriebene Erinnerung 38 Bilder 40
b) Das kollektive Gedächtnis 42 3.2.3 Die Erinnerung in Der Freund und der Fremde 45
3.2.3.1 Erzählen und das Heil des Vergessens 45 3.2.3.2 Arten von Erinnerung 47
a) Das Generationen – und kollektive Gedächtnis 47 b) Das individuelle Gedächtnis 50
Die eigene Erinnerung 50 Ergänzungen von Fremden 52
c) ‚Festgeschriebenes’ 54 d) Die zuverlässige Erinnerung? 57
4. DIE BEDEUTUNG DER ERINNERUNGSARBEIT 59
4.1 Von kommunikativem zu kulturellem Gedächtnis 59 4.1.1 Bücher als Beitrag zum kulturellen Gedächtnis 59 4.1.2 Die Abwehr der festgeschriebenen Kategorien 61 4.1.3 Exemplifizierung und Individualisierung 66
4.2 Das Schreiben als Selbstsuche 69
5. SCHLUSS 72
PRIMÄRLITERATUR 75
SEKUNDÄRLITERATUR 75
1
1. Einleitung „Kein Anfang ohne Gedächtnis. Kein Gedächtnis ohne Erzählen“
1 stellt Uwe Timm 2009 in
seinen poetologischen Vorlesungen im Adorno-Hörsaal der Frankfurter Goethe-Universität
fest. Timm deutet hier einerseits auf die unlösbare Verbindung zwischen Erzählen und
Erinnern hin: Ohne Erzählungen, mündliche oder schriftliche, können Erinnerungen nicht
beibehalten werden. Andererseits sind Erinnerungen eine Voraussetzung dafür, überhaupt mit
dem Erzählen anfangen zu können.
Aus dem oben Zitierten kann gefolgert werden, dass Uwe Timm das Erzählen, das
Schreiben, zugleich immer auch als eine Art von Erinnerungsarbeit betrachtet, sei es das sich
Erinnern an das eigene Leben oder an das von anderen. In seinen Büchern versucht Timm,
das Leben bestimmter Personen zu rekonstruieren. Viele dieser Personen, z. B. „den Onkel,
der in der Johannisnacht als Kartoffelkenner auftritt, den Cousin, der das Vorbild für den
Hochstapler im Kopfjäger abgab, die Tante Brücker aus der Currywurst“2 hat es wirklich
gegeben. Trotz der autobiographischen Züge seiner Figuren, treten sie immer in fiktiven
Geschichten auf. Anders ist es in seinen zwei kürzlich erschienen Erinnerungsbüchern Am
Beispiel meines Bruders3 und Der Freund und der Fremde,
4 die als autobiographische
Geschichten eingestuft werden.5
Ziel meiner Untersuchung ist es, herauszufinden, in welcher Art und Weise Uwe Timm
in diesen zwei Büchern versucht, das Leben von zwei ihm sehr nahen, aber zugleich sehr
entfernten Personen zu rekonstruieren. In Am Beispiel meines Bruders hat Timm die Absicht,
den Lebenslauf des Bruders, der sich 1943 freiwillig zur Waffen-SS gemeldet hat und einige
Monate später an schweren Verletzungen gestorben ist, zu rekonstruieren. Auch wenn die
Eltern über die Grausamkeiten, wofür die SS verantwortlich ist, informiert sind, ist der Bruder
nach wie vor in ihrer Erinnerung als Helden erhaben. Der Bruder wird Timm, der beim Tod
des Bruders nur drei Jahre alt war, als Vorbild aufgedrängt. Timm will herausfinden,
1 Uwe Timm: Von Anfang und Ende. Über die Lesbarkeit der Welt. Köln: Kiepenheuer & Witsch 2009, S. 64.
2 Timm zit. n. Ulrich Greiner: „Warum Uwe Timm ‚Schwaan‟ mit zwei a schrieb“. In: Die Zeit, 30.03.2010.
3 Uwe Timm: Am Beispiel meines Bruders. München: Deutscher Taschenbuch Verlag 2007 (2003).
4 Uwe Timm: Der Freund und der Fremde. München: Deutscher Taschenbuch Verlag 2007 (2005).
5 Vgl. u.a. Rüdiger Bernhardt: Am Beispiel meines Bruders: Erläuterungen zu Uwe Timm. Hollfeld: Bange
Verlag 2008, S. 23, Clemens Kammler: Uwe Timm, Am Beispiel meines Bruders, Oldenbourg Interpretation
Band 107. München: Oldenbourg 2006, S. 21, Friedhelm Marx: “Erinnerung, sprich. Autobiographie und
Erinnerung in Uwe Timms Am Beispiel meines Bruders”. In: Erinnern, Vergessen, Erzählen: Beiträge zum Werk
Uwe Timms. Hg. von Friedhelm Marx. Göttingen: Wallstein 2007, S. 27-35, hier S. 27, Steffen Martus: „Also
man lacht sich wirklich tot. Teilnehmer- und Beobachtungsperspektiven auf Uwe Timms 68er-Romane Heißer
Sommer und Der Freund und der Fremde“. In: Keiner kommt davon: Zeitgeschichte in der Literatur nach 1945.
Hg. von Erhard Schütz und Wolfgang Hardtwig. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2008, S. 192-215, hier S.
197.
2
inwieweit dieses idealistische Bild des Bruders, das ihm von den Eltern aufgedrängt worden
ist, zuverlässig ist. In Der Freund und der Fremde wird das Leben Benno Ohnesorgs
beschrieben, bevor dieser 1967 durch Erschießung auf der Anti-Schah-Demonstration getötet
wurde und auf diese Weise die Ikone der Studentenrevolution wurde. Uwe Timm hat von
1961 bis 1963 zusammen mit Ohnesorg am Braunschweig-Kolleg das Abitur nachgeholt und
hat mit ihm während dieser zwei Jahre eine innige Freundschaft aufgebaut. Anders als im
Bruderbuch, verfügt er somit über eigene Erinnerungen für die Rekonstruktion von Ohnesorgs
Leben. Auch in diesem Fall aber, ist ihm – diesmal von der Öffentlichkeit – ein anderes Bild
des Freundes aufgedrängt worden, dessen Zuverlässigkeit fragwürdig ist und Timm hat es
sich zum Auftrag gemacht, kritisch an dieses Bild heranzugehen.
An erster Stelle ist es interessant, nachzugehen, in welche Gattung die zwei Texte
eingestuft werden können. Aus welchen Gründen gelangen Kritiker zu der Schlussfolgerung,
dass es sich hier um autobiographische Texte handelt? Hat Uwe Timm mit diesen Büchern
wirklich Autobiographien schreiben wollen? Wenn er das gewollt hat, muss man eingestehen,
dass die Texte sich nicht als klassische Autobiographien deuten lassen. Ist das vielleicht eine
bewusste Erzählstrategie des Schriftstellers? Es hat den Anschein, dass in Am Beispiel meines
Bruders unterschiedliche Techniken zur Problematisierung der Gattungsfrage verwendet
werden, und auch in Der Freund und der Fremde wird Verwirrung über die Gattung gestiftet,
schon indem der Text ausdrücklich als ‚eine Erzählung‟ bezeichnet wird. Warum Timm mit
bestimmten Techniken die Gattungsfrage problematisieren will, wird deutlich, wenn
untersucht wird, wie Timm bei der Rekonstruktion der Lebensläufe des Bruders und des
Freundes verfährt.
In einem zweiten Schritt, worauf das Hauptgewicht der Untersuchung liegt, wird
nachgegangen, wie Timm genau verfährt, um kritisch an das ihm vermittelten Bild des
Bruders und Benno Ohnesorgs heranzugehen. Erstens wird erforscht, wie das
Entstehungsprozess der Bücher aussieht: Was hat Timm zum Schreiben dieser Texte
getrieben? Warum sind sie erst Jahre nach den Geschehnissen geschrieben worden, und was
hat ermöglicht, dass Timm die Texte schließlich doch schreiben könnte? Zweitens wird
mithilfe Aleida Assmanns Gedächtnistheorien in Der lange Schatten der Vergangenheit6
untersucht, inwieweit die in Assmanns Studie dominante Zweiteilung zwischen dem
individuellen und dem kollektiven Gedächtnis auf Timms Erinnerungsbüchern angewendet
werden kann. Wie sich in Assmanns Gedächtnisstudie herausstellt, ist es besser, das
6 Aleida Assmann: Der lange Schatten der Vergangenheit: Erinnerungskultur und Geschichtspolitik. München:
Beck 2006.
3
inviduelle Gedächtnis nicht zu streng des kollektiven Gedächtnisses zu unterscheiden, denn
die individuelle Erinnerung ist immer schon kommunikativ (und somit sozial). Statt die
Zweiteilung zwischen dem individuellen und kollektiven Gedächtnis, schlägt sie eine mehr
nuancierte Einteilung in verschiedenen Gedächtnisformationen vor. Es wird untersucht
werden, welche Arten von Erinnerung Timm bei der Rekonstruktion von einem mehr
zuverlässigen Bild des Bruders und des Freundes in Anspruch nimmt, ob diese Erinnerungen
ihm direkt oder indirekt vermittelt worden sind, und inwieweit sie ihm bei der Suche nach
dem Bruder und dem Freund helfen können.
Ein dritter Schritt dieser Arbeit besteht darin, zu erforschen, was die Bedeutung der
Erinnerungsarbeit, die Timm in seinen Büchern durchführt, sein könnte. Es ist schon deutlich,
dass er kritisch an die ihm vermittelten Erinnerungen herangehen will, aber er scheint mit
seinen Texten auch noch etwas Anderes zu beabsichtigen: Die Transformation des
kommunikativen, fließenden Gedächtnisses in ein festes, kulturelles Gedächtnis. Indem die
Lebensgeschichten des Bruders und des Freundes aufgeschrieben werden, wird das Bild, das
in den beiden Erinnerungsbüchern ihnen geschildert wird, auch festgeschrieben. Es ist
interessant, einmal nachzugehen, wie der Bruder und der Freund – obwohl Timm die Absicht
zu haben scheint, den Bruder zum Exempel und den Freund von Ikone zu Individuum zu
machen – nicht zu bestimmten Kategorien festgeschrieben werden. Weiter scheint die
Erinnerungsarbeit nützlich, indem sie neben einer Suche nach dem Bruder und Ohnesorg auch
eine Selbstsuche für Timm ist. Wie das möglich ist und welche Ergebnisse diese Suche hat,
wird in einem letzten Punkt dieser Arbeit nachgeforscht.
4
2. Die Gattungsfrage Wichtig für die gesamte Untersuchung ist es, die Texte Am Beispiel meines Bruders und Der
Freund und der Fremde zuerst einer bestimmten Gattung zuzuordnen. Obwohl diese zwei
Bücher – zusammen mit dem 1989 erschienenen Vogel friss die Feige nicht, später Römische
Aufzeichnungen – u.a. in den in der Einleitung erwähnten Werken als Timms
autobiographische Werke betrachtet werden, ist es nicht so selbstverständlich, diese Texte
einfach als Autobiographie zu bezeichnen. Ich möchte herausfinden, inwieweit die Bücher als
autobiographisch betrachtet werden können, und ob eine gezielte Erzählstrategie dafür
verantwortlich ist, dass eine gattungstechnische Einordnung dieser Texte problematisch wird.
2.1 Am Beispiel meines Bruders
2.1.1 Eine Autobiographie?
Rüdiger Bernhardts Beschreibung von Am Beispiel meines Bruders in Königs Erläuterungen
deutet auf den vielseitigen Charakter des Textes hin: „Er ist Erzählung und Essay, Sachbuch –
auf seiner Bestsellerliste setzte ‚Der Spiegel‟ das Buch auf die Sachbuchliste – und
Autobiographie, Familiengeschichte und Geschichtsabriss, Kriegsbericht und
Dokumentation“.7 Man kann dem Text tatsächlich all diese Eigenschaften zuschreiben und
das aufgrund der besonderen Erzählweise, die benutzt wird. Die Familiengeschichte wird
dargestellt anhand vieler unterschiedlicher Textsorten, die durcheinander montiert sind. Diese
Erzählweise kann man als Montagetechnik bezeichnen. Das Buch vermittelt die Erfahrungen
und Träume der Ich-Figur, Erinnerungen und Briefe der Eltern und Schwester, enthält
Tagebucheinträge und Feldpostbriefe des Bruders, Berichte über den Kriegsverlauf von
Befehlshabern wie Himmler und Zitate von Primo Levi, Christopher Browning, Søren
Kierkegaard u.a. Es hat den Anschein, dass Bernhardt Am Beispiel meines Bruders mit Recht
diesen unterschiedlichen Genres zuordnet.
Vor allem interessiert mich, inwieweit der Text mit den Kriterien einer Autobiographie
übereinstimmt und das im Hinblick auf die Erinnerungsproblematik, die ich im folgenden
Schritt der Arbeit behandeln werde.8 Philippe Lejeune hat eine Autobiographie definiert als
einen „rückblickenden Bericht in Prosa, den eine wirkliche Person über ihr eigenes Dasein
erstellt, wenn sie das Hauptgewicht auf ihr individuelles Leben, besonders auf die Geschichte
7 Bernhardt: Am Beispiel meines Bruders: Erläuterungen zu Uwe Timm, S. 5.
8 Vgl. dazu insbesondere 3.2.2.1 und 3.2.3.1
5
ihrer Persönlichkeit legt“.9 Da es in Timms Buch so viele unterschiedliche Textsorten gibt,
erfahren wir als Leser die Geschichte aus verschiedenen Perspektiven. Es würde daher zu
kurz greifen, zu behaupten, dass nur eine Person diese Geschichte erzählt. Auch kann nicht
behauptet werden, dass der Hauptakzent auf das Leben der Ich-Figur liegt. Wie der Titel
schon zeigt, ist es eher der Bruder, von dem die Geschichte handelt. Seine Tagebucheinträge,
Briefe und Fotos dominieren die Geschichte, nicht die der Ich-Figur. Weiter wird auch den
anderen Familienmitgliedern eine große Anzahl von Abschnitten gewidmet. Es ist also
schwer zu behaupten, dass das individuelle Leben der Ich-Person betont wird.
Außerdem ist die Frage, ob die Ich-Figur sich auf eine „wirkliche“ Person bezieht, ob
sie mit Uwe Timm, dem Schriftsteller, identisch ist. Lejeune deutet darauf hin, dass es für
eine Autobiographie „der nachweisbaren Identität zwischen Autor, Erzähler und Figur“10
bedarf. Im Text ist nachzulesen, dass die Ich-Figur, wenn sie beim Reisen an Grenzen
kommt, und ihren Namen in die Kästchen auf die Einreiseformulare einträgt, „Uwe Hans
Heinz“11
verwendet, also denselben Namen wie den des Autors. Auf diese Weise stellt der
Autor eine Verbindung zwischen sich selbst, dem Autor Uwe Timm, dessen Name der
Leser auf dem Titelblatt wiederfinden kann, und der Ich-Figur dar. Auch in den
Feldpostbriefen des Bruders zeigt sich diese Verbindung. Manchmal erwähnt der Bruder
Uwe nur beiläufig: „[...] schreibe der Mutti, sie soll keine Päckchen mehr schicken [...] Soll
lieber unser süßer kleiner Uwe das Zeug essen“.12
Einmal gibt es sogar einen ganzen Brief,
der an die Ich-Figur, „Lieber Uwe!“,13
gerichtet ist. Die Identität zwischen Autor, Erzähler
und Figur ist also tatsächlich nachweisbar und das an sich ist schon die Voraussetzung
dafür, dass ein Text als autobiographisch bezeichnet werden kann. Wenn der Name der
Figur mit dem des Autors identisch ist, gibt es laut Lejeune zwei Möglichkeiten: Entweder
gibt es keinen Pakt, was bedeutet, dass der Titel und das Vorwort nichts über den
autobiographischen Bezug voraussagen, oder es gibt einen biographischen Pakt,14
was
darauf hindeutet, dass der Autor „in einem Einleitungspakt ausdrücklich seine Identität mit
dem Erzähler [...]“15
erklärt hat. Unter Einleitungspakt sei der Titel, das Vorwort und der
Klappentext zu verstehen. Das Autobiographische ist schon dadurch bestätigt, dass es die
9 Philippe Lejeune: „Der autobiographische Pakt“. In: Die Autobiographie: zu Form und Geschichte einer
literarischen Gattung. Hg. von Günter Niggl. Darmstadt : Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1989, S. 214-257,
hier S. 215. 10
Lejeune: Der autobiographische Pakt, S. 217. 11
Timm: Am Beispiel meines Bruders, S. 19. 12
Timm: Am Beispiel meines Bruders, S. 24. 13
Timm: Am Beispiel meines Bruders, S. 55. 14
Vgl. Lejeune: Der autobiographische Pakt, S. 236-237. 15
Lejeune: Der autobiographische Pakt, S. 235.
6
Namensidentität gibt, aber auch der autobiographische Pakt liegt vor: Im Vorwort wird der
familiale Bezug zwischen dem Autor und der Bruder-Figur im Buch dargestellt, indem der
Name des Bruders, Karl-Heinz Timm, auftaucht. Wenn das für den Leser nicht reicht, sich
zu einer autobiographischen Lektüre zu entscheiden, gibt es noch den deutlichen Hinweis
auf die Gattung, die der Autor im Titel Am Beispiel meines Bruders anhand des
Possessivpronomens gibt: Die Verbindung zum eigenen Leben wird deutlich hergestellt. Es
gibt also ausreichend textuelle Hinweise, die die Identität des Autors mit der Figur
bestätigen, und durch die der Leser auf einem autobiographischem Pakt schließen kann.
Auch verschiedene außertextuelle Argumente tragen zu einer autobiographischen
Lektüre des Textes bei. Wenn man z. B. die Biographie des Autors in Königs
Erläuterungen16
und die der Ich-Person miteinander vergleicht, gibt es nur
Übereinstimmungen. Auch Äußerungen zu dieser Frage von Uwe Timm selber in
Interviews und Vorlesungen passen zum autobiographischen Pakt. So hat er auf die Frage,
warum er keinen Roman über seine Familie geschrieben hat, in einem Interview
geantwortet: „Das hätte ich nicht gekonnt, das war mir sehr früh klar. Ich konnte mir
einfach nicht vorstellen, meine Eltern zu fiktionalisieren. Ich wollte strikt trennen zwischen
Fiktionen und dem, was wirklich war“.17
Da Timm so sehr betont, dass er nicht
fiktionalisieren will, wäre es nicht konsequent, wenn er sich selbst in dieser Ich-Figur
fiktionalisiert hätte. In seinen letzten poetologischen Vorlesungen gesteht er auch ein, dass
drei seiner Bücher „diesen autobiographischen Zugriff“18
haben. Gemeint sind Römische
Aufzeichnungen, Am Beispiel meines Bruders und Der Freund und der Fremde.
Es gibt bestimmt ausreichend Gründe, anzunehmen, dass die Ich-Figur sich auf eine
„wirkliche“ Person bezieht, und dass es sich hier somit um eine Autobiographie handelt.
Daraus könnte man folgern, dass die Ich-Figur ihr Leben mitteilt, wie es wirklich gewesen
ist, denn eine Autobiographie erzwingt, wie Uwe Timm selber bemerkt „eine größere Nähe
zum ursprünglich Erlebten und zum Erinnerten“.19
Doch kann man hier wegen der oben
dargestellten Abweichungen von den klassischen Merkmalen der Autobiographie, nicht
von einer reinen Autobiographie sprechen. Die Bezeichnung „autobiographischer
Randtext“20
oder „Alloautobiographie“,21
wie Clemens Kammler sie nach Torsten
16
Vgl. Bernhardt: Am Beispiel meines Bruders: Erläuterungen zu Uwe Timm, S. 7-14. 17
Timm zit. n. Kammler: Uwe Timm, Am Beispiel meines Bruders, S. 107. 18
Timm: Von Anfang und Ende, S. 72. 19
Timm: Von Anfang und Ende, S. 81. 20
Martina Wagner-Egelhaaf: Autobiographie. Stuttgart: Metzler 2000, S. 61 zit. n. Kammler: Uwe Timm, Am
Beispiel meines Bruders, S. 21.
7
Pflugmacher in Oldenbourg Interpretationen vorschlägt, scheint daher für diesen Text
geeigneter. Trotzdem will ich versuchen, die Bezeichnungen ‚Ich-Figur‟ und ‚Uwe Timm‟
getrennt zu verwenden, um so einen Unterschied zu machen zwischen der Ich-Figur, die an
dieser Geschichte teilnimmt und dem Autor, der sich selbst in dieser Geschichte inszeniert
hat, und der das Formale des Textes kontrolliert.
2.1.2 Die Techniken zur Problematisierung der Gattungsfrage
Wie sich oben schon herausgestellt hat, ist es nicht einfach, die Geschichte
gattungstechnisch einzuordnen. Es ist, als ob Timm – auch wenn er eingesteht, mit Am
Beispiel meines Bruders eine Autobiographie geschrieben zu haben – bewusst die
Gattungsfrage kompliziert machen möchte, als ob er mit verschiedenen Techniken
vermeiden will, dass man den Text einfach als Autobiographie betrachtet.
Ein erstes erzähltechnisches Verfahren sind die vielfältigen Perspektivwechsel, die
oben schon erwähnt worden sind. Es ist nicht falsch, hier von einem Ich-Erzähler zu
sprechen, denn die Ich-Person erzählt tatsächlich von ihrem Leben und demjenigen der
Familie. Man muss aber darauf achten, dass die Geschichte nicht nur aus der Sichtweise
des Ich-Erzählers erzählt wird: Die vielen verschiedenen Textsorten lassen auch andere zu
Worte kommen, und auch sie erzählen die Geschichte mit. Auf diese Weise stiftet Timm
Verwirrung über die Gattung: In einer klassischen Autobiographie gibt es nur einen
zentralen Erzähler, die Ich-Figur.
Eine weitere Technik, die das Bestimmen des Genres schwierig macht, ist die Art und
Weise, in der Timm sich selbst bezeichnet. Ich habe schon gezeigt, dass die Ich-Person und
Timm aufgrund von textuellen Hinweisen als miteinander identisch betrachtet werden
können. Doch bezeichnet Timm sich in gewissen Ausschnitten nicht als ‚ich‟, sondern ist
plötzlich von dem ‚Jungen‟, dem ‚Kind‟ oder dem ‚Nachkömmling‟ die Rede: „Der Junge
war zu spät gekommen und hatte, was er besorgen sollte, vergessen“.22
Hier gibt es nicht
länger eine Ich-Perspektive. Es ist scheinbar ein Erzähler, der außerhalb der Geschichte
steht, der dem Leser hier dieses Detail aus der Kindheit Uwe Timms mitteilt. Wo Timm
zuerst noch die Verbindung zwischen der Ich-Figur und sich selbst deutlich machte,
versucht er hier eine Distanz zwischen der Ich-Figur, die damals zu spät kam und sich
21
Torsten Pflugmacher: “Abstand gestalten. Erinnerte Medien und Erinnerungsmedien in der Autobiographie
seit 1989”. In: Deutschsprachige Gegenwartsliteratur seit 1989. Zwischenbilanzen – Analysen –
Vermittlungsperspektiven. Hg. von Clemens Kammler und Torsten Pflugmacher. Heidelberg: Synchron Verlag
2004, S. 109-126, hier S. 124 zit. n. Kammler: Uwe Timm, Am Beispiel meines Bruders, S. 21. 22
Timm: Am Beispiel meines Bruders, S. 144.
8
selbst, dem Autor, der Jahre später diesen Text schreibt, darzustellen. Im Kontext wird es
dann deutlich, dass Timm mit diesem ‚Jungen‟ einfach sich selbst gemeint hat.
Auch im folgenden Zitat scheint zuerst ein allwissender Erzähler die Erzählfunktion
von der Ich-Figur übernommen zu haben: „Und der Nachkömmling? Mittelblond, die
Gestalt des Vaters, ähnlich ihm auch in der Kopfform, im Haaransatz, dem Haarwirbel, den
Händen, aber die Augen der Mutter, braun – ich“.23
Nach der Beschreibung des
„Nachkömmlings“ aber, taucht dann wieder dieses „ich“ auf: Die Erzählperspektive
wechselt noch im selben Satz. Manchmal erscheint Timm somit als aktiver Teilnehmer an
der Geschichte, nach Genettes Erzähltheorie als intradiegetischer Erzähler,24
manchmal
versucht er sich von seiner Geschichte zu distanzieren.25
Außerdem fällt auf, dass Timm schon bevor er die Bezeichnung „Junge“ für sich
selbst verwendet, den Bruder als „Junge“ bezeichnet: „Seltsam war an dem Jungen, daß er
hin und wieder in der Wohnung verschwand“.26
Zuerst ist fraglich, ob Timm hier sich
selbst oder den Bruder beschreibt, aber wenn man weiterliest, wird deutlich, dass es sich
um den Bruder handelt: „In der Zeit war der Bruder nicht zu bewegen, draußen zu
spielen“.27
Es ist, als ob er die Ähnlichkeit zwischen ihm und dem Bruder auf diese Weise
hervorheben will. Sowohl er als auch der Bruder sind damals dieser Junge gewesen, sind
Kind derselben Eltern. Gerade das ist problematisch: Wie konnte der Bruder, der von
denselben Eltern erzogen worden ist, freiwillig der SS beitreten? Für Timm wäre es
einfacher, sich von seinem Bruder zu distanzieren, aber dann verpasst er zugleich auch die
Möglichkeit, je Einblick in das Wesen des Bruders zu bekommen. Gerade die Ähnlichkeit
zwischen ihnen ermöglicht Einsicht: Da Timm aus eigenen Erfahrungen kaum etwas über
den Bruder weiß, kann er dadurch, dass er seine eigene Geschichte beschreibt und diese der
des Bruders angleicht, leichter die Geschichte des Bruders rekonstruieren.
Das Wechseln der Perspektive, sowohl durch das Einmontieren von Texten von
anderen, als auch durch den Wechsel von Ich-Erzähler zu scheinbar allwissendem Erzähler,
zeigt, dass die Ich-Figur sich von ihrer Geschichte distanziert. Dabei helfen auch die vielen
kursiv gedruckten Sätze. In ihnen kann man wieder die Diskrepanz zwischen dem Eigenen
und dem Fremden erblicken. Viele Kursivsätze sind Sätze, die auch in anderen Texten von
23
Timm: Am Beispiel meines Bruders, S. 48. 24
Vgl. Jürgen Pieters: Beste lezer, Een inleiding in de algemene literatuurwetenschap. Gent: Academia Press
2007, S. 136. 25
Warum Timm versucht, eine Distanz zur eigenen Geschichte zu wahren, wird unten in 3.2.2.1 verdeutlicht. 26
Timm: Am Beispiel meines Bruders, S. 13. 27
Timm: Am Beispiel meines Bruders, S. 13.
9
Timm vorkommen. So gibt es das zweimal erwähnte „das Kinn an die Kragenbinde“28
auch in einem Gedicht über den Vater in Mit gemischten Gefühlen.29
Die Geschichte des
Vaters über das dampfende Gehirn30
wurde auch schon einmal erzählt, und zwar in Timms
Debütroman Heißer Sommer.31
Wer mit der Timmschen Literatur vertraut ist und sich
dieses intratextuellen Verweissystems, also des Verweissystems innerhalb der Texte von
Timm32
bewusst ist, kann diese Wiederholungen als einen weiteren Hinweis auf das
autobiographische Charakter des Textes betrachten.
Sehr oft sind die kursiv gedruckten Sätze auch Aussagen der Eltern, der Schwester
oder von anderen. Wenn die Ich-Figur z. B. fragt, warum der Bruder sich zur SS gemeldet
hat, und die Antwort lautet: „Aus Idealismus. Er wollte nicht zurückstehen. Sich nicht
drücken“,33
wird den Satz kursiviert, um zu betonen, dass es sich hier um eine Aussage der
Mutter handelt. Die Technik der Kursivsätze bietet außerdem wieder eine Möglichkeit,
während des eigenen Erzählens doch noch die Anderen sprechen zu lassen. Durch die
deutliche Hervorhebung von Aussagen der Anderen, unterscheidet Timm sehr
nachdrücklich zwischen dem, was eigen und fremd ist. Das betont wiederum, wie sehr er
versucht, Distanz zur eigenen Familie zu halten.
2.2 Der Freund und der Fremde
2.2.1 ‚Eine Erzählung’
Wenn man sich als Leser das Vorwort und den Klappentext anblickt, fällt auf, dass auch
hier – wie in Am Beispiel meines Bruders – ein Einleitungspakt vorliegt, wodurch der Leser
folgert, dass er mit einer Autobiographie zu tun hat. So wird im Vorwort und auf dem
Umschlag deutlich erwähnt, dass das Buch von dem „Freund Uwe Timms“, Benno
Ohnesorg, handelt und außerdem wird der Text nach Römische Aufzeichnungen und Am
Beispiel meines Bruders als Timms drittes autobiographisches Werk bezeichnet. Es wird
also deutlich ein autobiographischer Pakt mit dem Leser geschlossen. Auch wenn die Ich-
Figur im Text keinen Namen trägt, und sie sich in diesem Hinblick somit nicht auf den
Autor Uwe Timm bezieht, gibt es ausreichend andere textuelle Hinweise, die den
28
Timm: Am Beispiel meines Bruders, S. 135, S. 149. 29
Mit gemischten Gefühlen. Gedichte, Biographien, Statements. Hg. von Jan Hans, Uwe Herms, Ralf Thenior.
München: Wilhelm Goldmann Verlag 1978, S. 329. 30
Vgl. Timm: Am Beispiel meines Bruders, S. 99. 31
Uwe Timm: Heißer Sommer. München: Deutscher Taschenbuch Verlag 2005 (1974), S. 48. 32
Vgl. Julia Schöll: „Chaos und Ordnung zugleich – zum intra- und intertextuellen Verweissystem in Uwe
Timms Erzähltexten“. In: „(Un-)erfüllte Wirklichkeit“: neue Studien zu Uwe Timms Werk. Hg. von Frank Finlay.
Würzburg: Königshausen und Neumann 2006, S. 127-139, hier S. 127. 33
Timm: Am Beispiel meines Bruders, S. 19.
10
autobiographischen Charakter des Textes bestätigen. So gibt es auch in diesem Text sehr
viele Parallelen zwischen der Biographie Uwe Timms, und der der Ich-Figur. Vielleicht
könnte Der Freund und der Fremde sogar als eine Fortsetzung von Am Beispiel meines
Bruders betrachtet werden.
Am Beispiel meines Bruders beschreibt die Geschichte der Familie Timm während
des zwanzigsten Jahrhunderts, die meisten Informationen beziehen sich aber auf die
Periode von 1940 bis 1958. Es ist ziemlich selbstverständlich, dass diese Periode betont
wird, denn in dieser Zeitspanne finden einige bedeutende Ereignisse – sowohl für die Ich-
Figur persönlich, als auch für die deutsche Gesellschaft im Allgemeinen – statt, so u.a. der
Zweite Weltkrieg, die Geburt der Ich-Figur (1940),34
der Tod des Bruders Karl-Heinz
(1943)35
und des Vaters Hans (1958)36
und das Wirtschaftswunder der Nachkriegszeit.
Auch das Tagebuch, das der Bruder zwischen dem vierzehnten Februar und dem sechsten
August 194337
geführt hat, und das bei der Konstruktion des Bildes vom Bruder den
größten Anteil hat, stammt aus dieser Periode.
In Der Freund und der Fremde liegt der Fokus dagegen auf die Periode von 1958 bis
1968. Wie oben schon erwähnt wurde, starb der Vater 1958, und demzufolge wird der Ich-
Figur, die inzwischen das Kürschnerdiplom mit Auszeichnung nachgeholt hat, das
Kürschnergeschäft überlassen. Drei Jahre arbeitet sie im Geschäft, um es 1961 schließlich
zu entschulden.38
Im einundzwanzigjährigen Lebensjahr fängt sie wieder zu studieren an
und holt 1961 bis 1963,39
zusammen mit anderen Kollegiaten, unter denen Benno Ohnesorg,
am Braunschweig-Kolleg das Abitur nach. Der Text beschreibt vor allem das Leben der
Ich-Figur und Ohnesorgs, die Freundschaft zwischen ihnen und Ohnesorgs Tod 1967,
sowie die darauffolgende Aufregung. Wenn man diese Ereignisse mit der Biographie Uwe
Timms vergleicht, gibt es – wie schon in Am Beispiel meines Bruders – eine völlige
Übereinstimmung. Auch gibt es hier wieder außertextuelle Hinweise, die darauf hindeuten,
dass das Buch autobiographisch ist. So hat es sich oben in der Analyse der Gattungsfrage
von Am Beispiel meines Bruders schon herausgestellt, dass Uwe Timm Der Freund und der
Fremde auch selber als autobiographisch bezeichnet.
Doch macht Timm auch hier die gattungstechnische Einordnung für den Leser nicht
einfach: Im Untertitel bezeichnet er den Text als ‚eine Erzählung‟, nicht als ‚eine
34
Vgl. Timm: Am Beispiel meines Bruders, S. 19. 35
Vgl. Timm: Am Beispiel meines Bruders, S. 8. 36
Vgl. Timm: Am Beispiel meines Bruders, S. 151. 37
Vgl. Timm: Am Beispiel meines Bruders, S. 14. 38
Vgl. Timm: Der Freund und der Fremde, S. 20. 39
Vgl. Timm: Der Freund und der Fremde, S. 14.
11
(Auto)biographie‟. Um herauszufinden, warum er das macht, ist es empfehlenswert,
nachzugehen, welche Merkmale einer Erzählung normalerweise zugeschrieben werden,
und ob es überhaupt einen großen Unterschied zwischen der Gattung der Erzählung und der
der Autobiographie gibt.
In dem Deutschen Wörterbuch von Hermann Paul wird die Erzählung als „innerhalb
der epischen Gattung relativ unbestimmt“40
bezeichnet. Metzler Lexikon unterscheidet
zwischen der Erzählung in weiterem Sinn und einer engeren, literarischen Bestimmung, die
die Erzählung als „die kommunikative Vermittlung realer oder fiktiver Vorgänge durch
einen Erzähler an einen Rezipienten“41
definiert. Ein wesentliches Element dieser
Definition ist, dass eine Erzählung nicht unbedingt mit Fiktion gleichgestellt werden muss.
Für die Geschichtsschreibung ist diese Feststellung sehr wichtig, denn sie betont, dass auch
reale Ereignisse immer zuerst erzählt werden müssen, um überhaupt vermittelt werden zu
können. Aus der Definition im Metzler Lexikon ist abzuleiten, dass die Tatsache, dass ein
Text als Untertitel ‚eine Erzählung‟ trägt, nicht ausschließt, dass der Text auch eine
Autobiographie, die „eine größere Nähe zum ursprünglich Erlebten und zum Erinnerten“42
erzwingt, sein kann. Diese Idee stimmt mit Lejeunes Ansicht überein, dass der Begriff
‚Erzählung‟, weil er seinerseits unbestimmt ist, völlig mit dem autobiographischen Pakt
vereinbar ist.43
Die Vereinbarkeit von Erzählung und Autobiographie soll weiter spezifiert werden,
durch die Definition von beiden Gattungen im Reallexikon der deutschen
Literaturwissenschaft definiert. Als ausschlaggebend für die Zuordnung zur Gattung der
Erzählung wird hier nur „das Vorliegen der elementaren Struktur der Narrativität (des
‚Erzählerischen‟)“44
genannt. Die Autobiographie wird hier definiert als „ein
nichtfiktionaler, narrativ organisierter Text […], dessen Gegenstand innere und äußere
Erlebnisse sowie selbst vollzogene Handlungen aus der Vergangenheit des Autors sind“.45
In beiden Beschreibungen wird auf den narrativen Charakter der Gattung hingedeutet, was
die Erzählung und die Autobiographie wieder vereinbar macht.
40
Hermann Paul: Deutsches Wörterbuch. Tübingen: Niemeyer Verlag 1992, S. 246. 41
Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie: Ansätze, Personen, Grundbegriffe. Hg. von Ansgar Nünning.
Stuttgart: J.B. Metzler 2008, S. 133. 42
Vgl. dazu 2.2.1. 43
Vgl. Lejeune: Der autobiographische Pakt, S. 232: „[...] es ist zu bemerken, daß Roman in der gegenwärtigen
Terminologie den romanesken Pakt impliziert, während der Begriff Erzählung seinerseits unbestimmt ist und
vereinbar mit dem autobiographischen Pakt“. 44
Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Hg. von Harald Fricke, Klaus Weimar u.a. Berlin: de
Gruyter 1997-2003, S. 517 45
Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, S. 169.
12
Entscheidende Unterschiede zwischen beiden Gattungen scheint es somit nicht zu
geben. Daher erhebt sich die Frage, warum Timm Der Freund und der Fremde schon
ausdrücklich als eine Erzählung bezeichnet hat und Am Beispiel meines Bruders nicht,
während aus den oben beschriebenen Merkmalen der Erzählung abzuleiten ist, dass dieser
Text genauso gut der Gattung der Erzählung zugeordnet werden kann. Wenn die Erzählung
durch ihre relative Unbestimmtheit als Oberbegriff für die Autobiographie funktionieren
kann, warum wird dann noch explizit darauf hingedeutet, dass es sich hier um eine
Erzählung handelt, warum hat Timm nicht einfach ‚eine Autobiographie‟ als Untertitel
verwendet, wenn er dann doch eine Gattung vorschlagen wollte? Vielleicht ist die folgende
Aussage von Timm zu diesem Thema in seinen poetologischen Vorlesungen hilfreich:
„Selbst eine reine Dokumentensammlung hat eine Tendenz zum Erzählen, ein Muster, ein
episches Muster, das durch Auswahl, Anordnung und Gewichtung entsteht und Bedeutung
generiert“.46
Auch hier wird auf den narrativen Charakter jedes Textes hingedeutet, aber
zugleich impliziert diese Aussage die Annahme, dass sogar ein auf reinen Tatsachen
basierter Text immer eine Bedeutung bekommt, die von dem, was für den Erzählenden die
Wahrheit ist, abhängig ist. Dabei sei bemerkt, dass das „ursprünglich Erlebte“, zu dem die
Autobiographie eine größere Nähe behalten muss, immer nur das selbst Erlebte ist und
demzufolge eigentlich nur für den Erzähler der Geschichte völlig wahr ist. Eine
dokumentarische Erzählweise – die Timm sowohl in Am Beispiel meines Bruders als auch
in Der Freund und der Fremde benutzt – ist am Besten geeignet, eine größtmögliche
Objektivität zu erreichen, aber dennoch ist sie nicht imstande, einem autonom Bedeutung
generierenden narrativen Muster aus dem Weg zu gehen.
Indem Timm Der Freund und der Fremde als eine Erzählung bezeichnet, hebt er gerade
diesen narrativen Charakter des Textes hervor und demzufolge gesteht er auch seinen
strukturierenden Beitrag zum Text ein, denn er ist derjenige, der erzählt, der die Geschichte
inszeniert. Auf den ersten Blick ist dieses Geständnis schwer vereinbar mit der Tatsache, dass
im ganzen Text niemals die Verbindung zwischen der Ich-Figur, dem Erzähler einerseits, und
Timm, dem Autor andererseits dargestellt wird. Bei Lejeune ist aber nachzulesen, dass nur
wenn der Name des Autors mit dem Namen der Figur im Text identisch ist, die Möglichkeit
der Fiktion ausgeschlossen werden kann.47
Das Fehlen der Namensidentität ist somit auch ein
Hinweis darauf, dass Timm auf einen völligen Wahrheitsanspruch verzichtet. Das macht er
auch im Bruderbuch, aber dort sind es die öffentlichen Dokumente, die vermeiden, dass
46
Timm: Von Anfang und Ende, S. 110. 47
Vgl. Lejeune: Der autobiographische Pakt, S. 236.
13
Timms Sichtweise als die einzige richtige betrachtet wird. In Der Freund und der Fremde
sind kaum öffentliche Dokumente einmontiert.48
Es hat den Anschein, dass die Ich-Figur hier
viel mehr selbst erzählt, und dass somit, wie im Untertitel versprochen wird, tatsächlich ein
Erzähler in den Vordergrund tritt, der sich die Geschichte aneignet. Der Grund dafür liegt
wahrscheinlich in der Art und Weise, wie Timm hier mit seinen Erinnerungen an Benno
Ohnesorg umgehen will.49
Die Zuordnung zur Gattung der Erzählung bewirkt, dass Timm,
obwohl er sich in diesem Text mehr Nähe zur Geschichte erlaubt, doch noch auf einen
völligen Wahrheitsanspruch verzichten kann.
2.2.2 Das Problem der Literarisierung
Oben hat sich herausgestellt, dass Der Freund und der Fremde eine Autobiographie ist,
aber weil Timm selber so sehr betont, dass es sich um eine Erzählung handelt, möchte ich
den Text als ‚autobiographische Erzählung‟ bezeichnen im Kontrast zu der
Alloautobiographie Am Beispiel meines Bruders. Es ist schon deutlich geworden, dass sich
sogar bei der Vermittlung von reinen Tatsachen, immer ein narratives Muster bildet. Der
Erzähler entscheidet aber selber darüber, inwieweit er die narrativen Muster zu bestimmten
erzähltechnischen Zwecken verwendet.
Martin Rehfeldt hat auf diese Muster in Der Freund und der Fremde hingedeutet. Er
bezeichnet sie als „Literarisierung“,50
womit er das Erzählen von tatsächlichen Ereignissen
in einem literarischen Text gemeint hat. Rehfeldt stellt fest, dass in diesem Text
verschiedene Probleme der Literarisierung von biographischem Stoff deutlich werden. So
ist er der Meinung, dass Timm manchmal bestimmte Ereignisse als Vorausdeutungen
semantisiert.51
Er führt an, dass die Aussage der Psychologin, dass Ohnesorg „durchaus
Ansätze [hat], jemand zu werden, der nicht ganz alltäglich ist“,52
durch den Kommentar des
Erzählers: „Und auch das hatte seine Erfüllung gefunden, wenn auch so anders als
vermutet: ... jemand zu werden, der nicht ganz alltäglich ist“,53
zum „delphischen
Orakelspruch“54
wird. Dass Timm diesen Zufall, der eben Tatsache ist, hervorhebt, deutet
wiederum darauf hin, dass Timm sich einen größeren Anteil im Text erlaubt als im
Bruderbuch: Er ist derjenige, der diese Zufälle durch seinen Kommentar als
48
Vgl dazu ausführlicher 2.2.2 und 3.2.3.1. 49
Vgl. dazu ausführlicher 3.2.3. 50
Martin Rehfeldt: “Dem Gegenstand seine Fremdheit belassen. Zum Umgang mit erzählerischen und ethischen
Problemen der Literarisierung von biographischem Stoff in Uwe Timms Der Freund und der Fremde“. In:
Deutsche Bücher 37 3/4, 2007, S. 203-213. 51
Vgl. Rehfeldt: Dem Gegenstand seine Fremdheit belassen, S. 209. 52
Timm: Der Freund und der Fremde, S. 124. 53
Timm: Der Freund und der Fremde, S. 124. 54
Rehfeldt: Dem Gegenstand seine Fremdheit belassen, S. 209.
14
Vorausdeutungen darstellt. Timm ist sich dieses Verfahrens aber völlig bewusst. Das
bemerkt auch Rehfeldt, wenn er anführt, dass das Problem der Literarisierung von
biographischem Stoff im Text selbst reflektiert wird,55
wenn Timm erwähnt: „Einem
fiktionalen Text würde man verweigern, was ich beim Lesen der Gerichtsakte Ohnesorg
fand, dieselbe Psychologin war als Gutachterin für den Prozeß gegen seinen Todesschützen
bestellt worden. Zufälle, die den Anschein von einem sinnfälligen Muster haben und uns
doch nur staunend befremden“.56
Obwohl Timm selber Tatsachen als Vorausdeutungen
semantisiert, macht diese Bemerkung die Literarisierung von biographischem Stoff weniger
problematisch, denn sie zeigt, dass Timm sich deutlich bewusst ist der Tatsache, dass die
Zufälle durch die Art und Weise, in der erzählt wird, in einem sinnfälligen Muster zu
passen scheinen.
Auch wenn Timm sich seines Beitrags zur Bildung von Muster bewusst ist, erhebt
sich die Frage, warum er bestimmte Zufälle anhand des narrativen Musters als
Vorausdeutungen darstellt. Im Text ist zu lesen, dass die Ich-Figur über Benno Ohnesorg
schreiben möchte, „um das Zufällige, das Absurde, das in diesem Tod lag, zu zeigen“.57
Weil sie gerade das Zufällige zeigen will, deutet sie auch ausdrücklich darauf hin. Die
Hervorhebung der auffallenden Zufälle im Leben Ohnesorgs, erlaubt es auch, das Zufällige
weniger geläufig, weniger absurd zu machen. Wie Timm in seinen Vorlesungen feststellt:
„Das literarische Erzählen ist eben nicht zufällig, es schafft – durch seine Struktur – neue
Bedeutung, die es in der Zerstreutheit des Alltags so nicht gibt“,58
und weiter: „So werden
die alltäglichen Dinge und Ereignisse aus ihrem Zu-Fall durch das Erzählen herausgehoben
und neu gedeutet“.59
Gerade die Literarisierung dieser Ereignisse bewirkt, dass Timm den
Zufällen Bedeutung verleihen kann, denn indem er die Tatsachen in ein Muster gießt, sind
die Zufälle nicht länger Zufälle, sondern scheinen sie alle in einem größeren Plan
eingeordnet zu sein. Das macht die ganze Ohnesorg-Geschichte – im Rahmen des
Möglichen – doch weniger absurd.
Neben diesen semantisierten Vorausdeutungen, stellt Rehfeldt noch ein weiteres
Problem literarisierter Biographien fest, und zwar, dass
der Stoff den verbreiteten Schemata mythischer, literarischer oder filmischer Erzählungen so
idealtypisch entsprechen kann, dass die Wiedergabe tatsächlicher Ereignisse in der Literarisierung als
Klischee wahrgenommen werden kann – zumal, wenn die formale Präsentation und der
55
Vgl. Rehfeldt: Dem Gegenstand seine Fremdheit belassen, S. 209. 56
Timm: Der Freund und der Fremde, S. 124. 57
Timm: Der Freund und der Fremde, S. 92. 58
Timm: Erzählen und kein Ende, S. 19. 59
Timm: Erzählen und kein Ende, S. 103.
15
kommentierende Erzähler diese Schemata nicht nur nicht als solche thematisieren, sondern die ihnen
entsprechenden Ereignisse auch noch betonen.60
Als Beispiel nennt er die Tatsache, dass die Ich-Figur die Handwerkslehren, die sie und
Benno Ohnesorg vor dem Studium am Braunschweig-Kolleg gemacht haben, aufeinander
bezieht.61
Laut Rehfeldt bewirken aber die essayistischen Attribute, beispielsweise die
Abstrahierung beider Freunde zu Erfahrungen der achtundsechziger Generation, dass die
Trivialität, die dem Text als Vorwurf gemacht werden könnte, reduziert wird.62
Die
Betonung der Ähnlichkeit in Bezug auf die Handwerkslehren soll nicht einmal als
klischeehaft betrachtet werden, wenn man annimmt, dass Timm möglicherweise wiederum
aus Mangel an Informationen über den Freund, eine Verbindung zwischen dem eigenen
und dem zu rekonstruierenden Leben herstellen will. Auf diese Weise kann er mehr
Einsicht in das Benehmen von Ohnesorg bekommen, dem er sich mit seinem Schreiben
anzunähern versucht. Diese von Rehfeldt als Klischee erfahrenen Ausschnitte haben aus
diesem Blickwinkel eine völlig andere Funktion, nämlich eine, die Timm bei seinen
Recherchen weiterhelfen kann.
Wie sich oben mit einer Aussage von Timm aus seinen poetologischen Vorlesungen
herausgestellt hat, ist jeder Text, auch ein dokumentarischer, gewissermaßen literarisiert.
Selbstverständlich gibt es Unterschiede im Grad der Literarisierung und werden einem
Roman leichter narrative Muster erlaubt als z. B. einer Autobiographie oder der
Geschichtsschreibung, denn bei diesen Gattungen wird doch eine objektive Annäherung der
Ereignisse verlangt. Die Literarisierung in dieser autobiographischen Erzählung stellt kein
wirkliches Problem dar, gerade weil – wie sich auch aus Rehfeldts Darlegungen herausstellt
– Timm selber dieses Problem thematisiert: Er ist sich bewusst der Tatsache, dass sich
während des Erzählens unvermeidlich narrative Muster bilden. Timm nützt dieses
‚Problem‟ in diesem Text aus, indem er die tatsächlichen Ereignisse in einem geeigneten
narrativen Muster darstellt. Ein Muster, das ihm erlaubt das Absurde zu bändigen und ihn
erst nach dem Niederschreiben der Ereignisse zur Einsicht kommen lässt. Dieses Verfahren
darf nicht mit Fiktionalisierung gleichgestellt werden. Wenn Fiktionalisierungen
eingeschoben werden, kündigt Timm diese deutlich an: „Gäbe es die Möglichkeit, eine
Unterlassung in der eigenen Biographie zu korrigieren [...]“,63
und darauf folgt die
Korrektur:
60
Rehfeldt: Dem Gegenstand seine Fremdheit belassen, S. 209. 61
Vgl. Timm: Der Freund und der Fremde, S. 15. 62
Vgl. Rehfeldt: Dem Gegenstand seine Fremdheit belassen. S. 211. 63
Timm: Der Freund und der Fremde, S. 145.
16
Mein Wunsch wäre von einer genauen, bis ins Detail gehenden Vorstellung bestimmt, hier aber
rückwirkend: zwei Monate in London zu wohnen, als Untermieter bei einem Angestellten eines
Teeimporteurs oder einem Lehrer. Ein Mann, der während des Kriegs auf einem englischen Zerstörer
gedient hätte [...]. Morgens in einer Sprachenschule gemeinsam mit Italienern, Schweden und Isländern
englische Grammatik üben und mir eben diese Wunschform erklären lassen, ein Mädchen
kennenzulernen, das aus Cambridge käme, rotblond, sommersprossig und pummelig, um mit ihm ins
Kino, ins Theater zu gehen [...], danach in einem Pub stehen und von einem jungen Mann, der
vielleicht der Bruder dieser pummeligen rotblonden Schönen sein könnte, sich den Unterschied der
englischen Biere erklären zu lassen.64
Die Korrektur seines Lebenslaufes strotzt vor Konjunktiven, und er betont nochmals, dass
es sich um eine „Vorstellung“ handelt. Timm unterscheidet somit deutlich zwischen dem,
was er sich vorstellt und dem, was tatsächlich stattgefunden hat.
Dabei sei bemerkt, dass Timm sich völlig seiner beschränkten Wahrheit bewusst ist,
und dass er somit nicht die Absicht hat, zu behaupten, dass was er erzählt, zweifelsohne so
gewesen ist. Das wird dadurch sichtbar, dass er – wie in Am Beispiel meines Bruders –
unterschiedliche Textsorten neben die eigenen Erfahrungen der Ich-Figur einmontiert. So
gibt es zwei Briefe, die Benno Ohnesorg an den Direktor des Braunschweig-Kollegs
geschrieben hat, um sich um eine Aufnahme zu bewerben,65
ein Gedicht Ohnesorgs,66
die
Analyse der Psychologin des Braunschweig-Kollegs,67
verschiedene Berichte bezüglich
Ohnesorgs Tod68
und sehr viele Zitate, u.a. von Beckett, Barthes, Benjamin und Camus.
Diese fremden Dokumente und Texte ermöglichen eine andere Sicht auf die Geschehnisse.
Zusammenfassend kann in Bezug auf die Gattung dieser beiden Texte festgestellt
werden, dass Timm sich in Am Beispiel meines Bruders – obwohl ein autobiographischer
Pakt vorliegt – bemüht, die Distanz zur eigenen Biographie zu bewahren. In Der Freund
und der Fremde, das ebenso autobiographisch ist, wird eine mehr persönliche Annäherung
an das Autobiographische erlaubt.
64
Timm: Der Freund und der Fremde, S. 146-147. 65
Vgl. Timm: Der Freund und der Fremde, S. 15-19. 66
Vgl. Timm: Der Freund und der Fremde, S. 151-152. 67
Vgl. Timm: Der Freund und der Fremde, S. 123-124. 68
Vgl. Timm: Der Freund und der Fremde, S. 114-115, S. 121.
17
3. Das Schreiben: eine Suche
3.1 Der Entstehungsprozess von Am Beispiel meines Bruders und Der Freund und der Fremde
Oben wurde untersucht, welcher Gattung man die Texte zuordnen kann und dabei hat sich
herausgestellt, dass es sich in beiden Fällen um eine Autobiographie handelt, mit der
Nuancierung, dass Am Beispiel meines Bruders als eine Alloautobiographie bezeichnet wurde.
Der Freund und der Fremde kann als eine autobiographische Erzählung betrachtet werden.
Doch hat Uwe Timm eigenen Aussagen zufolge nie die Absicht gehabt, mit diesen
Erzählungen Autobiographien zu schreiben: „Sie sind am Anfang nicht einmal mit dem
Vorsatz entstanden, eine Autobiographie zu schreiben, sondern aus einem, auch von
Zeitumständen bedingten Bedürfnis der Selbstbefragung“.69
Das Bedürfnis der Selbstbefragung hat also den Übergang der biographischen Texte ins
Autobiographische verursacht. Die Aufgabe, eine Biographie des Bruders Karl-Heinz bzw.
des Freundes Benno Ohnesorg zu schreiben, ist nicht einfach in Anbetracht der Umstände:
Der Bruder ist schon gestorben, als Timm drei Jahre alt war. Er hat somit kaum eigene
Erinnerungen an den Bruder und muss mit einem ihm von den Eltern aufgedrängten Bild
zurechtkommen. An Ohnesorg hat Timm zwar mehr eigene Erinnerungen, aber auch in
diesem Fall reichen sie nicht über die zwei Jahre, die sie zusammen am Braunschweig-Kolleg
studiert haben, hinaus. Außerdem wird ihm nach Ohnesorgs Tod von den Medien eine Menge
anderer Erinnerungen aufgedrängt.
Timm kämpft also mit dem Problem, bei der Konstruktion dieser Biographien über
ungenügende Informationen zu verfügen. Wie Steffen Martus schreibt, ist Timm durch den
Mangel an dokumentarischem Material über Benno Ohnesorg gezwungen, eine
Doppelbiographie zu schreiben, in der er Ohnesorgs Leben mit seiner eigenen Biographie
ergänzt.70
Ähnlich verfährt er auch bei der Rekonstruktion der Biographie des Bruders. Es ist
also die Suche nach dem Bruder und dem Freund, die Timm zu einer Selbstbefragung zwingt.
Nur wenn er Einblick in seine eigene Biographie bekommt, wird es ihm gelingen, die des
Bruders und des Freundes zu beschreiben, aber zugleich kann er erst Einblick in seine eigene
Identität bekommen, wenn er kritisch an das Bild des Bruders und des Freundes herangeht. 71
69
Timm: Von Anfang und Ende, S. 73. 70
Vgl. Steffen Martus: „‟Also man lacht sich wirklich tot‟. Teilnehmer- und Beobachtungsperspektiven auf Uwe
Timms 68er-Romane Heißer Sommer und Der Freund und der Fremde“. In: Keiner kommt
davon: Zeitgeschichte in der Literatur nach 1945. Hg. von Erhard Schütz und Wolfgang Hardtwig. Göttingen:
Vandenhoeck & Ruprecht 2008, S. 192-215, hier S. 197. 71
Dieses Problem wird genauer in dem Abschnitt über die Selbstsuche, 4.2, besprochen.
18
3.1.1 Der Schreibanlass
Es ist deutlich, dass Timm sich vorgenommen hat, die Lebensläufe des Bruders und des
Freundes zu rekonstruieren. Die Frage ist jetzt, warum er diese Texte schreiben möchte, oder
musste, denn wie er erwähnt, ist das Schreiben, sicherlich im Fall des Bruders, „wie eine
Verpflichtung, wie eine Selbstverpflichtung“.72
Woher kommt dieser Schreibdruck, was war
der Anlass zum Schreiben dieser Texte?
Im Hinblick auf Am Beispiel meines Bruders kann eine Aussage von Timm in einem
Interview Auskunft geben:
Ich war drei Jahre alt, als er [der Bruder, M.A.] starb, und habe nur eine äußerst blasse Erinnerung an ihn.
Trotzdem war er in unserer Familie ständig präsent, als Druck, als atmosphärischer Druck. Karl-Heinz
galt immer als Vorbild, das im Krieg als Held gestorben war. Das wurde so nicht gesagt, aber in der
Vermittlung galt er als tapferer, anständiger, gehorsamer Junge. Das gaben meine Eltern an mich weiter,
als Erziehungsdruck sozusagen, und dem wollte ich auf den Grund kommen. So was braucht Zeit.73
Mit diesem Bild des Bruders wächst Uwe Timm auf. Obwohl die Eltern wussten, wozu die
SS-Einheiten eingesetzt worden sind, und für welche Grausamkeiten sie verantwortlich sind,
ist der Bruder, der der SS freiwillig beitrat, immer noch das Vorbild. Aus dem Zitat kann man
folgern, dass Timm untersuchen will, wie das Bild dieses anständigen Jungen entstanden ist.
Es hat den Anschein, dass er herausfinden will, inwieweit der Bruder mit Recht als
„Erziehungsdruck“ gilt. Ob das bedeutet, dass er dem Bruder seinen Ruf als Helden der
Familie nehmen will, bleibt vorläufig noch dahingestellt.
Gewiss ist, dass er versuchen will, ein mehr wahrheitsgemäßes Bild des Bruders, als das,
das die Eltern ihm aufgedrängt haben, aufzustellen. Vor allem die Tagebucheinträge des
Bruders enthalten Aussagen, die dem Bild, das die Eltern von dem Bruder umreißen, nicht
entsprechen. Für Timm war vor allem der folgende Satz ungeheuerlich: „März 21. Donez.
Brückenkopf über den Donez. 75 m raucht Iwan Zigaretten, ein Fressen für mein MG“.74
In
seinen Vorlesungen erläutert Timm: „es war nicht leicht, sich ihm [dem Satz, M.A.] zu stellen.
Zugleich war er der Schüssel für die das Schreiben anstoßenden Fragen“, wie:
Wie kommt es zu dem Verlust von Empathie, wie kommt es dazu, bereitwillig zu töten und sich töten zu
lassen? Wie kommt das Gewaltsame in die Sprache? Wie bilden sich Sprachmuster, die andere Menschen
aus den moralischen Verbindlichkeiten ausgrenzen? Und vor allem auch diese Frage, eine quälende, wie
hätte ich mich anstelle des Bruders verhalten, wäre ich in derselben geschichtlichen Situation groß
geworden?75
72
Timm: Von Anfang und Ende, S. 75. 73
Timm zit. n. Kammler: Uwe Timm, Am Beispiel meines Bruders, S. 106. 74
Timm: Am Beispiel meines Bruders, S. 16. 75
Timm: Von Anfang und Ende, S. 79.
19
Die Fragen, die im Schreiben beantwortet werden sollen, bilden – wie auch Timm erwähnt –
den Anlass zum Schreiben des Erinnerungstextes.
Ein erster Schreibanstoß für Der Freund und der Fremde ist schon oben erwähnt
worden, nämlich der Versuch, durch das Schreiben das Zufällige, das Absurde an Ohnesorgs
Tod zu zeigen. Weiter wagt Timm sich auch hier an die Rekonstruktion eines Lebenslaufes
heran, diesmal seines Freundes Benno Ohnesorg. Ein wichtiger Unterschied zu Am Beispiel
meines Bruders ist, dass er an Ohnesorg schon eigene Erinnerungen hat. Er ist somit nicht von
den Erinnerungen von anderen abhängig, zumindest nicht in Bezug auf die Periode, die sie
zusammen am Braunschweig-Kolleg verbracht haben (1961-1963). Um zu wissen, was sich
davor und danach abgespielt hat, muss er sich aber wiederum auf Erinnerungen von anderen
verlassen. Darunter auch die, welche die Medien ihm aufdrängen. Timm stößt hier somit auf
ein ähnliches Problem wie in seinem anderen Erinnerungsbuch: Seine eigenen Erinnerungen
werden mit anderen Tatsachen konfrontiert, und dann erhebt sich die Frage, inwieweit sie
noch ‚korrekt‟ sind, wenn eine Erinnerung das je wirklich sein kann. So muss Timm zu den
Kommentaren nach Ohnesorgs Tod, wie er das auch zu den Aussagen der Eltern, zu den
Äußerungen im Tagebuch machen musste, immer Stellung nehmen und nachgehen, inwieweit
sie sich mit seinen eigenen Erinnerungen reimen:
Wäre er infolge einer Krankheit oder eines Unfalls gestorben, wäre Trauer um ihn möglich gewesen, so
aber war sein Tod ein Skandal, der in Kommentaren, Erklärungen, Gegenerklärungen abgehandelt wurde,
und ich selbst mußte bei jedem Bericht, bei jeder Diskussion, auch vor mir selbst, immer wieder dazu
Stellung nehmen. Politische Erklärungen schoben sich vor jeden Versuch, sich seiner zu Erinnern. Das
Sensationelle seines Todes verhinderte in den ersten Wochen und Monaten ein einfühlsames Erinnern.76
Genauso wie in Am Beispiel meines Bruders ist das Schreiben für Timm ein Mittel, Stellung
zu nehmen. Indem er schreibt, versucht er sich ein – auf jeden Fall für ihn – mehr stimmiges
Bild des Freundes zu formen.
Wie Timm sich im Bruderbuch die Frage stellt, was er gemacht hätte, wäre er „in
derselben geschichtlichen Situation groß geworden“, enthält auch Der Freund und der
Fremde eine Komponente der Selbstbefragung. Jahre nach Ohnesorgs Tod erfährt Timm
mittels eines Briefes von Ohnesorgs Frau Christa, dass dieser mit Timm nach ihrem Abschied
gehadert hat,77
und zwar, weil sie ursprünglich den Plan hatten, gemeinsam in Berlin zu
studieren, aber Timm statt dessen nach München umgezogen ist.78
Für Timm war ihre
Freundschaft vor diesem Brief eine „ungetrübte, ganz auf das Lesen und das Schreiben
76
Timm: Der Freund und der Fremde, S. 12. 77
Vgl. Timm: Der Freund und der Fremde, S. 13. 78
Vgl. Timm: Der Freund und der Fremde, S. 113.
20
ausgerichtete“,79
aber danach schien es, als ob sie doch nicht so ungetrübt gewesen war.
Timm will seiner eigenen Erinnerung kritisch gegenüberstehen und das Schreiben bietet ihm
eine Möglichkeit dazu.
3.1.2 Versuche zum Schreiben
Jetzt, da deutlich geworden ist, was Timm zum Schreiben dieser Texte veranlasst hat, ist es
interessant zu überprüfen, wann genau sie schließlich zustande gekommen sind. In Erzählen
und kein Ende schreibt Timm: „Die zeitliche Distanz zu sich ist die Voraussetzung dafür, daß
man über sich etwas erzählen kann“.80
Wie ich schon erwähnt habe, geschieht Erzählen
meistens erst hinterher, nachdem das, was erzählt wird, geschehen ist. Rein praktisch gesehen,
braucht man also eine zeitliche Distanz zum Erzählten. Manchmal ist die Distanz aber nicht
nur aus praktischen, sondern auch aus emotionalen Gründen notwendig: Das Geschehene
kann für den Erzähler schwer in Worte zu fassen sein.
Auffallend ist, dass die beiden Bücher eine sehr große Distanz zum Geschehenen
aufzeigen. Am Beispiel meines Bruders erschien genau sechzig Jahre nach dem Tod des
Bruders; Der Freund und der Fremde achtunddreißig Jahre nach Ohnesorgs Tod.
Verschiedene von Timms älteren Werken zeigen aber, dass er schon früher versucht hat, über
den Bruder und den Freund zu schreiben. In bestimmten Büchern gibt es z.B. Passagen, die in
Am Beispiel meines Bruders wiederkehren oder in denen der Drang des Autors, über den
Bruder zu schreiben, bereits anklingt. Rhys Williams stellt in Eine ganz gewöhnliche
Kindheit81
fest, dass es in Timms Johannisnacht eine Passage gibt, in der man sehr deutlich
sehen kann, wie schwer es ihm fällt, über den Bruder zu schreiben:
Es war, als bewegten sich diese aufgetürmten Möbelstücke im Wind, ja, wie Bäume bogen sie sich, das
Holz ächzte, im Schatten, am Boden, kniete mein Bruder, den ich nur von Kriegsfotos kannte. Er
versuchte eine Schublade aufzuziehen, er kniete, ich hatte vergessen, daß ihm die Beine fehlten. Es ist so
mühsam, sagte er, von hier unten an die Schrankschubladen zu kommen. Büroschränke. Ich begann alle
Schubladen herauszuziehen. Sie waren angefüllt mit Papier, sorgfältig zu kleinen Kugeln
zusammengeknautscht. Ich entfaltete eines dieser Knäuel und sah, es waren von mir beschriebene Seiten.
Der Bruder wollte aber eine bestimmte Schublade geöffnet haben. Sie ließ sich als einzige nicht
herausziehen, auch nicht mit Gewalt. Sie klemmte. Ich zog nur schwach, tat aber so, als zöge ich mit aller
Kraft. Wollen mußt du. Los, sagte mein Bruder.82
79
Timm: Der Freund und der Fremde, S. 13. 80
Timm: Erzählen und kein Ende, S. 66. 81
Rhys Williams: „Eine ganz gewöhnliche Kindheit.“ In „(Un-)erfüllte Wirklichkeit”: Neue Studien zu Uwe
Timms Werk. Hg. von Frank Finlay. Würzburg : Königshausen und Neumann 2006, S. 173-184, hier S. 175. 82
Uwe Timm: Johannisnacht. Köln: Kiepenheuer & Witsch 1996, S. 107.
21
Timm träumt davon, wie sein Bruder versucht, ihn zum Schreiben anzutreiben. Die vielen
zusammengeknautschten Kugeln deuten darauf hin, dass Timm schon viele Male versucht hat,
über den Bruder zu schreiben. Es gelingt ihm aber nicht, denn die Schublade, in der sich der
Text über den Bruder befindet, klemmt. Timm könnte sie öffnen, wenn er es wirklich wollte,
aber er zieht nur schwach. Aus der Halbherzigkeit seines Ziehens kann man ableiten, dass er
zum Schreiben des Textes noch nicht bereit ist. Wenn man weiß, dass Uwe Timm die Briefe
des Bruders schon als Jugendlicher gelesen hat,83
kann man annehmen, dass er schon lange
Schwierigkeiten haben muss, diese ‚Schublade‟ zu öffnen.
Auch dem Freund, Benno Ohnesorg, werden schon in früheren Werken verschiedene
Passagen gewidmet. In Timms Debütroman Heißer Sommer wird schon beschrieben, wie
Ohnesorg erschossen worden ist:
Die Kugel hatte die rechte Großhirnhälfte durchschlagen. In seinem Kopf hatte man ein deformiertes
Mittelmantelgeschoß gefunden. Da die Schwärzung fehlte, sei nicht zu ermitteln gewesen, aus welcher
Entfernung Ohnesorg getroffen wäre. Man gehe jedoch davon aus, daß der Schuß auf den Studenten aus
nicht allzu großer Entfernung abgegeben worden sei.84
Auch in Der Freund und der Fremde wird die Erschießung beschrieben:
Obduktionsbericht. C. Vorläufiges Gutachten
Der 26-jähr. Student Benno Ohnesorg ist an einem Kopfsteckschuß infolge der schweren Hirnschädigung
und dem damit verbundenen Blutverlust gestorben. Der Einschuß saß an der rechten Kopfseite, etwa in
der Mitte des rechten Scheitelbeines, 7 cm oberhalb des Ohrenansatzes. Der Schußgang hatte die rechte
Großhirnhälfte von hinten unten nach links oben durchschlagen. Das Geschoß fand sich in einer
trichterförmig erweiterten Schußlücke in der linken Stirnbeinhälfte. Es handelt sich um ein deformiertes
Nickelmantelgeschoß, anscheinend Kaliber 7,65 mm.85
Timm hat diese Akte, die den Namen „Staatsanwaltschaft Band I, zum Fall Ohnesorg“86
trägt,
im Berliner Landesarchiv entdeckt, und sie enthält selbstverständlich eine viel genauere
Beschreibung als die, die der Leser in Heißer Sommer bekommt. Der Grund dafür ist
wahrscheinlich, dass Timm zur Zeit seines Debütromans noch keine solchen Recherchen über
Ohnesorgs Tod unternommen hatte, möglicherweise, weil er dazu noch nicht fertig war.
Auch ist in Heißer Sommer nachzulesen, dass Ullrich, die Hauptperson, eine „ziellose
Unruhe“ in sich entdeckt, „seit jener Nacht, als er von dem Tod Benno Ohnesorgs gehört
hatte“.87
Ullrich, ein Germanistikstudent in München, ist gerade dabei, ein Hölderlin-Referat
83
Vgl. Timm zit. n. Kammler: Uwe Timm, Am Beispiel meines Bruders, S. 106: “Ich wollte immer über meinen
Bruder schreiben, dessen Briefe ich schon als Jugendlicher gelesen hatte.” 84
Timm: Heißer Sommer, S. 57. 85
Timm: Der Freund und der Fremde, S. 121-122. 86
Timm: Der Freund und der Fremde, S. 121. 87
Timm: Heißer Sommer, S. 61.
22
zu schreiben, wenn Ohnesorg erschossen wird. Es gelingt ihm nicht länger, seine Arbeit
fertigzuschreiben und er zieht nach Hamburg um. Dort schließt er sich einer politisch aktiven
Gruppe von Studenten an und engagiert sich in Demonstrationen und Protesten.
Die Lektüre von Der Freund und der Fremde macht deutlich, wie sehr die Wirkung von
Ohnesorgs Tod auf Ullrich der Reaktion Timms ähnelt: Wenn Timm, in Paris an seiner
Dissertation über ‚Das Problem der Absurdität bei Camus‟ arbeitend, die Nachricht über
Benno Ohnesorgs Tod vernimmt, zerreißt er seine fast fertig geschriebene Arbeit.88
Darauf
fängt er an, eine ganz neue Arbeit über die Absurdität bei Camus zu schreiben, die viel mehr
politisch orientiert ist.
Es ist, als ob Timm schon sehr früh den Drang hatte, über Ohnesorg zu schreiben, aber
noch nicht imstande war, die Geschichte in autobiographischer Form zu erzählen. Eine
Autobiographie setzt – obwohl sich schon herausgestellt hat, dass durch bestimmte
Erzähltechniken doch eine Distanz bewahrt werden kann – schließlich doch eine persönliche
Annäherung an die eigene Geschichte voraus. Timm erwähnt in Von Anfang und Ende, dass
er zuerst angefangen hat, Heißer Sommer in der Ich-Perspektive zu schreiben, aber dass er
nach sechzig Seiten nicht weiter schreiben konnte, denn „das schreibende Selbst störte sich –
es sollte ja kein biographischer Bericht werden – an einer fehlenden Distanz zu dem fiktiven,
dem fremden Selbst“.89
Erst Jahre später, in Der Freund und der Fremde, ist er imstande, aus
der persönlicheren Ich-Perspektive über Benno Ohnesorg zu erzählen.
3.1.3 Was macht das Schreiben schließlich möglich?
Es ist inzwischen deutlich, dass das Schreiben über den Bruder und den Freund für Timm
nicht einfach vonstatten gegangen ist. Was hat aber bewirkt, dass er nach diesem großen
Zeitabschnitt doch die zwei Erinnerungsbücher hat zustande bringen können? Um diese Frage
zu beantworten, wird zuerst untersucht, welche Faktoren Timm – trotz unterschiedlicher
Schreibversuche – daran gehindert haben, diese Texte zu schreiben.
In Am Beispiel meines Bruders sind verschiedene Erklärungen für den Aufschub des
Textes zu finden. Eine erste besteht darin, dass es der Ich-Figur lange an Mut fehlte, sich
wirklich ins Leben des Bruders zu vertiefen. Die Ich-Person vergleicht ihr ängstliches
Zurückweichen bei der Lektüre des Tagebuchs und der Briefe des Bruders mit der Angst, die
sie als Kind vor dem Ende des Märchens von Ritter Blaubart der Brüder Grimm hatte.90
Sie
88
Vgl. Timm: Der Freund und der Fremde, S. 78. 89
Timm: Von Anfang und Ende, S. 105. 90
Vgl. Timm: Am Beispiel meines Bruders, S. 9.
23
hat Angst davor, etwas herauszufinden, das noch grausamer sein könnte als die Tatsache, dass
der Bruder bei der SS gedient hatte. Beispielsweise, dass er auch an Erschießungen von
Zivilisten teilgenommen hat.91
Eine andere Erklärung ist, dass Timm dieses Buch nicht schreiben konnte, so lange die
Mutter lebte.92
Nur nachdem sie und einige Jahre später auch die Schwester gestorben sind,
kann Timm endlich mit dem Schreiben anfangen: „Erst als auch die Schwester gestorben war,
die letzte, die ihn [den Bruder] kannte, war ich frei, über ihn zu schreiben, und frei meint, alle
Fragen stellen zu können, auf nichts, auf niemanden Rücksicht nehmen zu müssen“.93
Dieses
Zitat bestätigt, was schon oben behauptet wurde: Timm hat die Absicht, kritisch an das Bild
des Bruders heranzugehen. Dasjenige, was er über den Bruder schreiben will, wird vermutlich
nicht der Meinung der Familienmitglieder entsprechen, sonst würde er dieses „frei sein“ und
„keine Rücksicht nehmen müssen“ nicht so betonen. Um der Meinung seiner Familie Respekt
zu erweisen, verschiebt er das Schreiben, bis sie alle gestorben sind.
Ein dritter Grund nennt Timm in Von Anfang und Ende, wo er behauptet, das Schreiben
über den Bruder sei erst möglich, nachdem er anhand des Romans Rot die richtige Technik
entdeckt habe, mit der er über den Bruder erzählen könne:
[…] narrative Montagetechnik, eine Methode, die das Erzählen nicht auf Chronologie, sondern auf
Bedeutung ausrichtet, die das umfasst: die Reflexion auf Geschichte und Gesellschaft, das Zitieren
verschiedener Sprechweisen, dokumentarische Zitate, ein umgangssprachliches, essayistisches und
poetisches Schreiben. Eine ästhetische Konstruktion, die nicht sagt, so war es, sondern so könnte es
gewesen sein, die, indem sie über die Leerstellen zwischen den Textblöcken auf das Fragmentarische des
Erfahrbaren, Erinnerbaren verweist, nicht den Anspruch auf das „Ganze“ erhebt.94
In Der Freund und der Fremde scheint Timm keine Angst davor zu haben, zu
recherchieren und neue Informationen über den Freund zu bekommen. Das hat
wahrscheinlich damit zu tun, dass Ohnesorg als Opfer gestorben ist – im Gegensatz zum
Bruder, der als SS-Soldat der Kategorie der Schuldigen, der Täter angehört.95
Was Timm bei
seiner Untersuchung schon hindern kann, ist die Erregung, die er bei der Erschießung
Ohnesorgs empfindet. Anders als im Falle des Bruders, hat Timm den Tod des Freundes sehr
bewusst erlebt, und außerdem ist er Benno Ohnesorg viel näher gewesen, als er je seinem
Bruder gewesen ist. Diese sehr persönliche Bezogenheit zum Geschehen bewirkt, dass das
91
Vgl. Timm: Am Beispiel meines Bruders, S. 34. 92
Vgl. Timm: Am Beispiel meines Bruders, S. 9. 93
Timm: Am Beispiel meines Bruders, S. 10. 94
Timm: Von Anfang und Ende, S. 80. 95
Die Schwierigkeiten bei der Zuordnung zur Kategorie der ‚Opfer‟ oder der ‚Täter‟ werden unten in 4.1.2
dargelegt.
24
Sprechen und Schreiben darüber nicht einfach sind und zum Teil verdrängt werden. Das ist
oben deutlich geworden, als der Bericht über Ohnesorgs Tod in Heißer Sommer mit der viel
detaillierteren Akte in Der Freund und der Fremde verglichen wurde: Timm war erst Jahre
später imstande, die präzisen Umstände von Ohnesorgs Tod nachzuforschen.
Auch in diesem Text hat es den Anschein, dass Timm zuerst eine geeignete Erzählweise
finden musste, um über den Freund schreiben zu können. Wie die Ich-Figur im Text
behauptet, verwarf sie mehrere Anfänge, weil die Sprache zu formelhaft blieb und ihre
hilflose Wut ins Deklamatorische verwandelte;96
sie „fand keine Sprache für ihn, jeder Satz
bekam einen aggressiven, abstrakt politischen Ton – einen Ton, der nie der seine gewesen
war“.97
Timm wurde zu sehr von den damaligen Verhältnissen geprägt, um auf eine für ihn
richtige Weise über Ohnesorg zu schreiben. Wenn er das damals gemacht hätte, wäre es durch
die Empörung eine politische Deklamation geworden, und das ist gerade, was er vermeiden
möchte, denn das machen die Medien schon ausreichend. Der Tod Ohnesorgs wird so sehr
medialisiert, sensationalisiert, dass das für Timm „ein einfühlsames Erinnern“98
verhindert.
Erst Jahre später scheint er die richtige Sprache, die richtige Erzählweise entdeckt zu haben,
um über Ohnesorg zu schreiben, und zwar in der schon oben umschriebenen narrativen
Montagetechnik. Es sei bemerkt, dass diese hier nicht distanzierend wirkt, wie in Am Beispiel
meines Bruders, sondern gerade bewirkt, dass Uwe Timm auf eine andere, eine einfühlsamere
Weise als in einem politischen Pamphlet über den Freund erzählen kann.
Ein Grund, der Timm in Am Beispiel meines Bruders als Schreibhindernis nannte,
nämlich das am Lebensein der Personen, die den Bruder gekannt haben, scheint auf den ersten
Blick nicht wirklich das Schreiben über den Freund zu verhindern. Benno Ohnesorgs Frau
Christa ist zwar beim Erscheinen des Buches schon gestorben, aber im Nachwort ist
nachzulesen, dass viele andere Bekannte Ohnesorgs ihm beim Schreiben des Buches geholfen
haben, unter ihnen u.a. Bennos Sohn Lukas und der Bruder Willibald, Brigitte Braun, eine
Freundin von Christa und Benno Ohnesorg und Frank Grossmann und seine Frau, die mit
Benno Ohnesorg zusammenwohnten. Timm hat während des Schreibens des Buches also
Lebenden um Hilfe gebeten, was ziemlich selbstverständlich ist: Ohnesorg ist ja durch seinen
unglücklichen Tod national wie auch international bekannt geworden. Die Möglichkeit, erst
über ihn zu schreiben, nachdem jeder, der ihn gekannt hat, gestorben ist, gibt es einfach nicht.
Timm erzählt aber erst dann über Ohnesorg, wenn die Geschehnisse des zweiten Juni 1967
96
Vgl. Timm: Der Freund und der Fremde, S. 12. 97
Timm: Der Freund und der Fremde, S. 12. 98
Timm: Der Freund und der Fremde, S. 12.
25
nicht länger aktuell sind, wenn es neue Generationen gibt, die nicht länger wissen, was sich
gerade an diesem Tag abgespielt hat, die sich nur noch entfernt daran erinnern. Die
Möglichkeit, erst über das Geschehen zu erzählen, wenn jeder, der es erlebt hat, gestorben ist,
gibt es zwar nicht, aber eine alternative Lösung liegt hier vor: Timm erzählt die Geschichte
Ohnesorgs erst, wenn die Generation, die sie aus nächster Nähe erlebt hat, ausreichend
Distanz zum Geschehen entwickelt hat.
Eine andere Einsicht, die der Ich-Figur dabei geholfen hat, die Geschichte Ohnesorgs
niederzuschreiben, war die folgende: „Es blieb aber der Vorsatz, mehr noch, die
Verpflichtung, über ihn zu schreiben. Ein Erzählen, das nur gelingen konnte – und diese
Einsicht mußte erst wachsen –, wenn ich auch über mich erzählte“.99
Ein Gedanke, der auch
in Am Beispiel meines Bruders auftaucht: „Und erst mit dem Entschluß, über den Bruder, also
auch über mich, zu schreiben, das Erinnern zuzulassen, war ich befreit, dem dort
Festgeschriebenen nachzugehen“.100
Dieser Gedanke schließt sich der schon oben genannten
Idee, dass Timm aus Mangel an Informationen zum Schreiben einer Autobiographie
gezwungen worden ist, an.101
Jetzt, da verschiedene Gründe aufgezählt worden sind, die Timm am Schreiben
gehindert haben, und die im Laufe der Zeit besiegt worden sind, fällt das größte Problem sehr
deutlich auf: Das Bedürfnis nach Distanz zum Erzählten, wie Timm es auch in Von Anfang
und Ende betont hat.102
Eine zeitliche Distanz ist notwendig, um Angst- oder Rachegefühle zu
bewältigen, um die richtige Erzählweise zu finden, um den Mut zu finden, nicht nur den
Erinnerungspfad des Anderen, sondern auch den eigenen abzuschreiten.
3.2 Individuelles und kollektives Gedächtnis
3.2.1 Gedächtnistheoretischer Hintergrund: die vier Gedächtnisformationen nach Aleida Assmann
Wenn die Art und Weise, wie die Erinnerungsarbeit in diesen Büchern verläuft, untersucht
werden will, soll zuerst auf die unterschiedlichen Erinnerungsprozesse in Am Beispiel meines
Bruders und Der Freund und der Fremde aufmerksam gemacht werden. Timm erwähnt in
seinen poetologischen Vorlesungen: „Ich habe mich in zwei Büchern ausdrücklich mit
99
Timm: Der Freund und der Fremde, S. 13. 100
Timm: Am Beispiel meines Bruders, S. 16-17. 101
Vgl. dazu ausführlicher 4.2. 102
Vgl. dazu 3.1.2.
26
Erinnerung und Gedächtnis beschäftigt, in den Erzählungen103
‚Am Beispiel meines Bruders‟
und ‚Der Freund und der Fremde‟, wobei ich weiß, dass ich bei dem letzteren Buch diese
Erinnerungsmomente mit anderen teile“.104
Der Unterschied, den Timm hier macht, erinnert
an denjenigen, den Jan und Aleida Assmann in ihren Gedächtnistheorien gemacht haben: den
zwischen dem individuellen und dem kollektiven Gedächtnis.
In Der lange Schatten der Vergangenheit erarbeitet Aleida Assmann diese Begriffe. Der
übergeordnete Unterschied ist der zwischen dem individuellen und dem kollektiven
Gedächtnis, aber Assmann deutet darauf hin, dass dieser nicht zu streng genommen werden
darf. Wie sie am Anfang ihrer gedächtnistheoretischen Darstellung bemerkt, ist jeder Mensch
ein Individuum, aber das bedeutet nicht, das er ganz für sich existiert. Das Individuum ist
immer Teil größerer Zusammenhänge, ist verknüpft mit einem „Wir“,105
das keine Einheit ist,
sondern sich in vielen verschiedenen Mitgliedschaften aufteilt. Genauer formuliert: Eine
Person gehört unter unterschiedlichen Bedingungen immer verschiedenen Gruppen an, wie
einer Familie, einer Generation, einer Nation. Die unvermeidliche Gruppenzugehörigkeit
bewirkt, das nie von einer rein individuellen Erinnerung gesprochen werden kann: „Das
Gedächtnis des Individuums umfasst deshalb weit mehr als den Fundus unverwechselbar
eigener Erfahrungen; in ihm verschränken sich immer schon individuelles und kollektives
Gedächtnis“.106
Es ist also unmöglich, das individuelle Gedächtnis vom kollektiven zu
trennen. Assmann optiert daher für eine mehr nuancierte Einteilung der verschiedenen Arten
von Gedächtnis. So teilt sie die Zweiteilung zwischen individuellem und kollektivem
Gedächtnis in vier Gedächtnisformationen auf: das individuelle, soziale, kollektive und
kulturelle Gedächtnis. Für die vorliegende Studie ist es wichtig, zu wissen, was diese
Gedächtnisformationen gerade beinhalten.
Mit dem individuellen Gedächtnis fängt jedes Selbstbewusstsein an. Ohne individuelle
Erinnerungen kann ein Mensch sich keine Identität bilden: „Die je eigenen biographischen
Erinnerungen sind unentbehrlich, denn sie sind der Stoff, aus dem Erfahrungen, Beziehungen
und vor allem das Bild der eigenen Identität gemacht ist“.107
Diese Erinnerungen haben
bestimmte Merkmale. Erstens sind sie perspektivisch, was bedeutet, dass sie immer von der
Wahrnehmung des Individuums abhängig sind. Das macht die Erinnerung unaustauschbar
103
Timm benennt hier beide Erinnerungsbücher als „Erzählung‟, was die oben dargestellten Feststellungen im
Zusammenhang mit der Gattungsfrage nicht unterminieren muss, denn es ist nach wie vor so, dass von den
eigentlichen Büchern nur Der Freund und der Fremde mit dem Untertitel „Eine Erzählung‟ unterschrieben
worden ist. 104
Timm: Von Anfang und Ende, S. 71-72. 105
Assmann: Der lange Schatten der Vergangenheit, S. 21. 106
Assmann: Der lange Schatten der Vergangenheit, S. 23. 107
Randall zit. n. Assmann: Der lange Schatten der Vergangenheit, S. 24.
27
und unübertragbar. Zweitens sind Erinnerungen mit Erinnerungen anderer vernetzt, was
bewirkt, dass sie sich gegenseitig bestätigen, Glaubwürdigkeit gewinnen und auf diese Weise
eine gemeinschaftsbildende Funktion bekommen. Ein drittes Merkmal der Erinnerungen ist,
dass sie fragmentarisch sind und nachträglich durch das Erzählen ergänzt worden sind. Erst in
Erzählungen bekommen sie eine Struktur. Schließlich sind Erinnerungen flüchtig und labil,
was bedeutet, dass die Wichtigkeit und Relevanz einer Erinnerung sich im Laufe des Lebens
ändern kann, abhängig von der Änderung der Person und ihrer Lebensumstände.
Anhand dieser Merkmale des individuellen Gedächtnisses zeigt sich schon der soziale
Charakter der Erinnerungen. Halbwachs, Gründer der sozialen Gedächtnisforschung, zeigt,
dass ein einsamer Mensch sich keine Erinnerungen bilden kann, „weil diese erst durch
Kommunikation, d.h. im sprachlichen Austausch mit Mitmenschen, aufgebaut und verfestigt
werden“.108
Demzufolge können persönliche Erinnerungen als ‚kommunikatives Gedächtnis‟
bezeichnet werden. Wie schon gezeigt, ist ein Individuum immer Teil verschiedener Wir-
Gruppen, die mitentscheiden, welche Erinnerungen relevant und wertvoll sind. Weiter besteht
das kommunikative Gedächtnis auch in einem spezifischen Zeithorizont, der meistens achtzig
bis hundert Jahren umfasst, was ungefähr mit der Lebensdauer von drei Generationen
übereinstimmt. Wenn die Generationen, auf denen das kommunikative Gedächtnis beschränkt
ist, verschwinden, löst sich auch das kommunikative Gedächtnis selber auf. Daher darf dieses
Gedächtnis auch das „Kurzzeitgedächtnis“109
genannt werden. Das prototypische Beispiel
dieses Drei-Generationen- oder Kurzzeitgedächtnisses, ist das Familiengedächtnis, das das
Gedächtnis der (Ur-)Großeltern, Eltern und Kinder umfasst.
Es ist also schwer, zwischen dem individuellen und dem sozialen Gedächtnis zu
unterscheiden, da das individuelle Gedächtnis schon immer sozial gestützt ist. Es sei doch
bemerkt, dass Erinnerungen, die sich innerhalb des Familienkreises bewegen, einen viel
privateren Charakter haben als z.B. die Erinnerungsmomente, die man mit Menschen seiner
Generation teilt. Es ist denn auch notwendig, zwischen Familiengenerationen einerseits und
sozialen und historischen Generationen andererseits zu unterscheiden. Karl Mannheim erfuhr
bei seiner Untersuchung des Generationengedächtnisses, „dass Individuen im Alter von 12 bis
25 Jahren für lebensprägende Erfahrungen besonders aufnahmefähig sind und dass das, was
in diesem Zeitraum erlebt wurde, für die gesamte Persönlichkeitsentwicklung eines Menschen
bestimmend bleibt“.110
Menschen derselben Generation teilen somit bestimmte
108
Assmann: Der lange Schatten der Vergangenheit, S. 25. 109
Assmann: Der lange Schatten der Vergangenheit, S. 26. 110
Mannheim zit. n. Assmann: Der lange Schatten der Vergangenheit, S. 26.
28
Überzeugungen, Weltbilder usw. miteinander und erfahren die historischen Ereignisse aus
einer für die Generation spezifischen Perspektive. Genauso wie das individuelle Gedächtnis
hat das soziale Gedächtnis einen begrenzten Zeithorizont: Wenn die Vergangenheit nicht
länger durch „conversational remembering“,111
durch das Gespräch, wach gehalten wird,
verschwindet das soziale Gedächtnis.
Es hat sich gezeigt, dass das individuelle und soziale Gedächtnis sich leicht miteinander
verbinden lassen. Der Übergang vom sozialen zum kollektiven Gedächtnis ist
problematischer. Es hat lange eine skeptische Einstellung zu diesem Begriff geherrscht: In
den sechziger und siebziger Jahren wurde das kollektive Gedächtnis mit Begriffen wie
‚Ideologie‟ und ‚Mythen‟112
gleichgestellt, was auf den manipulierenden Charakter von
mentalen und materialen Bildern, auf denen dieses Gedächtnis sich stützt, hindeutet. Seit den
neunziger Jahren ist man sich der Wichtigkeit dieser Bilder – und auch der Denkmäler,
Erzählungen usw. – für die Identität einer Gemeinschaft bewusst. Man ist nach wie vor auf
mögliche Manipulierung von Bildern und Symbolen aufmerksam, sondern man beschäftigt
sich jetzt vor allem mit der Frage nach ihrer überzeitlichen Wirkmacht und ihrer historischen
Konstruiertheit.113
Dass der Übergang vom sozialen zum kollektiven (auch kulturellen,
nationalen, politischen) Gedächtnis nicht einfach verläuft, hat mit dem Unterschied im
Hinblick auf Gedächtnis und Erfahrung zu tun. Anders als das soziale Gedächtnis, das durch
‚conversational remembering‟ aufrecht erhalten wird, und zusammen mit seinem Träger, dem
Menschen, verschwindet, hat das kulturelle Gedächtnis mit einem Fundus von Erfahrung und
Wissen, der „von seinen lebendigen Trägern abgelöst und auf materielle Datenträger
übergegangen ist“,114
zu tun. Solche materielle Datenträger oder symbolische Medien sind
Monumente, Riten, Texte usw., und diese bewirken, dass das kulturelle Gedächtnis nicht –
wie das Familien- und Generationengedächtnis – auf einen Zeithorizont von achtzig bis
hundert Jahren beschränkt ist, sondern Jahrhunderte überdauern kann. Auf diese Weise kann
ein Individuum von einem Ereignis, das er nie direkt erfahren hat, doch noch eine Erinnerung
aufbauen. Die Bedingung ist jedoch, dass die materiellen Datenträger von den heutigen
Generationen immer noch als Träger von kollektiven Erinnerungen anerkannt werden. Wenn
das nicht der Fall ist, sind sie nur Bilder oder Monumente ohne Bedeutung, und sind sie
demzufolge dem kulturellen Gedächtnis nicht länger dienlich. Auch sei bemerkt, dass das
kulturelle Gedächtnis nicht beliebig ist: Eine gezielte kulturelle Strategie bestimmt, was
111
Assmann: Der lange Schatten der Vergangenheit, S. 28. 112
Vgl. Assmann: Der lange Schatten der Vergangenheit, S. 30. 113
Vgl. Assmann: Der lange Schatten der Vergangenheit, S. 31. 114
Assmann: Der lange Schatten der Vergangenheit, S. 34.
29
gerade zum kulturellen Gedächtnis gemacht wird. Wie Assmann feststellt: „Institutionen und
Körperschaften wie Kulturen, Nationen, Staaten, die Kirche oder eine Firma ‚haben‟ kein
Gedächtnis, sondern ‚machen‟ sich eines mithilfe memorialer Zeichen und Symbole“.115
Jetzt, da die vier Gedächtnisformation, wie Aleida Assmann sie vorschlägt, näher erklärt
worden sind, ist es nützlich, die wichtigsten Unterschiede zwischen dem individuellen (und
somit immer sozialen) und dem kollektiven Gedächtnis zusammenfassend noch einmal
darzustellen.116
Das soziale Gedächtnis hat einen biologischen Träger, wodurch es auf
achtzig bis hundert Jahre befristet ist. Diese Zeitspanne umfasst meistens drei Generationen
und ist somit intergenerationell. Das soziale Gedächtnis wird im Gespräch vermittelt und
verschwindet, wenn die Kommunikation (‚conversational remembering‟) aufhört. Das
kulturelle Gedächtnis wird von materiellen Zeichen und Symbolen, wie Bildern und
Jahrestagen getragen. Weil es nicht von der Kommunikation abhängig ist, ist es zeitlich
entfristet. Das kulturelle Gedächtnis ist denn auch nicht auf drei Generationen beschränkt,
sondern reicht über sie hinaus, ist also transgenerationell.
3.2.2 Die Erinnerung in Am Beispiel meines Bruders
Nachdem anhand von Aleida Assmanns Gedächtnistheorie die unterschiedlichen
Gedächtnisformationen dargestellt worden sind, kann untersucht werden, inwieweit diese auf
Timms Erinnerungsbücher angewendet werden können. Wie oben schon gezeigt, deutet
Timm darauf hin, dass der Unterschied zwischen dem Erinnern in Am Beispiel meines
Bruders und dem in Der Freund und der Fremde darin liegt, dass er in Der Freund und der
Fremde die Erinnerungsmomente mit anderen teilt. Wie oben dargelegt, ist es unmöglich,
dass eine Erinnerung rein privat ist, denn die Erinnerung wird erst durch Kommunikation
geformt. Im Hinblick auf diesen Gedanken gilt die Idee der geteilten Erinnerungsmomente
auch für das Bruderbuch. Statt zwischen individuellem und kollektivem Gedächtnis zu
unterscheiden, ist es daher geeigneter, vom Familiengedächtnis in Am Beispiel meines
Bruders und vom Generationengedächtnis in Der Freund und der Fremde zu sprechen. Diese
zwei Arten von Gedächtnis drängen Timm Erinnerungen an die von ihm ‚gesuchten‟
Personen auf, deren Zuverlässigkeit zweifelhaft ist. Wie das Familiengedächtnis bzw. das
Generationengedächtnis zusammen mit anderen Gedächtnisformationen in seinen
Erinnerungsbüchern gestaltet werden, wird jetzt untersucht.
115
Assmann: Der lange Schatten der Vergangenheit, S. 35. 116
Vgl. dazu das Schema in Assmann: Der lange Schatten der Vergangenheit, S. 54.
30
3.2.2.1 Die Gefahr des glättenden Erzählens
Reinhard Wilczek äußert sich folgendermaßen über Timms Ästhetik: „Sein Erzählen ist
immer auch der (biographische) Rekonstruktionsversuch eines Lebensentwurfs, dessen
Authentizität erst sichtbar gemacht oder dem Vergessen entrissen werden muss“.117
Diese
Feststellung gilt genauso gut für Am Beispiel meines Bruders: Timm versucht, indem er
erzählt, sich ein mehr zuverlässiges Bild des Bruders zu formen. Wie auch der Titel dieser
Arbeit zeigt, entsteht das Gedächtnis erst, indem man erzählt. Es ist aber sehr wichtig, zu
erwähnen, dass die Macht, die dem Erzählen dadurch zukommt, sehr groß ist: Während des
Erzählens gibt es die Möglichkeit, die Vergangenheit ganz anders darzustellen, als sie
wirklich gewesen ist.
Timm beweist im Bruderbuch, dass er sich des manipulierenden Charakters des
Erzählens völlig bewusst ist. Jetzt wird die Wichtigkeit der oben analysierten Gattungsfrage
deutlich. Wie sich dort herausgestellt hat, benutzt Timm verschiedene Techniken zur
Problematisierung der Gattungsfrage. Obwohl sich aus der Analyse zeigt, dass es sich hier um
eine – wenn auch nicht eine klassische – Autobiographie handelt, hat Timm versucht, dies so
gut wie möglich zu verbergen, als ob er vermeiden wollte, dass der Leser den Text einfach als
eine Autobiographie betrachten würde. Das hat vielleicht mit der Verantwortung, die einer
Autobiographie zugeschrieben wird, zu tun, nämlich die Annahme, dass eine Autobiographie
eine wahrheitsgemäße Darstellung der Wirklichkeit ist. So erwähnt Timm das in seinen
poetologischen Vorlesungen118
und auch Matteo Galli deutet darauf hin, dass ein
autobiographischer Text einen absoluten Wahrheitsanspruch verlangt.119
Eine Autobiographie
trägt somit das Risiko, dass der Leser das, was erzählt wird, als das einzige Richtige
betrachtet. Dass Timm diese Annahme vermeiden will, zeigt schon seine besondere
Erzählweise, die Montagetechnik, mit der er verschiedene Sichtweisen zu Worte kommen
lässt, und auf diese Weise seine eigene Sichtweise als eine der vielen darstellt.
Die Montagetechnik hat auch die Funktion, der „Gefahr, glättend zu erzählen“,120
aus
dem Wege zu gehen, also zu vermeiden, dass, wenn etwas nach und nach erzählt wird, das
117
Reinhard Wilczek: „Erzählen als ‚existenziale‟ Kategorie. Reflexion zur Ästhetik des Narrativen bei Uwe
Timm“. In: Deutschsprachige Erzählprosa seit 1990 im europäischen Kontext: Interpretationen, Intertextualität,
Rezeption. Hg. von Volker Wehdeking und Anne-Marie Corbin. Trier: Wissenschaftlicher Verlag Trier 2003, S.
163-178, hier S. 175. 118
Vgl. Timm: Von Anfang und Ende, S. 81 (siehe auch 2.1.1 und 2.2.1) 119
Vgl. Matteo Galli: „Vom Denkmal zum Mahnmal: Kommunikatives Gedächtnis bei Uwe Timm“. In: „(Un-)
Erfüllte Wirklichkeit“: neue Studien zu Uwe Timms Werk. Hg. von Frank Finlay. Würzburg : Königshausen und
Neumann 2006, S. 162-172, hier S. 171. 120
Timm: Am Beispiel meines Bruders, S. 36.
31
Geschehene sich ändert und so das Grausame geglättet wird. Dieses Verfahren wird im
Text anhand der Bombardierung von Hamburg illustriert:
Das Eigentümliche war, wie der Schock, der Schreck, das Entsetzen durch das wiederholte Erzählen
langsam faßlich wurden, wie das Erlebte langsam in seinen Sprachformeln verblaßte: Hamburg in
Schutt und Asche. Die Stadt ein Flammenmeer. Der Feuersturm.121
Das Grausame der Bombardierung wird geglättet, indem man immer wieder davon erzählt.
Die Ich-Figur scheint nichts dagegen zu haben, findet es aber ‚eigentümlich‟, dass durch
bestimmte Sprachformeln das Leid eingegrenzt werden kann.
Sehr kritisch ist Timm, wenn mit solchen Sprachformeln versucht wird, die
Grausamkeiten der Nazi-Verbrecher zu relativieren. In einem Interview erwähnt er: „Ich
schätze es gar nicht, wenn man in Deutschland versuchen sollte, sich eine kollektive
Opferrolle buchstäblich zu erarbeiten. [...] man sollte die Gewichte nicht verschieben“.122
Auch im Text betont die Ich-Figur diese Idee:
Das Geschehen verschwand in den Stereotypen: Hitler, der Verbrecher. Die Sprache wurde nicht nur
von den Tätern öffentlich mißbraucht, sondern auch von denen, die von sich selbst sagten, wir sind
noch einmal davongekommen. Sie erschlichen sich so eine Opferrolle.123
In diesem scharfen „erschlichen“ wird sichtbar, dass die Ich-Figur die Entschuldigung, das
sich der Verantwortung entziehen kritisiert. Es ist daher wahrscheinlich, dass es für Timm
denn auch sehr wichtig ist, durch das Erzählen die Grausamkeiten, die sein Bruder und die
Nationalsozialisten im Allgemeinen begangen haben, nicht als weniger grausam
darzustellen, als sie gewesen sind. Wenn er das machen würde, würde er genau das tun,
was er bei seinem Vater so verachtet, nämlich das ‚Kneifen‟.124
Um dieses Kneifen, dieses
Glätten der Grausamkeiten durch wiederholtes Erzählen zu vermeiden, ist die
Montagetechnik ein sehr geeignetes Mittel. Sie bewirkt, dass die Erzählung unregelmäßig
und chaotisch dargestellt wird, und so wird der Text eigentlich eine Art Sinnbild des
Erinnerungsverlaufs. Timm behauptet auch, dass er die Montagetechnik mit diesem Ziel
verwendet: „Diese Erinnerungen sind Bruchstücke, die können nicht durchlaufend erzählt
werden, weshalb ich auch diese Methode der kurzen Absätze gewählt habe“.125
Die Technik bewirkt somit, dass der Text auf keinen Fall geglättet ist – sowohl formal
als auch inhaltlich. Im Gegenteil, da so viele unterschiedliche Textsorten einmontiert
121
Timm: Am Beispiel meines Bruders, S. 39. 122
Timm zit. n. Kammler: Uwe Timm, Am Beispiel meines Bruders, S. 108. 123
Timm: Am Beispiel meines Bruders, S. 103. 124
Vgl. Timm: Am Beispiel meines Bruders, S. 130. 125
Timm zit. n. Kammler: Uwe Timm, Am Beispiel meines Bruders, S. 107.
32
werden, bekommt die Erzählung eine unpolierte Struktur, sie ist kein fließendes Ganzes.
Der Verlauf der Geschichte wird dem Leser auch nicht chronologisch mitgeteilt, man muss
als Leser selbst die Geschichte mit aufbauen. Die Montagetechnik bewirkt also auch, dass
der Leser eine aktive Funktion in dieser Erzählung bekommt: Er muss selber die
Kausalverbindungen herstellen, Timm macht das nicht für ihn. Auf diese Weise vermeidet
er, was er der Vätergeneration vorwirft, nämlich dass sie ganz frei von dem Krieg erzählten,
„ohne daß sich die Frage nach der Schuld stellte, nach Chronologie und Kausalität der
Grausamkeiten“.126
Indem Timm mit Hilfe dieser Montagetechnik selbst keine
Kausalketten herstellt, ist der Leser desto mehr verpflichtet, selbst über Chronologie und
Kausalität nachzudenken. Durch die formalen Unebenheiten ist es schwierig, inhaltlich zu
einem geglätteten Ganzen zu kommen. Diese besondere Erzählweise ist so eine Hilfe, die
Gefahr des glättenden Erzählens zu vermeiden und die Objektivität so viel wie möglich zu
bewahren.
3.2.2.2 Arten von Erinnerung
a) Das Familiengedächtnis
Die individuelle Erinnerung
Timm hat mit diesem Text also die Absicht, ein zuverlässiges Bild des Bruders zu
rekonstruieren, ohne während des Schreibens in das glättende Erzählen zu verfallen. Um
herauszufinden, wie er mit dieser Aufgabe umgeht, ist eine Analyse der verschiedenen Arten
von Erinnerung, mit denen Timm bei seiner Suche konfrontiert wird, angewiesen. Wie schon
erwähnt, hat es den Anschein, dass Timm sich beim Erinnerungsprozess vorwiegend auf das
Familiengedächtnis verlässt. Es muss aber erwähnt werden, dass das Familiengedächtnis
sicherlich nicht die einzige Gedächtnisformation ist, und dass Timm sich auch nicht bewusst
dazu entschieden hat, das Familiengedächtnis zur Dominante dieses Buches zu machen. Er ist
eher aus Mangel an eigenen Erinnerungen dazu gezwungen, sich auf das Familiengedächtnis
zu verlassen (weshalb die individuelle Erinnerung hier dem Familiengedächtnis zugeordnet
worden ist).
Um seine Zielsetzung zu erreichen, wäre es aber ideal, ausreichend eigene Erinnerungen
an den Bruder zu haben, und diese in ihrem authentischen Kontext wieder hervorzurufen. Die
Idee, dass es Erinnerungen gibt, die unverändert im Gedächtnis gespeichert sind, ist aber
126
Timm: Am Beispiel meines Bruders, S. 128.
33
umstritten. Halbwachs hat den Begriff des sozialen Rahmens eingeführt, um zu zeigen, dass
Erinnerungen immer „unter dem Druck der Gesellschaft“127
rekonstruiert werden, und dass
die Vergangenheit immer schon unseren aktuellen Bedingungen und Wünschen anglichen
wird.128
Er ist somit der Meinung, dass es keine authentische Erinnerung geben kann. Im
Hinblick auf den Viktimisierungsprozess in Deutschland, den Timm ganz kritisch gegenüber
steht, ist es interessant Martin Walsers Ansichten über die authentische Erinnerung zu
beachten. Er hält es mit Halbwachs‟ Behauptung, dass die Gegenwart die Vergangenheit
beeinflussen kann, aber laut ihm ist die Umbildung der Vergangenheit nicht unserer Kontrolle
entzogen (wie Halbwachs behauptet), sondern ist sie eine Form der Verstellung und Selbst-
Täuschung.129
Er spricht daher nicht wie Halbwachs von einem sozialen Rahmen, der den
Menschen zur Anpassung der Vergangenheit zwingt, sondern von der „Vergangenheit als
Rolle“,130
die Menschen sich bewusst geben. Walser verachtet die bewusste Manipulierung
der Erinnerung zugunsten gegenwärtiger Wünsche. Er ist – wie Marcel Proust – Befürworter
der „mémoire involontaire“,131
die durch bestimmte Faktoren aus dem Unbewussten
hervorgerufen werden kann, wie der Geschmack einer Madeleine bei Proust Erinnerungen
freisetzt, die er zuerst vergessen glaubte. Diese hervorgerufene Erinnerung sei authentisch und
nicht den Bedingungen der Gegenwart angeglichen.
Es erhebt sich die Frage, welche Sichtweise die richtige ist. Halbwachs hat mit seiner
Theorie des sozialen Rahmens teilweise Recht, denn es ist tatsächlich so, dass viele
Erinnerungen unbewusst angepasst worden sind. Er unterschätzt aber die Macht der
Vergangenheit, und sieht nicht ein, wie sehr z. B. traumatische Ereignisse wie Krieg und
Holocaust in die Gegenwart hineinwirken. Wie der Titel von Aleida Assmanns Studie Der
lange Schatten der Vergangenheit schon zeigt, und wie sie später noch bemerkt, lebt der
Mensch im Schatten einer Vergangenheit, „die in vielfältiger Form in die Gegenwart weiter
hineinwirkt und die Nachgeborenen mit emotionaler Dissonanz und moralischem Dilemma
heimsucht“.132
Dieser Tatsache hat Halbwachs gar keine Aufmerksamkeit geschenkt. Walser
127
Halbwachs zit. n. Aleida Assmann: Generationsidentitäten und Vorurteilsstrukturen in der neuen deutschen
Erinnerungsliteratur. Wien: Picus 2006, S. 34. 128
Vgl. Assmann: Generationsidentitäten und Vorurteilsstrukturen in der neuen deutschen Erinnerungsliteratur,
S. 35. 129
Vgl. Assmann: Generationsidentitäten und Vorurteilsstrukturen in der neuen deutschen Erinnerungsliteratur,
S. 41. 130
Assmann: Generationsidentitäten und Vorurteilsstrukturen in der neuen deutschen Erinnerungsliteratur, S.
40. 131
Assmann: Generationsidentitäten und Vorurteilsstrukturen in der neuen deutschen Erinnerungsliteratur, S.
41. 132
Assmann: Generationsidentitäten und Vorurteilsstrukturen in der neuen deutschen Erinnerungsliteratur, S.
39.
34
hat Recht, wenn er auf die Gefahr, Erinnerungen nach eigenen Wünschen umzuformen,
hindeutet.133
Seine Theorie bekam aber viel Kritik, weil er in seinem autobiographischen
Buch Ein springender Brunnen nicht einmal ‚Auschwitz‟ nennt, seiner Meinung nach, weil er
damals einfach nicht wusste, es gäbe etwas wie Auschwitz, und weil er seine Erinnerung
somit nicht „mit Hilfe eines inzwischen erworbenen Wissens [...] belehren“134
wollte. Für
Walser sind das Wissen und die Erinnerung also nicht miteinander zu vereinen, denn das
heutige Wissen verforme die authentische Erinnerung. Hierdurch könnte Walser den Vorwurf
gemacht werden, dass er sich auf diese Weise wie viele Deutsche mit der Formel „Das haben
wir nicht gewußt“135
der Schuld entzieht und sich so eine Opferrolle erarbeitet, was Timm gar
nicht schätzen kann.136
Es ist interessant, einmal nachzugehen, wie Timm sich gegenüber diesen zwei äußersten
Sichtweisen von Halbwachs einerseits und Walser andererseits stellt. Wie oben im Abschnitt
über das glättende Erzählen deutlich geworden ist, ist er sich der Gefahr einer retrospektiven
Sichtweise bewusst. Mithilfe der Montagetechnik versucht er denn auch zu vermeiden, dass
die Erinnerungen ihre ursprüngliche Form in den immer wiederholten Erzählungen verlieren.
Es hat also den Anschein, dass er Befürworter der authentischen Erinnerung ist, und dass er
bei der Rekonstruktion des Bildes vom Bruder versuchen will, die Erinnerung an sich
sprechen zu lassen. Diese Idee lässt sich in dem Satz: „Erinnerung, sprich“137
fassen. Die
Erinnerung wird hier befohlen, selbst zu sprechen. Es handelt sich um den Titel eines Buches
von Vladimir Nabokov, das den Untertitel „Wiedersehen mit einer Autobiographie“138
trägt,
auf Englisch An Autobiography Revisited. Im Hinblick auf die Gattungsfrage kann diese
Information nützlich sein. So behauptet Friedhelm Marx, dass Uwe Timms Buch sich mit
diesem Zitat selbst als autobiographischer Text zu erkennen gibt.139
Dieses „Revisited“ deutet
darauf hin, dass die Ich-Figur ihre Autobiographie aufs Neue besuchen will, und sich das, was
ihr immer erzählt worden ist, wieder ansehen will, um herauszufinden, inwieweit das alles
stimmt. Dieses „Wiedersehen“ deutet aber zugleich auch auf die Distanz hin, die es zwischen
dem früheren und dem heutigen Ich gibt; auf die Tatsache, dass die Ich-Figur im Jetzt einen
133
Vgl. Assmann: Generationsidentitäten und Vorurteilsstrukturen in der neuen deutschen Erinnerungsliteratur,
S. 41. 134
Assmann: Generationsidentitäten und Vorurteilsstrukturen in der neuen deutschen Erinnerungsliteratur, S.
41. 135
Timm: Am Beispiel meines Bruders, S. 129. 136
Vgl. dazu 3.2.2.1. 137
Timm: Am Beispiel meines Bruders, S. 36. 138
Vladimir Nabokov: Erinnerung, sprich. Wiedersehen mit einer Autobiographie. Reinbek: Rowohlt Tb. 1999. 139
Vgl. Friedhelm Marx: “Erinnerung, sprich. Autobiographie und Erinnerung in Uwe Timms Am Beispiel
meines Bruders”. In: Erinnern, Vergessen, Erzählen: Beiträge zum Werk Uwe Timms. (2007), S. 27-35, hier S.
28.
35
Sprung ins Damalige macht. Obwohl es das Ziel ist, die Erinnerung selber sprechen zu lassen,
wird anhand des Satzes ‚Erinnerung, sprich‟ also zugleich darauf hingewiesen, dass die
Erinnerung nie in ihrer ursprünglichen Form zu erreichen ist. Das zeigt sich auch in der Art
und Weise, wie der Satz im Text dargestellt wird: Der Absatz vor diesem Satz handelt von
einem Bild der Bombardierungen in Hamburg, das der Ich-Figur immer noch deutlich
vorschwebt: „In der Luft schweben kleine Flämmchen“,140
worauf die Erinnerung empfohlen
wird, selber zu sprechen. Darauf folgt aber ein neuer Absatz, in dem darauf hingedeutet wird,
dass dieses Erinnerungsbild erst hinterher Bedeutung bekommen hat: „Die in der Luft
schwebenden Flämmchen fanden erst später im Erzählen ihre Erklärung. Es waren die vom
Feuersturm aus den brennenden Häusern gerissenen Gardinenfetzen“.141
Es hat den Anschein, dass Timm sich im Erinnerungsprozess zwischen Halbwachs und
Walser stellt. Das lässt sich auch anhand der ersten und einzigen lebendigen Erinnerung, die
Timm an den Bruder hat, illustrieren:
Ich komme aus dem Garten in die Küche, wo die Erwachsenen stehen, meine Mutter, mein Vater, meine
Schwester. Sie stehen da und sehen mich an. Sie werden etwas gesagt haben, woran ich mich nicht mehr
erinnere, vielleicht: Schau mal, oder sie werden gefragt haben: Siehst du etwas? Und sie werden zu dem
weißen Schrank geblickt haben, von dem mir später erzählt wurde, es sei ein Besenschrank gewesen. Dort,
das hat sich als Bild mir genau eingeprägt, über dem Schrank, sind Haare zu sehen, blonde Haare.
Dahinter hat sich jemand versteckt – und dann kommt er hervor, der Bruder, und hebt mich hoch. An sein
Gesicht kann ich mich nicht erinnern, auch nicht an das, was er trug, wahrscheinlich Uniform, aber ganz
deutlich ist diese Situation: Wie mich alle ansehen, wie ich das blonde Haar hinter dem Schrank entdecke,
und dann dieses Gefühl, ich werde hochgehoben – ich schwebe. [meine Hervorhebung]
Es ist die einzige Erinnerung an den 16 Jahre älteren Bruder [...].142
Der Text fängt mit dieser einzigen eigene Erinnerung, die die Ich-Figur an den Bruder hat, an.
Bei einer genaueren Lektüre fällt aber auf, dass diese Erinnerung schon von anderen
überarbeitet ist, wie eine Art von Palimpsest. Das wird deutlich in dem „werden“, das auf die
Vermutung der Ich-Figur hinweist, dass die Familienmitglieder so gehandelt haben müssen.
Auch dass der weiße Schrank ein Besenschrank ist, ist der Ich-Person erst später erzählt
worden. Es wird sichtbar, dass erst später die Erinnerung in diesem Kontext gestellt worden
ist. Man könnte Timm vorwerfen, er lasse sich bei seiner Erinnerung zu sehr von der
Gegenwart, von einem retrospektiven Blick führen, wenn er nicht, indem er
„werden“ verwendet, deutlich gemacht hätte, dass er sich des überarbeiteten Charakters seiner
Erinnerung bewusst ist. Außerdem erwähnt er, was er sich schon deutlich erinnert, und das
140
Timm: Am Beispiel meines Bruders, S. 35. 141
Timm: Am Beispiel meines Bruders, S. 36. 142
Timm: Am Beispiel meines Bruders, S. 7.
36
sind nur Erinnerungssplitter: die ihn anschauenden Familienmitglieder, das blonde Haar und
das Gefühl des Schwebens.
Timm verlässt sich somit einerseits nicht einfach auf seine einzige authentische
Erinnerung, wie Walser, andererseits schreibt er auch nicht alle Macht der Gegenwart zu, wie
Halbwachs. Er zeigt den Wert einer authentischen Erinnerung, aber auch, dass sie ohne
Kontext nichts vorstellt. Man soll sich nur davor hüten, die späteren Hinzufügungen als
selbstverständlichen Teil der Erinnerung zu sehen und immer versuchen, zwischen dem
Eigenen und dem Fremden zu unterscheiden. Timm scheint ein Gleichgewicht zwischen den
zwei äußersten Sichtweisen gefunden zu haben. Jetzt bleibt aber das Problem, dass Timm
schon andeutet: Die oben zitierte Erinnerung, ist die einzige eigene, die er an den Bruder hat.
Während es das Beste wäre, bei der Rekonstruktion des Bruders eigene Erinnerungen zur
Verfügung zu haben, die ihm dabei helfen können, ein Bild des Bruders zu formen, das
zuverlässiger wäre, als das, was die Eltern ihm aufdrängen, gibt es für ihn also keine andere
Möglichkeit, als die Erinnerungen der Familienmitglieder als Ausgangspunkt seiner
Recherchen zu nehmen.
Der Bruder aus der Sicht der Eltern
Wie schon erwähnt in dem Abschnitt über den Schreibanlass, wird Timm als Nachzügler
ständig an die Tapferkeit und Anständigkeit des Bruders erinnert. Er hat das immer als
„Erziehungsdruck“143
erfahren, und man könnte sagen, dass auch eine Art von
Erinnerungsdruck vorliegt. Die Eltern haben ihm ja immer das Bild, das sie vom Bruder
haben, aufgedrängt, so dass es für ihn sehr schwierig war, sich ein mehr neutrales Bild von
dem Bruder zu machen. Trotz dieses Drucks will er versuchen, die Erinnerungen der Eltern
und der Schwester neu zu betrachten. Wie auch die Ich-Figur im Text sagt: „Sich ihnen [dem
Bruder und Vater, M.A.] schreibend anzunähern, ist der Versuch, das bloß Behaltene in
Erinnerung aufzulösen, sich neu zu finden“.144
Dass er sich neu finden will, illustriert auch
der große zeitliche Abstand zum Erzählten, und die Tatsache, dass die Ich-Figur erst erzählen
kann, wenn die Familienmitglieder gestorben sind: Erst wenn das Familiengedächtnis
langsam verschwindet, wenn – wie Yvonne Pietsch bemerkt – die Zeitzeugen nicht mehr
befragt werden können,145
fängt die Ich-Figur an, nachzufragen. Das scheint paradox, aber
143
Timm zit. n. Kammler: Uwe Timm, Am Beispiel meines Bruders, S. 106. 144
Timm: Am Beispiel meines Bruders, S. 18. 145
Vgl. Yvonne Pietsch: „Auf der Suche nach der verlorenen Familie“. In: Familie und Identität in der
deutschen Literatur. Hg. von Thomas Martinec und Claudia Nitschke. Frankfurt: Europäischer Verlag der
Wissenschaften 2009, S. 259-273, hier S. 264.
37
Timm fand erst dann die Möglichkeit, in die Erinnerung einzudringen, weil sie „nicht
abgeschlossen war, solange Menschen lebten, die Mutter, die Schwester, die immer noch
korrigierend und ergänzend hätten eingreifen können“.146
Es ist aber nicht so, dass das
Familiengedächtnis völlig abgeschlossen ist, denn wie oben schon gezeigt, existiert es
ungefähr achtzig bis hundert Jahre, was mit drei Generationen übereinstimmt. Timm ist in
dieser Reihe die zweite Generation und noch am Leben, also imstande, die Erinnerungen an
seine Kinder weiterzugeben. Was vor allem aus seiner Aussage hervorgeht, ist, dass er sich
dazu entschieden hat, kritisch an das Familiengedächtnis heranzugehen und es nicht einfach
anzunehmen, wie es ihm angeboten wird.
Wie ist aber am Besten zu verfahren, um kritisch an das Familiengedächtnis herangehen
zu können? Eine geeignete Methode dazu ist wieder die Montagetechnik, denn sie kann für
einen mehr objektiven Blick auf die Situation sorgen, und dadurch kann Timm mehr Distanz
zur eigenen Familie bewahren. Anhand verschiedener Absätze über den Bruder wird deutlich,
wie das Bild, das die Eltern vom ihm haben, aussieht. Aus der Art und Weise, wie Timm
diese Absätze montiert hat, kann gefolgert werden, dass er sich der Widersprüche in den
Erinnerungen der Eltern bewusst ist. Im folgenden Zitat stellt sich heraus, dass die Ich-Figur
einsieht, wie unterschiedlich der Bruder von beiden Eltern betrachtet wird.
Er war ein eher ängstliches Kind, sagte die Mutter. Er log nicht. Er war anständig. Und vor allem, er war tapfer, sagte der Vater, schon als Kind. Der tapfere
Junge. So wurde er beschrieben, auch von entfernten Verwandten. Es waren wörtliche Festlegungen, und
sie werden es auch für ihn gewesen sein.147
Timm hat hier die Aussage der Mutter gegenüber der des Vaters montiert, man könnte das als
Kontrastmontage bezeichnen. Auch hier spricht die Ich-Figur von „wörtlichen Festlegungen“,
genauso wie sie von dem Verfallen in Sprachformeln und Stereotypen spricht, wenn sie auf
die Risiken des glättenden Erzählens hinweist. Das Prinzip des glättenden Erzählens ist auch
auf den Bruder übertragen worden. Das Wesen des Bruders ist durch die Jahre hindurch auf
einige feste Merkmale reduziert worden, sie ist zu einigen wörtlichen Festlegungen geglättet
worden. Das kursive „Der tapfere Junge“ betont nochmal, dass es sich hier um Worte handelt,
die nicht die der Ich-Figur und auch nicht die des Bruders sind, auch für den Bruder ist das
nur eine wörtliche Festlegung.
Anhand der Kontrastmontage zeigt Timm, dass er sich der Unzuverlässigkeit
bestimmter Aussagen bewusst ist. So betont die Mutter, wie brav der Bruder als Kind war:
„Er war brav. Ein braves Kind, sagte sie. Ein stilles Kind. Verträumt. Aber das sagte sie auch
146
Timm: Von Anfang und Ende, S. 78. 147
Timm: Am Beispiel meines Bruders, S. 14.
38
von mir, und vielleicht stimmt es sogar aus ihrer Sicht“.148
In dem Absatz, der dieser Aussage
vorangeht, kann man aber lesen, dass der Bruder in der Hitlerjugend mehrmals strafexerzieren
musste. Außerdem erwähnt die Ich-Figur nur einige Sätze nach der Aussage der Mutter: „Die
Eltern vermuteten mich in der Jugendgruppe eines Hamburger Briefmarkenvereins, während
ich durch die Straßen von Sankt Pauli lief, dem Viertel, das so ganz unheilig war [...]“. Timm
hat hier die Aussage der Mutter zwischen zwei Absätzen montiert, die das Gegenteil
darstellen und die Ich-Figur hat zur Aussage der Mutter noch hinzugefügt, dass das Urteil
über der Bruder und ihn vielleicht ‚aus ihrer Sicht‟ stimme. Indem Timm das auf diese Weise
montiert, zeigt er, dass er sich der Unzuverlässigkeit der Sichtweise der Mutter bewusst ist.
Neben dem Problem der unzuverlässigen und undifferenzierten Erinnerungen der Eltern,
gibt es auch das Schweigen, nicht nur der Eltern, sondern einer ganzen Generation. Es ist
nicht so, dass nicht über den Krieg erzählt wurde: „Die Vätergeneration, die Tätergeneration,
lebte vom Erzählen oder vom Verschweigen“.149
Der Vater gehörte zur ersten Gruppe, indem
er an den Diskussionen darüber teilnahm, wie man den Krieg doch hätte gewinnen können ,150
und Argumente suchte für die Mitschuld der Alliierten.151
Dringliche Fragen der Ich-Figur
wurden vom Vater aber entkräftet: „Du hast keine Ahnung. Du hast das nicht mitgemacht“.152
Der Vater verliert sich also in Details, redet von Sachen, die es nicht einmal gegeben hat, und
zugleich verschweigt er auf diese Weise das, was wirklich gewesen ist. Timm wird somit mit
vielen Lücken im Familiengedächtnis konfrontiert. Wie er diese zu füllen versucht, wird
später gezeigt.
Die festgeschriebene Erinnerung
Das individuelle Gedächtnis und die erzählten Erinnerungen der Eltern zeigen sich als
unzureichend und zu undifferenziert für die Rekonstruktion der Lebensgeschichte des Bruders.
Es gibt aber noch eine Art von Erinnerung, die zum familialen Gedächtnis gezählt werden
kann, und das ist die „festgeschriebene Erinnerung“.153
Nur hieraus spricht der Bruder selbst:
„Er [der Bruder, M.A.] selbst, sein Leben, spricht nur aus den wenigen erhaltenen Briefen und
aus dem Tagebuch“.154
Diese Dokumente verschaffen der Ich-Figur einen mehr direkten
Zugang zum Bruder. Es ist aber zweifelhaft, ob sie deswegen ein objektives Bild des Bruders
148
Timm: Am Beispiel meines Bruders, S. 27. 149
Timm: Am Beispiel meines Bruders, S. 99. 150
Vgl. Timm: Am Beispiel meines Bruders, S. 75, 95. 151
Vgl. Timm: Am Beispiel meines Bruders, S. 130. 152
Timm: Am Beispiel meines Bruders, S. 105. 153
Timm: Am Beispiel meines Bruders, S. 33. 154
Timm: Am Beispiel meines Bruders, S. 33.
39
umreißen. Wenn man z. B. die Feldpostbriefe, die der Bruder an die Eltern schreibt,
miteinander vergleicht, fällt auf, dass der Bruder beide Eltern anders informiert. So schreibt er
in einem Brief an den Vater vom zwanzigsten Juli 1943, dass es schwere Kämpfe sind,155
während er in einem Brief an die Mutter, der vom zweiundzwanzigsten Juli 1943 datiert,
schreibt, dass er es traurig findet, dass sie nie eingesetzt werden.156
Das stimmt mit dem
überein, was er seinem Vater in einem Brief vom siebzehnten März 1943 versprochen hat:
„Du schreibst mir, daß ich der Mutti nicht schreiben soll, daß ich im Kampf bin. So kann ich
Dir sagen, daß ich bis jetzt nichts davon nach Hause geschrieben habe und daß ich auch in
Zukunft nichts davon nach Hause schreibe“.157
Der Bruder passt die Informationen, die er den
Eltern gibt, ihren Erwartungen an: Die Mutter sieht in ihm ein braves, verträumtes Kind, also
fügt er zu seiner Aussage, dass sie nicht eingesetzt werden, hinzu: „Aber Du weißt, daß ich da
wenig drauf gebe [...]“. Für den Vater ist der Bruder der anständige, gehorsame Junge, und
wenn er dem Vater schreibt, erwähnt er denn auch, dass er die Jagd auf Orden großen Unsinn
findet, und dass er nur Befehle ausführt,158
denn er weiß, dass der Vater das schätzen würde.
Während die Ich-Figur sich so sehr davor hütet, durch das Erzählen in wunschgelenkte
Mutmaßungen zu geraten,159
wird deutlich, dass der Bruder in seinen Briefen genau das
macht: Er stellt sich selbst wunschgemäß dar, gemäß den Wünschen der Eltern. Daher ist es
für die Ich-Figur unmöglich, aus den Briefen das wahre Gesicht des Bruders abzuleiten. Diese
festgeschriebenen Erinnerungen machen den Bruder greifbarer als die erzählten Erinnerungen,
aber man muss eingestehen, dass sie nicht zuverlässiger sind.
Auch die Tagebucheinträge zählt die Ich-Person zu den festgeschriebenen Erinnerungen.
Da der Bruder diese nur für sich selbst geschrieben hat, und sie somit nicht den Erwartungen
von anderen angepasst sind, könnten sie ein ziemlich genaues Bild des Bruders darstellen. Es
gibt aber verschiedene Probleme im Hinblick auf das Tagebuch. So fiel es der Ich-Figur
zuerst sehr schwer, sich in die Tagebucheinträge zu vertiefen. Wie schon erwähnt, konnte sie
an der folgenden Stelle anfangs nie weiterlesen:
März 21.
Donez
Brückenkopf über den Donez. 75 m raucht Iwan Zigaretten, ein Fressen für mein MG.160
155
Vgl. Timm: Am Beispiel meines Bruders, S. 56. 156
Vgl. Timm: Am Beispiel meines Bruders, S. 92. 157
Timm: Am Beispiel meines Bruders, S. 74. 158
Vgl. Timm: Am Beispiel meines Bruders, S. 74. 159
Vgl. Timm: Am Beispiel meines Bruders, S. 76. 160
Timm: Am Beispiel meines Bruders, S. 16.
40
Nicht nur hat der Bruder einen russischen Soldaten erschossen, sondern er scheint das zudem
sehr normal zu finden und sich deswegen gar nicht schuldig zu fühlen, das zeigt sich aus
diesem banalen ‚ein Fressen für mein MG‟. Die Lust des Bruders am Töten stimmt nicht mit
dem Bild des braven, anständigen Jungen überein. Es ist für die Ich-Figur somit nicht nur
schwierig, die Tagebucheinträge durchzugehen, weil sie mehr Fürchterliches enthalten
könnten, sondern auch, weil sie gegen das Bild, das die Eltern vom Bruder haben, sprechen
könnten. Wenn die Ich-Figur aber ein vollständiges Bild des Bruders rekonstruieren will,
kann sie der Lektüre der Tagebucheinträge nicht entgehen. Ein anderes Problem ist, dass,
obwohl man die Tagebucheinträge als objektiver als die erzählten Erinnerungen und die
Briefe betrachten kann, sie weiter kaum Informationen über den Bruder selber enthalten.
Dieser schreibt in seinem Tagebuch fast nur über den Kriegsalltag. Persönliche Äußerungen
über das, was geschieht, sind kaum vorhanden: „Der Hintergrund der lakonischen
Eintragungen läßt sich fast nie aufhellen, ihn, den Bruder, nicht sichtbar werden, seine Ängste,
Freude, das, was ihn bewegt hat, Schmerzen, nicht einmal Körperliches wird angesprochen, er
klagt nicht, registriert nur“.161
Wenn die Ich-Figur über die Tagebucheinträge etwas mehr über den Bruder erfahren
will, ist sie gezwungen, die Einträge auf ihre eigene Weise zu interpretieren, und so ist das
Tagebuch schließlich auch nicht imstande, Quelle für ein mehr zuverlässiges Bild des Bruders
zu sein.
Bilder
Sehr wichtig für die Rekonstruktion des Familiengedächtnisses sind die Bilder, die mit Aleida
Assmann „als das Medium absichtsloser Vergangenheitsvermittlung par excellence gelten
können“.162
Insgesamt gibt es im Text ca. achtundzwanzig Fotos,163
unter denen ungefähr
zehn Bilder des Bruders. Sie zeigen ihn in Uniform164
und in Zivil,165
beim Vater auf dem
Schoß und im Auto,166
im Matrosenanzug mit einer Schultüte167
usw. Wenn man zuverlässige
Information über das Äußere einer Person bekommen will, sind Bilder sehr geeignet. Nur sie
geben der Ich-Figur eine Idee des Aussehens des Bruders, unabhängig von den
161
Timm: Am Beispiel meines Bruders, S. 141. 162
Aleida Assmann: Erinnerungsräume: Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses. München:
Beck 1999, S. 114. 163
Diese gehören nicht alle dem Familiengedächtnis, es gibt auch Bilder, die im kollektiven Gedächtnis
eingegangen sind. Diese werden im Abschnitt über das kollektive Gedächtnis ausführlicher besprochen. 164
Vgl. Timm: Am Beispiel meines Bruders, S. 10. 165
Vgl. Timm: Am Beispiel meines Bruders, S. 11. 166
Vgl. Timm: Am Beispiel meines Bruders, S. 17. 167
Vgl. Timm: Am Beispiel meines Bruders, S. 62.
41
Beschreibungen der Eltern. Das, woran sie sich selber erinnern kann, sind ja – wie erwähnt –
nur seine blonden Haare.
Oft ist es aber so, dass die Ich-Figur die Bilder mit eigenen Deutungen versieht. Das
wird z. B. deutlich, wenn sie ein Foto des Vaters als Soldaten zuerst ausführlich beschreibt,
um schließlich festzustellen, dass der Vater vermutlich einen Witz gemacht hat, und die
anderen Soldaten daher lachen.168
Die Vermutung, dass der Vater einen Witz gemacht hat,
geht aus ihrem Wissen hervor, dass der Vater ein „guter Unterhalter bei Tisch“169
war, der oft
Witze erzählte. Die Ich-Figur fügt dem Bild, das an sich nur Äußeres zeigt, also
Charakterzüge des Vaters hinzu. Das erinnert an Silke Horstkottes Feststellung, dass „der
Betrachter von Bildern diese nicht nur mit narrativen Kontexten, sondern auch mit einem
eigenen Reservoir unbewußter, möglicherweise bildhafter Erinnerungen abgleicht [...]“.170
Im Falle des Bruders hat die Ich-Figur aber nicht die Möglichkeit, die Bilder mit
eigenem Wissen zu ergänzen, denn alles, was sie über seine Mentalität, seine Wünsche weiß,
ist ihr von den Eltern erzählt worden. Wenn ein Bild den Bruder z. B. in HJ-Uniform mit
Stiefeln zeigt, weiß die Ich-Figur, dass der Bruder sein Taschengeld gespart hat, um sich diese
Stiefel kaufen zu können,171
weil die Eltern ihr das nachher erzählt haben. Das Foto
unterstützt in diesem Fall somit die Aussagen der Eltern, und deutet auf die Beschränkung der
Bilder des Bruders im Allgemeinen hin: Jeder narrative Kontext, der die Ich-Figur einem Foto
des Bruders hinzufügt, ist nicht ihr eigener. Sie kann sich nicht von den Interpretationen der
Eltern befreien, denn ohne diese haben die Bilder keine Bedeutung. Ohne lebendigen
Erinnerungsbezug, ohne sprachliche Kommunikation, ist ein Bild nach Siegfried Kracauer
eine „äußere Hülle“, die „das Gegenteil von Erinnerung“172
ist.
Obwohl Fotografien – wie oben zitiert – eine „Vergangenheitsvermittlung par
excellence“ sind, sind sie also deutlich von der Gegenwart abhängig, was bewirkt, dass die
Ich-Figur auch anhand der Bilder des Bruders sich nur eine Vorstellung von seiner Mentalität,
seinen Wünschen und Charakterzügen bilden kann. Auch die Fotos, die der Familie nach dem
Tod des Bruders geschickt worden sind, bieten keine Auskunft: Sie sind ganz alltäglich,173
wie seine Aufzeichnungen und zeigen keine gehenkten Russen oder die Erschießung von
168
Vgl. Timm: Am Beispiel meines Bruders, S. 20. 169
Timm: Am Beispiel meines Bruders, S. 77. 170
Silke Horstkotte: Nachbilder: Fotografie und Gedächtnis in der deutschen Gegenwartsliteratur.
Köln: Böhlau 2009, S. 125. 171
Vgl. Timm: Am Beispiel meines Bruders, S. 86. 172
Siegfried Kracauer zit. n. Assmann: Der lange Schatten der Vergangenheit, S. 53. 173
Vgl. Timm: Am Beispiel meines Bruders, S. 25.
42
Zivilisten.174
Auch diese „ 10 Lichtbilder“175
lassen den Bruder nicht „aufhellen“176
, seine
Intentionen nicht sichtbar werden.
b) Das kollektive Gedächtnis
Es hat sich herausstellt, dass das Familiengedächtnis nicht wirklich imstande ist, der Ich-Figur
befriedigende Informationen über das Leben des Bruders zu verschaffen. Dem
Familiengedächtnis können die Merkmale, mit denen Aleida Assmann die individuelle
Erinnerung gekennzeichnet hat, zugeschrieben werden. Die Erinnerungen der Familie sind
erstens perspektivisch: Sie umreißen ein Bild des Bruders, das aus dem Blickwinkel der
Eltern stimmt. Man kann somit nicht behaupten, dass ihre Erinnerungen falsch sind, denn wie
die Ich-Figur ebenfalls bemerkt, stimmen sie aus ihrer Sicht.177
Ein wahrheitsgemäßes Bild
stellen sie deshalb aber nicht unbedingt dar. Zweitens ist es so, dass die Erinnerungen des
Vaters mit denen der Mutter vernetzt sind. Obwohl sie beide den Begriff ‚braver Junge‟
anders definieren, sind sie sich darüber einig, dass der Bruder anständig war. Ihre
Erinnerungen bestätigen sich also und werden auf diese Weise glaubwürdiger. Drittens sind
sie fragmentarisch, was darauf hindeutet, dass sie „begrenzt und umgeformt“178
sind. So
deuten beispielsweise die ‚festgeschriebenen‟ Ausdrücke, mit denen die Eltern den Bruder
bezeichnen, darauf hin, dass durch immer wiederholte Erzählungen der Bruder zu diesem
braven Jungen umgeformt worden ist. Der Kontext, der die fragmentarische Erinnerung so
ordnet, dass sie die Sichtweise der Eltern unterstützt, ist erst nachher entstanden, als die Eltern
mit dem Erzählen angefangen haben. Die Erinnerungen sind viertens flüchtig und labil, was
sich z. B. im Versäumnis der Ich-Figur zeigt, Dingen noch einmal nachzufragen,179
wenn sie
dazu noch die Möglichkeit hatte. Was früher nicht interessant schien, zeigt sich im Licht von
Timms Recherchen plötzlich als wichtig. Dies illustriert, wie sehr die Relevanz von
Erinnerungen sich ändern kann. Zu diesen vier Defiziten kommt noch das – gezielte oder
nicht gezielte – Schweigen der Eltern.
Weil Timm mit diesen Defiziten im Familiengedächtnis konfrontiert wird, ist er für
seine Recherchen gezwungen, die Lücken mit außerfamiliären Erinnerungen aufzufüllen. Hier
kann das kollektive, kulturelle Gedächtnis Auskunft bieten. Wie im Text deutlich wird, hat
Timm neben den Erinnerungen der Eltern und der Schwester und neben den
174
Vgl. Timm: Am Beispiel meines Bruders, S. 25. 175
Timm: Am Beispiel meines Bruders, S. 31. 176
Timm: Am Beispiel meines Bruders, S. 141. 177
Vgl. Timm: Am Beispiel meines Bruders, S. 27. 178
Assmann: Der lange Schatten der Vergangenheit, S. 25. 179
Vgl. Timm: Am Beispiel meines Bruders, S. 130.
43
festgeschriebenen Erinnerungen auch eine Menge anderer Dokumente montiert. In seinen
poetologischen Vorlesungen argumentiert er das:
Jede literarische Arbeit, jedenfalls die mich interessierende, muss sich beidem, dem individuellen wie
dem gesellschaftlichen Erinnern, öffnen und gerade dem nachspüren, was verschwiegen wird, was nicht
im Blick und dennoch da ist. [...] Das auf das gesellschaftliche Gedächtnis gerichtete Nachdenken macht
das Öffentliche, ja notwendig Politische der Literatur aus, das von den individuellen Erfahrungen des
Schriftstellers ausgeht, um über sie hinauszugehen..180
Indem das individuelle und das kollektive Erinnern in einem Text zusammen behandelt
werden, gibt es also die Möglichkeit, diese einander ergänzen zu lassen. Auch Brigitte
Rossbacher hat festgestellt, dass im Text das kulturelle Gedächtnis aufgerufen wird, wenn
Lücken im Familiengedächtnis gestopft werden sollen.181
Die öffentlichen Dokumente sind
sehr gezielt im Text einmontiert. So lässt Timm einen Brief des Bruders durch die Bemerkung
folgen, dass der Bruder das Leiden der russischen Zivilbevölkerung nicht registriert hat,
worauf ein Brief des Generals Heinrici folgt, in dem er seiner Frau eine ausführliche
Beschreibung des grausamen Zustands in den russischen Dörfern gibt.182
Das kollektive
Gedächtnis funktioniert hier als eine Ergänzung für den Mangel an Informationen im Brief
des Bruders. An anderen Stellen werden Dokumente anhand der Kontrastmontage einander
gegenüber gestellt. So gibt es einen Brief des Bruders, in dem er am Ende um die Antwort der
Mutter bittet: „Nun liebe Mutsch will ich schließen, schreibe mir bald wieder“.183
Gerade
nach diesem Brief zitiert Timm aus Primo Levis Die Untergegangenen und die Geretteten,
dass die Häftlinge im Konzentrationslager keine Nachrichten von Verwandten und Freunden
bekommen konnten, und er schließt den Absatz mit dem oben zitierten Satz aus dem Brief des
Bruders ab. Indem diese zwei Absätze kontrastiert werden, wird das grausame Schicksal der
Opfer desto mehr betont.
Das Familiengedächtnis wird auch mit öffentlichen Fotos ergänzt. Wie oben gezeigt,
gibt es keine Fotografien des Bruders, die für eine Teilnahme an der Erschießung von
Zivilisten sprechen. Timm füllt diese Lücke auf,184
indem er öffentliche Fotos einer Schlucht
in der Nähe von Kiew im Text montiert,185
die er durch den Satz „Deutlich zeigen die Fotos –
180
Timm: Von Anfang und Ende, S. 82-83. 181
Vgl. Brigitte Rossbacher: Cultural Memory and Family Stories: Uwe Timm’s Am Beispiel meines Bruders in
Michael Braun: “Die Leerstellen der Geschichte.” In: Erinnern, Vergessen, Erzählen: Beiträge zum Werk Uwe
Timms. Hg. von Friedhelm Marx. Göttingen: Wallstein 2007, S. 53-67, hier S. 58. 182
Vgl. Timm: Am Beispiel meines Bruders, S. 24-26. 183
Timm: Am Beispiel meines Bruders, S. 102. 184
Obwohl es keine Beweise für die Beteiligung des Bruders an Erschießungen von Zivilisten gibt, stellt Timm
seine Tätigkeiten doch in diesem Kontext dar. Ob er damit eine Dekonstruktion des Heldenbildes des Bruders
gemeint haben könnte, wird unten untersucht. 185
Vgl. Timm: Am Beispiel meines Bruders, S. 136, 137.
44
die Sonne scheint“186
folgen lässt. Der Satz benennt die Deutlichkeit, die Klarheit dieser
Bilder, die in den von dem Bruder geschickten Fotos nicht anwesend ist. Sie stellen das
Leiden der Zivilbevölkerung, von dem in den Briefen und Tagebucheinträgen des Bruders
nicht die Rede ist, deutlich dar, lassen es ‚aufhellen‟. Auch das bekannte Foto von Lee Miller,
The evil, das nach der Befreiung des Konzentrationslagers in Dachau aufgenommen worden
ist und Häftlinge zeigt, die einen SS-Mann in einem Bach ertränken, ist einmontiert.187
Es
illustriert die Wut der Häftlinge, verursacht durch die Grausamkeiten der SS, die die Eltern
nicht haben sehen wollen.
Das sind nur einige Beispiele, die zeigen, wie nützlich das kollektive Gedächtnis für die
individuelle Erinnerung sein kann. Es ist aber wichtig, darauf zu achten, dass auch das
kollektive Gedächtnis Lücken enthält. Timm stellt fest: „Erinnerungen lassen sich verdrängen,
bewusst, oder sie werden durch das Unbewusste regelrecht blockiert, was, wie wir wissen, zu
psychischen Störungen führen kann, zum Trauma. Ein Vorgang, der durchaus nicht nur im
individuellen, sondern auch im kollektiven Gedächtnis feststellbar ist“.188
So geschieht es,
dass Denkmale nicht länger als Träger des kulturellen Gedächtnisses funktionieren, weil jeder
ihre Bedeutung vergessen hat. Es handelt sich dabei um einen natürlichen Vorgang, denn eine
Gesellschaft ist nicht imstande, alles beizubehalten. Das Schweigen kann aber auch eine
gezielte kulturelle Strategie sein,189
beispielsweise zugunsten einer bestimmten Ideologie.
Im Nachkriegs-Deutschland ist das Schweigen, das Vergessen der Bevölkerung eher
eine unbewusste Strategie: Man redet nicht über den Krieg, weil die Geschehnisse zu grausam
sind, um sie in Worte zu fassen. Das Unbewusste blockiert also die Erinnerung und führt zum
Trauma, zumindest für die Generationen, die den Krieg bewusst erfahren haben. Jochen
Hörisch deutet darauf hin, dass die Erinnerungsarbeit an die Massenmorde der Nazis mit einer
Verzögerung von zwei Jahrzehnten stattfand.190
Erst nach zwanzig Jahren ist die Bevölkerung
imstande, ihr kollektives Trauma zu verarbeiten. Die Verarbeitung fängt mit den Protesten der
Achtundsechziger – zu denen auch Timm gehört – an, die die Vätergeneration zur
Verantwortung und zu Antworten zwingen. Belastende Bilder, Dokumente, die es – trotz des
kollektiven Schweigens – noch immer gibt, sind Auslöser ihres Nachfragens. Man könnte hier
mit Assmanns Terminologie von einem Speichergedächtnis sprechen. Mit dem Begriff ist
gemeint, dass das, was von einer Gesellschaft zu einem bestimmten Zeitpunkt ausgeblendet
186
Timm: Am Beispiel meines Bruders, S. 137. 187
Timm: Am Beispiel meines Bruders, S. 60. 188
Timm: Von Anfang und Ende, S. 82. 189
Vgl. Assmann: Der lange Schatten der Vergangenheit, S. 52. 190
Vgl. Jochen Hörisch: Das Wissen der Literatur. München: Wilhelm Fink Verlag 2007, S. 146.
45
ist, nicht gänzlich vergessen sein muss, denn es kann in materiellen Spuren, wie Bildern und
Büchern, aufbewahrt sein, und in einer späteren Epoche neu entdeckt und gedeutet werden,
worauf es durch Traditionen, z. B. Gedenktage, wieder funktionell wird.191
Timm macht das, was im Speichergedächtnis bewahrt worden ist, wieder zum
„Funktionsgedächtnis“, indem er die offiziellen Dokumente in seiner privaten
Familiengeschichte aufnimmt. Das ist laut Aleida Assmann typisch für Familienromane: „Sie
dokumentieren die Nachgeschichte des Zweiten Weltkriegs im privaten Milieu der Familie
und thematisieren damit eine grundsätzliche Diskrepanz zwischen offizieller und privater
Erinnerung, die die deutsche Nachkriegsgeschichte bestimmt hat“.192
Timms Erzählweise,
wobei er die privaten und offiziellen Erinnerungen neben und gegenüber einander montiert,
deutet auch darauf hin, dass er sich weigert, heutiges Wissen bei seinen Recherchen zu
vernachlässigen. Es ist zwar seine Absicht, die Erinnerung sprechen zu lassen, ohne die
Korrekturen und Anpassungen der Familienmitglieder, aber es stellt sich heraus, dass er kein
zuverlässigeres Bild des Bruders erreichen kann, wenn er nicht auch die kollektiven
Erinnerungen mit einbezieht, die er erst später zu seiner Verfügung hat. Auf diese Weise zeigt
Timm, „dass eine retrospektive Bewertung der eigenen Erinnerung möglich ist, ohne diese
umzufälschen“.193
3.2.3 Die Erinnerung in Der Freund und der Fremde
3.2.3.1 Erzählen und das Heil des Vergessens
Oben wurde die Gattung der Erzählung, der dieses Buch zugeschrieben wird, schon
ausführlich besprochen, und darauf hingewiesen, dass die Ich-Person hier weniger
Schwierigkeiten hat, ihre Beziehung zum Erzählten anzuerkennen. Die Ich-Figur tritt hier
mehr selber als Erzähler der Geschichte hervor, und erteilt weniger den anderen das Wort. Es
gibt zwar immer noch die Montagetechnik, aber die einmontierten Dokumente sind viel
weniger zahlreich als diejenigen in Am Beispiel meines Bruders. So gibt es hier nur zwei
191
Vgl. Assmann: Der lange Schatten der Vergangenheit, S. 56. 192
Assmann: Generationsidentitäten und Vorurteilsstrukturen in der neuen deutschen Erinnerungsliteratur, S.
25. Hierbei sei bemerkt, dass – wie Yvonne Pietsch in ihrem Aufsatz Auf der Suche nach der verlorenen Familie,
S. 266 schon feststellt – der Begriff „Familienroman“ nicht wirklich eine adäquate Bezeichnung für Am Beispiel
meines Bruders ist. Erstens weil das Buch sich nicht zu einer „drei (und mehrere) Generationen umspannenden
Retrospektive“ (Assmann, S. 28) weitet, und zweitens weil der Begriff „Roman“ einen fiktionalen Charakter des
Buches impliziert, was – wie oben bei der Analyse der Gattungsfrage deutlich geworden ist – der Absicht der
Autobiographie, der Wahrheit so gut wie möglich anzunähern, widerspricht. 193
Assmann: Generationsidentitäten und Vorurteilsstrukturen in der neuen deutschen Erinnerungsliteratur, S.
50.
46
Briefe, beide von Benno Ohnesorg an den Direktor des Braunschweig-Kollegs,194
während im
Bruderbuch wohlgemerkt elf Briefe einmontiert sind. Zu diesen einmontierten Dokumenten
gehören auffallend wenig öffentliche Dokumente.195
Auch werden bei der Rekonstruktion der
Geschichte Ohnesorgs weniger Bilder verwendet: dreizehn gegenüber achtundzwanzig. Im
Hinblick auf die Zitate kann aber nicht behauptet werden, dass sie in diesem Text weniger
anwesend wären als in Am Beispiel meines Bruders: Zahllose Zitate von u.a. Ovid,196
Walter
Benjamin,197
Albert Camus198
sind einmontiert worden. Doch gibt es einen wichtigen
Unterschied zum Bruderbuch: Am Ende des Textes werden die Bücher, aus denen zitiert
worden ist, erwähnt. Mit diesem Verfahren lässt Timm die Zitate viel weniger für sich
sprechen als im Bruderbuch. Er deutet so auf die Tatsache hin, dass er selber derjenige ist, der
zitiert. Außerdem unterscheidet er auf diese Weise viel ausdrücklicher als in Am Beispiel
meines Bruders zwischen seinen eigenen Aussagen und denen von Fremden, und betont so,
dass er der wichtigste Erzähler dieser Geschichte ist.
Die Montagetechnik in diesem Text ist somit zwar für die Darstellung des
Erinnerungsverlaufes sehr geeignet, aber hat nicht wirklich zum Ziel, zu vermeiden, dass die
Ich-Figur zu sehr mit der erzählten Geschichte verbunden wird, wie im Bruderbuch. Der
Grund dafür liegt vermutlich in der Art und Weise, wie Timm sich an seinen Freund zu
erinnern versucht. Auch hier versucht er, einen Lebensentwurf darzustellen, die authentische
Person sichtbar zu machen, und wiederum gibt es das Problem, dass ihm von außen ein Bild
dieser Person, von dem die Zuverlässigkeit fraglich ist, aufgedrängt wird. Daher hat er sich
zum Auftrag gemacht, sich von diesem aufgedrängten Bild zugunsten seiner eigenen
Erinnerung an Benno Ohnesorg zu befreien. Was ihm dabei hilft, ist wiederum die zeitliche
Distanz, durch die er Gefühle wie Rache und Wut verarbeiten kann, aber noch wichtiger:
durch die das Generationengedächtnis – das unten ausführlicher besprochen wird – sich
langsam verwischt.
Aleida Assmann zitiert in ihrer Erinnerungsstudie Der lange Schatten der
Vergangenheit den Arzt Thomas Browne, der sich sehr pessimistisch über das
Erinnerungsvermögen des Menschen äußert:
Es wechseln Dunkelheit und Licht im Lauf der Zeit, und Vergessen hat an unserem Leben einen ebenso
großen Anteil wie das Erinnern. Von unserem Glück behalten wir nur einen oberflächlichen Eindruck
194
Vgl. Timm: Der Freund und der Fremde, S. 15-16 und S. 17-19. 195
Diese Dokumente werden im folgenden Abschnitt über das Generationen – und kollektive Gedächtnis
ausführlicher besprochen. 196
Vgl. Timm: Der Freund und der Fremde, u.a. S. 127. 197
Vgl. Timm: Der Freund und der Fremde, u.a. S. 34. 198
Vgl. Timm: Der Freund und der Fremde, u.a. S. 65.
47
zurück, und selbst die schmerzhaftesten Hiebe vernarben bald wieder. Dem Äußersten sind unsere Sinne
nicht gewachsen, und das Leid zerstört entweder uns oder sich selbst.199
Obwohl er Recht hat, dass das Vergessen Hand in Hand mit dem Erinnern geht, ist es für
Timm gerade dieses Vergessen, welches das Erzählen ermöglicht. Wie er auch in Von Anfang
und Ende feststellt: „Das Erzählen hat seinen Ursprung eben darin, im Erinnerten und
Vergessenen. Wobei zum Erinnern immer auch das Vergessen gehört, das Vergessen
möglicherweise sogar der weit produktivere Teil ist, indem es die Bedeutungsinseln im Fluss
Lethe erst schafft“.200
Erst wenn das Generationengedächtnis sich verwischt, ist er imstande,
seine eigene Geschichte über Benno Ohnesorg zu erzählen.
3.2.3.2 Arten von Erinnerung
a) Das Generationen – und kollektive Gedächtnis
Oben ist anhand eines Zitats von Timm dargestellt worden, dass er in Der Freund und der
Fremde die Erinnerungsmomente mit anderen teilt, während das in Am Beispiel meines
Bruders nicht der Fall ist. Ich habe diesen von Timm gemachten Unterschied mit den
Begriffen des Familiengedächtnisses und des Generationengedächtnisses verknüpft. In Am
Beispiel meines Bruders habe ich das Familiengedächtnis als die dominante
Gedächtnisformation bezeichnet, weil die Ich-Figur für ihre Recherchen von diesem
Gedächtnis sehr abhängig ist und sich beim Erinnerungsprozess somit in der ‚Wir-Gruppe‟
der Familie befindet. In Der Freund und der Fremde ist sie nicht abhängig von dem
Generationengedächtnis (sie verfügt über ausreichend individuelle Erinnerungen), aber sie
gehört trotzdem immer noch der Wir-Gruppe ihrer Generation.
Wie schon gezeigt anhand von Aleida Assmanns Gedächtnistheorien, ist jede
Generation von bestimmten Schlüsselerfahrungen geprägt, und teilen die Personen derselben
Generation bestimmte Weltbilder, Überzeugungen usw. Eine Schlüsselerfahrung, die die Ich-
Figur – die den Achtundsechzigern gehört – mit ihrer Generation teilt, ist die Erschießung
Benno Ohnesorgs und die darauffolgende Studentenrevolution. Normalerweise gibt es nach
einer Periode von ca. dreißig Jahren einen Generationswechsel, der bewirkt, dass die
Haltungen und Überzeugungen der vorigen Generation nicht länger bestimmend sind.201
Das
Schicksal Ohnesorgs und die Studentenrevolution haben aber solchen großen Einfluss gehabt
199
Thomas Browne zit. n. Assmann: Der lange Schatten der Vergangenheit, S. 23. 200
Timm: Von Anfang und Ende, S. 69. 201
Vgl. Assmann: Der lange Schatten der Vergangenheit, S. 27.
48
(z. B. im Hinblick auf die Verarbeitung der deutschen Vergangenheit), dass sie bis in die
heutige Zeit hineinwirken. Sie sind Teil des kollektiven Gedächtnisses geworden „durch
solche symbolische Stützen [Bilder, Texte, Monumenten usw.], die die Erinnerung in die
Zukunft hinein befestigen, indem sie spätere Generationen auf eine gemeinsame Erinnerung
verpflichten“.202
Es ist somit nicht einfach, hier zwischen dem Generationengedächtnis und
dem kollektiven Gedächtnis zu unterscheiden, weil der Text erst geschrieben worden ist,
wenn die Transformation vom Generationen- zum kollektiven Gedächtnis sich schon
vollzogen hat. Was für die Ich-Figur 1967 eine Schlüsselerfahrung ihrer Generation war, war
beim Erscheinen des Buches 2005 schon kollektiv gespeichert.
Eine der wichtigsten symbolischen Stützen des kollektiven Gedächtnisses im Hinblick
auf die Studentenrevolution ist unzweifelhaft das Bild des erschossenen Ohnesorgs, das
zweimal im Buch erwähnt wird.203
Wie die Ich-Figur feststellt, gehört es zu den Bildern, „die
sich ins Bewußtsein einsenken, eine hochverdichtete, aus sich heraus sprechende Situation
zeigen und so rationale Einsichten emotional aufladen und an die eigene Handlungsfähigkeit
appellieren“.204
Auf die Ich-Figur wirkte das Bild wie ein „Kraftstoß“,205
der sie dazu trieb,
sich zu ändern. Das erinnert an Roland Barthes‟ „punctum“206
, eine sehr starke Reaktion auf
ein Bild, die beim Rezipienten hervorgerufen wird, weil das Bild ihn wie ein Pfeil
durchbohrt.207
Matteo Galli hat öffentliche Bilder, die ein Punctum verursachen, als „negative
Epiphanien“208
bezeichnet, so auch das Bild des sterbenden Ohnesorg, das seiner Meinung
nach der Mittelpunkt dieses Textes ist.209
Oben wurde gezeigt, dass zur Zeit der sechziger und siebziger Jahre die Idee herrschte,
dass das kollektive Gedächtnis ein von der Gesellschaft kreierter Mythos war. Inzwischen ist
man sich aber der überzeitlichen Wirkmacht von Bildern bewusst geworden: Gewisse Bilder
prägen sich den nachfolgenden Generationen einfach unauslöschlich ein. Die überzeitliche
Wirkmacht des Ohnesorg-Bildes zeigt, dass dieses Bild nicht aus politischen Gründen von
den Rechten noch von den Linken zum kollektiven Erbe gemacht worden ist, sondern dass es
von sich aus zum Träger des kollektiven Gedächtnisses geworden ist. Es wurde oben gezeigt,
202
Assmann: Der lange Schatten der Vergangenheit, S. 35. 203
Vgl. Timm: Der Freund und der Fremde, S. 11 und 117. 204
Timm: Der Freund und der Fremde, S. 117. 205
Timm: Der Freund und der Fremde, S. 117. 206
Roland Barthes zit. n. Matteo Galli: „Schuhkartons und Pappschachteln: Uwe Timms mediale
‚Gedächtniskisten‟“. In: Erinnern, Vergessen, Erzählen. Beiträge zum Werk Uwe Timms. Hg. von Friedhelm
Marx. Göttingen: Wallstein 2007, S. 103-116, hier S. 106. 207
Vgl. Roland Barthes zit. n. Galli: Schuhkartons und Pappschachteln: Uwe Timms mediale ‚Gedächtniskisten’,
S. 107. 208
Galli: Schuhkartons und Pappschachteln: Uwe Timms mediale ‚Gedächtniskisten’, S. 108. 209
Vgl. Galli: Schuhkartons und Pappschachteln: Uwe Timms mediale ‚Gedächtniskisten’, S. 116.
49
dass auch die Ich-Figur das einsieht: Sie nennt das Bild eine „aus sich heraus sprechende
Situation“.210
Sie ist sich aber nicht darin einig, dass die Öffentlichkeit anhand des Bildes eine
Art von Mythenbildung um Ohnesorg herum in Gang bringt. Einerseits tritt Ohnesorg durch
sein traumatisches Schicksal als der heroische Held, der sich für seine politischen
Überzeugungen geopfert hat, hervor. Er wird zum „politischen Exempel“211
der
Achtundsechziger gemacht. Andererseits wird er von den Medien als ein politischer Rebell
gestaltet, eine Darstellung, gegen die die Ich-Figur protestiert:
Empörung, Wut, Ratlosigkeit, dann eine gerichtete Wut, eine Wut auf die Staatsorgane, auf die Polizei,
auf den Regierenden Bürgermeister Albertz, auf die SPD, auf die Pressesprecher der Behörden, die
zunächst alles herunterredeten, dem Toten unterstellten, er habe den Zivilfahnder angegriffen. Eine
gezielte Desinformation wurde verbreitet: Ein Polizist sei von einem Demonstranten mit einem Messer
angegriffen und erstochen worden.212
Obwohl das Bild von Ohnesorg für sich spricht, wird hier sichtbar, dass es damals doch
Versuche gegeben hat, diesem Foto eine ganz andere Bedeutung zu geben. Es gibt auch noch
ein anderes Foto des am Boden liegenden Ohnesorgs, auf dem neben ihm ein Polizist mit
einem Knüppel in der Hand steht, „als habe er den Demonstranten eben niedergeschlagen“.213
Die Ich-Figur fügt aber gleich darauf hinzu, dass es bekannt war, dass Ohnesorg erschossen
worden ist. Doch war das unmittelbar nach dem Geschehen nicht der Fall: „Zunächst war
noch abgestritten worden, daß der Demonstrant durch einen Schuß umgekommen sei“,214
manche behaupteten, Ohnesorg sei „unglücklich gestürzt“.215
Obwohl das Foto des Polizisten
mit dem Knüppel in der Hand die Polizei nicht als weniger schuldig darstellt, kann das Foto
doch dazu beigetragen haben, die Annahme, dass Ohnesorg nicht erschossen worden war,
aufrecht zu erhalten.
Ohnesorg ist durch seinen zufälligen Tod zu etwas gemacht worden, das er nie gewesen
ist. Er war nicht politisch engagiert,216
er war sogar nicht an Politik interessiert,217
auf jeden
Fall nicht laut der Ich-Figur. Das Bild des toten Ohnesorgs stimmt gar nicht mit dem ihres
Freundes Benno überein, es ist „eine merkwürdige Verkehrung seiner Existenz“.218
Wie
Reinhard Wilczek erwähnt, gibt Timm durch sein Schreiben seinen Figuren „jene Würde
210
Timm: Der Freund und der Fremde, S. 117. 211
Timm: Der Freund und der Fremde, S. 14. 212
Timm: Der Freund und der Fremde, S. 116-117. 213
Timm: Der Freund und der Fremde, S. 162. 214
Timm: Der Freund und der Fremde, S. 121. 215
Timm: Der Freund und der Fremde, S. 121. 216
Vgl. Timm: Der Freund und der Fremde, S. 14. 217
Vgl. Timm: Der Freund und der Fremde, S. 87. 218
Timm: Der Freund und der Fremde, S. 14.
50
zurück, die ihnen genommen wurde“,219
und das ist sicherlich auch hier der Fall. Im Text liegt
der Nachdruck auf die eigenen Erfahrungen der Ich-Figur mit Ohnesorg. Die eigenen
Erinnerungen sind dominant. Das stellt sich heraus, wenn man sich als Leser den Text ansieht.
Es gibt zwar viele Zitate, aber nur sehr wenige von ihnen sind öffentliche Dokumente. Die
einzigen offiziellen Dokumente, die außer dem berühmten Foto in Bezug auf Ohnesorgs Tod
in den Text einmontiert sind, sind Dokumente, die mehr Auskunft über Ohnesorgs
Erschießung bieten. So gibt es das Zeugnis von Erika Hörnig, die beobachtete, wie Ohnesorg
von einem Polizisten auf den Kopf geschlagen wurde, darauf erschossen wurde, und wie er
dann nach wie vor von Polizisten geschlagen wurde.220
Vermutlich hat Timm dieses
Dokument gewählt, weil es völlig gegen die Mitschuld Ohnesorgs spricht. Weiter hat er eine
Akte einmontiert, die sehr genau die Art von Ohnesorgs Verletzung zeigt,221
und die übrigens
unmittelbar nach dem Absatz über die Zweifel an Ohnesorgs Erschießung gestellt worden ist,
und somit ein schönes Beispiel der Kontrastmontage darstellt.
Die zwei oben beschriebenen Absätze sind die einzigen offiziellen Dokumente, die
mehr Auskunft über das Geschehen geben. Obwohl es unendlich viele Zeugnisse des
Ereignisses gibt, hat Timm sich dazu entschieden, diese nicht in den Text einzumontieren. Die
Ich-Figur erzählt: „Ich lese die Zeugenaussagen von Polizisten, Demonstranten, Journalisten,
Passanten. Zeichnungen vom Tatort. Flugblätter, die zur Demonstration aufrufen“, 222
aber
keine dieser Dokumente werden tatsächlich im Text verwendet. Während in Am Beispiel
meines Bruders die öffentlichen Dokumente zur Absicht haben, das Familiengedächtnis zu
komplettieren, unterschiedliche Sichtweisen darzustellen, werden sie hier bewusst zur Seite
gestellt, um die eigene Sichtweise des Autors nicht zu untergraben.
b) Das individuelle Gedächtnis
Die eigene Erinnerung
Oben wurde das Heil des Vergessens besprochen. Damit war gemeint, dass Timm dank des
Verschwindens des Generationengedächtnisses die Möglichkeit bekommt, seine eigene
Ohnesorg-Geschichte zu erzählen. Das Generationengedächtnis hat sich, wie üblich nach
dreißig Jahren, verwischt. Das Bild des Geschehens hat zwar eine überzeitliche Wirkmacht,
aber der ganze Kontext um das Bild herum hat sich geändert: Die vielen Pressemeldungen,
219
Wilczek: Erzählen als ‚existenziale’ Kategorie. Reflexion zur Ästhetik des Narrativen bei Uwe Timm, S. 175. 220
Vgl. Timm: Der Freund und der Fremde, S. 114. 221
Vgl. Timm: Der Freund und der Fremde, S. 121-122. 222
Timm: Der Freund und der Fremde, S. 122.
51
die Kommentare zu Ohnesorgs Tod und Leben, die politischen Erklärungen, die bei der Ich-
Figur ein einfühlsames Erinnern verhinderten,223
sind nicht länger aktuell. Timm hat
achtunddreißig Jahre später die Chance, zu einem einfühlsamen, eigenen Erinnern zu geraten.
Anders als in Am Beispiel meines Bruders hat die Ich-Figur bei der „Suche nach seinem
[Ohnesorgs, M.A.] Tod“224
eigene Erinnerungen an ihren Freund, die nicht von anderen
überarbeitet worden sind. Das fällt gleich auf der ersten Seite des Buches auf, wo die Ich-
Figur sehr genau eine Erinnerung an den Freund beschreibt:
Dieser erste Blick. Unten der Fluß, der ruhig und grün dahinfließt, die Steinbrücke, auf deren Mauer er
sitzt, ein Bein über das andere geschlagen, so schaut er zum anderen Ufer, ein paar Büsche und Weiden
stehen dort, dahinter öffnen sich die Wiesen und Felder. Ein Tag im Juni, frühmorgens, noch mit der
Frische der Nacht, der Himmel ist wolkenlos und wird wieder die trockene Hitze des gestrigen Tages
bringen.225
Im Präsens erzählt die Ich-Figur, wie Benno Ohnesorg an diesem Tag im Juni dasaß, als ob
dieser Moment mit dem Schreiben zusammenfällt. Das Buch fängt somit nicht mit einem
rückblickenden Erzählen an, und das bewirkt, dass die Erinnerung als äußerst lebendig
hervortritt. Die Ich-Figur nennt sie eine ihrer „bildgenauen Erinnerungen“,226
und das zeigt
sich in der Direktheit, mit der sie dargestellt wird: Es gibt hier keine Konjunktive,
Vermutungen und hinzugefügten Kontexte wie bei der einzigen Erinnerung, die die Ich-Figur
an ihren Bruder hat. Die Erinnerung scheint völlig authentisch und vollständig aus dem
Gedächtnis hervorgerufen zu sein. Obwohl Halbwachs der Meinung ist, dass die Erinnerung
unter dem Diktat der Gegenwart steht, und auch Timm selber behauptet: „Es gibt natürlich
keine reine Form der Erinnerung und somit auch keine reine Authentizität. Erinnerung ist
immer schon durch das Mehrwissen (und Nicht-mehr-Wissen, Vergessen) der Gegenwart
kontaminiert, das Auswahl, Hervorhebung, Kontextsetzung bestimmt“,227
scheint sich diese
Erinnerung der Authentizität doch sehr anzunähern. Es gibt noch viele andere Absätze, die
davon zeugen, dass die Ich-Figur über eine Menge eigener Erinnerungen verfügt. So
beschreibt sie genau Ohnesorgs Lachen und sein Äußeres,228
sowie seine Gesten.229
Diese
sind individuelle Erinnerungen, aber zugleich sind sie schon sozial und kommunikativ, gerade
weil sie in einem Text vermittelt werden.
223
Vgl. Timm: Der Freund und der Fremde, S. 12. 224
Timm: Der Freund und der Fremde, S. 163. 225
Timm: Der Freund und der Fremde, S. 7. 226
Timm: Der Freund und der Fremde, S. 8. 227
Timm: Von Anfang und Ende, S. 81. 228
Vgl. Timm: Der Freund und der Fremde, S. 41. 229
Vgl. Timm: Der Freund und der Fremde, S. 67-68.
52
Man könnte diese Art von Erinnerungen mit einem Begriff von Aleida Assmann „das
aktive Ich-Gedächtnis“ nennen, wobei es darauf ankommt, „Erinnerungen bewusst aufzurufen
und ihnen die Form einer Erzählung zu geben, die ihnen Bedeutung zu verleihen und
Perspektiven für die Zukunft zu öffnen vermag“.230
Es gibt daneben auch „das unsortiert und
vorbewusste Mich-Gedächtnis“,231
das mit der ‚mémoire involontaire‟ von Proust verglichen
werden kann, und das man nicht selber hervorruft, sondern durch Gerüche, Geschmäcke usw.
aufgeweckt wird. Ein Beispiel dafür sind die Erinnerungsfetzen, die der Ich-Figur einfallen,
wenn sie vom Tod Ohnesorgs erfährt und auch in dem Augenblick, als sie über ihn
schreibt.232
Dasselbe gilt für die Eindrücke von Blumen, die bewirken, dass der Freund ihr
nahe ist.233
Diese Art von Erinnerungen sind von äußeren Faktoren aufgerufen worden und
haben sich der Ich-Figur aufgedrängt. Auch sie sind Beispiele von eigenen Erinnerungen an
Benno Ohnesorg.
Ergänzungen von Fremden
Es wurde schon erwähnt, dass Timm mit diesem Text zum Ziel hat, seine eigene Erinnerung
an Benno Ohnesorg sprechen zu lassen. Für ihn ist Ohnesorg nie der politisch engagierte
Demonstrant gewesen, der er nach seinem Tod geworden ist, und das will er auch
gewissermaßen ‚beweisen‟. Obwohl die Ich-Figur über eine Anhäufung eigener Erinnerungen
verfügt, umfassen diese nur zwei Jahre von Ohnesorgs Leben. Er könnte sich einfach auf
diese Erinnerungen verlassen, um zu zeigen, was für eine Person Ohnesorg schon war. Es ist
aber typisch für Timm, dass er sich für diesen Auftrag nicht nur auf seine eigenen
Erinnerungen basiert, denn wie sich schon mehrmals herausgestellt hat, ist er sich der
Relativität der Erinnerung234
bewusst. Vor allem die Jugend Ohnesorgs soll weiter aufgeklärt
werden, denn die einzigen Eindrücke, die die Ich-Figur von Ohnesorgs Leben bevor und nach
dem Braunschweig-Kolleg hat, hat sie anhand von Ohnesorgs Erzählungen bekommen. So hat
Ohnesorg ihr z. B. erzählt, dass er während seiner Lehre als Schaufenstergestalter mit dem
Chefdekorateur befreundet war, aber gewisse Details fügt die Ich-Figur selber hinzu: „Der
Junge [Benno Ohnesorg, M.A.], stelle ich mir vor, stand daneben und hörte zu“.235
Wobei
noch einmal auf die Tatsache aufmerksam gemacht werden kann, dass Timm hier Ohnesorg
230
Assmann: Der lange Schatten der Vergangenheit, S. 120. 231
Assmann: Der lange Schatten der Vergangenheit, S. 120. 232
Vgl. Timm: Der Freund und der Fremde, S. 10. 233
Vgl. Timm: Der Freund und der Fremde, S. 152. 234
Vgl. NachBilder des Holocaust. Hg. von Inge Stephan und Alexandra Tacke. Köln: Böhlau 2007, S. 35. 235
Timm: Der Freund und der Fremde, S. 27.
53
bezeichnet, wie er manchmal auch sich selbst bezeichnet,236
um die Ähnlichkeit zwischen
ihnen hervorzuheben. Weiter hat sie über bestimmte Dokumente Informationen über
Ohnesorgs Leben bekommen, wie z. B. via das Merkblatt über die Einkommensverhältnisse
der Eltern, aus dem sie erfährt, dass Ohnesorgs Vater „663 DM im Monat“ verdiente; daraus
folgert die Ich-Figur: „Sie müssen als sechsköpfige Familie [...] sehr bescheiden gelebt
haben“.237
Bei den oben beschriebenen Techniken ist die Ich-Figur aber gezwungen, in
Mutmaßungen zu verfallen, was nicht ideal ist, wenn sie ein zuverlässiges Bild des Freundes
darstellen will. Eine mehr produktive Weise, um mehr Informationen zu bekommen, sind
denn auch die Gespräche mit Verwandten und Freunden von Ohnesorg. Im Dankeswort am
Ende des Buches fasst Timm zusammen, wer ihn mit weiteren Auskünften über Ohnesorgs
Leben versehen hat:
Danken möchte ich Lukas Ohnesorg für das lange Gespräch und seine nachdenkliche Offenheit.
Dank auch Willibald Ohnesorg für die Einblicke in die Kindheit seines Bruders und Brigitte Braun,
der Freundin von Benno und Christa Ohnesorg, die von den beiden so genau und anteilnehmend erzählen
konnte; Frank Grossman und Rotraud Cros, die 1967 mit Benno Ohnesorg zusammen wohnten;
Friederike Hausmann, die mir von dem Tag des Geschehens erzählt hat.
Dank des Beitrags dieser Personen ist Timm imstande, auf die bestmögliche Weise über den
ihm unbekannten Teil von Ohnesorgs Leben zu erfahren. Dass er explizite erwähnt, wer ihm
dabei geholfen hat, ist nicht nur eine Form elementarer Höflichkeit, sondern auch eine Weise,
um zu betonen, dass es im Buch nicht nur seine eigene Sichtweise gibt.
Die Gespräche mit Ohnesorgs Freunden und Verwandten bestätigen tatsächlich das Bild,
dass Timm von Ohnesorg skizziert. Ohnesorg wird von der Ich-Figur als eine ruhige, sanfte
Person beschrieben, die sich ziemlich zurückhaltend aufstellt,238
„ – um sich plötzlich zu
äußern, überraschend, in einer knappen witzigen Bemerkung [...]“.239
Er hält sich meistens
fern von Festen,240
um sich auf sein Schreiben zu konzentrieren.241
Sie erwähnt auch: „So
ruhig, ja sanft er schien, so hartnäckig war er, wenn er von etwas überzeugt war“.242
Dieses
Bild wird von Ohnesorgs Bruder Willibald bestätigt, wenn er berichtet, „wie sehr die
Anstrengungen des Jüngeren auf die Literatur, auf die Musik, den Jazz, auf die Kunst
236
Vgl. Timm: Der Freund und der Fremde, u.a. S. 29: „Dieser Junge mit der Volksschulbildung, der jeden
Auftrag vergaß, der durch den Tag stolperte oder wie narkotisiert herumstand, der wollte Bücher schreiben, das
war zu komisch“. 237
Timm: Der Freund und der Fremde, S. 82. 238
Vgl. Timm: Der Freund und der Fremde, S. 8, 97 239
Timm: Der Freund und der Fremde, S. 41. 240
Vgl. Timm: Der Freund und der Fremde, S. 7, 39. 241
Vgl. Timm: Der Freund und der Fremde, S. 41. 242
Timm: Der Freund und der Fremde, S. 39.
54
gerichtet waren“.243
Auch Frank Grossmann, der mit Benno und Christa zusammen gelebt hat,
beschreibt ihn als ruhig, „in sich gekehrt und dann, überraschend, ein witziger
Kommentar“.244
Auch Bennos Sohn Lukas ist mit diesem Bild seines Vaters aufgewachsen.
Für ihn war Ohnesorg „ein unkorrigierbares Gespenst, das am Tisch saß. [...] Benno, der
Hochbegabte, Benno, der nichts mehr falsch machen konnte [...]“.245
c) ‚Festgeschriebenes’
Außer den schon oben genannten Dokumenten in Bezug auf Ohnesorgs Erschießung, gibt es
noch einige andere festgeschriebene Erinnerungen, die das von Timm skizzierte Bild
Ohnesorgs bestätigen. So hat er das Gutachten der Psychologin bei der Aufnahmeprüfung
Ohnesorgs am Braunschweig-Kolleg einmontiert, das ein äußerst positives Bild von Ohnesorg
darstellt:
Ohnesorg ist sehr sensibel, eindrucksempfänglich, vor allem in ästhetischer Hinsicht. Er wirkt indessen
zwar zart in seiner ganzen Art, aber doch nicht weich oder unentschieden. [...] Seine Intelligenz ist gut;
oft wird er zwar mehr reflektieren als sich äußern, aber er hat doch Sinn für das Wesentliche einer Sache.
Mitmenschlich ist er kein schwieriger Partner, vielleicht manchmal geneigt, sich auf sich selbst
zurückzuziehen, aber doch ansprechbar und auch kontaktwillig. [...]246
Es ist, als ob die Psychologin in diesem Gutachten zusammenfasst, wie die Ich-Figur den
Freund sieht. Neben die Informationen, die sie indirekt durch die Gespräche mit Freunden
und Verwandten von Ohnesorg bekommt, tritt diese Analyse als ein direktes Dokument
hervor, das die mündlichen und somit fließenden Erinnerungen der Gespräche bestätigt. Es
gibt in der Personalakte Benno Ohnesorgs aber auch andere Interpretationen. So hat Ohnesorg
bei der Aufnahmeprüfung auch einen Baum zeichnen müssen, und aufgrund dieses Baums hat
ein anderer Psychologe ihm sehr andere Eigenschaften zugeschrieben: „introversiv, weich,
geschmeidig, Mangel an Selbstkontrolle (etwas, was man ihm am wenigsten nachsagen
konnte), passiv sinnierend, geistig unsicher [...]“.247
Wie der von der Ich-Figur eingefügte
Kommentar zwischen Klammern zeigt, ist sie gar nicht mit der Charakteranalyse
einverstanden. Sie nennt den Test beliebig und schlicht, aber zugleich zeigt dieser, dass jene
psychologische Analyse eigentlich nur eine Interpretation des Psychologen und demzufolge
perspektivisch ist.
243
Timm: Der Freund und der Fremde, S. 49. 244
Timm: Der Freund und der Fremde, S. 116. 245
Timm: Der Freund und der Fremde, S. 136. 246
Timm: Der Freund und der Fremde, S. 123-124. 247
Timm: Der Freund und der Fremde, S. 125.
55
Die festgeschriebenen Erinnerungen, die den direktesten Zugang zu Ohnesorg
verschaffen, sind seine eigenen Briefe, Aufzeichnungen und Gedichte. Wie schon erwähnt,
gibt es zwei Briefe Ohnesorgs, in denen er sich beim Direktor des Braunschweig-Kollegs um
die Aufnahme bewirbt. Hieraus spricht sein Wunsch, „Kunsterzieher“248
zu werden. Er
beschreibt in beiden Briefen, wie er sich „bildend“249
beschäftigt, und im zweiten Brief
(geschrieben aus Frankreich), berichtet er, dass er ausgezogen ist, „ein Mensch zu werden“.250
Die Briefe zeugen von seiner großen Liebe für Kunst und Literatur und von seinem
Durchhaltevermögen, wenn er von etwas wirklich überzeugt ist. Sie stimmen somit mit dem
Bild überein, dass die Ich-Figur und der Bruder Willibald von ihm haben. Man soll aber auf
das Ziel der Briefe achten: Sie sind mit der Absicht, einen Platz am Braunschweig-Kolleg zu
bekommen, geschrieben. Man soll damit rechnen, dass eine gewisse gezielte Selbstdarstellung
vorliegen kann.
Im Hinblick auf seine tatsächlichen literarischen Tätigkeiten sind nur wenige
‚Beweisstücke‟ zurückgeblieben. Es gibt seine Überlegungen über den Zusammenhang von
Gefühl und Literatur, die in der von der Ich-Figur und Ohnesorg gegründeten Zeitschrift teils-
teils veröffentlicht worden sind, und aus denen die Ich-Figur einen Satz zitiert.251
Weiter gibt
es in der Zeitschrift Akzente, die Ohnesorg ihr geschenkt hat, verschiedene Anstreichungen
und Randnotizen, die zeigen „welch erstaunlich abgelegene Wege er in seiner Lektüre
suchte“.252
Von seinen Gedichten, die bestmöglichen Beweisstücke seines dichterischen
Talents, ist nur eines geblieben,253
obwohl die Ich-Figur über fünf oder sechs Gedichte von
ihm verfügt hat, die aber im Laufe der Zeit verlorengegangen sind.254
Die beste Art und
Weise, in der Ohnesorg in die Geschichte als Dichter eingehen könnte, nämlich durch die
Publikation seiner Gedichte, wird hierdurch unmöglich. Wie die Ich-Figur feststellt: „Er hat
viel bewegt – als Opfer“.255
Wie Timm in seinem Aufsatz Der Gedankenstrich erwähnt, steht
der Gedankenstrich für das, was nicht verbalisiert werden kann, wohin die Sprache nicht
reicht.256
Hier impliziert der Gedankenstrich vermutlich den Bereich, in dem Ohnesorg nicht
viel hat bewegen können, und das ist als Dichter.
248
Timm: Der Freund und der Fremde, S. 15. 249
Timm: Der Freund und der Fremde, S. 15. 250
Timm: Der Freund und der Fremde, S. 18. 251
Vgl. Timm: Der Freund und der Fremde, S. 38. 252
Timm: Der Freund und der Fremde, S. 68. 253
Vgl. Timm: Der Freund und der Fremde, S. 151-152. 254
Vgl. Timm: Der Freund und der Fremde, S. 151 255
Timm: Der Freund und der Fremde, S. 117. 256
Vgl. Uwe Timm Lesebuch. Die Stimme beim Schreiben. Hg. von Martin Hielscher. München: Deutscher
Taschenbuch Verlag 2005, S. 409.
56
Den größten Anteil der einmontierten Zitate machen die Auszüge aus literarischen
Werken aus. Das ist eine weitere Technik, den Nachdruck auf das Literarische zu legen, statt
auf die öffentlichen Dokumente über Ohnesorgs Tod. Außerdem ist es für Timm eine der
meist geeigneten Methoden, sich dem Freund anzunähern. Wie die Ich-Figur erzählt: „Unsere
Freundschaft begann als Gespräch über Literatur“.257
Auch nach seinem Tod scheint die
Literatur sie mit dem Freund in Verbindung zu setzen: „[...] die Erinnerung an ihn spricht
immer wieder auch durch Texte [...]“.258
Fragmente aus Texten, die sie zusammen besprochen
und gelesen haben, wie Ovids Metamorphosen259
und Samuel Becketts Molloy,260
werden im
Text montiert. Sie funktionieren nicht wie Erinnerungen an sich, sondern können als ‚Medien‟,
die der Ich-Figur Erinnerungen vermitteln, betrachtet werden. Nicht nur von ihnen zusammen
gelesene Texte, sondern auch neue Texte können diese Wirkung haben, indem Ohnesorg, „[...]
sein Lachen, seine Gesten mit der Hand, seine Kommentare“,261
die Ich-Figur manchmal
beim Lesen begleiten.
Die im Text beschriebenen Bilder sind eine letzte Art von Erinnerungen. Diese sind
nicht wirklich festgeschrieben wie die oben dargestellten Erinnerungen, sondern gehören
ihnen doch gewissermaßen durch ihren hohen Grad der Direktheit. Wie erwähnt, gibt es in
diesem Text auffallend weniger Bilder als in Am Beispiel meines Bruders, was
möglicherweise damit zu tun hat, dass Bildmaterialien von dem Freund der Ich-Figur nicht so
leicht zur Verfügung stehen wie diese ihrer eigenen Familie. Auch ist es möglich, dass Timm
die Bilder bei dem Schreiben über Ohnesorg als weniger wichtig betrachtet, weil er Ohnesorg
gekannt hat. Er braucht die Bilder nicht um sich – wie im Bruderbuch – den Freund visuell
vorstellen zu können, oder um gewisse Charakterzüge daraus abzuleiten. Was er schon macht
in Bezug auf Ohnesorgs Frau Christa. Timm ist ihr nie begegnet und seine Sicht auf sie ist
„durch Erzählungen bestimmt, in denen sie meist in einem ungünstigen Licht erscheint“.262
Er
versucht denn auch, aus einem Foto, das sie am Strand zeigt,263
abzuleiten, was Ohnesorg in
ihr gesehen hat, was ihm zuerst aufgefallen war. Die meisten anderen Bilder gibt es vor allem
zur Illustration der Geschichte.
257
Timm: Der Freund und der Fremde, S. 8. 258
Timm: Der Freund und der Fremde, S. 127. 259
Vgl. Timm: Der Freund und der Fremde, S. 125. 260
Vgl. Timm: Der Freund und der Fremde, S. 155. 261
Timm: Der Freund und der Fremde, S. 126. 262
Timm: Der Freund und der Fremde, S. 162. 263
Vgl. Timm: Der Freund und der Fremde, S. 169.
57
d) Die zuverlässige Erinnerung?
Timm versucht also anhand seiner eigenen Erinnerungen und mithilfe der Erinnerungen von
Ohnesorgs nächsten Verwandten, ein Bild darzustellen, das am Besten mit dem Benno
Ohnesorg, wie er ihn kennt, übereinstimmt. In Am Beispiel meines Bruders gelingt es ihm
nicht ein zuverlässiges Bild des Bruders zu konstruieren, er ist nach wie vor nicht erreichbar.
Es erhebt sich die Frage, inwieweit es ihm für seinen Freund gelingt. Auf den ersten Blick
scheint er mit seiner Absicht Erfolg zu haben: Anhand der vielen persönlichen Beiträge über
Ohnesorg, werden die kollektiven Sichtweisen, die Ohnesorg zum Märtyrer der
Studentenrevolution gemacht haben, verlassen. Es wird ein völlig anderes Bild Ohnesorgs
aufgestellt, in dem vor allem seinem sanften Charakter, seiner Zurückgezogenheit und seinem
großen literarischen Talent Nachdruck verleiht wird.
Neben Timms Absicht, ein zuverlässiges Bild des Freundes zu konstruieren, liegt auch
die Frage vor, inwieweit Ohnesorg echt der Junge war, den Timm im Text beschrieben hat.
Diese Frage erhebt sich, wenn die Ich-Figur einen Brief von Christa Ohnesorg bekommt, die
sie über ihre Freundschaft mit Ohnesorg grübeln lässt: „Es war eine ungetrübte, ganz auf das
Lesen und das Schreiben ausgerichtete Freundschaft gewesen, so schien es mir, bis ich vor
fünf Jahren [...] einen Brief bekam, in dem sie mir schrieb, er habe mit mir nach unserem
Abschied gehadert. Eine Nachricht, die mich verstörte und mit ein Grund war, über ihn, über
uns zu schreiben“.264
Was die Ich-Figur hinterher immer als eine sorgenlose Freundschaft
betrachtete, wurde von Ohnesorg ganz anders gesehen. Erst während der Erinnerungsarbeit ist
es ihr deutlich geworden, dass Ohnesorg mit ihr gehadert haben muss, weil sie plötzlich ihren
gemeinsamen Plan, nach Berlin zu gehen, änderte und nach München umzog.265
Alles, woran die Ich-Figur sich richtig zu erinnern dachte, wird durch diese Entdeckung
in ein neues Licht gestellt. Das Zitat am Anfang des Buches aus T.S. Eliots Four Quartets
illustriert dieses Problem sehr gut:
There is no end, but addition: the trailing
Consequence of further days and hours,
While emotion takes to itself the emotionless
Years of living among the breakage
Of what was believed in as the most reliable –
And therefore the fittest for renunciation.
Das, was für Timm ein richtiges, zuverlässiges Bild ihrer Freundschaft scheint („the most
reliable“) und demzufolge leicht in der Erinnerung aufzurufen ist („the fittest for
264
Timm: Der Freund und der Fremde, S. 13-14. 265
Vgl. Timm: Der Freund und der Fremde, S. 113.
58
renunciation“), hat sich als unzuverlässig herausgestellt („among the breakage“). Die
Erinnerung an die ungetrübte Freundschaft hat sich durch Christas Brief, der erst Jahre nach
ihrem Abschied kam, geändert („there is no end, but addition“). Die Erinnerung ist nie zu
Ende, es gibt immer Hinzufügungen, wie auch Timm feststellt: „Erinnerungen sind [...]
geschmeidig. Sie sind formbar und verformbar. Im individuellen Bereich durch Wünsche,
Interessen, momentane Affekte, und in der Gesellschaft durch Herrschaftsinteressen, durch
den medialen Zugriff“.266
Es ist die Frage, inwieweit die Ich-Figur ihre Erinnerung nach eigenen Wünschen und
Interessen verformt hat. Während es für sie deutlich ist, dass Ohnesorg ein großes Dichttalent
war, stellt sich heraus, dass kaum jemand von diesem Talent wusste. Grossmann, der mit
Ohnesorg zusammen gelebt hat, weiß nicht, ob dieser Gedichte geschrieben hat, ob er
überhaupt geschrieben hat.267
Auch der Sohn scheint nichts davon zu wissen, oder er hat der
Ich-Figur nicht darüber erzählt, das wird deutlich, wenn sie hofft, „daß sich in den mit allen
möglichen gebrauchten Dingen vollgestellten Kammern und Zimmern seines Sohnes
vielleicht doch Gedichte finden lassen [...]“.268
Es stellt sich heraus, dass sogar Ohnesorgs
Frau Christa nur ein Gedicht von ihm kennt und sonst von keiner anderen literarischen Arbeit
weiß.269
Die Ich-Figur stellt fest: „Er muß sein Schreiben vor anderen wieder verschlossen
haben, auch vor dem Menschen, der ihm am nächsten stand. Möglicherweise hat er kaum
noch oder gar nicht mehr geschrieben“.270
Vielleicht war das Dichten nur eine Phase für
Ohnesorg. Wenn das der Fall wäre, ist das Bild des sich nur auf Literatur und Schreiben
richtenden Ohnesorgs vielleicht übertrieben. Auch ist es nicht so sicher, dass Ohnesorg sich
nicht für Politik interessierte. Brigitte Braun erzählt, wie sie Ohnesorg in der Morgue das
Buch, das er zuletzt gelesen hat, Nirumands Persien. Modell eines Entwicklungslands. in die
Hände steckte, das Buch, das ihn zu der Demonstration bewogen hatte.271
Ohnesorg war also
politisch interessiert, obwohl sich das vor der Demonstration nicht in tatsächliches politisches
Engagement gezeigt hat.
Die oben beschriebenen Informationen hat die Ich-Figur zwar nach ihrer Freundschaft
mit Ohnesorg bekommen und müssen daher nicht unbedingt gegen ihre eigene Erinnerung an
Ohnesorg sprechen. Im Text steht aber, dass die Politik ihm auch schon während ihrer
Freundschaft nicht völlig egal war: In einem Essay für die Zeitschrift teils-teils erwähnt er ein
266
Timm: Von Anfang und Ende, S. 93. 267
Vgl. Timm: Der Freund und der Fremde, S. 116. 268
Timm: Der Freund und der Fremde, S. 168. 269
Vgl. Timm: Der Freund und der Fremde, S. 173. 270
Timm: Der Freund und der Fremde, S. 173. 271
Vgl. Timm: Der Freund und der Fremde, S. 166.
59
Zitat von Gustav Landauer, einem Autor, den die Ich-Figur erst Jahre später in der
Studentenbewegung gelesen hat.272
Es war also nicht so, dass Ohnesorg sich ganz fern der
politischen Entwicklungen hielt, aber er hat sich offensichtlich nicht darüber geäußert. Auch
andere Sachen bleiben für die Ich-Figur verborgen. So stand sie einmal vor Ohnesorgs
Zimmer und war Zeuge eines rätselhaften Ausbruches: „Ein Brüllen, Schimpfen, Fluchen.
Auch schien er gegen Stühle, Schränke zu treten. Es war eine Pöbelei, ein berserkerhaftes
Zwiegespräch mit einem Niemand. War ich gemeint“?273
Auch wenn sie zusammen lebten,
hat die Ich-Figur Ohnesorg nie völlig durchschauen können, immer ist er für sie
gewissermaßen fremd geblieben. Das zeigen die vielen Anspielungen auf seine
Zurückgezogenheit274
und auch der Titel Der Freund und der Fremde, der auf Ohnesorg
bezogen werden kann, weil er für Timm zugleich ein Freund und ein Fremde ist, aber auch
auf Timm selber hindeuten kann, indem er auch gewissermaßen fremd für sich selbst ist.275
Es gelingt Timm somit nicht, herauszufinden, inwieweit seine Erinnerungen, seine
Vorstellung von Ohnesorg stimmen. Das er auch die Informationen erwähnt, die gegen sein
Bild von Ohnesorg sprechen, deutet darauf hin, dass er dem Leser keine Erinnerungen
aufdrängen will, dass er sich der Beschränkungen seiner eigenen Erinnerungen bewusst ist. Er
bedauert es, „nicht gefragt zu haben. Nicht mehr die Möglichkeiten haben, etwas zu klären, zu
erklären. Und zu verstehen“.276
Timm beschreibt seine Erinnerungsarbeit wie ein Gehen durch
eine Trümmerlandschaft: „Ich gehe mit dem Auftrag durch diese Trümmer, die Teile
zuzuordnen, was mir nicht gelingen will“.277
Genau wie der Bruder, lässt Ohnesorg sich nicht
aufhellen. Das Schreiben ist nach wie vor eine ergebnislose Suche.
4. Die Bedeutung der Erinnerungsarbeit
4.1 Von kommunikativem zu kulturellem Gedächtnis
4.1.1 Bücher als Beitrag zum kulturellen Gedächtnis
Es hat sich herausgestellt, dass es Timm, trotz seiner intensiven Erinnerungsarbeit, nicht
gelingt, ein zuverlässiges Bild des Bruders und des Freundes zu rekonstruieren. Wie er in
272
Vgl. Timm: Der Freund und der Fremde, S. 154. 273
Timm: Der Freund und der Fremde, S. 85-86. 274
Vgl. Timm: Der Freund und der Fremde, u.a. S. 80: „Fern erschien er, unberührbar. Ein Mondstrahl“, S. 82:
„Keine Klagen, auch das gehörte zu dem Eindruck von sanfter Stärke, stillem Fürsichsein, das zuweilen in eine
Schwermut glitt, unerreichbar erschien er dann“. 275
Vgl. dazu ausführlicher 4.2. 276
Timm: Der Freund und der Fremde, S. 173. 277
Timm: Der Freund und der Fremde, S. 148.
60
einem Interview feststellt: „[...] das Ziel ist für mich nach wie vor Wahrheitsfindung, die
natürlich nur approximativ und fragmentarisch zu erreichen ist und sich immer wieder selbst
in Frage stellen muss“.278
Es erhebt sich die Frage, wozu das Schreiben, die Erinnerungsarbeit
dann doch nützlich ist. Ist das Schreiben über den Brüder und den Freund umsonst gewesen,
weil diese nur „approximativ und fragmentarisch“ zu erreichen sind? Wenn man eine Aussage
von Timm in seinen poetologischen Vorlesungen betrachtet, wird deutlich, was Timm weiter
noch mit seinem Schreiben erreichen will: „Mich interessiert der Übergang von den
alltäglichen Dingen der Lebenswelt zum Monument. [...] Die Schrift bildet eine Brücke
zwischen dem zeitlichen Nahhorizont und dem Fernhorizont“.279
Mit anderen Worten: Timm
ist der Meinung, dass die Schrift, also Bücher, Dokumente, aber auch andere gezeichnete
Dinge280
wie Bilder, imstande sind, das, was kommunikativ und demzufolge fließend ist, zum
Monument, zum Teil des kulturellen Gedächtnisses umzuformen. Auch Matteo Galli deutet in
seinen Untersuchungen der Timmschen Literatur immer wieder auf diese Transformation hin:
Meines Erachtens besteht Timms Projekt einer ‚Ästhetik des Alltags‟ gerade in dem Versuch, das
Kurzzeitige, das durch den Tod der Kommunikatoren zum Verschwinden Verurteilte des kommunikativen
Gedächtnisses durch Literatur zu retten und in dem Versuch, dieses prekäre Gedächtnis im Endeffekt in
kulturelles Gedächtnis zu transformieren.281
Laut ihm ist es vor allem das Fotomaterial in Timms Büchern, dass durch seine
Beispielhaftigkeit die Transformation in ein bedeutendes Denkmal des kulturellen
Gedächtnisses ermöglicht,282
aber es sei bemerkt, dass schon die Tatsache, dass die
Familiengeschichte bzw. die Geschichte des Freundes in einem Text niedergeschrieben
worden sind, bewirkt, dass diese zum Teil des kulturellen Gedächtnisses werden können.
Timms Literatur kann somit im Allgemeinen als „Beitrag zum kulturellen Gedächtnis“283
betrachtet werden.
Es soll aber bemerkt werden, dass Timm nicht ohne Weiteres die kommunikativen
Erinnerungen zu kulturellen machen will. Das würde nicht mit seiner oben zitierten Einsicht,
dass die ganze Wahrheit nicht zu erreichen ist, übereinstimmen: Er ist sich der Begrenztheit
seiner Sichtweise bewusst und zeigt das anhand unterschiedlicher Techniken, wie u.a. der
278
Timm zit. n. LebensBeschreibungen: zwanzig Gespräche mit Schriftstellern. Hg. von Daniel Lenz und Eric
Pütz. München: Ed. Text und Kritik 2000, S. 100. 279
Timm: Erzählen und kein Ende, S. 17. 280
Vgl. Timm: Erzählen und kein Ende, S. 25. 281
Galli: Vom Denkmal zum Mahnmal: Kommunikatives Gedächtnis bei Uwe Timm, S. 163. 282
Vgl. Matteo Galli: „Schuhkartons und Pappschachteln: Uwe Timms mediale ‚Gedächtniskisten‟“. In:
Erinnern, Vergessen, Erzählen. Beiträge zum Werk Uwe Timms. Hg. von Friedhelm Marx.
Göttingen: Wallstein 2007, S. 103-116, hier S. 105. 283
Schöll: Chaos und Ordnung zugleich – zum intra- und intertextuellen Verweissystem in Uwe Timms
Erzähltexten, S. 138.
61
Kontrastmontage und der Perspektivwechsel, die oben schon besprochen wurden. Dass die
Erinnerungen aber in einem Buch niedergeschrieben werden, verhindert, dass er seine Absicht,
die Wahrheit immer in Frage zu stellen, schwieriger einhalten kann. Die Geschichten werden
ja durch die Schrift festgelegt, und es gibt nach dem Aufschreiben keine Möglichkeit mehr,
diese zu ändern. Auch die Ich-Figur in Der Freund und der Fremde stellt fest, dass das
Festgeschriebene nicht korrigierbar ist.284
In Am Beispiel meines Bruders deutet sie anhand
der Kursivierungen vielfach darauf hin, dass sie sich der festgeschriebenen Ausdrücke, die
das Geschehene glätten können, sehr bewusst ist. Mit Missachtung nennt sie sie
„Wortverfinsterungen“.285
Timm stellt sich in Von Anfang und Ende deshalb die Frage: „Wie
deutet man ein gelebtes Leben in einer Sprache, die nicht glättet, keine vorgestanzten
Formulierungen benutzt, nicht den Kanon der gängigen Tröstungen in Anspruch nimmt, in
einer Sprache, die das Besondere hervorhebt, ohne sich anzubiedern“?286
Es ist schon gezeigt
worden, dass Timm anhand der Montagetechnik versucht, die Lebensläufe des Bruders und
Freundes nicht zu glätten. Es ist interessant einmal zu betrachten, inwieweit die
Montagetechnik vorbeugen kann, dass der Bruder und der Freund in einer bestimmten
Kategorie festgeschrieben werden.
4.1.2 Die Abwehr der festgeschriebenen Kategorien
Wenn die Lebensläufe des Bruders und des Freundes niedergeschrieben werden, gibt es die
Gefahr, dass sie einer gewissen Kategorie zugeordnet werden: Der Bruder könnte durch seine
SS-Vergangenheit als Täter bezeichnet werden, Ohnesorg durch sein verhängnisvolles
Schicksal als Opfer. Aleida Assmann deutet aber darauf hin, dass die Zuordnung zu einer
dieser Kategorien nicht immer einfach ist. Das hat mit der Ambivalenz des Wortes ‚Opfer‟,
die sie anhand der Opferbegriffe in der lateinischen Sprache illustriert, zu tun:287
Im
Lateinischen wird zwischen dem Opfer (victima) einerseits und der Opfermaterie (sacrificium)
andererseits unterschieden. Die Begriffe ‚victima‟ und ‚sacrificium‟ markieren heute zwei
gegensätzliche Pole, die auf Deutsch im Wort ‚Opfer‟ zusammenfallen, und stellen den
Unterschied zwischen dem passiven Objekt von Gewalt einerseits und dem aktiven,
selbstbestimmten Einsatz des eigenen Lebens andererseits, dar.288
Während das ‚victima‟
unfreiwillig zum Opfer gemacht worden ist, hat das ‚sacrificium‟ sich bewusst dazu
284
Vgl. Timm: Der Freund und der Fremde, S. 50. 285
Timm: Am Beispiel meines Bruders, S. 98. 286
Timm: Von Anfang und Ende, S. 59. 287
Vgl. Assmann: Der lange Schatten der Vergangenheit, S. 72. 288
Vgl. Assmann: Der lange Schatten der Vergangenheit, S. 73.
62
entschieden, zu sterben, „als eine Gabe an die Gemeinschaft und das Vaterland“289
oder aus
religiösen Beweggründen.290
Obwohl der Bruder und der Freund unter völlig anderen Umständen gestorben sind,
könnten sie beide als Opfer in dem Sinne von ‚sacrificium‟, also als Personen, die wie ein
Märtyrer einen Opfertod gestorben sind, betrachtet werden: Der Bruder ist als Soldat für das
Vaterland gestorben, Ohnesorg als engagierter Student für seine politischen Ideale. Zumindest
wurden sie, bevor Timm über sie geschrieben hat, so erinnert. Anhand seiner besonderen
Erzähltechnik beweist er, dass sie nicht einfach einer Kategorie zugeordnet werden können.
Es wurde schon gezeigt, dass der Bruder aus der Sicht der Eltern ein braver, anständiger
Junge war. Auf die Frage der Ich-Figur, warum er der SS beigetreten ist, antwortet die Mutter:
„Aus Idealismus. Er wollte nicht zurückstehen. Sich nicht drücken“.291
Der Bruder tritt auf
diese Weise wie ein Märtyrer hervor, der für seine Ideale einen – wie es in der Todesnachricht
genannt wird – „Heldentod“292
gestorben ist. Wenn sich dann später herausstellt, wofür die SS
verantwortlich ist, bekommt der Bruder für seine Eltern sogar den Status eines Opfers im
Sinne des ‚victima‟, indem sie behaupten, „der Idealismus des Jungen“293
sei missbraucht
worden. Timm montiert gegenüber dieser Idee aber Aussagen, die den Bruder viel mehr als
Täter statt als Opfer erscheinen lassen. So hat es den Anschein, dass die Ich-Figur die Lust
des Bruders am Töten zeigen will. Man soll dabei darauf achten, dass der Bruder von Mitte
Februar bis Anfang August unaufhörlich Tagebuch geführt hat, „kein Tag ist ausgelassen“.294
Die Einträge in Am Beispiel meines Bruders sind also ein von Timm selektierter Ausschnitt
aus einer Menge von Einträgen. In diesen selektierten Einträgen ist das Gefallen des Bruders
am Töten und die Freude, die er an seinem Auftrag erlebt, oft deutlich sichtbar: „Gelände
wird durchkämmt. Viel Beute!“,295
„Mein überschweres Beute Fahr-MG schießt wie toll“,
„ich nehme mein MG und knalle drauf“,296
„Ich habe jetzt eine prima Random Pistole
gefunden [...] es war ja schon immer mein Schwarm son Ding zu haben“297
usw. Es ist, als ob
Timm bewusst Einträge aus dem Tagebuch gewählt hat, die zeigen, dass der Bruder eigentlich
nicht so anständig war, wie seine Eltern vermuteten, dass sich hinter dem ‚Idealismus‟ ein
großer Drang nach dem Töten verbarg. Dirk Niefanger bemerkt, dass „der Erzähler den
289
Assmann: Der lange Schatten der Vergangenheit, S. 74. 290
Vgl. Assmann: Der lange Schatten der Vergangenheit, S. 75. 291
Timm: Am Beispiel meines Bruders, S. 19. 292
Timm: Am Beispiel meines Bruders, S. 73. 293
Timm: Am Beispiel meines Bruders, S. 19. 294
Timm: Am Beispiel meines Bruders, S. 14. 295
Timm: Am Beispiel meines Bruders, S. 15. 296
Timm: Am Beispiel meines Bruders, S. 16. 297
Timm: Am Beispiel meines Bruders, S. 101.
63
Bruder mit deutlich grausameren Taten und drastischeren Ereignissen charakterisiert (oder
zumindest kontextualisiert), als die Notizen, Briefe und Tagebucheinträge es zulassen. Denn
von Exekutionen, KZs und Genoziden lesen wir beim Bruder ja nichts“.298
Es ist einerseits tatsächlich so, dass Timm neben den Tagebucheinträgen des Bruders
Aussagen von z. B. Himmler über den Kampf der Rassen299
montiert, als ob er diese
Aussagen mit denen des Bruders verbinden will. Andererseits aber äußert der Bruder sich im
Tagebuch und in den Briefen tatsächlich nicht zu den Exekutionen und Genoziden. Wie auch
die Ich-Figur feststellt: „In dem Tagebuch finden sich keine anti-semitischen Äußerungen und
keine Stereotypen wie in den Feldpostbriefen anderer Soldaten [...]“.300
Die Tatsache, dass sie
darauf hindeutet, spricht dann wieder gegen eine mögliche Profilierung des Bruders als Täter.
Dasselbe gilt für die Bemerkung der Ich-Figur, dass das Eintreten des Bruders in die Waffen-
SS „nur die wortlose Ausführung von dem, was der Vater im Einklang mit der Gesellschaft
wünschte“301
war, aus der gefolgert werden könnte, dass der Bruder laut ihr doch aus einem
Pflichtbewusstsein, das Vaterland zu dienen, gehandelt hat.
Es ist deutlich, dass Timm das Bild des Bruders sehr ambivalent darstellt. Er scheint
eine Balance zwischen der Darstellung des Bruders als Opfer oder als Täter zu suchen. Es ist,
als ob es für Timm nicht so wichtig ist, den Bruder wirklich einer dieser Kategorien
zuzuordnen, sondern er scheint mehr Wert auf das In-Frage-Stellen der Kategorien zu legen.
Wie schon oben erwähnt, schätzt er es gar nicht, wenn man in Deutschland versucht, sich eine
Opferrolle zu erarbeiten.302
Mit der ambivalenten Darstellung des Bruders scheint er sowohl
die Opferrolle, die dem Bruder durch die Eltern zugeschoben wird, als auch die
bundesdeutsche Tendenz zur Viktimisierung303
anzuklagen. Timm selber ordnet seinen
Bruder keiner Kategorie zu. Er urteilt schließlich nicht, sondern scheint das wiederum dem
Leser zu überlassen und motiviert ihn so, kritischer an diese Viktimisierung heranzugehen.
Genau dasselbe macht er in Der Freund und der Fremde. Der Unterschied mit dem
Bruderbuch ist zwar, dass es sich hier nicht um die Kategorien Opfer und Täter, sondern um
die zwei Pole des Opferbegriffes dreht: das selbstbestimmte Opfer und das unfreiwillige
Opfer. „Sein Tod wurde als Beweis für autoritäre und faschistische Tendenzen der
Staatsmacht genommen. Ich las, er habe keiner politischen Gruppierung angehört. Er sei
298
Dirk Niefanger: “Grenzen der Fiktionalisierung“. In: Erinnern, Vergessen, Erzählen: Beiträge zum Werk
Uwe Timms. Hg. von Friedhelm Marx. Göttingen: Wallstein 2007, S. 37-52, hier S. 49. 299
Vgl. Timm: Am Beispiel meines Bruders, S. 33. 300
Timm: Am Beispiel meines Bruders, S. 148. 301
Timm: Am Beispiel meines Bruders, S. 56. 302
Vgl. dazu 3.2.2.1 und 3.2.2.2. 303
Vgl. Niefanger: Grenzen der Fiktionalisierung, S. 50, siehe auch 3.2.2.1 für Timms Äußerungen dazu.
64
keiner der Krawallbrüder gewesen. Das verstärkte sein Bild als Opfer“.304
Obwohl die
Öffentlichkeit Ohnesorg nicht als politisch engagiert sieht und somit nicht als jemanden, der
sein Leben aus Idealismus geopfert hat, kann er doch als ‚sacrificium‟ betrachtet werden, weil
– wie die Ich-Figur erwähnt – sein Tod mit „etwas mehr Bedeutung, mit Wertung“ aufgeladen
wird, indem sie als „Opfertod, ein Tod, der andere vor dem Tod bewahrt“,305
bezeichnet wird.
Gleich darauf äußert sie aber: „Das Empörende an seinem Tod ist das Zufällige. Das
Absurde,“306
was bedeutet, dass sie es mit der Bezeichnung von Ohnesorg Tod als Opfertod
nicht einverstanden ist. Der Tod Ohnesorgs war ein Zufall, er hat zwar bewusst an der
Demonstration teilgenommen, aber war sich nicht der Gefahr bewusst, die ihn dort erwartete.
Anders als der Bruder, der sich bewusst dazu entschieden hat, sein Leben für das Vaterland zu
opfern und sich auf diese Weise als einer der Kriegshelden ins Buch der Geschichte
einzutragen, hat Ohnesorg „auf eine nicht beabsichtigte, zufällige Weise Geschichte gemacht
[...]“.307
Das Absurde, das Zufällige an Ohnesorgs Tod wird so sehr betont, dass gefolgert
werden kann, dass die Ich-Figur seinen Tod nicht mit einem bestimmten Sinn aufladen will,
und dass Ohnesorg für sie somit kein ‚sacrificium‟ ist. Obwohl sie nicht einverstanden ist, mit
der Art und Weise, wie die Öffentlichkeit den Tod Ohnesorgs bezeichnet, hat sich schon oben
in Bezug auf die Literarisierung herausgestellt, dass sie auch selber, indem sie das Zufällige
als Vorausdeutung semantisiert,308
Ohnesorgs Schicksal mit einem Sinn aufzuladen scheint.
Auf diese Weise scheint es, als ob die Ereignisse in einen größeren Plan passen, der den Tod
Ohnesorgs weniger absurd macht. Auch die vielen mythologischen Vergleiche entsprechen
dieser Idee. So vergleicht die Ich-Figur ein Foto von ihr und dem Freund in Badeanzug mit
„Patroklos und Achill“,309
wobei die Ich-Figur der Letztere sei. Martin Rehfeldt sieht in
diesem Vergleich wieder eine Vorausdeutung und zwar, weil Timm mit seinem politischen
Engagement Rache für seinen getöteten Freund nimmt, genau wie auch Achill das für
Patroklos machte.310
Die Ich-Figur erwähnt auch, dass der Kunstlehrer behauptete, „er zeige
eine erstaunliche Ähnlichkeit mit der griechischen Bronzeplastik, die als Wagenlenker von
Delphi bezeichnet wird“,311
und die Freundin von Christa und Benno Ohnesorg, Brigitte,
304
Timm: Der Freund und der Fremde, S. 14. 305
Timm: Der Freund und der Fremde, S. 113. 306
Timm: Der Freund und der Fremde, S. 113. 307
Timm: Der Freund und der Fremde, S. 13. 308
Vgl. dazu 2.2.2. 309
Timm: Der Freund und der Fremde, S. 100. 310
Vgl. Rehfeldt: Dem Gegenstand seine Fremdheit belassen, S. 208. 311
Timm: Der Freund und der Fremde, S. 42.
65
erzählt, dass er in der Morgue „wie ein griechischer Held“312
da lag. Indem auf die
mythologischen Vergleiche hingedeutet wird, scheint sie gewissermaßen selber an die
Mythenbildung herum Ohnesorg, an seine Heroisierung durch die Öffentlichkeit,
mitzuarbeiten.
Auch das Bild, die negative Epiphanie, die Ohnesorg nach seiner Erschießung zeigt,
wird von der Ich-Figur mit gewissen Bedeutungen aufgeladen. So ist ihr erster Gedanke beim
Betrachten des Bildes, dass es eine Einstellung aus Cocteaus Der Tod der Orpheus sein
könnte,313
der – wiederum sehr zufällig – einer der Lieblingsfilme Ohnesorgs war.314
Dieser
Vergleich erinnert übrigens an Ovids Mythe von Orpheus und Eurydike, aus der später im
Text zitiert wird,315
und in der Ohnesorg nicht als Orpheus, sondern als Eurydike betrachtet
werden kann, die von der Ich-Figur, der Orpheus, aus der Unterwelt des Hades zurückgeholt
werden soll. Es wird auch auf die christlichen Motiven, die das Foto zeigt, hingedeutet:
„Diese Frau in einem festlichen schwarzen Umhang, das schwarze Gewand läßt die Arme frei,
so kniet sie neben ihm, und der Blick geht nach rechts oben, die Assoziation ist naheliegend:
eine religiöse Ikone“.316
Wenn sich herausstellt, dass es von dem sterbenden Ohnesorg noch
ein anderes Foto gibt, das wahrscheinlich nach dem oben beschriebenen Foto aufgenommen
wurde,317
wünscht die Ich-Figur sich „die Bildfolge wäre eine andere, erst diese Aufnahme
und später das Foto mit der schwarz gekleideten Frau“,318
was darauf hindeutet, dass sie
genau wie die Öffentlichkeit das Ikonische an dem Bild braucht, um sich mit dem Vorfall
besser abfinden zu können.
Trotz der verschiedenen Aufwertungen von Ohnesorgs Leben und Tod und der Tendenz
zur Heroisierung, kann schließlich doch gefolgert werden, dass die Ich-Figur eingesehen hat,
dass es keinen Sinn im ganzen Geschehen gibt, Ohnesorg ist einfach zufällig durch den
Schuss getroffen worden, er ist nach wie vor ein unfreiwilliges Opfer. Diese Einsicht zeigt
sich indirekt, wenn die Ich-Figur ein Gespräch über Camus‟ Der Fremde zwischen sich und
dem Freund rekonstruiert: Die Ich-Figur versucht, Erklärungen für das Handeln der
Hauptperson, Meursault, der einen Araber erschossen hat, zu finden, aber laut dem Freund
war es nur „Die Sonne, die Hitze, das Aufblitzen des Messers, der Schuß, das ist alles“,
worauf die Ich-Figur einsieht: „Vielleicht hatte er damit recht, und es gab nicht die von mir
312
Timm: Der Freund und der Fremde, S. 166. 313
Vgl. Timm: Der Freund und der Fremde, S. 11. 314
Vgl. Timm: Der Freund und der Fremde, S. 12. 315
Vgl. Timm: Der Freund und der Fremde, S. 125, 127 316
Timm: Der Freund und der Fremde, S. 117-118. 317
Vgl. Timm: Der Freund und der Fremde, S. 162. 318
Timm: Der Freund und der Fremde, S. 163.
66
gesuchte tiefere Bedeutung. Ein Zufall. Der Schuß ist so sinnlos wie der Tod, wie es die Welt
ist“.319
Der Bezug zwischen Camus‟ Der Fremde und Ohnesorgs Schicksal zeigt sich schon
im Titel des Textes Der Freund und der Fremde, und wird später noch deutlicher, indem die
Ich-Figur darauf hinweist, dass der Vergleich mit dem Geschehen in Camus‟ Text sich
aufdrängt.320
Weiter zeigt sich die Einsicht der Ich-Figur, dass Ohnesorg nicht zu einem Helden
verherrlicht worden soll, wenn sie das Erinnern – wie schon oben gezeigt – mit dem Gehen
durch eine Trümmerlandschaft vergleicht:
Ich gehe durch eine Trümmerlandschaft, darin liegen einzelne größere Teile, erkennbar noch in ihrer
Form, also auch in ihrer früheren Funktion, hier ein Treppenstück, dort ein Gesims, eine Wand steht noch
mit einer Fensterhälfte, es könnte eine Kirche gewesen sein, ein Schloß, nein, doch eher eine Kirche von
erstaunlichem Ausmaß, eine Kathedrale wahrscheinlich. Ich gehe mit dem Auftrag durch diese Trümmer,
die Teile zuzuordnen, was mir nicht gelingen will. Eine Stimme, die seine ist, sagt, daß es keine Kirche
sei, sondern ein Velodrom.321
Die Ich-Figur will die Trümmer zu einer Kirche, sogar zu einer Kathedrale zusammensetzen.
Es stellt sich aber heraus, dass das gesuchte Objekt (der Freund) nicht als etwas von
„erstaunlichem Ausmaß“ interpretiert werden soll, was darauf hindeutet, dass die Ich-Figur
Ohnesorg nicht heroisieren, idealisieren soll. Die Trümmer, die Erinnerungsfragmente sollen
sich zu einem Velodrom zusammensetzen lassen, mit dem laut Rehfeldt das Bild unablässigen
Kreisens etabliert wird.322
Genau wie beim Bruder ist die Ich-Figur nicht imstande, ein
endgültiges Bild Ohnesorgs festzulegen: Ohnesorg wird nicht als freiwilliges oder
unfreiwilliges Opfer festgeschrieben, sogar nicht als Opfer überhaupt. Das Nicht-Erklären-
Können soll somit positiv betrachtet werden, denn durch die ambivalente Darstellung Benno
Ohnesorgs wird die Gefahr vermieden, dass er durch diesen Text statt der Opferrolle eine
neue Rolle bekommt: die – nach Rehfeldt – des genialen Dichters.323
4.1.3 Exemplifizierung und Individualisierung
Oben wurde nach Matteo Galli zitiert, dass Timm mit seinen Erinnerungsbüchern das
kommunikative Gedächtnis ins kulturelle transformieren will. Diese Transformation geschieht
sicherlich in Am Beispiel meines Bruders, wo die Geschichte der Familie eigentlich schon auf
eine indirekte Weise dem kollektiven Gedächtnis gehört, indem sie sehr beispielhaft für das
319
Timm: Der Freund und der Fremde, S. 66. 320
Timm: Der Freund und der Fremde, S. 92. 321
Timm: Der Freund und der Fremde, S. 148. 322
Vgl. Rehfeldt: Dem Gegenstand seine Fremdheit belassen, S. 213. 323
Vgl. Rehfeldt: Dem Gegenstand seine Fremdheit belassen, S. 212.
67
Nachkriegsdeutschland ist: Genauso wie man aus dem Titel Am Beispiel meines Bruders
ableiten kann, tritt der Bruder hier als Beispiel für eine Generation, die sich von der
nationalsozialistischen Ideologie hat verführen lassen, auf. Michael Braun deutet darauf hin,
dass das Buch mit dem Titel an die Tradition der Exempla-Literatur anknüpft, „in der die
Historie als eine vorbildliche Beispielsammlung fremder Erfahrungen gilt, aus denen man
lernen kann“.324
Die exemplarische Funktion des Buches geht auch aus der Einmontierung von
kollektiven Erinnerungen hervor. Anhand der Hinzufügung öffentlicher Dokumente wird das
Familiengedächtnis neben das kollektive Gedächtnis gestellt und wie schon erwähnt,
ergänzen diese einander auf diese Weise. Anders als in Der Freund und der Fremde wird bei
diesem Text nicht erwähnt, aus welchen Werken zitiert worden ist. Die Zitate sprechen
dadurch viel mehr für sich, sie treten als selbständiger hervor, weil nicht darauf hingedeutet
wird, dass sie von einem Erzähler einmontiert worden sind. Die Geschichte wird auf diese
Weise entindividualisiert und kann so leichter als Beispiel der kollektiven Erinnerung dienen.
Auch die schon oben genannten Techniken, die bewirken, dass der Text nicht als rein
autobiographisch betrachtet werden kann, und mit denen die Ich-Figur ihre eigene Geschichte
aus Händen geben zu wollen scheint, unterstützen diese Entindividualisierung.
In Der Freund und der Fremde liegt nicht wie im Bruderbuch eine Transformation des
kommunikativen Gedächtnisses ins kulturellen vor, sondern eher eine Umkehrung dieses
Prozesses. Benno Ohnesorg ist ja schon Teil des kulturellen Gedächtnisses durch seinen
berühmten, traumatischen Tod. Die Ich-Figur scheint es sich zur Aufgabe gemacht zu haben,
dem Freund seine Individualität zurückzugeben, also ihn aus dem kulturellen Gedächtnis
wieder zu dem Ohnesorg ihrer eigenen Erinnerungen zu transformieren. Dass Timm den Text
mit der Gattung der Erzählung unterschreibt, deutet auf eine persönlichere Schreibweise hin:
Er gesteht ein, dass er die Geschichte erzählt, und erlaubt sich auf diese Weise mehr Nähe
zum Erzählten. Aus der Analyse der Art und Weise, wie in Der Freund und der Fremde
erinnert wird, hat sich herausgestellt, dass es ihm ziemlich gut gelingt, den Ohnesorg hinter
dem traumatischen Schicksal zu zeigen. Der Nachdruck liegt nicht länger auf seinen Tod, der
ihn zum Teil des kollektiven Gedächtnisses gemacht hat, sondern auf sein Leben und seine
literarische Begabung.
Die Individualisierung des Freundes spricht auch aus dem Titelbild: Statt der Abbildung
des Bruders auf dem Umschlag von Am Beispiel meines Bruders, die – wie auf der
324
Braun: Die Leerstellen der Geschichte, S. 53-54.
68
Copyrightseite zu lesen ist – „Privatbesitz des Autors“ ist, gibt es auf dem Umschlag von Der
Freund und der Fremde keine Abbildung des Freundes, sondern ein Foto von Kelvin E.
Hargrove, Sunset on the Franklins. Vermutlich hat Timm dieses Umschlagfoto vorgeschlagen,
weil eine Abbildung des Freundes die Möglichkeit zur Ikonisierung wieder erhöhen würde,
gerade wie die negative Epiphanie des am Boden liegenden Ohnesorgs bewirkt hat, dass
dieser als Opfer Geschichte gemacht hat. Auf dem Umschlagfoto des Bruderbuches tritt der
Bruder als ein vorbildlicher und pflichtbewusster Soldat hervor. Das Bild unterstützt auf diese
Weise die exemplarische Funktion des Textes.
Im Ziel der Individualisierung Ohnesorgs liegt aber auch ein Paradox: Timm macht
Ohnesorg wieder von der Ikone zum Individuum anhand eines Buches, eines veröffentlichten
und demzufolge öffentlichen Textes. Die Individualisierung ist somit durch den kulturellen
Charakter der Literatur nie ganz möglich. Durch Timms kritisches Herangehen an die eigene
und fremde Erinnerung, durch sein Hindeuten auf die Ambivalenz wird Ohnesorg aber so
wenig wie möglich aufs Neue zur Ikone gemacht. In Am Beispiel meines Bruders hat er schon
die Absicht, das Familiengedächtnis zum kulturellen Gedächtnis zu transformieren, aber auch
in diesem Text festigt er das Gedächtnis nicht einfach wie es ihm vermittelt ist, sondern mit
seinen Defiziten und Unzuverlässigkeiten. Auf diese Weise geht der Bruder nicht als ein
eindeutiges, festgeschriebenes Beispiel in die Geschichte ein.
Aus dem oben Dargelegten ist zu folgern, dass ein wichtiges Ergebnis von Timms
Erinnerungsbüchern gerade ist, dass es kein Ergebnis gibt. Es gelingt ihm nicht, ein
endgültiges und zuverlässiges Bild des Bruders und des Freundes zu rekonstruieren, und
gerade das ist von Bedeutung, denn die ergebnislose Suche deutet auf das Problematische der
Erinnerung hin: Es ist unmöglich, etwas zu rekonstruieren, wie es wirklich gewesen ist, aber
deshalb soll man nicht einfach in ‚wunschgelenkte Mutmaßungen‟ geraten und das denken,
was man am liebsten annehmen will. Als „Notwehr gegen das Vorgefundene“325
hat Timm
sich eine besondere Erzählweise angeeignet, die er schon 1993 in seinen Poetikvorlesungen
beschrieben hat:
[...] ein Erzählen, das [...] den Sinn schärft für die Ambivalenzen, für das Unversöhnliche, Heterogene, für
die nicht aufhebbaren Widersprüche, also für das Tragische. Erzählen könnte den Sinn schärfen gegen
jeden ideologischen Anspruch, der genau vorschreiben will, was falsch, was richtig ist und wie etwas zu
sein hätte. Erzählen wäre dann ein vorsichtiges Ausforschen zwischen dem, was wirklich war, und dem,
was hätte sein können.326
325
Timm: Am Beispiel meines Bruders, S. 60. 326
Timm: Erzählen und kein Ende, S. 87.
69
Dieses Erzählideal wendet Timm zehn Jahre später auch in seinen Erinnerungsbüchern an: Er
verweigert sich, zwischen wahr und falsch zu entscheiden, und auch nach genauer
Erforschung ist es immer nur „[...] der wunderbare Konjunktiv [...] Es könnte so gewesen
sein“,327
den er sich zu verwenden erlaubt.
4.2 Das Schreiben als Selbstsuche
Es ist inzwischen deutlich, dass Timm anhand des Schreibens sich zwei ihm ‚nahen Fremden‟
anzunähern versucht. Das Schreiben ist eine Suche nach ihrem authentischen Wesen und
Leben, die aber nie zu endgültigen und vollständigen Resultaten führen kann. Neben der
Suche nach dem Bruder und dem Freund scheint das Schreiben aber auch eine Selbstsuche zu
sein. Das Schreiben über sich scheint für Timm sogar notwendig, um das Schreiben über den
Bruder und den Freund zu ermöglichen. Wie schon oben erwähnt, konnte die Ich-Figur in Der
Freund und der Fremde erst über den Freund erzählen, wenn sie auch über sich erzählte. Es
hat sich ebenfalls herausgestellt, dass auch in Am Beispiel meines Bruders das Schreiben über
den Bruder für die Ich-Figur unlösbar mit dem Schreiben über sich verbunden ist.328
Timm hatte nicht die Absicht, mit diesen Erinnerungsbüchern Autobiographien zu
schreiben, aber wie sich herausstellt, ist er mehr oder weniger zu einem autobiographischen
Schreiben gezwungen worden.329
Das ist nicht erstaunlich, wenn er erwähnt, dass die Texte
ursprünglich aus einem Bedürfnis der „Selbstbefragung“330
entstanden sind. Timm hatte mit
diesen Büchern also nicht nur die Absicht, das ihm aufgedrängte Bild des Freundes und des
Bruders zu befragen, sondern er will auch seine eigene Identität befragen. Oben wurde nach
Aleida Assmann darauf hingedeutet, dass biographische Erinnerungen für die eigene Identität
unentbehrlich sind: „Und dennoch müssen wir festhalten, dass es die Erinnerungsfähigkeit ist,
so fragwürdig sie auch sein mag, die Menschen erst zu Menschen macht. Ohne sie könnten
wir kein Selbst aufbauen und nicht mit anderen als individuellen Personen
kommunizieren“.331
Diese Idee lässt sich auch in einer Bemerkung der Ich-Figur in Am Beispiel meines
Bruders fassen, die besagt, dass mit dem ersten Bild, das sie sich eingeprägt hat, das Wissen
von sich selbst beginnt.332
Gleich darauf folgt die schon oben besprochene erste und einzige
327
Timm: Von Anfang und Ende, S. 87. 328
Vgl. dazu 3.1.3. 329
Vgl. dazu 3.1. 330
Vgl. Timm: Von Anfang und Ende, S. 73. 331
Assmann: Der lange Schatten der Vergangenheit, S. 24. 332
Vgl. Timm: Am Beispiel meines Bruders, S. 7.
70
Erinnerung an den Bruder, die überarbeitet ist und somit gleich zeigt, dass die
Erinnerungsfähigkeit fragwürdig ist. Auch die anderen Erinnerungen im Bruderbuch, sowie
diese in Der Freund und der Fremde haben sich als perspektivisch und verformbar gezeigt,
Merkmale die, wie gezeigt, keine Erinnerung aus dem Wege gehen kann. Wie Assmann
bemerkt, soll das nicht nach sich ziehen, dass man sich als Mensch daher keine Identität
bilden kann. Es stellt sich aber heraus, dass Timm schon Probleme mit der Unzuverlässigkeit
seiner Erinnerungen zu haben scheint, und sein Bedürfnis nach Selbstbefragung zeigt, dass er
sich nicht länger mit den fragwürdigen Erinnerungen, die seine Identität bis an das Schreiben
der Erinnerungsbücher gesichert haben, begnügen will. Die Suche nach dem Wesen des
Freundes und des Bruders, der Versuch, ihre Lebensläufe zu rekonstruieren ist demzufolge
von sich aus auch eine Suche von Timm nach sich selbst, denn die Erinnerungen an den
Bruder und den Freund sind Teil seines ‚Selbst‟.
Wie sich schon herausgestellt hat, ist es aber nicht möglich, je die einzige echte
Erinnerung zu erreichen, denn diese gibt es einfach nicht. Timms Suche ist ergebnislos in dem
Sinne, dass er nie ein authentisches Bild des Bruders und Freundes erreichen wird, und
demzufolge ist auch die Selbstsuche, mit der Timm gerade herausfinden wollte, inwieweit
diese Erinnerungen, die seine Identität mit begründen, ‚stimmen‟, ergebnislos. Doch bedeutet
der Mangel an Ergebnissen wiederum nicht unbedingt, dass die Selbstsuche daher umsonst
gewesen ist. Wie Yvonne Pietsch bemerkt, kann Am Beispiel meines Bruders auch als eine
„über den dürftigen Resten der Familiengeschichte ausgetragene ‚Selbsttherapie‟“333
betrachtet werden. Schon weil Timm nach sechzig Jahren endlich in einem nicht fiktionalen
Text über die Verantwortlichkeit und Mitschuld der Familie schreibt, kann gefolgert werden,
dass er fertig ist, die Vergangenheit endlich zu verarbeiten. Auch in Der Freund und der
Fremde kann das Schreiben mit einer Art Selbsttherapie verglichen werden: Timm ist nach
fast vierzig Jahren schließlich imstande, über den Tod des Freundes zu schreiben. Endlich
kann er sich darüber äußern, was darauf hindeutet, dass er fertig ist, das Geschehene zu
verarbeiten.
Während er im Schreiben die eigene Vergangenheit bewältigt, kommt er auch zu einem
Selbstverstehen, gerade weil er die anderen so genau darzustellen versucht: „Dieser Versuch,
darzustellen, wie man gehandelt, gedacht, empfunden hat, ist immer auch ein Wiedererkennen,
ein Selbstverstehen, ein Besserverstehen des anderen“.334
Timm stellt nicht nur den anderen
dar, er stellt auch sich selbst wie ein anderer dar. Wie schon gezeigt, benennt er sowohl den
333
Pietsch: Auf der Suche nach der verlorenen Familie, S. 270. 334
Timm: Erzählen und kein Ende, S. 98.
71
Bruder als auch den Freund manchmal als ‚der Junge‟ und auch sich selbst bezeichnet er
manchmal so. Auf diese Weise stellt er nicht nur die Ähnlichkeit zwischen ihm und dem
Freund bzw. dem Bruder dar, sondern er stellt sich zugleich auch wie ein Fremder dar. Er
nähert sich der Geschichte des Bruders und des Freundes aus einer anderen Perspektive an. Er
wagt es mit dem Schreiben, seine Identität – die für ihn jahrelang etwas Selbstverständliches,
das durch seine Erinnerungen gefestigt worden ist, war – zu befragen, indem er mit dem Blick
eines Anderen die Erinnerungen betrachtet. Auch wenn es keine endgültigen Antworten gibt,
und Timms Selbstsuche ohne Ergebnis bleibt, ist sie nicht misslungen, denn Timm ist durch
seine Erzählweise zu einer Neubetrachtung des Selbst gezwungen. Die Identität als etwas
„Nicht-Selbstverständliches“335
zu zeigen, ist – laut Timm in seinen poetologischen
Vorlesungen – eine der wichtigsten Möglichkeiten der Literatur:
Das Nachdenken, das Schreiben, diese dialogische Form mit sich selbst, ist eine Möglichkeit der
Selbstverständigung und Selbstvergewisserung durch Selbstdeutung, wobei diese ohne Befragung äußerer
Einflüsse, gesellschaftlicher und geschichtlicher Konnotationen des Ich, Gefahr läuft, im Partikularen,
Beliebigen stecken zu bleiben.336
Gerade, indem Timm so kritisch mit den ihm vermittelten und eigenen Erinnerungen umgeht
und sich weigert, sich selbst auf eine nur einzige Weise zu deuten, gelingt es ihm, die Gefahr,
im Beliebigen stecken zu bleiben, zu vermeiden.
335
Timm: Von Anfang und Ende, S. 87. 336
Timm: Von Anfang und Ende, S. 71.
72
5. Schluss Ziel dieser Untersuchung war herauszufinden, wie Uwe Timm verfährt, um die
Lebensgeschichten des Bruders und des Freundes zu rekonstruieren.
Dabei habe ich zuerst die Frage nach der Gattung gestellt. Es hat sich herausgestellt,
dass beide Texte Autobiographien sind, aber nicht im strengen Sinn. Am Beispiel meines
Bruders habe ich als Alloautobiographie bezeichnet, denn es gibt hier den von Lejeune
entworfenen autobiographischen Pakt, aber weil Timm mit verschiedenen Techniken, wie die
Perspektivwechsel, die ambivalente Selbstbezeichnung und die kursiv gedruckten Aussagen
von anderen, den Akzent von der Ich-Figur zu den anderen Familienmitgliedern verschiebt,
kann nicht behauptet werden, dass dem Leben der Ich-Figur Nachdruck verleiht wird, wie in
einer klassischen Autobiographie. Der Freund und der Fremde ist schon mit der Gattung der
Erzählung unterschrieben, aber ich habe sie genauer als eine autobiographische Erzählung
bezeichnet, weil auch in diesem Text der autobiographische Pakt vorliegt, und sich nach
genauer Untersuchung des Begriffs ‚Erzählung‟ herausgestellt hat, dass die Gattung der
Erzählung und der Autobiographie ganz vereinbar sind. Auch hier gibt es zwar verschiedene
einmontierte Dokumente, aber dass der Text explizite mit der Gattung der Erzählung
bezeichnet wird, deutet darauf hin, dass Timm sich hier – im Gegensatz zur Brudergeschichte
– eine größere Nähe zu Ohnesorgs Lebensgeschichte erlaubt, und das in Anbetracht der
Individualisierung, die er hier durchführen will.
In einem zweiten Schritt der Arbeit wurde die eigentliche Suche nach einem mehr
zuverlässigen Bild des Bruders und des Freundes näher betrachtet. Bei der Analyse des
Entstehungsprozesses der Erinnerungsbücher hat sich herausgestellt, dass es vor allem die
Unzuverlässigkeit der Timm aufgedrängten Erinnerungen an den Bruder und den Freund ist,
die Timm zum Schreiben angetrieben hat. Viele Faktoren, unter denen Timms Angst vor der
Wahrheit im Zusammenhang mit den Tätigkeiten des Bruders bei der SS, die Aufregung nach
dem Tod Ohnesorgs, der Mangel an einer geeigneten Schreibtechnik und der Druck der ihm
aufgedrängten Erinnerungen, haben ihn lange gehindert, über die ‚gesuchten‟ Personen zu
schreiben. Es ist vor allem die Distanz zu den Geschehnissen, die es schließlich ermöglicht
hat, dass er über den Bruder und den Freund schreiben konnte und die ihm aufgedrängten
Erinnerungen kritisch betrachten konnte.
Mithilfe von Aleida Assmanns gedächtnistheoretischer Studie, ist gezeigt worden, dass
die individuelle Erinnerung durch Kommunikation schon immer sozial ist und demzufolge
nicht wirklich von dem sozialen Gedächtnis getrennt werden kann. Diese Feststellung ist
73
wichtig, denn sie deutet darauf hin, dass, wenn Timm anführt, dass er in Der Freund und der
Fremde die Erinnerungsmomente mit anderen teilt, das auch in Am Beispiel meines Bruders
der Fall ist. Der Unterschied liegt darin, dass Timm im Bruderbuch Erinnerungen aus dem
Familiengedächtnis aufgedrängt worden sind, während es in Der Freund und der Fremde das
Generationengedächtnis (und später auch das kollektive Gedächtnis) ist, das Timm ein Bild
von Ohnesorg aufdrängt.
Zuerst wurde untersucht, wie Timm in Am Beispiel meines Bruders die
Erinnerungsarbeit durchführt. Timm will das Idealbild des Bruders kritischer betrachten, aber
zugleich vermeiden, dass durch den autobiographischen Charakter des Textes seine
Sichtweise als die einzige richtige betrachtet wird. Das erklärt, warum Timm den Text anhand
der vielen einmontierten Dokumente, die als eine Vielfalt von Sichtweisen, von Stimmen die
Geschichte des Bruders darstellen, nicht als eine klassische Autobiographie hervortreten lässt.
Bei der Untersuchung der Erinnerungsarten stellt sich heraus, das Timms individuelle
Gedächtnis schon Teil des Familiengedächtnisses ist, denn ohne die Erinnerungen der Eltern,
ohne die Briefe und Bilder, hat er keine Erinnerungen an den Bruder. Anhand der
Kontrastmontage zeigt sich, dass das Familiengedächtnis eine Menge von Lücken und
Unzuverlässigkeiten enthält. Diese versucht Timm aufzufüllen anhand öffentlicher
Dokumente. Das Problem ist, dass auch diese ihrerseits Lücken aufzeigen. Der Bruder ist –
trotz der intensiven Erinnerungsarbeit – nach wie vor unerreichbar.
In Der Freund und der Fremde wird der persönlichen Sichtweise durch die Zuordnung
des Textes zur Gattung der Erzählung mehr Nachdruck verleiht, was nicht bedeutet, dass
Timm diese als die einzige richtige darstellt: Er montiert auch hier – obwohl auffallend
weniger öffentliche als im Bruderbuch – andere Sichtweisen auf das Geschehen ein. Dass
Timm hier weniger öffentliche Dokumente einmontiert, hat alles zu tun, mit der Art und
Weise, wie er Ohnesorg darstellen will: Anders als im Bruderbuch ist Ohnesorg schon Teil
des kollektiven Gedächtnisses durch seinen verhängnisvollen Tod. Timm, der sich Ohnesorg
ganz anders erinnert als das politische Exempel, wie er von den Medien dargestellt wird, will
Ohnesorg seinen Wert als Individuum zurückgeben. Seine individuelle Erinnerung zeigt aber
genau wie das Familiengedächtnis im Bruderbuch Defizite auf, wodurch er schließlich auch
kein endgültiges Bild des Freundes rekonstruieren kann.
Nach der Analyse der Erinnerungsarbeit, wurde in einem dritten Schritt dieser
Untersuchung nachgeforscht, wozu Timms Suche nützlich ist, wenn es ihm nicht gelingt, den
Bruder und den Freund zu erreichen. Es hat sich herausgestellt, dass Timm mit seinen
Büchern eine Transformation des kommunikativen Gedächtnisses ins kulturelle beabsichtigt.
74
Dabei sei aber bemerkt, dass Timm bei dieser Transformation sehr kritisch verfährt. Das hat
damit zu tun, dass, indem er das Bild des Bruders und des Freundes in seinen Büchern
niederschreibt, diese auch unvermeidlich festgeschrieben werden. Gerade das will Timm
vermeiden, denn es hat sich schon gezeigt, dass er nicht seine Sichtweise als die einzige
richtige darstellen will, da er sich der Unzuverlässigkeit der Erinnerungen bewusst ist. Durch
eine ambivalente Darstellung des Bruders und Freundes verhütet Timm die Festschreibung
des Bruders und des Freundes zu einer festen Kategorie von Täter oder Opfer. Timm hat die
Absicht, den Bruder als Exempel der Kriegsgeneration darzustellen. Anhand der
Einmontierung von kollektiven Erinnerungen deutet er schon auf die Beispielhaftigkeit der
Geschichte des Bruders hin, und die Transformation zum kulturellen Gedächtnis wird durch
das Aufschreiben der Bruder- und Familiengeschichte Tatsache. Problematischer ist das in
Der Freund und der Fremde, denn Timm will Ohnesorg gerade zu dem Freund seiner eigenen
Erinnerungen transformieren. Dass Ohnesorgs Geschichte in einem Text veröffentlicht wird,
würde somit die Absicht der Individualisierung unterminieren, wenn Timm nicht durch die
ambivalente Darstellung vermeiden würde, dass Ohnesorg aufs Neue zur Ikone gemacht wird.
Auch der Bruder geht durch die ambivalente Darstellung nicht als ein eindeutiges,
festgeschriebenes Beispiel in die Geschichte ein. Das wichtigste Ergebnis der Suche, scheint
somit zu sein, dass das Bild des Bruders und Freundes nicht endgültig und vollständig
rekonstruiert werden kann, dass es also kein Ergebnis gibt. Auf diese Weise wird auf das
Problem der Erinnerung hingedeutet und wird gezeigt, dass Ambivalenz gut ist. Sie hütet, in
wunschgelenkte Mutmaßungen zu geraten und fordert immer wieder, dass kritisch an die
eigene Erinnerung und an die Erinnerungen von anderen herangegangen wird.
Die Suche nach dem Bruder und Ohnesorg ist auch nützlich, weil sie für Timm ebenso
gut eine Selbstsuche ist: Indem er erforscht, inwieweit die Erinnerungen an den Bruder und
den Freund stimmen, erforscht er auch seine eigene Identität, denn wie gezeigt sind
biographische Erinnerungen unentbehrlich für das Bilden eines ‚Selbst‟. Da es ihm nicht
gelingt, ein endgültiges Bild des Bruders und Ohnesorgs aufzubauen, kann er auch nicht auf
den Grund kommen, inwieweit die Erinnerungen, die seine Identität mit begründen, stimmen.
Doch ist die Selbstsuche nicht umsonst, denn indem Timm schreibt, gelingt es schon, sich
abzufinden mit dem Geschehenen. Das Schreiben ist auf diese Weise eine Art von
Selbsttherapie. Außerdem wagt er es, indem er die Erinnerungen kritisch betrachtet, seine
eigene Identität in Frage zu stellen, sie nicht als etwas Selbstverständliches zu sehen. Auch im
Hinblick auf sich selbst lässt Timm die Ambivalenz herrschen, und auf diese Weise entkommt
er wiederum der Gefahr, im Beliebigen stecken zu bleiben.
75
Primärliteratur
Timm, Uwe: Heißer Sommer. München: Deutscher Taschenbuch Verlag 2005 (1974).
--- : Erzählen und kein Ende. Versuche zu einer Ästhetik des Alltags. Köln: Kiepenheuer &
Witsch 1993.
--- : Johannisnacht. Köln: Kiepenheuer & Witsch 1996
--- : Am Beispiel meines Bruders. München: Deutscher Taschenbuch Verlag 2007 (4) (2003).
--- : Der Freund und der Fremde. München: Deutscher Taschenbuch Verlag 2007 (2005).
Uwe Timm Lesebuch. Die Stimme beim Schreiben. Hg. von Martin Hielscher. München:
Deutscher Taschenbuch Verlag 2005.
Timm, Uwe: Von Anfang und Ende. Über die Lesbarkeit der Welt. Köln: Kiepenheuer &
Witsch 2009.
Sekundärliteratur
- Assmann, Aleida: Erinnerungsräume: Formen und Wandlungen des kulturellen
Gedächtnisses. München: Beck 1999.
- --- : Der lange Schatten der Vergangenheit: Erinnerungskultur und Geschichtspolitik.
München: Beck 2006.
- --- : Generationsidentitäten und Vorurteilsstrukturen in der neuen deutschen
Erinnerungsliteratur. Wien: Picus 2006.
- --- : Geschichte im Gedächtnis. München: Beck 2007.
- Barnouw, Dagmar: The War in the Empty Air: Victims, Perpetrators, and Postwar Germans.
Bloomington: Indiana University Press, 2005.
- Bernhardt, Rüdiger: Am Beispiel meines Bruders: Erläuterungen zu Uwe Timm. Hollfeld:
Bange Verlag 2008.
- Braun, Michael: „Die Leerstellen der Geschichte”. In: Erinnern, Vergessen,
Erzählen: Beiträge zum Werk Uwe Timms. Hg. von Friedhelm Marx.
Göttingen: Wallstein 2007, S. 53-67.
- --- : „Wem gehört die Geschichte“? In: Keiner kommt davon: Zeitgeschichte in der Literatur
nach 1945. Hg. von Erhard Schütz und Wolfgang Hardtwig. Göttingen: Vandenhoeck &
Ruprecht 2008, S. 100-114.
76
- Der schöne Überfluß. Texte zu Leben und Werk von Uwe Timm. Hg. von Helge Malchow.
Köln: Kiepenheuer & Witsch 2005.
- Die Archäologie der Wünsche: Studien zum Werk von Uwe Timm. Hg. von Manfred Durzak.
Köln: Kiepenheuer & Witsch 1995.
- Eigler, Friederike: Gedächtnis und Geschichte in Generationenromanen seit der Wende.
Berlin: Schmidt 2005.
- Erll, Astrid: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen: eine Einführung.
Stuttgart: Metzler, 2005.
- Galli, Matteo: „Schuhkartons und Papschachteln: Uwe Timms mediale ‚Gedächtniskisten‟“.
In: Erinnern, Vergessen, Erzählen. Beiträge zum Werk Uwe Timms. Hg. von Friedhelm Marx.
Göttingen: Wallstein 2007, S. 103-116.
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