Leitlinien in der Rehabilitation –Chancen und Risiken
© Reha-wissenschaftliches Kolloquium in Bremen 2008
Franz PetermannZentrum für Klinische Psychologie und RehabilitationUniversität Bremen
Übersicht
� Ziele von Leitlinien
� Orientierung durch Leitlinien
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� Probleme und Dilemmata von Leitlinien
� Wem nützen Leitlinien und brauchen wir sie?
Was sind Leitlinien?
Grundgedanke: Handeln und Entscheidungen in
der Rehabilitation sollen nicht nur durch individuelle
Erfahrungen und Traditionen begründet werden,
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sondern auch durch Expertenurteil und wissen-
schaftliche Ergebnisse belegt sein.
Entwicklungsstufen bei Leitlinien
� S1 = Empfehlung einer Expertengruppe
� S2 = Leitlinien auf Grundlage formal bewerteter wissenschaftlicher Ergebnisse bzw. Konsensusnach Expertenkonferenz
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nach Expertenkonferenz
� S3 = systematisch entwickelte Leitlinie auf Grundlage von a) Logik, b) Konsensus, c) Meta-Analysen (best evidence), d) Entscheidungs- sowie e) Outcome-Analysen
Ziele von Leitlinien
1. Optimierung der klinischen Praxis� Sicherstellung und Verbesserung der medizinischen/
psychosozialen Versorgung� Verminderung von Qualitätsschwankungen
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� Einführung von Entscheidungshilfen in der Praxis� Verwendung als Prüfkriterien für die Qualität der
Rehabilitation� Förderung einer störungs- und problemangemessenen
Behandlung
Ziele von Leitlinien
2. Verbesserung der Kommunikation
� zwischen Forschung und Praxis
3. Ökonomische Zielsetzungen
� Bevorzugung von wissenschaftlich begründeten und
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� Information der Öffentlichkeit
begründeten und ökonomischen Vorgehensweisen
� Vermeidung überflüssiger Maßnahmen und Kosten
Beispiel: Leitlinie der Deutschen Rentenversicherung zur Rehabilitationdes Diabetes mellitus Typ II
� 8 evidenzbasierte Therapiemodule (ETM):
– ETM 1 Diabetologische Basisschulung
– ETM 2 Ernährungsschulung
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– ETM 2 Ernährungsschulung
– ETM 3 Spezielle Patientenschulungen
– ETM 4 Sporttherapie und Bewegungstherapie
– ETM 5a Psychologische Beratung und Therapie
– ETM 5b Umgang mit Alltagsdrogen
Beispiel: Leitlinie der Deutschen Rentenversicherung zur Rehabilitationdes Diabetes mellitus Typ II
– ETM 6 Entspannungsverfahren
– ETM 7 Information und Motivation
– ETM 8a Soziale und sozialrechtliche Beratung
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– ETM 8a Soziale und sozialrechtliche Beratung
– ETM 8b Unterstützung der beruflichen Integration
– ETM 8c Organisation der Nachsorge
� geringere Behandlungsrisiken sowie Vermeidung unnötiger Maßnahmen
� optimale Beurteilung und Auswahl von Behandlungen durch den Patienten
Leitlinien: Hilfe für den Patienten
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durch den Patienten� Rechtsanspruch auf Anwendung methodisch
gesicherter Behandlungsverfahren� Rechtsanspruch auf Information und Aufklärung
(informed consent)
Leitlinien: Hilfe für den Therapeuten
� Leitlinien als Hilfe bei schwierigen Entscheidungen� Erhöhung der fachlichen Kompetenz� positive Bewertungen, ein „guter Ruf“, finanzielle
Vorteile
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Vorteile� rechtliche Absicherung von Therapieentscheidungen
(z.B. Prozesse im Fall von „Kunstfehlern“)
� Gewissheit über die optimale Nutzung von Mittelnauf wissenschaftlicher Grundlage
� gezielter Einsatz von finanziellen Mitteln, um möglichst viele Patienten optimal zu versorgen
Leitlinien: Hilfe für die Kostenträger
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möglichst viele Patienten optimal zu versorgen� Leitlinien als Kontrollmöglichkeit durch den
Kostenträger oder die Gesundheitspolitik?
Leitlinien und Reha-Konzepte
� Mini-Max-Modell: Eine minimale Anzahl krankheitsspezifischer Module soll zu einer optimalen Versorgung beitragen.
� Maxi-Max-Modell: Eine maximale Anzahl krankheitsspezifischer Module
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Eine maximale Anzahl krankheitsspezifischer Module soll eine optimale Versorgung garantieren.
� Fallbezogenes Ideal-Modell: Patientenbezogen soll ein idealer Reha-Plan erstellt werden.
� Gruppenbezogenes Ideal-Modell: Ausgewählte Patientengruppen erhalten optimierte Gruppenangebote.
Grundprobleme von Reha-Leitlinien
� Nur einzelne Therapiemodule sind in ihrer Wirksam-keit empirisch belegt.
� Evidenzen aus der Akut-Medizin können nur begrenzt auf Reha-Medizin übertragen werden.
� Stationäre Rehabilitation versteht sich als Komplex-
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� Stationäre Rehabilitation versteht sich als Komplex-Leistung.
� Interdisziplinär-orientierte Komplex-Leistungensind in ihrer Wirksamkeit modulspezifisch schwer empirisch prüfbar.
� Komplex-Leistungen basieren entweder auf Empfehlungen einer Expertengruppe (S1) oderdem Konsensus einer Expertenkonferenz (S2).
Problem 1:Begrifflichkeit und rechtliche Aspekte
� Begriff „Leitlinie“ ist nicht geschützt� Verwirrung durch ähnliche Begriffe wie „Standards“,
„Richtlinien“, „Empfehlungen“� Unklarheit über die rechtliche Verbindlichkeit von
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Leitlinien
⇒ Forderungen: Verbindliche Kriterien für die Erstellung von Leitlinien und Leitlinien-Clearing-Verfahren zur Beurteilung und Auswahl von Leitlinien
Problem 2:Entwicklungsdefizite
� Mangel an tatsächlich auf empirischer Evidenz beruhenden Leitlinien (S3)
� Leitlinien-Erstellung auf der Basis von Konsens-Konferenzen
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� zu viele Leitlinien erscheinen parallel � Bedrohung der Qualität der klinischen Praxis durch
fehlerhafte und widersprüchliche Leitlinien
⇒ Forderung: vermehrte Forschungsbemühungen
Problem 3:Kosten
� Die evidenzbasierte Erstellung von Leitlinien ist aufwendig und (kurzfristig) teuer
� pro Leitlinie entstehen Kosten von schätzungsweise bis zu 250 000 Euro
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� zusätzlich Kosten für Aktualisierung� Unklarheit: Wiegen die Ersparnisse durch Leitlinien
die Kosten langfristig auf?
⇒ Forderung: Mehr Evaluation der ökonomischen Effekte von Leitlinien
Problem 4:Verbreitung und Akzeptanz
� Leitlinien sind bei Praktikern kaum bekannt oder unzureichend akzeptiert
� Ursachen: Unwissenheit, Unklarheit über Vertrauenswürdigkeit der Leitlinien, Verwirrung durch zu viele Leitlinien, persönliche Vorbehalte
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zu viele Leitlinien, persönliche Vorbehalte� nicht angewendete Leitlinien nützen nichts!
⇒ Forderungen: Mehr Transparenz und akzeptanzfördernde Maßnahmen (z.B. Zertifikate, finanzielle Anreize)
Problem 5:Frage der Aktualisierung
� Unklarheit darüber, in welchen Zeiträumen Leitlinien aktualisiert werden müssen
� aufwendige Entwicklung kann dazu führen, dass Leitlinien bei Erscheinen schon wieder veraltet sind
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⇒ Forderung: Klare Absprachen der Fachgesellschaften über Aktualisierungsregelungen
Dilemma 1: Evidenzbasierte Therapie oder Einschränkung der therapeutischen
Handlungsfreiheit
⇒⇒⇒⇒ Leitlinien sind Entscheidungskorridore, die Orientierung bieten, aber auch Raum für eigene Urteile lassen.
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Urteile lassen.⇒⇒⇒⇒ Leitlinien können für alle,
auch für erfahrene Therapeuten, eine Hilfe in der Praxis darstellen.
Pro:Leitlinien können speziell zu dem Zweck entworfen werden, um bei unklaren oder komplexen Fällen Anhaltspunkte zu geben! Beispiel: Diabetes mellitus mit einer affektiven Störung
Dilemma 2: Konkrete Empfehlungen oder mangelnde Anwendbarkeit in der Praxis
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Störung Contra:
Nicht für alle möglichen Sonderfälle, Ausnahmen und Komplikationen können Leitlinien entworfen werden.
⇒ Leitlinien „fesseln“ an feste Diagnosen und bekannte Störungsbilder, können aber in unklaren Fällen zur Entscheidungs-findung beitragen!
Dilemma 3: Qualitätssicherung oderBehinderung von Innovationen
Pro:Leitlinien können die Forschung auf einem Gebiet auch fördern. Regelungen zur Aktualisierung von Leitlinien beugen Erstarrung vor.
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Contra:Therapieverfahren, deren Wirksamkeit noch nicht empirisch bestätigt ist oder Therapieverfahren, die sich einer empirischen Überprüfung ganz oder teilweise entziehen, werden durch Leitlinien deutlich benachteiligt!
⇒ Leitlinien „fesseln“ an empirisch gut prüfbare Verfahren!
Dilemma 4: Ökonomisierung der Behandlung oderIndividualisierung des Angebotes
Pro:Leitlinien tragen dazu bei, den Patienten die nachweislich wirksamsten Behandlungsmöglichkeiten zukommen zu lassen.
Contra:
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Contra:Gefahr des Verlusts von vielleicht wirksamen Therapie-verfahren, die (noch) nicht empirisch überprüft oder nicht (einfach) überprüfbar sind – obwohl sie im Einzelfallhilfreich sind.
⇒ Leitlinien „fesseln“ an ökonomische Verfahren!
� Leitlinien nützen den Patienten, zu deren Störungsbild empirisch überprüfte Therapieverfahren vorliegen.
� Leitlinien helfen Patienten, sich über für ihre Probleme geeignete Behandlungsverfahren zu informieren.
Wem nützen Leitlinien? Patienten-Perspektive
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� Bei Sonderfällen, Komplikationen, Komorbiditäten können Leitlinien nur eingeschränkt angewendet werden.
� Kurzfristig verursachen Leitlinien hohe Kosten.� Einsparungen durch Leitlinien (z.B. Verzicht auf
überflüssige Maßnahmen) werden erwartet, sind jedoch noch zu belegen.
Wem nützen Leitlinien? Kostenträger-Perspektive
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� Selbst wenn gesicherte Leitlinien kurzfristig die Kosten steigern, werden sie langfristig Ressourcen optimaler nutzen.
Wir brauchen Leitlinien!
� Es gibt Hinweise darauf, dass Leitlinien für einen Teil der Patienten und für bestimmte Gruppen von Behandlern deutliche Vorteile bieten.
� Trotz der Nachteile und Begrenzungen: Leitlinien sind die Grundvoraussetzung für die Verbreitung und Anwendung
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Grundvoraussetzung für die Verbreitung und Anwendung evidenzbasierter Behandlungsmethoden.
� Wer wissenschaftlich begründete Therapie fördern will, kann auf Leitlinien nicht verzichten.
Wir brauchen gut gesicherte Leitlinien, selbst wenn wir darauf noch länger warten
müssen.
� Anwendung von Leitlinien nur in den Fällen, in denen
eine Evidenzbasierung besteht.
� Abklärung der rechtlichen Verbindlichkeit
Wir brauchen jedochauch gute Rahmenbedingungen!
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� Förderung der Verbreitung und Akzeptanz von
Leitlinien
� Förderung von Wirksamkeitsstudien
� Ressourcen für Kliniken, um Leitlinien zu erfüllen.
Weiterführender Hinweis
� Petermann, F. & Winkel, S. (2006). Leitlinien in der Psychotherapie: Chancen und Grenzen. Zeitschrift für Psychiatrie, Psychologie und Psychotherapie, 54, 35-51.
© Reha-wissenschaftliches Kolloquium in Bremen 2008
54, 35-51.