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Page 1: Material zum Fernuni Hagen Kurs "Rhetorik, Poetik, Edition"

Rhetorik und Poetik: Grundlagen der westlichen Schriftkultur

I. Rhetorik - Die klassische Rhetorik ........................................................................... 3

A. Rhetorik - System der klassischen Rhetorik ................................................................... 3

1. Die 3 Redegattungen (genera dicendi) ............................................................................... 4

2. Die 5 Bearbeitungsstadien (officia oratoris) ...................................................................... 5

3. Die 4 Redeteile (partes orationis) ....................................................................................... 7

4. Die 4 Stilideale der elocutio (virtutes elocutionis) ............................................................ 9

5. Die 3 Stile (genera dicendi) und der Redeschmuck (ornatus) ....................................... 11

B. Rhetorik - Geschichte der klassischen Rhetorik ........................................................... 14

1. Der Ursprung der Rhetorik im antiken Griechenland ca. 500 v. Chr. ........................... 14

2. Gorgias und die sophistische Rhetorik ca. 400 v. Chr. ................................................... 14

3. Platons Kritik an der Rhetorik ca. 350 v. Chr. .................................................................. 14

4. Aristoteles: Téchné Rhétoriké (Rhetorik, ca. 330 v. Chr.) .............................................. 15

5. Cicero: De Oratore (Über den Redner, 91 v. Chr.) .......................................................... 16

6. Quintilian: Institutio oratoria (Unterweisung in der Redekunst, 90 n. Chr.) ............... 16

7. Ausblick: Rhetorik im christlichen Mittelalter - Augustinus: De doctrina christiana (Von der christlichen Lehre, 397 n. Chr.) .............................................................................. 17

II. Poetik - Geschichte der Poetik ............................................................................. 18

A. Aristoteles: Poetik (Peri poietikés) ............................................................................... 19

B. Horaz: Dichtkunst (Ars Poetica) .................................................................................... 20

C. Pseudo-Longin: Über das Erhabene (Peri hĂœpsous)...................................................... 21

D. Mittelalter und antike Poetik........................................................................................ 22

E. Martin Opitz: Buch von der Deutschen Poeterey ......................................................... 23

F. Shaftesbury: Letter concerning Enthusiasm ................................................................. 25

G. Johann Jacob Bodmer/Johann Jacob Breitinger: bspw. Von dem Einfluss und Gebrauche der Einbildungskraft ........................................................................................ 25

H. Johann Christoph Gottsched: Versuch einer kritischen Dichtkunst ............................ 26

I. William Shakespeare: Die Dramen ................................................................................. 27

J. Johann Gottfried Herder: Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit ......................................................................................................................... 28

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Rhetorik und Poetik : Grundlagen der westlichen Schriftkultur

1. Zum Thema 'Rhetorik', die Theorie und Praxis der Redekunst und 'Poetik', das Regelwerk nach dem sich Dichtung gestaltet, gehören thematisch eng zusammen. Beide stellen die Grundlagen der westlichen Textproduktion dar. WĂ€hrend die Rhetorik ihr Augenmerk ursprĂŒnglich auf die Produktion ĂŒberzeugender Rede ('persuasio') richtete, erstellte die Poetik anfĂ€nglich Anleitungen, wie die Nachahmung des Wirklichen ('mimesis') zu gestalten sei. Im Laufe der kulturgeschichtlichen Entwicklung kam es immer wieder zu Überschneidungen, aber auch zu GegensĂ€tzlichkeiten zwischen den in der Rhetorik ausgebildeten Ideen und den in der Poetik vertretenen Ansichten.

2. Zu dieser Seite Auf den folgenden Seiten werden beide Systeme, ihre geschichtliche Entwicklung und wichtigsten Vertreter vorgestellt. Sie sind ĂŒber die Reiter oben links auf dieser Seite zu erreichen. Rhetorikbezogene Informationen erscheinen dabei rot eingefasst, auf die Poetik bezogene Informationen grĂŒn. Da die 'Poetik' gegen Ende des 18. Jahrhunderts im Zuge eines Wechsels von Produktions- zu RezeptionsĂ€sthetik zur 'Ästhetik' wird, ist sie im Glossar unter diesem Begriff aufgefĂŒhrt. Zur besseren Orientierung ĂŒber die Abfolge der Entwicklungen: hier eine Zeitleiste (-> rechte Mousetaste, 'Ziel speichern unter') zu den Gebieten Rhetorik und Poetik. Relevante Lexikonartikel sind den jeweiligen Unterseiten zugeordnet. Alle Teile des Glossars gibt es untenstehend als Karteikarten, diese Seite beschĂ€ftigt sich speziell mit den Kapiteln 3 und 4. 1. Literaturwissenschaftliche Grundbegriffe (-> rechte Mousetaste, 'Ziel speichern unter') 2. Edition (-> rechte Mousetaste, 'Ziel speichern unter') 3. + 4. Karteikarten Aesthetik und Rhetorik (-> rechte Mousetaste, 'Ziel speichern unter') 5. ErzĂ€hlanalyse (-> rechte Mousetaste, 'Ziel speichern unter') Wer will kann diese Karten ausdrucken, zusammenkleben und dann die Begrifflichkeiten (hoffentlich) leichter lernen.

(Die KĂ€rtchen wurden ĂŒbrigens mit Hilfe der Seite www.cobocards.com erstellt. Eine spannende Sache, da es dort mehrere Möglichkeit gibt, mit Hilfe des Internets zu lernen, beispielsweise sich gegenseitig ĂŒber das Netz abzufragen. Gerne eröffne ich Interessenten den Zugang zu den von mir erstellten KĂ€rtchen, kurze mail an mich genĂŒgt.)

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I. Rhetorik - Die klassische Rhetorik

Rhetorik, von gr. 'technĂ© rhetorikĂ©', das ist die Kunst der Rede, die Kunst des wirkungsvollen Sprechens, das ist die 'ars bene dicendi'. Bis ein ĂŒberzeugender Vortrag bereit fĂŒr die exclamatorische Praxis ist, bedarf es jedoch eines langen Vorlaufes. Hier hilft die Rhetorik als Theorie und gibt dem Redner Regeln und Arbeitsschritte an die Hand, an denen er sich im Dickicht der Argumentationsmöglichkeiten orientieren kann. Rhetorik ist also einerseits die Praxis guter Rede, andererseits ein bereits in der Antike ausgefeiltes theoretisches LehrgebĂ€ude. Als solches kann es auf eine lange Geschichte und viele unterschiedliche Bewohner zurĂŒckblicken. Die folgenden Seiten beschĂ€ftigen sich mit Geschichte, Theorie und Persönlichkeiten der klassischen Rhetorik, also von Gorgias (5. Jh. v Chr.) bis Quintilian (1. Jh. n. Chr.). Ein Ausblick auf das christliche Mittelalter schließt das Projekt ab. Auf dem GemĂ€lde von Jean Lecomte du NoĂŒy (1842 - 1923) ĂŒbt sich der Grieche Demosthenes ( 384 v. Chr. - 322 v. Chr.), einer der frĂŒhen großen Redner, gerade im wirkungsvollen Vortrag.

A. Rhetorik - System der klassischen Rhetorik

... beschreibt Regeln und Arbeitschritte, nach und mit denen sich der Redner eine ĂŒberzeugende Rede erarbeiten, einprĂ€gen und schließlich halten kann. Die Schaubilder der folgenden Seiten hier als .rar-Datei zum Runterladen (-> rechte Mousetaste, 'Ziel speichern unter', entpacken).

RLW Rhetorik.doc MLS Rhetorik.doc

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1. Die 3 Redegattungen (genera dicendi)

Lange vor der Entstehung der Rhetorik, schon bei Homer etwa, gab es Formen der kunstvollen Beredsamkeit. Doch erst vor dem historischen Hintergrund der Entstehung der attischen Demokratie, in der der Beredsamkeit eine zentrale Rolle zukam, wird die Ausbildung eines Systems der Rhetorik und darin der Ausbildung einer Trias aus Redegattungen verstĂ€ndlich. "Die Unterscheidung der drei Redegattungen (...) geht auf frĂŒheste Überlegungen zurĂŒck und fand durch Aristoteles ihre Kanonisierung.“ (Göttert, Karl-Heinz: EinfĂŒhrung in die Rhetorik. Grundbegriffe-Geschichte-Rezeption. 3. Auflage. MĂŒnchen 1991. S. 17.) Aristoteles unterschied zwischen den Redegattungen ('genera dicendi') der Gerichts-, der Beratungs- und der Lobrede. Diese drei Formen der Rede unterscheiden sich nach den möglichen Wirkungen beim Zuhörer: Die Gattung der Lobrede ('genus demonstrativum') dient dem Genuß, die der Beratungsrede ('genus deliberativum') und Gerichtsrede ('genus iudiciale') wird in der Versammlung bzw. im Gerichtssaal gehalten, um eine Entscheidung fĂ€llen zu können. Zeitlich zielen die Redegattungen auf unterschiedliche Ebenen: Die Beratungsrede auf zukĂŒnftiges Handeln, die Gerichtsrede betrachtet vergangenes Handeln und als Ziel der Lobrede kann das gegenwĂ€rtiges Handeln aufgefasst werden. Zur Veranschaulichung ein Schema:

(Im Normalfall erscheinen in einer Rede Elemente aus verschiedenen Gattungen. In einer Verteidigungsschrift werden sich wahrscheinlich neben iudicialen Elementen auch Teile finden, die dem genus demonstrativum zu zuordnen sind, wenn zum Beispiel von der Rechtschaffenheit des Angeklagten die Rede ist.)

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2. Die 5 Bearbeitungsstadien (officia oratoris) der klassische Rede

Um den Redner bei der Erstellung und dem spĂ€teren Halten seines Vortrags zu unterstĂŒtzen, gibt ihm das System der Rhetorik 5 idealtypische Arbeitsschritte (officia oratoris) vor. Sie fĂŒhren ihn von der rohen ‚materia‘ zum fertigen Werk (opus), das seine Bestimmung dann im Vortrag der Rede findet. In der ersten Phase der 'inventio' sammelt der Redner die zum Redeanlass passenden Gedanken. Um die wichtigen Aspekte eines Themas zu erkennen, kann er sich der Fragemethode der Topik bedienen. Das systematisierte Frageraster der Topik Ă€hnelt, grob gesagt, den 6 W-Fragen (Wer, wie, wo, was, warum, wann). An diesen ‚Fundorten‘ sammelt der Redner zunĂ€chst sog. 'AllgemeinplĂ€tze' (gr.: 'topoi'; lat.: 'loci'). Im zweiten Schritt der Redeerstellung, der dispositio, werden die gefundenen Argumente in eine sinnvolle Reihenfolge gebracht. Als erste Orientierung dient hier die Regel der vier Redeteile ('partes orationis'): Auf die Einleitung ('exordium'), die die Aufmerksamkeit der Zuhörer und deren Wohlwollen erwecken soll, folgt der Hauptteil der sich aus der Darlegung des Sachverhalts ('narratio') und der Erörterung des fĂŒr und wider ('argumentatio') bildet. Den vierten und letzten Teil der Rede bildet die 'peroratio'. Hier fasst der Redner noch einmal kurz die wichtigsten Punkte zusammen und versucht dabei das Publikum durch Einsatz von 'pathos' von dem ihm vertretenen Standpunkt schlussendlich zu ĂŒberzeugen. Dieses grobe Raster hat der Redner im Kopf und ordnet die Argumente danach. Dann geht es an die sprachliche Ausformulierung, an die 'elocutio'. In diesem dritten Schritt dreht sich alles um den passenden Stil ('aptum'). Welchen und wie viel Redeschmuck verwende ich? In welcher Stilebene möchte ich sprechen, welche passt zu meinem Publikum und zum Thema meines Textes? Diese Fragen stellt sich der Redner. Er kann sich wiederum an bestimmten Regeln orientieren, die bestimmen, welches Stil der angemessene ist. Hat der Redner diese Arbeit bewĂ€ltigt, so wartet als vierter Schritt das Auswendiglernen (‚memoria‘) des Textes auf ihn. Empfohlen wird hierfĂŒr die Kombination zweier Techniken. "des disponierenden Hilfsmittels der loci und des intensivierenden Hilfsmittels der imagines." (Lausberg, Heinrich: Handbuch der literarischen Rhetorik. Eine Grundlegung der Wissenschaft. 3. Aufl., Stuttgart 1990, S. 526.) Bei den loci handelt es sich um imaginierte RĂ€ume, in einem nach dem FĂŒnferschema aufgebauten Haus beispielsweise. Dieses wird dann in Gedanken abgeschritten, zuvor schon wurden die MerkgegenstĂ€nde der konkreten Rede darin abgelegt. Die Bilder der MerkgegenstĂ€nde ('imagines') sollten außergewöhnlich und affektintensiv sein, um sie gut memorieren zu können. Die 'actio' oder 'pronuntiatio', das PrĂ€sentieren der Rede vor Publikum, bildete bei all diesen Schritten das eigentliche Ziel des Redners. In diesem fĂŒnften Schritt spricht dabei nicht nur mit der Stimme, die er laut, leise, schnell, langsam, den UmstĂ€nden angemessen, zu gebrauchen weiß, auch die nonverbale Seite der Kommunikation mit dem Publikum ist in die Kunst des Vortrags mit einbezogen. Dazu zĂ€hlen beispielsweise die Körpersprache, aber auch das Zeigen von Bildmaterial und das PrĂ€sentieren von Zeugen.

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Die 5 Produktionsschritte einer klassischen Rede

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3. Die 4 Redeteile (partes orationis) der klassischen Rede

Die einzelnen Teile einer Rede verfolgen bestimmte Ziele, die mit Hilfe der Rhetorik benannt werden können und zu deren Erlangung sie ein Repertoire an VorschlĂ€gen bereitstellt. 1. Einleitung (exordium) Im ersten Teil der Rede, dem ('exordium'), soll zunĂ€chst die Aufmerksamkeit der Zuhörer und deren Wohlwollen erweckt werden (‚attentum parare‘ und ‚capatio benevolentiae‘). Zugleich ist das exordium „eine Äußerung, die den Geist des Hörers in geeigneter Weise auf den restlichen Vortrag vorbereitet.“ (Cicero in: De Oratore, 2, 318). Dies kann durch einen direkten Einstieg (‚principum‘) oder, wenn die Thematik brisant ist, durch einen indirekten Einstieg in die Rede (‚insinuatio‘) geschehen. Obwohl sie am Anfang der Rede steht, wird empfohlen, die Einleitung als letzte zu formulieren, um das Publikum bestmöglich auf den spĂ€teren Inhalt vorbereiten zu können. 2. Darlegung des Sachverhalts (narratio) Im zweiten Teil der Rede, der Darlegung des Sacherverhaltes (‚narratio‘), kommt dem Redner die Aufgabe zu, die Sachlage zu erörtern, wobei bereits hier die eigene Partei in ein möglichst gutes Licht gerĂŒckt werden sollte. Um der Gefahr, Langeweile (‚taedium‘) beim Publikum hervorzurufen, zu entgehen, soll sich die narratio durch KĂŒrze (‚brevitas‘) und Klarheit (‚perspicuitas‘) auszeichnen. 3. BeweisfĂŒhrung (argumentatio) Der dritte Teil einer Rede, in der die Erörterung des fĂŒr und wider einer Thematik geleistet wird, ist der wichtigste. Ziel der argumentatio ist es, die Streitfrage zu beantworten und dabei das Publikum gemĂ€ĂŸ den eigenen Interessen zu ĂŒberzeugen. HierfĂŒr können verschiedene Beweisarten, Hinweise, Zeugen und Beispiele etwa, angewandt werden. Die eigene Sache wird dabei bekrĂ€ftigt (‚probatio‘), es können aber auch die Argumente der Gegenseite zurĂŒckgeweisen werden (‚refutatio‘). Um zu entscheiden, ob dieses Ziel mit Sachlichkeit (‚ethos‘) oder mit emotionaler Beeinflussung (‚pathos‘) erreicht werden kann, ist auch hier die Lehre von der Angemessenheit, das aptum, zu beachten. 4. Redeschluss (peroratio) Der Redeschluss verfolgt zwei Ziele: einerseits sollen die wichtigsten Punkte der Rede aufgezĂ€hlt werden (‚recapitulatio'), andererseits soll mit einer affektiven Zuspitzung (‚affectus‘) das Publikum vollends fĂŒr die vertretene Seite gewonnen werden. „Der Abschluss aber sollte meist in einer Steigerung bestehen, sei es, um den Richter zu entflammen, sei es, um ihn zu besĂ€nftigen.“ (Cicero in De Oratore, 2, 332) Um den Schluss eindrucksvoll zu gestalten, kann sich der Redner kann sich in diesem Teil der Rede aller verfĂŒgbaren Mittel, Emotionen zu erzeugen, bedienen.

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Die 4 Redeteile einer klassischen Rede

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4. Die 4 Stilideale der elocutio (virtutes elocutionis)

Wie der Name schon andeutet, wird die Tugend des passenden Stils im Arbeitsschritt der ‚elocutio‘ angewandt. Hier vollbringt der Redner die sprachlichen Realisierung der zuvor in der ‚inventio‘ gefundenen und in der ‚dispositio‘ geordneten Gedanken. Zwar lĂ€sst das Erfinden und sorgfĂ€ltige Anordnen des Inhalts schon eine FĂŒlle von Worten hervortreten, doch „die Lehre der elocutio bezweckt die Vollkommenheit der

Formulierung.“ (Lausberg, S. 249). Wichtig hierfĂŒr ist das Befolgen der sprachlichen Tugenden ('virtus dicendi') Sprachrichtigkeit ('latinitas'), Klarheit ('perspicuitas'), Angemessenheit ('aptum') und Redeschmuck ('ornatus') beim ‚Einkleiden‘ (vestire) der Gedanken. 1. Angemessenheit (aptum) Eine zentrale Rolle spielt die Tugend der Angemessenheit. „Ob es um die richtige Frageweise oder die zutreffende Aufgabe des Redners, um die sinnvolle Auswahl der einzelnen Gedanken oder um ihre Anordnung, um ihre korrekte, klare und schmuckvolle Ausformung oder ihre sprachrhythmische Gestaltung: jede Wahl muss angemessen sein.“ (Göttert, S. 65) Eine gute Rede muss sowohl in ihrem Aufbau ('inneres aptum') als auch in den Beziehungen Stil-Autor, Stil-Publikum und Stil-Stoff ('Ă€ußeres aptum') ausgewogen sein. 2.Grammatische Korrektheit (puritas/latinitas) Die Korrektheit der Idiomatik bildet die Grundtugend fĂŒr eine verstĂ€ndliche Rede. Sie setzt sich aus vier Richtlinien zusammen: dem Sprachgesetz (‚ratio‘), der Überlieferung bzw. VerbĂŒrgtheit (‚vetutas‘), dem Sprachgebrauch von AutoritĂ€ten (‚auctoritas‘) und dem gegenwĂ€rtigen Sprachgebrauch ('consetuedo'). 3. Klarheit (perspicuitas) Die Tugend der Klarheit dient dem ebenfalls dem bestmöglichen VerstĂ€ndnis der Rede. Sie bezieht sich sowohl auf den Text als auch auf dessen Aussprache. Das Gegenteil der perspicuitas ist die Dunkelheit ('obscuritas'). Ein solcher Text lĂ€sst nicht nur eine, sondern mehrere Auslegungsmöglichkeiten zu. Dies kann jedoch auch als schmĂŒckendes Stilmittel verwendet werden. „Cicero und Quintilian rechtfertigen in diesem Sinne den Schmuck der Rede ausdrĂŒcklich unter dem Gesichtspunkt des Anreizes: allzu verstĂ€ndliche Rede wird aufgrund der Langeweile unverstĂ€ndlich.“ Göttert, S. 43. 4. Redeschmuck (ornatus) Eine weitere Forderung, die das System Rhetorik an den Redner stellt, ist die nach Redeschmuck (‚ornatus‘). Durch die bewusste Abweichung (‚ars‘) von der gedachten sprachlichen Norm (‚natura‘) bleibt der Text fĂŒr das Publikum interessant. Der Redeschmuck zerfĂ€llt in zwei Hauptklassen: die der Wort- und Gedankenfiguren (figurae), und der Gedankenbilder, der sogenannten ‚Tropen‘ (‚tropoi‘). Mehr zum Redeschmuck unter 'Die 3 Stile'. Hier zunĂ€chst ein Überblick ĂŒber

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Die 4 Stilideale (virtutes elocutionis)

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5. Die 3 Stile (genera dicendi) und der Redeschmuck (ornatus)

A. Die traditionelle rhetorische Stilistik unterscheidet drei Stilebenen (‚genera dicendi‘), den niederen Stil ‚genus humile‘, den mittleren Stil ‚genus mediocre‘ und den hohen Stil ‚genus grande‘. Die Wahl des Stilniveaus richtet sich nach den Äußerungsabsichten des Redners (‚officia oratoris‘). Soll die Rede erfreuen ‚delectare‘), belehren (‚docere‘) oder bewegen (‚movere‘)? Ausschlaggebend fĂŒr die jeweilige Entscheidung ist das Ziel der Rede bzw. der Redeteile, die Meinung und Gesinnung des Publikums in die gewĂŒnschte Bahn zu lenken. Belehren (‚docere‘) Die Belehrung zielt auf den Intellekt ab und „intendiert die emotionsfreie Unterrichtung des Hörers ĂŒber eine bestimmte Sachlage (‚res‘).“ (Plett, Heinrich F.: EinfĂŒhrung in die systematische Textanalyse. Essen 1978, S. 5.) Der Stil ist sachlich, so dass er hĂ€ufig fĂŒr den berichtenden Teil (‚narratio‘) einer Rede verwendet wird, aber auch in wissenschaftlichen Darstellungen seinen Platz findet. Im beweisenden Teil der Rede findet sich hĂ€ufig das argumentative Glaubhaftmachen (‚probare‘). Den Übergang in den emotionalen Wirkbereich bildet der Appell an die Vernunft (‚monere‘), der gerne in politischen Reden an die Zuhörer gerichtet wird. Bevorzugte Stilart um zu belehren ist die schlichte, auf Schmuck (‚ornatus‘) weitgehend verzichtende Stilart (‚genus humile‘). Erfreuen (‚delectare‘) Das Erfreuen durch eine Rede verfolgt das Erregen sanfter GemĂŒtszustĂ€nde wie VergnĂŒgen und Wohlwollen. Hierbei steht nicht allein der Text im Mittelpunkt. Auch der Redner sollte, um besĂ€nftigend wirken zu können, eine untadelige Person, ein Vorbild sein. Die Wirkungsfunktion des delectare besteht darin, zu entspannen und dabei die Aufmerksamkeit erneuern zu können. Der Einsatz von Schmuck hĂ€lt sich in Grenzen. „Der genus medium ist die Stilart, die fĂŒr die Unterhaltung und Gewinnung der Zuhörer am besten geeignet ist.“ (Ueding, Gert; Steinbrink, Bernd: Grundriß der Rhetorik. Geschichte – Technik – Methode. 4. Aufl., Stuttgart 2005, S. 213.) Bewegen (‚movere‘) Mit ‚pathos‘ wird die Erregung von heftigen Effekten bezeichnet, wenn das Publikum mitgerissen werden soll. „Die Schilderung von Ausnahmesituationen, von schrecklichen BedrĂ€ngnissen, von aufgezwungenen Entscheidungen, von schrecklichen BedrĂ€ngnissen (...) all dies stachelt die Leidenschaft des Zuhörers an.“ (Göttert, Karl-Heinz: EinfĂŒhrung in die Rhetorik - Grundbegriffe - Geschichte - Rezeption. Hildesheim 1985, S. 23.) Oft wird pathos mit viel Redeschmuck am Schluß einer Rede benutzt, um mit drastischer Darstellungsweise das Publikum auf seine Seite zu bringen oder es direkt zu einer Handlung aufzurufen. Der zugeordnete Stil ist der genus grande. Weitere Faktoren stellen Redeanlaß, Thematik und Publikum dar. Im Allgemeinen kommt es innerhalb einer Rede zu Wechseln zwischen den verschiedenen Stilebenen, je nach der in der zugehörigen Textpassage verfolgen Absicht. Um den jeweils passenden Stil zu finden, hat die Rhetorik die Lehre von der Angemessenheit des sprachlichen Ausdrucks (‚aptum‘) entwickelt. Diese bestimmt, in welchen FĂ€llen von der ĂŒblichen Sprachnorm (‚natura‘) abgewichen und kunstvoll (‚ars') arrangiert werden soll. Den unterschiedlichen Redearten verlangen dabei nach unterschiedlich viel Redeschmuck ('ornatus').

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Der Redeschmuck (ornatus) Der Redeschmuck selbst teilt sich in Tropen (‚tropoi‘) und Figuren (‚figurae‘) auf. Die Zuordnung lĂ€sst sich nach der spezifischen Form der Abweichung von der Sprachnorm herleiten: Handelt es sich um eine Abweichung, die die Bedeutung des Wortes, seine Semantik, betrifft, so ist der Redeschmuck den Tropen zuzuordnen. Der eigentliche Begriff wird durch einen uneigentlichen ersetzt. Beispiele hierfĂŒr wĂ€ren Metapher, Metonymie, Synekdoche. Weicht die Sprachverwendung auf der Ebene des Satzbaus, der Syntax, ab, so gehört diese Art des Redeschmucks zu den Figuren. Beispiele hierfĂŒr wĂ€ren Alliteration, Anapher und Hyperbaton. Das Schaubild verdeutlicht den

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Zusammenhang zwischen Anlass, Redestil und Redeschmuck

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B. Rhetorik - Geschichte der klassischen Rhetorik

1. Der Ursprung der Rhetorik im antiken Griechenland ca. 500 v. Chr.

... liegt im antiken Griechenland des 5. Jahrhundert v. Christus. In Syrakus und Athen war es nach der Beseitigung der Tyrannenherrschaft möglich geworden, InteressengegensĂ€tze ĂŒber wirtschaftliche, politische und rechtliche Rahmenbedingungen zwischen den Bewohnern der ‚polis‘ öffentlich auszutragen. Im Zuge dieser Entwicklung fiel der Sprache, derer sich als VerstĂ€ndigungsmittel bedient wurde, eine gewichtige Rolle zu.

2. Gorgias und die sophistische Rhetorik ca. 400 v. Chr.

Der sophistische Philosoph Gorgias (480 v. Chr. – 380 v. Chr. ) gehörte zu den ersten, die rational ĂŒber die menschliche Rede als ein Instrument gesellschaftlichen Lebens nachdachten. Er befĂŒrwortete die Rhetorik als die notwendige Kunst, einen GesprĂ€chspartner gewaltlos ĂŒberreden zu können.

3. Platons Kritik an der Rhetorik ca. 350 v. Chr.

Die sophistische Rhetorik verurteilte Platon (427 v. Chr. - 347 v. Chr.) in seinem Dialog ‚Gorgias‘ als "Scheinkunst" und "Schmeichelei“. Dass die Rhetorik zwar zu allem ĂŒberreden, aber nicht zur Findung der Wahrheit diene, war dabei sein zentraler Kritikpunkt. Dem manipulativen Wirkungspotential der Rhetorik ist daher immer die Frage der MoralitĂ€t inhĂ€rent. Sie betrifft aber nicht die Rhetorik als Technik, sondern das ethische Bewusstsein dessen, der sie anwendet, des Redners. "Platons idealer Redner ist ein Dialektiker (...) auf der Grundlage und im Sinne seiner Philosophie wird die Erkenntnis der Wahrheit zur conditio sine qua non der Redekunst erhoben." ( Ueding, Gert; Steinbrink, Bernd: Grundriß der Rhetorik. Geschichte, Technik, Methode. 4. Akt. Aufl. Stuttgart 2005, S. 21.)

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4. Aristoteles: Téchné Rhétoriké (Rhetorik, ca. 330 v. Chr.)

Eine einflussreiche Systematisierung erfuhr die Redekunst dann bei Aristoteles (384 v. Chr. – 322 v. Chr.). In dessen dreibĂ€ndigem Werk ‚tĂ©chnē rhētorikē‘ definiert er die Rhetorik als die FĂ€higkeit, "das Überzeugende, das jeder Sache innewohnt, zu erkennen" (I,2) und als das Vermögen, die "Wahrheit und der Wahrheit Nahekommendes" zu jedem beliebigen Gegenstand aufzufinden (heuresis), zu ordnen und sprachlich geschickt zu gestalten. Rhetorik ist nun also nicht mehr die Kunst der Überredung, sondern die der Überzeugung durch GlaubwĂŒrdigkeit - sowohl des Redners als auch der Argumentation. Neben psychologischem EinfĂŒhlungsvermögen rĂŒckt bei Aristoteles auch die technische Seite der rhetorischen BeweisfĂŒhrung in den Mittelpunkt. Überlegungen sollten durch schlagende Beispiele, logische Schlussfolgerungen und einleuchtende Indizien flankiert werden. Zentrale Argumentationsform hierfĂŒr bildetet das ‚Enthymem‘, eine Art verkĂŒrzter Syllogismus. Hier ein bekanntes Beispiel fĂŒr einen Syllogismus (Quelle: Wikipedia):

Das Enthymem hieraus wĂŒrde lauten:

Alle Menschen sind sterblich - Plato ist sterblich

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5. Cicero: De Oratore (Über den Redner, 91 v. Chr.)

Der Niedergang der griechischen Stadtstaaten und der Aufstieg Alexanders des Großen hatte auch Folgen fĂŒr die rhetorische Tradition: „Der Vortrag frĂŒherer Reden, die wichtigen Entscheidungen in den Volksvertretungen bewirkt hatten, wurde hier – unter der Herrschaft von Monarchen – zur Farce. In dieser Zeit des Hellenismus ging die BeschĂ€ftigung mit der Rhetorik zu den Schulen ĂŒber. (
) Die Rhetorik aber erstarrte zu einem formalen, trockenen und technischen System.“ (Ueding, Gert; Steinbring, Bernd: Grundriß der Rhetorik. Geschichte - Technik - Methode. 4. Aufl., Stuttgart 2005, S. 29.) Die Wiederaufnahme der Lehre der Beredsamkeit geschah dann durch gebildete römische Familien. Im antiken Rom wurde die Rhetorik dann zu dem neben der Philosophie wirkungsmĂ€chtigsten Bildungssystem der europĂ€ischen Geschichte umgestaltet. Das Ă€lteste erhaltene Lehrbuch in lateinischer Sprache ist die anonym ĂŒberlieferte ‚Rhetorik an Herennius‘ (‚Rhetorica ad Herennium‘, ca. 82 v. Chr.), die lange Zeit fĂ€lschlicherweise Cicero zugeschrieben wurde. Darin beschrĂ€nkt sich der Autor auf praktisch anwendbare Vorschriften. Cicero ging in seinen rhetorischen Lehrschriften ('De oratore', 'Orator') von einem wesentlich weiteren Rhetorikbegriff aus. Er schuf die Grundlage fĂŒr ein umfassendes LehrgebĂ€ude, in dem Erziehung, Politik, Recht, Gesellschaftstheorie und Ethik zusammengefĂŒhrt wurden. Er beschrieb das nie erreichbare Ideal des ‚perfectus orator‘, eines Redners, der seine Kunst auf die Grundlage einer umfassenden Allgemeinbildung gestellt hat und mit moralischem Verantwortungsbewußtsein ausĂŒbt. Dieses Vorbild nennt er den ‚guten Menschen‘, den ‚vir bonus‘. BerĂŒhmt geworden ist seine Redewucht auch durch die Reden, die er gegen den Verschwörer Catilina richtete. Hier als Bild inszeniert von Cesare Maccari, 1888.

6. Quintilian: Institutio oratoria (Unterweisung in der Redekunst, 90 n. Chr.)

Mit Marcus Fabius Quintilianus (‘Quintilian‘, ca. 40 -96 n. Chr.) Lehrbuch ‚Die Ausbildung des Redners‘ (‚Institutio oratoria‘), erreicht die klassische Redekunst ihren Höhepunkt. Die zwölf BĂ€nde stellen noch heute das maßgebende Standardwerk der europĂ€ischen Rhetorik dar. In der ‚institutio‘, beschreibt Quintilian die Rhetorik als die höchste aller KĂŒnste und Wissenschaften. Er fasst noch einmal das rhetorische Wissen der Antike zusammen und pocht auf die moralische IntegritĂ€t des Redners, der durch natĂŒrliche Anlage (‚natura‘), die Regeln der rhetorischen Theorie (‚ars), Fleiß (‚studium‘), Übung (‚exercitatio‘) und Nachahmung (‚imitatio‘) anerkannter Vorbilder zu einem entwickelten Urteilsvermögen und rhetorischem Erfolg findet.

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7. Ausblick: Rhetorik im christlichen Mittelalter - Augustinus: De doctrina christiana (Von der christlichen Lehre, 397 n. Chr.)

Mit dem Einsetzen der Kaiserzeit schwindet in Rom der Einfluss der öffentlichen Rede – Ă€hnlich wie Jahrhunderte zuvor in Griechenland. Erst der Kirchenvater Aurelius Augustinus (354-430 n. Chr.) arbeitet die klassische Rhetorik auf und verwendet sie in seinem vierbĂ€ndigen Werk ‚Von der christlichen Lehre‘ (‚De doctrina christiana‘, 397-426) unter anderem als Predigtlehre und im Rahmen der Bibelauslegung. „Wenn Augustinus dem weisen christlichen Redner die BeschĂ€ftigung mit den heidnischen Wissenschaften nahelegt, so sind damit jene Disziplinen gemeint, die als ‚artes liberales‘, als Freie KĂŒnste, das Bildungssystem und den Unterricht des Mittelalters prĂ€gten und mit denen die Rhetorik tradiert wurde.“ (Ueding/Steinbrink, S. 55). Hier im Bild: Das frĂŒheste GemĂ€lde Augustins (um 600 n. Chr.) in der Laterankirche, Rom.

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II. Poetik - Geschichte der Poetik

Dem Wort 'Poetik' kommen mehrere Bedeutungen zu: 1. Der Ausdruck 'Poetik' kann ‚deskriptiv‘, im Sinne 'Dichtungstheorie' verwendet werden. Dann werden damit bereits vorliegende Texte auf gemeinsame Merkmalen hin analysiert und kategorisiert. Diese theoretische Auseinandersetzung mit dem Wesen der Dichtung und ihren spezifischen Ausdrucksmitteln kann zum Beispiel zur (rĂŒckblickenden) Konstruktion und Abgrenzung literarischer Epochen verwendet werden. 2. Eine Unterart der deskriptiven Poetik stellt die 'implizite' oder 'immanente Poetik' dar. Hier wird versucht, Regeln aus Texten und Textgruppen, die nicht ausdrĂŒcklich genannt wurden, aus den Schriften 'herauszulesen'. 3. Als praktische Anweisung, wie 'richtige' Dichtung geschrieben werden soll, oder nach welchen MaßstĂ€ben Dichtung zu bewerten sei, erscheint die 'normative Poetik'. Auf den folgenden Seite wird eine kleine Geschichte der Poetik von Aristoteles (ca. 350 v. Chr.) bis Johann Gottfried Herder (1774) ausgebreitet - ein Streifzug von den Dichtungsauffassungen der griechischen Antike, die der feudalen Neuzeit bis zur Epoche des Sturm und Drang. In dieser Zeit schließlich wird Abschied vom Konzept einer normativ-regulierenden Poetik genommen. Der Gedanke vom autonomen Kunstwerk, dem sich unser Kunstempfinden heute noch grĂ¶ĂŸtenteils verpflichtet fĂŒhlt, entsteht hier. Zum Bild: Seit der Antike erscheint der Schwan als Sinnbild des Dichters. Im untenstehenden Bild von Reinier van Persijn wird auf diese Tradition Bezug genommen. Dazu gesellen sich der Lorbeerkranz und die Leiher, also die Lyra, von der sich das Wort ‚Lyrik‘ ableitet. Die metaphorische Gleichsetzung Dichter-Schwan leitet sich vom Gesang des Singschwans ab. - Erstaunlich, wenn man das Klangbeispiel anhört... . :-)

Singschwan.mp3

LDW Killy Poetik.doc RLW Poetik.doc

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A. Aristoteles: Poetik (Peri poietikés)

Die erste Poetik des Abendlandes, die 'Poetik' des Aristoteles (384 - 322 v. Chr.) versteht sich als Antwort auf die Kritik an der Dichtkunst, die Platon in seiner 'Politeia' geĂŒbt hatte. Die zentralen Begriffe: Mimesis ~ Nachahmung/Darstellung, so Aristoteles, sei als VergnĂŒgen an schöpferischer Produktion und Ă€sthetischer Rezeption eine anthropologische Konstante. Die FiktionalitĂ€t des Gezeigten werde mit spezifischen Mitteln erzeugt: Wort, Rhythmus, Musik. Der Dichter stelle somit keine reine 'Widerspiegelung', sondern etwas, das geschehen könnte, dar. Damit solle er im Gegensatz zum Geschichtsschreiber, der darstellt, was geschehen ist, stehen. StĂ€ndeklausel: Aristoteles differenziert zwischen der Tragödie, fĂŒr die er als Kriterium ein 'hohes' Personal fordert, und der Komödie die mit 'niederem' Personal spiele. Drei-Einheiten-Lehre: Zeit, Raum und Handlung eines Dramas sollten einheitlich bleiben, d. h: keine ZeitsprĂŒnge, OrtsverĂ€nderungen und Nebenhandlungen. Auf der Rezeptionsseite schreibt Aristoteles der Tragödie eine Affektwirkung zu, die bei den Zuschauern 'Jammern' (Ă©leos) und 'Schaudern (phĂłbos) auslöse und die so zu einer reinigenden Erregung und Befreiung von diesen Affekten, also zu einer 'Katharsis' fĂŒhre. Er kommt zu folgender Definition der Tragödie: Sie ist: Nachahmung einer guten und in sich geschlossenen ganzen Handlung von bestimmter GrĂ¶ĂŸe, in anziehend geformter Sprache, wobei diese formenden Mittel in den einzelnen Abschnitten je verschieden angewandt werden, Nachahmung von Handelnden und nicht durch Bericht, die Jammer und Schaudern hervorruft und hierdurch eine Reinigung von derartigen ErregungszustĂ€nden bewirkt. (Aristoteles: Poetik. Hgg. von Manfred Fuhrmann. Stuttgart 1982, S.19). Bild: Das Theater in Epidauros (Griechenland), einst eine bedeutende KultstĂ€tte.

RLW Mimesis.doc RLW Katharsis.doc RLW Drei-Einheiten-Lehre.doc RLW StÀndeklausel.doc

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B. Horaz: Dichtkunst (Ars Poetica)

Die ‚Ars poetica‘ des Horaz Die ‚Ars poetica‘ des Horaz (65 – 8 v. Chr.) ist kein strenges System, sondern ein in Hexametern gehaltener Lehrbrief. Ähnlich wie Aristoteles fordert Horaz fĂŒr das Drama Einheitlichkeit, erstmals erscheint bei ihm dann die Forderung nach einer fĂŒnfaktigen Struktur: "Ein StĂŒck bleibe nicht unter dem fĂŒnften Akt noch gehe darĂŒber, welches verlangt, daß man es zu sehen begehrt und wiederauffĂŒhrt." (S. 17) In der Literaturwissenschaft wird angenommen, dass die lange Zeit unbekannte aristotelische Poetik (erste dt. Übersetzung 1753) indirekt durch Horaz gewirkt habe. Horaz bestimmt fĂŒr die Dichtung einen doppelten Zweck: 'prodesse et delectare': "Die Dichter wollen entweder nĂŒtzen (prodesse) oder erfreuen (delectare) oder zugleich Erfreuendes und NĂŒtzliches ĂŒber das Leben sagen." Aus der Ars Poetica stammt eine weitere Formel, die prĂ€genden Einfluss auf die Poetiken des Mittelalters, der Renaissance und des Klassizismus hatte: "eine Dichtung ist wie ein GemĂ€lde" ('ut pictura poeisis'). Die Anschaulichkeit und Ă€sthetische QualitĂ€t des Textes solle so sinnlich sein, dass sei eine Illusion erzeugen könne, wobei jedoch die Sprache als Zeichensystem ĂŒber ganz andere QualitĂ€t verfĂŒgt als die Malerei, die ihre GegenstĂ€nde unmittelbar vor Augen fĂŒhren kann. (Horaz: Ars Poetica. Die Dichtkunst. Hgg. von Eckart SchĂ€fer. Stuttgart 1997. Vgl. dazu Lessings Laokoon-Aufsatz von 1766). RLW Ut pictura poesis.doc

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C. Pseudo-Longin: Über das Erhabene (Peri hĂœpsous)

In Pseudo-Longins Schrift 'Über das Erhabene' (ca. 50 n. Chr.) ist ist die Erörterung der Frage, wie

dichterische Rede wirkt, zentral. Auf der Affektwirkung von Kunst aufbauend wird das Konzept des

‚Erhabenen‘ entwickelt. Dichterische Werke sollten eine plötzliche ErschĂŒtterung bzw. VerzĂŒckung der

Rezipienten, die zu einer seelischen Erhebung fĂŒhre, auslösen.

Der Dichtkunst wird somit eine ÜberwĂ€ltigungsfunktion zugewiesen, die das Pathos und den Enthusiasmus

des Dichters auf den Leser bzw. den Zuschauer ĂŒbertragen sollte: „Das Großartige nĂ€mlich ĂŒberzeugt die

Hörer nicht, sondern verzĂŒckt sie; immer und ĂŒberall wirkt ja das Erstaunliche mit seiner erschĂŒtternden

Kraft mĂ€chtiger als das, was nur ĂŒberredet oder gefĂ€llt, (
) auch sehen wir die Kunst der Erfindung und die

kluge Ordnung des Stoffes nicht an einer oder zwei Stellen, sondern im ganzen Gewebe der Rede kaum

eben hervorschimmern, wÀhrend das Erhabene, wo es am rechten Ort hervorbricht, den ganzen Stoff wie

ein plötzlich zuckender Blitz zerteilt und schlagartig die geballte Kraft des Redners offenbart.“ (Longinus:

Vom Erhabenen. Griechisch/Deutsch. Hgg. von Otto Schönberger. Stuttgart 1997, S. 6/7 – Kapitel 1, 4)

HauptsĂ€chlich wurde diese Wirkung jedoch nicht dem Schönen sondern dem GrĂ€ĂŸlichen zugeschrieben.

Die Schrift wurde erst im 17. Jahrhundert wiederentdeckt und ist seitdem zu einem der wichtigsten

Bezugspunkte fĂŒr die Diskussion ĂŒber die Aufgaben des HĂ€sslichen und Schrecklichen in der Dichtkunst

und ihre Wirkungen auf Verstand und GemĂŒt geworden.

Im Bild: Der Mensch im Angesicht der Natur. 'Mönch am Meer' von Caspar David Friedrich, um 1808.

RLW Erhaben.doc

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D. Mittelalter und antike Poetik

Im Mittelalter wurde die antike Poetik nur im Rahmen der septem artes liberales, und darin im Lehrsystem der Rhetorik gelehrt. Es gab sehr verschiedene Zweckbestimmungen von Dichtkunst, hĂ€ufig stand sie im theologischen Dienst als Medium des Lobs und der Ehre Gottes. In diesem Sinn wurde versucht, mit die Harmonie des Kosmos und die Vollkommenheit der göttlichen Schöpfung zu reprĂ€sentieren. Erst im 16. Jahrhundert, also im Zeitalter der Renaissance und des Humanismus, wurden die antiken Texten als Editionen wieder verfĂŒgbar. Es begann eine europaweite, in der Wissenschaftssprache Latein gefĂŒhrte Diskussion um Poetik. Die ‚res publica literaria‘ nahm dabei aber keinen Bezug auf einzelne Nationalliteraturen. Im Bild: Die septem artes liberales aus "Hortus Deliciarum" der Herrad von Landsberg (um 1180)

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E. Martin Opitz: Buch von der Deutschen Poeterey

Martin Opitz (1597 - 1639) schrieb 1624 die erste deutschsprachige Poetik. Sein Ziel war es, die deutsche Sprache gleichberechtigt neben dem bisher vorherrschenden Latein, Französisch und Italienisch, als Kunstsprache zu etablieren. Er orientiert sich dafĂŒr an den Renaissance-Poetiken von Scaliger (I), Ronsard (F) und Heinsius (NL). Im Unterschied zum quantisierenden Prinzip der romanischen Sprachen fordert und etabliert er fĂŒr die deutschsprachige Lyrik ein akzentuierendes und alternierendes Prinzip. Lediglich Jambus und TrochĂ€us dĂŒrfen verwendet werden, die antiken VersfĂŒĂŸe AnapĂ€st und Daktyles seien zu vermeiden. Unter seine grundlegenden Gesetze fĂŒr die Dichtung fallen auch die Empfehlung des Alexandriners, eines fĂŒnf- bzw. Sechshebigen Jambus, sowie die Ablehnung reiner Reime. Opitz` Schrift ist die einflussreichste Poetik des 17. Jahrhunderts. Zentral ist der Gedanke, dass Dichtung lehr- und somit lernbar sei. Dieses vormoderne KunstverstĂ€ndnis beruft sich auf Nachahmung der Vorbilder und geistreiche Variation, ohne die engen Regeln zu verletzen. Die imitatio des literarischen Vorbilds wird im Sinn einer aemulatio, einer wetteifernder Nachahmung, möglichst besser nachgebildet. HierfĂŒr sind genaue Kenntnisse des Regelwerkes notwendig, der Dichter versteht sich als ‚poeta doctus‘, als gelehrter Dichter.

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RLW Imitatio.doc RLW Querelle.doc

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F. Shaftesbury: ‚A Letter concerning Enthusiasm‘

Shaftesbury (1671- 1713) schreibt in seinem ‚Letter concerning Enthusiasm‘ den Poeten die Gabe einer

götterĂ€hnlichen Begeisterung zu und beschreibt die Dichter als ‚second maker‘. Natur wird jetzt nicht mehr

in ihren Erscheinungen als imitatio, sondern in ihrer produktiven Art als schöpfendes Prinzip nachgeahmt.

Der Dichter ist nun Genie, er gebiert mit AuthentizitÀt und OriginalitÀt Neues aus sich heraus und lÀsst die

strikten Reglements normativer Poetiken hinter sich, der Gedanke von der Autonomie des Kunstwerks

entsteht in der Epoche des ‚Sturm und Drang‘ und bestimmt noch heute unsere Einstellung zur Kunst. In

seiner ‚Rede zum SchĂ€kespeare Tag‘ vergleicht Goethe Shakespeare mit dem mythischen

Menschenschöpfer Prometheus, dem ‚second maker‘, wie Shaftesbury den UrkĂŒnstler Prometheus schon

im Jahre 1710 genannt hat.

G. Johann Jacob Bodmer/Johann Jacob Breitinger: bspw. Von dem Einfluss und Gebrauche der Einbildungskraft

Im sogenannten ‚ZĂŒrcher Literaturstreit‘, der von den beiden Schweizern Johann Jakob Bodmer und Johann Jakob Breitinger gegen Gottsched gefĂŒhrt wurde, zeichnet sich die erste Abkehr von den antiken Poetik-AutoritĂ€ten ab. Im Gegensatz zu Gottsched orientierten sich Bodmer und Breitinger nicht am französischen Klassizismus ( Corneille, Racine, MoliĂšre), sondern am englischen Sensualismus. Gottsched lehnte diesen, sowie auch religiöse Themen, deren literarisches Paradigma in der zeitgenössischen Diskussion John Miltons religiöses Epos Paradise Lost war, als Gegenstand der Literatur ab. Der 'Einbildungskraft' des schöpferischen Individuums, dem Fiktionalen und Erhabenen billigten Bodmer und Breitinger einen grĂ¶ĂŸeren Spielraum als Gottsched zu. Im Bild links: Bodmer, rechts: Breitinger

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H. Johann Christoph Gottsched: Versuch einer kritischen Dichtkunst

In der ‚Critischen Dichtkunst‘, der letzten normativen Poetik im deutschsprachigen Raum, argumentierte Johann Christoph Gottsched fĂŒr eine streng rationalistische Dichtungsauffassung: Poesie habe genaue Regeln zu befolgen, welche sich mit den Mitteln der Vernunft begrĂŒnden lassen. Fantasie und auch das Wunderbare wurde durch die Forderung nach logisch ableitbarer Wahrscheinlichkeit des durch Einbildungskraft ErzĂ€hlten eng begrenzt. Aus diesen Vorgaben ergab sich Gottscheds ablehnende Haltung zur Darstellung ĂŒbernatĂŒrlicher und religiöser Erscheinungen. Die Funktion, die Gottsched der Dichtung zuschrieb, beschrĂ€nkte sich auf die moralisch-didaktische Illustration von VerhaltensleitsĂ€tzen: "Zuallererst wĂ€hle man sich einen moralischen Satz, der in dem ganzen Gedichte zum Grunde liegen soll, nach Beschaffenheit der Absichten, die man sich zu erlangen vorgenommen. Hierzu ersinne man sich eine ganz allgemeine Begebenheit, worin eine Handlung vorkommt, daran dieser erwĂ€hlte Lehrsatz sehr augenscheinlich in die Sinne fĂ€llt." (Johann Christoph Gottsched: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen, in: ders. Schriften zur Literatur, hg. v. Horst Steinmetz, Stuttgart: 1972, S. 96f.) Im Bild: Das Frontispitz und das Titelblatt. Die Berufung auf Horaz macht deutlich: Dichtung soll ‚prodesse et delectare‘.

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I. William Shakespeare: Die Dramen

Gegen die strengen Regeln der klassizistischen Dramatik fĂŒr die vorwiegend das zeitgenössische

französische Theater stand, stellte sich William Shakespeare (1564 - 1616). In seinen StĂŒcken verstieß er

gegen die Regeln der Einheit von Raum, Zeit und Handlung, sowie gegen die StÀndeklausel.

Er bezog die gesamte Natur in das Geschehen oder fĂŒgte Burlesken, komische Szenen, in Tragödien mit ein.

Die von Martin Wieland (1733-1813) besorgte Übersetzung seiner Werke löste eine Welle von

Shakespeare-Begeisterung in Deutschland aus (im Übrigen verdanken wir ihm Wörter wie "Steckenpferd",

"KriegserklÀrung" oder "MilchmÀdchen"). Wieland, der zwei Jahre bei Bodmer gastierte, förderte durch

seine Übersetzungen nicht nur die Bekanntheit von Shakespeares Werken, sondern beeinflusste auch die

AuffĂŒhrungen im deutschen Theater maßgeblich.

Das hier verwendete PortrÀt, das sogenannte 'Chandos'-PortrÀt, könnte Shakespeare abbilden, gesicherte

Erkenntnisse ĂŒber die AuthenzitĂ€t vpn Shkakespeare-Darstellungen gibt es aber nicht.

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J. Johann Gottfried Herder: Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit

Statt eines heilsgeschichtlich-teleologisch ausgerichteten Weltbildes wird im Zuge der SĂ€kularisierung

‚Geschichte‘ als Ablauf unterschiedlicher Epochen verstanden. Eine historisierende Geschichtsvorstellung,

die in großen Teilen von Johann Gottfried Herder initiiert wurde. Die Regulierungen der Antike erscheinen

somit als historisch-relative ohne zwingenden Vorbildcharakter.

Der radikale Bruch mit den bisher vorherrschenden normativen Regelpoetiken erfolgt in der Zeit zwischen

1770 und 1800. In dieser ‚Sattelzeit‘ (Kosseleck, Reinhart) kommt es zu einer Neukonzeption der Literatur.

Statt der antiken Vorgaben und den rationalen Forderungen der AufklÀrung bildet die Empfindsamkeit

zunehmend den Mittelpunkt dichterischen Denkens. FĂŒr das durch die Reformation und die religiöse

Strömung des Pietismus neu entdeckte Individuum werden sprachliche Ausdrucksmöglichkeiten gesucht,

um die ihm nun eigenen GefĂŒhlen von Liebe und Zuneigung auszudrĂŒcken.

Im Bild: 'Vorlesung aus Goethes Werther' (Wilhelm Amberg, 1870).

RLW Autonomie.doc


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