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selektor BOOM TSCHAK Die Elektro-Kolumne von Albert Koch LEBENS- LINIEN Berlin feiert eine Legende Hans-Joachim Roedelius Der ältere Herr sitzt in der vorletzten Reihe im Dunkel des Kinosaals. Auf der Lein- wand läuft ein Schwarz-Weiß-Film. Er ist 77 Jahre alt und damit drei Jahre jünger als der ältere Herr. Der imposante kahle Schä- del des älteren Herrn ist auf die Leinwand fixiert, sein Gesicht scheinbar ohne Regung. Kurz vor Ende des Films, vor der entschei- denden Szene, derentwegen die Zuschauer ge- kommen sind, steht der ältere Herr auf und verlässt den Saal. Er geht langsam, er ist nicht mehr ganz so gut auf den Beinen, aber er geht voller Würde. Der ältere Herr wird den Saal verlassen haben, als bei der ent- scheidenden Szene die Zuschauer in Applaus und Johlen ausbrechen: Ein kleiner, kranker Junge liegt im Kinderbett, umsorgt von sei- ner Filmmutter Brigitte Horney und von Willy Birgel — die Olivia de Havilland und der Errol Flynn des Films in Nazi-Deutsch- land. Der kleine Junge ist Hans-Joachim Roedelius. In der Reihe „LifeLines" wurde der 80-jährige Elektronik-Pionier (Kluster, Cluster, Harmonia), Autor und Bildende Künstler an vier Tagen im September im Haus der Kulturen der Welt in Berlin geehrt. Mit Konzerten, Lesungen, Installationen Brian Eno hat „For Achim" in einem klaustropho- bisch engem Raum elektrische Teelichter an die Wände hängen und Roedelius-Soundscapes in Endlosschleife laufen lassen — und eben mit „Verklungene Melodie", einem UFA-Film- drama von 1938, das Roedelius' kurze Kar- riere als Kinderstar begründete. An den vier Tagen steht Roedelius u.a. mit Stefan Schneider (To Rococo Rot), Christopher Chaplin und Lloyd Cole auf der Bühne. Die Interaktionen gelingen nicht gleichermaßen gut — das ist das Risiko bei improvisier- ter elektronischer Musik. Aber es zählt die Attitüde eines fast 81-Jährigen, der künstlerisch noch nicht das letzte Wort ge- sprochen hat. Roedelius ist eine Legende. Dass er als solche gefeiert wird, ist der Hartnäckigkeit des Hamburger Labels Bureau B zu verdanken, das seinen Namen durch die (Wieder-)Veröffentlichung seiner Musik seit Jahren immer wieder ins Gedächtnis ruft. CLARA LUZIA HERE'STO NEMESIS Asinella/Broken Silence Lieder von der Rache und dem Ver- schwinden: überzeugende Indie- Melonge aus Österreich. Das geht ja gut los: „Cosmic Bruise" schrammelt so hübsch aus den Boxen wie einst die Musik der britischen Class of '86. Bislang hatte man die Songwrite- rin aus Österreich eher mit gebrochenen Liedern kennengelernt, zum Beispiel mit ihrer Version von Nina Simones „Sin- nertnan" als Titelsong des exzellenten Alpin-Westerns „Das finstere Tal". Mit HERE'S TO NEMESIS bleibt sie dem The- ma des Films treu: Hoch lebe die Rache, das göttliche Gefühl des gerechten Zorns - als Strafe für die Hybris, die einem im Alltag so häufig begegnet, in den Alpen und sonst wo. Im zweiten Song heißt es als Antwort auf The Verve „The Drugs Do Work", was natürlich auch von der Perspektive abhängt: „It looks right from the distance, but the killer is in your arms." Schwungvoll geht es weiter: „Frowned Upon"und „Fat YellowMoon" haben ein angenehmes britpoppiges Selbstverständnis, „Wounds & Sears" ist glasklare Americana, nicht weit ent- fernt von First Aid Kit. „West Coast" hat die lautesten Gitarren, das Finale „Ship- wreck" die schönste Refrainmelodie. Vom Schrammelpop des Auftakts ist an dieser Stelle nicht mehr viel übrig geblie- ben, doch die Reise von Clara Luzia und ihrer gleichnamigen Band ist schlüssig: Der Racheengel vom Anfang möchte doch lieber nur noch eines von Billionen Planktontierchen sein. * * * * •••i^B^HHM Andre BoDe BACHAR MAR-KHALIFE YA BALAD InFine/Rough Trade (VÖ: 16.10.) Eine Art akzelerierte Traum-Musik, die Jan, Elektronik und Melodien des Na- hen und Mittleren Ostens mitnimmt Die Nacht hat Bachar Mar-Khalife im Stich gelassen und ist aus seinem Ge- dächtnis gelöscht worden. So geht die Geschichte in „Layla", einer zärtlichen Pianomelodie, die sich in einen stamp- fenden, jubilierenden Popsong verwan- delt, nur um dann zum Finale wie ein Wiegenlied auszulaufen. Ruhe sanft, Bachar! Der französisch-libanesische Sängerund Multiinstrumentalistsch die Kontrapunkte auf seinem neu e dritten Album zu suchen. Er findet d Naturbelassene des Folk unter dem G polter der Dance-Beats, er lässt an chische Jazz-Sequenzen auf klassisch Melodien seiner Heimat und die Lvr'k des Nahen und Mittleren Ostens treffe Über seltsame Pfade findet das alles i einer Art akzelerierter Traum-Musik zusammen, die sich mit der Beziehun des Künstlers zum Libanon auseinan- dersetzt, von Erinnerungen und dem Schmerz des Verlusts erzählt, eine Vor- stellung vom Spirituellen wagt. In „Kyrie Eleison" bittet Bachar Mar-Khalife Gott die Menschheit in Frieden zu lassen eine Absage an den Glauben ist das den- noch nicht. In der lyrisch-musikalischen Schwebe entwickelt der klassisch aus- gebildete Musiker eine Sprache und ei- nen Klang für das schwer Sagbare und eigentlich so gar nicht Pop-Verdächtige - wunderbar dahingemurmelte Worte. Und das Barock-Cembalo steht auf dem Dancefloor. * * * * ^^^^^MBH Frank Sawatzki MARITIME MAGNETIC BODIES/ MAPS OF BONES Grand Hotel Van Cleef/Indigo (VÖ: 16.10.) Gilorrenpop aus Wisconsin, den man am besten im Wald geniefit. Es fängt sakral an. Ein langer, einzelner Orgelton eröffnet MAGNETIC BODIES/ MAPS OF BONES, bevor die Gitarren den Song besetzen. „NothingIs Forgot" ist ein guter Song und wäre noch besser, wäre da nicht dieser blecherne Schlagzeug- Sound. Ein Makel, der das Album der Band aus Milwaukee durchzieht. Mari- time schreiben schöne, kleine Popsongs, aber der Sound ist zuweilen dünn. „Light You Up" macht die Schwäche zur Stärke und rumpelt sich genüsslich durch seine vier Minuten und erinnert entfernt an den Vibe von The Gaslight Anthem. Ähn- lich sieht es mit „Inside Out" aus, das mit seinen zackigen Gitarren die Emo-Her- kunft der Bandköpfe Davey von Bohlen und Dan Didier, ehemalige Mitglieder von The Promise Ring, aufzeigt. „War Tattoos", im Gegensatz dazu, klingt eher nach Chuck Ragans The Revival Tour als nach Hot Water Music. In diesem Song, wie in anderen des Albums, streuen Maritime kleine, synthetische Verzie- rungen ein und doch ist MAGNETIC BODIES/MAP OF BONES eine ursprüng- liche Platte geworden. Eine Platte, die nach frischem Harz und Sägespänen riecht und sich vermutlich am besten in den riesigen Waldgebieten Wisconsins, der Heimat der Band, genießen lässt. * * * * __^^ Dominik Sliskovic me.90

LEBENS- LINIEN · 2015. 11. 13. · Song besetzen. „NothingIs Forgot" ist ein guter Song und wäre noch besser, wäre da nicht dieser blecherne Schlagzeug-Sound. Ein Makel, der

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Page 1: LEBENS- LINIEN · 2015. 11. 13. · Song besetzen. „NothingIs Forgot" ist ein guter Song und wäre noch besser, wäre da nicht dieser blecherne Schlagzeug-Sound. Ein Makel, der

selektor

B O O M T S C H A KDie Elektro-Kolumnevon Albert Koch

LEBENS-LINIENBerlin feiert eine LegendeHans-Joachim Roedelius

Der ältere Herr sitzt in der vorletztenReihe im Dunkel des Kinosaals. Auf der Lein-wand läuft ein Schwarz-Weiß-Film. Er ist77 Jahre alt und damit drei Jahre jünger alsder ältere Herr. Der imposante kahle Schä-del des älteren Herrn ist auf die Leinwandfixiert, sein Gesicht scheinbar ohne Regung.Kurz vor Ende des Films, vor der entschei-denden Szene, derentwegen die Zuschauer ge-kommen sind, steht der ältere Herr auf undverlässt den Saal. Er geht langsam, er istnicht mehr ganz so gut auf den Beinen, aberer geht voller Würde. Der ältere Herr wirdden Saal verlassen haben, als bei der ent-scheidenden Szene die Zuschauer in Applausund Johlen ausbrechen: Ein kleiner, krankerJunge liegt im Kinderbett, umsorgt von sei-ner Filmmutter Brigitte Horney und vonWilly Birgel — die Olivia de Havilland undder Errol Flynn des Films in Nazi-Deutsch-land. Der kleine Junge ist Hans-JoachimRoedelius. In der Reihe „LifeLines" wurdeder 80-jährige Elektronik-Pionier (Kluster,Cluster, Harmonia), Autor und BildendeKünstler an vier Tagen im September im Hausder Kulturen der Welt in Berlin geehrt. MitKonzerten, Lesungen, Installationen — BrianEno hat „For Achim" in einem klaustropho-bisch engem Raum elektrische Teelichter andie Wände hängen und Roedelius-Soundscapesin Endlosschleife laufen lassen — und ebenmit „Verklungene Melodie", einem UFA-Film-drama von 1938, das Roedelius' kurze Kar-riere als Kinderstar begründete. An denvier Tagen steht Roedelius u.a. mit StefanSchneider (To Rococo Rot), ChristopherChaplin und Lloyd Cole auf der Bühne. DieInteraktionen gelingen nicht gleichermaßengut — das ist das Risiko bei improvisier-ter elektronischer Musik. Aber es zähltdie Attitüde eines fast 81-Jährigen, derkünstlerisch noch nicht das letzte Wort ge-sprochen hat. Roedelius ist eine Legende.Dass er als solche gefeiert wird, ist derHartnäckigkeit des Hamburger Labels BureauB zu verdanken, das seinen Namen durch die(Wieder-)Veröffentlichung seiner Musik seitJahren immer wieder ins Gedächtnis ruft.

CLARA LUZIAHERE'STO NEMESIS

Asinella/Broken Silence

Lieder von der Rache und dem Ver-schwinden: überzeugende Indie-Melonge aus Österreich.Das geht ja gut los: „Cosmic Bruise"schrammelt so hübsch aus den Boxenwie einst die Musik der britischen Classof '86. Bislang hatte man die Songwrite-rin aus Österreich eher mit gebrochenenLiedern kennengelernt, zum Beispiel mitihrer Version von Nina Simones „Sin-nertnan" als Titelsong des exzellentenAlpin-Westerns „Das finstere Tal". MitHERE'S TO NEMESIS bleibt sie dem The-ma des Films treu: Hoch lebe die Rache,das göttliche Gefühl des gerechten Zorns- als Strafe für die Hybris, die einem imAlltag so häufig begegnet, in den Alpenund sonst wo. Im zweiten Song heißt esals Antwort auf The Verve „The DrugsDo Work", was natürlich auch von derPerspektive abhängt: „It looks rightfrom the distance, but the killer is inyour arms." Schwungvoll geht es weiter:„Frowned Upon"und „Fat YellowMoon"haben ein angenehmes britpoppigesSelbstverständnis, „Wounds & Sears"ist glasklare Americana, nicht weit ent-fernt von First Aid Kit. „West Coast" hatdie lautesten Gitarren, das Finale „Ship-wreck" die schönste Refrainmelodie.Vom Schrammelpop des Auftakts ist andieser Stelle nicht mehr viel übrig geblie-ben, doch die Reise von Clara Luzia undihrer gleichnamigen Band ist schlüssig:Der Racheengel vom Anfang möchtedoch lieber nur noch eines von BillionenPlanktontierchen sein.* * * * •••i B^HHM Andre BoDe

BACHAR MAR-KHALIFEYA BALAD

InFine/Rough Trade (VÖ: 16.10.)

Eine Art akzelerierte Traum-Musik, dieJan, Elektronik und Melodien des Na-

hen und Mittleren Ostens mitnimmt

Die Nacht hat Bachar Mar-Khalife imStich gelassen und ist aus seinem Ge-dächtnis gelöscht worden. So geht dieGeschichte in „Layla", einer zärtlichenPianomelodie, die sich in einen stamp-fenden, jubilierenden Popsong verwan-delt, nur um dann zum Finale wie einWiegenlied auszulaufen. Ruhe sanft,Bachar! Der französisch-libanesische

Sängerund Multiinstrumentalistsch •die Kontrapunkte auf seinem neue

dritten Album zu suchen. Er findet dNaturbelassene des Folk unter dem Gpolter der Dance-Beats, er lässt anchische Jazz-Sequenzen auf klassischMelodien seiner Heimat und die Lvr'kdes Nahen und Mittleren Ostens treffeÜber seltsame Pfade findet das alles ieiner Art akzelerierter Traum-Musikzusammen, die sich mit der Beziehundes Künstlers zum Libanon auseinan-dersetzt, von Erinnerungen und demSchmerz des Verlusts erzählt, eine Vor-stellung vom Spirituellen wagt. In „KyrieEleison" bittet Bachar Mar-Khalife Gottdie Menschheit in Frieden zu lasseneine Absage an den Glauben ist das den-

noch nicht. In der lyrisch-musikalischenSchwebe entwickelt der klassisch aus-gebildete Musiker eine Sprache und ei-nen Klang für das schwer Sagbare undeigentlich so gar nicht Pop-Verdächtige- wunderbar dahingemurmelte Worte.Und das Barock-Cembalo steht auf demDancefloor.* * * * • ^ ^ MBH Frank Sawatzki

MARITIMEMAGNETIC BODIES/

MAPS OF BONESGrand Hotel Van Cleef/Indigo

(VÖ: 16.10.)

Gilorrenpop aus Wisconsin, den manam besten im Wald geniefit.

Es fängt sakral an. Ein langer, einzelnerOrgelton eröffnet MAGNETIC BODIES/MAPS OF BONES, bevor die Gitarren denSong besetzen. „NothingIs Forgot" ist einguter Song und wäre noch besser, wäreda nicht dieser blecherne Schlagzeug-Sound. Ein Makel, der das Album derBand aus Milwaukee durchzieht. Mari-time schreiben schöne, kleine Popsongs,aber der Sound ist zuweilen dünn. „LightYou Up" macht die Schwäche zur Stärkeund rumpelt sich genüsslich durch seinevier Minuten und erinnert entfernt anden Vibe von The Gaslight Anthem. Ähn-lich sieht es mit „Inside Out" aus, das mitseinen zackigen Gitarren die Emo-Her-kunft der Bandköpfe Davey von Bohlenund Dan Didier, ehemalige Mitgliedervon The Promise Ring, aufzeigt. „WarTattoos", im Gegensatz dazu, klingt ehernach Chuck Ragans The Revival Tour alsnach Hot Water Music. In diesem Song,wie in anderen des Albums, streuenMaritime kleine, synthetische Verzie-rungen ein und doch ist MAGNETICBODIES/MAP OF BONES eine ursprüng-liche Platte geworden. Eine Platte, dienach frischem Harz und Sägespänenriecht und sich vermutlich am besten inden riesigen Waldgebieten Wisconsins,der Heimat der Band, genießen lässt.* * * * __^^ Dominik Sliskovic

me.90