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Page 1: LEBENS- LINIEN · 2015. 11. 13. · Song besetzen. „NothingIs Forgot" ist ein guter Song und wäre noch besser, wäre da nicht dieser blecherne Schlagzeug-Sound. Ein Makel, der

selektor

B O O M T S C H A KDie Elektro-Kolumnevon Albert Koch

LEBENS-LINIENBerlin feiert eine LegendeHans-Joachim Roedelius

Der ältere Herr sitzt in der vorletztenReihe im Dunkel des Kinosaals. Auf der Lein-wand läuft ein Schwarz-Weiß-Film. Er ist77 Jahre alt und damit drei Jahre jünger alsder ältere Herr. Der imposante kahle Schä-del des älteren Herrn ist auf die Leinwandfixiert, sein Gesicht scheinbar ohne Regung.Kurz vor Ende des Films, vor der entschei-denden Szene, derentwegen die Zuschauer ge-kommen sind, steht der ältere Herr auf undverlässt den Saal. Er geht langsam, er istnicht mehr ganz so gut auf den Beinen, aberer geht voller Würde. Der ältere Herr wirdden Saal verlassen haben, als bei der ent-scheidenden Szene die Zuschauer in Applausund Johlen ausbrechen: Ein kleiner, krankerJunge liegt im Kinderbett, umsorgt von sei-ner Filmmutter Brigitte Horney und vonWilly Birgel — die Olivia de Havilland undder Errol Flynn des Films in Nazi-Deutsch-land. Der kleine Junge ist Hans-JoachimRoedelius. In der Reihe „LifeLines" wurdeder 80-jährige Elektronik-Pionier (Kluster,Cluster, Harmonia), Autor und BildendeKünstler an vier Tagen im September im Hausder Kulturen der Welt in Berlin geehrt. MitKonzerten, Lesungen, Installationen — BrianEno hat „For Achim" in einem klaustropho-bisch engem Raum elektrische Teelichter andie Wände hängen und Roedelius-Soundscapesin Endlosschleife laufen lassen — und ebenmit „Verklungene Melodie", einem UFA-Film-drama von 1938, das Roedelius' kurze Kar-riere als Kinderstar begründete. An denvier Tagen steht Roedelius u.a. mit StefanSchneider (To Rococo Rot), ChristopherChaplin und Lloyd Cole auf der Bühne. DieInteraktionen gelingen nicht gleichermaßengut — das ist das Risiko bei improvisier-ter elektronischer Musik. Aber es zähltdie Attitüde eines fast 81-Jährigen, derkünstlerisch noch nicht das letzte Wort ge-sprochen hat. Roedelius ist eine Legende.Dass er als solche gefeiert wird, ist derHartnäckigkeit des Hamburger Labels BureauB zu verdanken, das seinen Namen durch die(Wieder-)Veröffentlichung seiner Musik seitJahren immer wieder ins Gedächtnis ruft.

CLARA LUZIAHERE'STO NEMESIS

Asinella/Broken Silence

Lieder von der Rache und dem Ver-schwinden: überzeugende Indie-Melonge aus Österreich.Das geht ja gut los: „Cosmic Bruise"schrammelt so hübsch aus den Boxenwie einst die Musik der britischen Classof '86. Bislang hatte man die Songwrite-rin aus Österreich eher mit gebrochenenLiedern kennengelernt, zum Beispiel mitihrer Version von Nina Simones „Sin-nertnan" als Titelsong des exzellentenAlpin-Westerns „Das finstere Tal". MitHERE'S TO NEMESIS bleibt sie dem The-ma des Films treu: Hoch lebe die Rache,das göttliche Gefühl des gerechten Zorns- als Strafe für die Hybris, die einem imAlltag so häufig begegnet, in den Alpenund sonst wo. Im zweiten Song heißt esals Antwort auf The Verve „The DrugsDo Work", was natürlich auch von derPerspektive abhängt: „It looks rightfrom the distance, but the killer is inyour arms." Schwungvoll geht es weiter:„Frowned Upon"und „Fat YellowMoon"haben ein angenehmes britpoppigesSelbstverständnis, „Wounds & Sears"ist glasklare Americana, nicht weit ent-fernt von First Aid Kit. „West Coast" hatdie lautesten Gitarren, das Finale „Ship-wreck" die schönste Refrainmelodie.Vom Schrammelpop des Auftakts ist andieser Stelle nicht mehr viel übrig geblie-ben, doch die Reise von Clara Luzia undihrer gleichnamigen Band ist schlüssig:Der Racheengel vom Anfang möchtedoch lieber nur noch eines von BillionenPlanktontierchen sein.* * * * •••i B^HHM Andre BoDe

BACHAR MAR-KHALIFEYA BALAD

InFine/Rough Trade (VÖ: 16.10.)

Eine Art akzelerierte Traum-Musik, dieJan, Elektronik und Melodien des Na-

hen und Mittleren Ostens mitnimmt

Die Nacht hat Bachar Mar-Khalife imStich gelassen und ist aus seinem Ge-dächtnis gelöscht worden. So geht dieGeschichte in „Layla", einer zärtlichenPianomelodie, die sich in einen stamp-fenden, jubilierenden Popsong verwan-delt, nur um dann zum Finale wie einWiegenlied auszulaufen. Ruhe sanft,Bachar! Der französisch-libanesische

Sängerund Multiinstrumentalistsch •die Kontrapunkte auf seinem neue

dritten Album zu suchen. Er findet dNaturbelassene des Folk unter dem Gpolter der Dance-Beats, er lässt anchische Jazz-Sequenzen auf klassischMelodien seiner Heimat und die Lvr'kdes Nahen und Mittleren Ostens treffeÜber seltsame Pfade findet das alles ieiner Art akzelerierter Traum-Musikzusammen, die sich mit der Beziehundes Künstlers zum Libanon auseinan-dersetzt, von Erinnerungen und demSchmerz des Verlusts erzählt, eine Vor-stellung vom Spirituellen wagt. In „KyrieEleison" bittet Bachar Mar-Khalife Gottdie Menschheit in Frieden zu lasseneine Absage an den Glauben ist das den-

noch nicht. In der lyrisch-musikalischenSchwebe entwickelt der klassisch aus-gebildete Musiker eine Sprache und ei-nen Klang für das schwer Sagbare undeigentlich so gar nicht Pop-Verdächtige- wunderbar dahingemurmelte Worte.Und das Barock-Cembalo steht auf demDancefloor.* * * * • ^ ^ MBH Frank Sawatzki

MARITIMEMAGNETIC BODIES/

MAPS OF BONESGrand Hotel Van Cleef/Indigo

(VÖ: 16.10.)

Gilorrenpop aus Wisconsin, den manam besten im Wald geniefit.

Es fängt sakral an. Ein langer, einzelnerOrgelton eröffnet MAGNETIC BODIES/MAPS OF BONES, bevor die Gitarren denSong besetzen. „NothingIs Forgot" ist einguter Song und wäre noch besser, wäreda nicht dieser blecherne Schlagzeug-Sound. Ein Makel, der das Album derBand aus Milwaukee durchzieht. Mari-time schreiben schöne, kleine Popsongs,aber der Sound ist zuweilen dünn. „LightYou Up" macht die Schwäche zur Stärkeund rumpelt sich genüsslich durch seinevier Minuten und erinnert entfernt anden Vibe von The Gaslight Anthem. Ähn-lich sieht es mit „Inside Out" aus, das mitseinen zackigen Gitarren die Emo-Her-kunft der Bandköpfe Davey von Bohlenund Dan Didier, ehemalige Mitgliedervon The Promise Ring, aufzeigt. „WarTattoos", im Gegensatz dazu, klingt ehernach Chuck Ragans The Revival Tour alsnach Hot Water Music. In diesem Song,wie in anderen des Albums, streuenMaritime kleine, synthetische Verzie-rungen ein und doch ist MAGNETICBODIES/MAP OF BONES eine ursprüng-liche Platte geworden. Eine Platte, dienach frischem Harz und Sägespänenriecht und sich vermutlich am besten inden riesigen Waldgebieten Wisconsins,der Heimat der Band, genießen lässt.* * * * __^^ Dominik Sliskovic

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