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Biodegradierbare Polymere findenseit Jahren als Nahtmaterial klinischeAnwendung. Neuerdings wird das klini-sche Anwendungsspektrum durch denEinsatz resorbierbarer Osteosynthese-materialien in Form von Platten undSchrauben erweitert.

Unter biodegradierbaren Kunst-stoffen werden heute polymere Werk-stoffe zusammengefasst, die unter phy-siologischen Bedingungen primär durchHydrolyse im Organismus zu nicht toxi-schen Produkten abgebaut werden.Wichtigste Vertreter dieser Materialklas-se sind Polylaktide (PLA), Polyglykolide(PGA) und deren Kopolymere sowiePolydioxanon (PDS) [3].

Aufgrund ihrer anspruchsvollenthermoplastischen und mechanischenEigenschaften sowie einer guten Gewe-beverträglichkeit und Resorbierbarkeitgelten die hochmolekularen PolyesterPolylaktid und Polyglykolid als favori-sierte Osteosynthesematerialien [4, 11].

Bei der klinischen Anwendung wer-den die resorbierbaren Kunststoffgitterund -platten häufig durch Erwärmungin einen reversibel formbaren Zustandüberführt. Sie werden präzise den vor-

handenen Knochenkonturen angepasstund fixiert [4]. Dabei wurde jedoch einMemory-Effekt (ME) beobachtet,der dieDimensionstreue dieser Polymere inFrage stellt [12]. Dieser Effekt beschreibtdie Fähigkeit unterschiedlicher Werk-stoffe, sich nach mechanischer Defor-mation abhängig von der Temperatur anihre Ursprungsform zu „erinnern“ undsich ihr wieder anzunähern [14]. Führtdie Rückstellung zu einer sichtbaren De-formation des Implantats, wäre eineexakte anatomische Rekonstruktion nichtgewährleistet.

Ziel dieser Arbeit war, den ME un-terschiedlicher resorbierbarer Polyme-re, die häufig als OsteosynthesematerialVerwendung finden, in vitro zu untersu-chen.

Es galt zu klären, ob die chemischeZusammensetzung der resorbierbarenKunststoffe den Gedächtniseffekt beein-flusst.Weiterhin sollte beurteilt werden,ob der amorphe oder kristalline Aufbaudieser Kunststoffe mit dem Gedächtnis-effekt im Zusammenhang steht. Unter-schiedliche Verformungswinkel solltenAufschluss geben, inwieweit innereSpannungen im Material den Gedächt-niseffekt beeinflussen.

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Mund Kiefer GesichtsChir 2003 · 7 : 151–156DOI 10.1007/s10006-003-0468-x Originalien

A. Patyk1 · B.Wollschläger2 · H. A. Merten2

1Abteilung Prothetik (Werkstoffkundelabor), Zentrum ZMK, Georg-August-Universität Göttingen2Abteilung für Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie, Zentrum ZMK,Georg-August-Universität Göttingen

Memory-Effekt resorbierbarer Polymere

Online publiziert: 24. April 2003 © Springer-Verlag 2003

Prof. Dr. A. PatykAbteilung Prothetik (Werkstoffkundelabor),Zentrum ZMK,Georg-August-Universität Göttingen,Robert-Koch-Straße 40, 37075 GöttingenE-mail: [email protected]

Zusammenfassung

Hintergrund: Osteosynthesematerialien ausresorbierbaren Polymeren können aufgrundihrer thermoplastischen Eigenschaften exaktan anatomische Strukturen angepasst wer-den. Jedoch bleibt die neue Form der Im-plantate nicht immer konstant, sondernkann sich nach Insertion der ursprünglichenForm wieder annährend anpassen. In dieserStudie sollte ermittelt werden, wie ausge-prägt die Rückstellung der Implantate beiKörpertemperatur ist. Dieser so genannteMemory-Effekt (ME) sollte an unterschied-lichen resorbierbaren Polymeren, die alsOsteosynthesematerial Verwendung finden,untersucht werden.Methode: Es wurden stab-, gitter- und plat-tenförmige Prüfkörper aus Polyglykolidenund Polylaktiden verschiedener Zusammen-setzung im Schmelz-Press-Verfahren herge-stellt. Die im Wasserbad bei 50°C erwärmtenPrüfkörper wurden auf definierte Winkel ver-formt. Anschließend wurden die Prüfkörperin ein Wasserbad von 37°C deponiert, das dieVerhältnisse einer Implantatadaptation beiKörpertemperatur imitierte. Die Deformatio-nen, ausgelöst durch das Bestreben der Prüf-körper, sich ihrer ursprünglichen Form wie-der anzunähern, wurden registriert.Ergebnisse: Testkörper, die einer größerenDeformation ausgesetzt wurden, reagiertenmit einer stärkeren Rückstellung. Auch dieForm der Prüfkörper beeinflusste den Ge-dächtniseffekt: Dieser nahm mit zunehmen-der Materialstärke ab. Ferner wurden zwi-schen den untersuchten MaterialgruppenUnterschiede im Memory-Verhalten gefun-den: Alle getesteten resorbierbaren Kunst-stoffmaterialien zeigten einen starken initia-

len Gedächtniseffekt, der mit der Zeit ab-nahm.

Schlüsselwörter

Memory effect · Resorbierbare Kunststoff-materialien · Polylaktid · Polyglykolid

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A. Patyk · B.Wollschläger · H. A. Merten

Memory effect of resorbablepolymers

Abstract

Background: The present study analyzed thememory effect of resorbable polymers.Depending on temperature, this effect de-scribes the ability of different materials to“remember”their original form after me-chanical deformation. Resorbable polymersserve as materials to stabilize and fix bonefractures. Compared to metal transplants, re-sorbable polymers are able to undergo ther-moplastic deformation.The precise adapta-tion of the transplant to the surroundingbone guarantees an exact anatomical recon-struction. However, during normal applica-tions, it was observed that these biodegrad-able plastic materials tend to revert to theiroriginal form at body temperature.This“memory effect”could result in negativeconsequences for the medical treatment.Methods: By the process of compressionmolding, geometrically formed specimens(lattice, rod, plate) consisting of differentpolyglycolides and polylactides were pre-pared. After warming up the specimens to50°C (water bath) they were deformed intodefinite angles. Following this procedure, thespecimens were put in a water bath at 37°Cto mimic the adaptation of the transplant atbody temperature.The retroflexion of thematerial (memory effect) was measured us-ing an XY-measuring desk.Results: The present study clearly revealsthat highly deformed specimens react withstronger retroflexions. In addition, the resultsindicate that the memory effect depends ongeometrical design as well as on chemicalcomposition. All tested polymers showed astrong initial memory effect that decreasedwith time.

Keywords

Memory effect · Resorbable osteosynthesis ·Polylactide · Polyglycolide

Material und Methode

Aus unterschiedlichen biodegradierba-ren Polymeren, dem Poly-(D,L-Laktid)-Resomer R 208, dem Poly-(L-Laktid)-Resomer RL 209, dem Poly-(L-Laktid)-Resomer RL 214 und dem Poly-(D,L-Laktid-co-Glykolid)-Resomer RG 504(alle Boehringer Ingelheim) (Tabelle 1)wurden jeweils stab-, gitter- und plat-tenförmige Testkörper [Breite¥Stärke¥Länge (in mm): Stab: 2¥2¥40; Gitter:12¥1¥40; Platte: 6¥0,5¥40] im Schmelz-Press-Verfahren hergestellt.

Die Prüfkörper wurden für 15 s ineinem Wasserbad entsprechend ihrerGlasübergangstemperatur von 50°C ge-lagert, in einen elastischen Zustandüberführt und in einer Halterung auf ei-nen Winkel von 45° bzw. auf einen Win-kel von 90° über die Fläche verformt(Abb. 1). Anschließend wurden die ein-gespannten und entsprechend verform-ten Testkörper in ein Wasserbad von37°C gelegt, das die Verhältnisse einerImplantatadaptation bei Körpertempe-ratur imitiert. Mit Hilfe eines xy-Mess-

tisches mit Digitalanzeige und einer Genauigkeit von 5 mm wurde der MEüber einen Zeitraum von 30 min durchMessung des Rückstellwinkels be-stimmt.

Für die statistische Auswertung derErgebnisse wurde jeder Versuch 10-malwiederholt; die statistisch analysiertenDatenkollektive umfassten jeweils 1680Messungen (Abb. 2). Mit Hilfe des Kol-mogorov-Smirnov-Tests wurde das Vor-liegen einer Normalverteilung über-prüft. Nachdem die Annahme der Nor-malverteilung nicht verworfen werdenkonnte, wurde die Signifikanz mit einemt-Test für unverbundene Stichprobenbelegt. Da ein multipler Vergleich vor-liegt, wurde der t-Test mit einem Signi-fikanzniveau von a/6 (p=0,0083) durch-geführt.

Ergebnisse

Aus der Studie ist ersichtlich, dass dieTestkörper, die einer größeren Defor-mation ausgesetzt werden, mit einerstärkeren Rückstellung reagieren. Es

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OriginalienMund Kiefer GesichtsChir 2003 · 7 : 151–156DOI 10.1007/s10006-003-0468-x

Abb. 1a,b � Halterung mit eingespanntem Prüfkörper, a 45°-Winkel, b 90°-Winkel, aa Rückstellungs-winkel

Tabelle 1Physiko-chemische Charakteristika der untersuchten resorbierbaren Biopolymere

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konnte des Weiteren festgestellt werden,dass auch die Form der Prüfkörper denGedächtniseffekt beeinflusst (Abb. 3, 4,5, 6, 7). Dieser nimmt mit zunehmenderMaterialstärke ab. Ferner bestehen zwi-schen den untersuchten Materialgrup-pen Unterschiede im Memory-Verhal-ten. Das Poly-(D,L-Laktid)-Resomer R 208 zeichnet sich durch den gerings-ten Gedächtniseffekt aus. Es folgen dasPoly-(L-Laktid)-Resomer RL 209 unddas Poly-(L-Laktid)-Resomer RL 214;das signifikant stärkste Rückstellverhal-

ten weist das Poly-(D,L-Laktid-co-Gly-kolid)-Resomer RG 504 auf.

Alle getesteten resorbierbaren Kunst-stoffmaterialien zeigen einen starken in-itialen Gedächtniseffekt,der mit der Zeitabnimmt.

Diskussion

In der Literatur finden sich bislangkaum Angaben zum ME resorbierbarerOsteosynthesematerialien. Zudem istder Begriff „shape memory polymer“ be-

züglich Struktur, Zusammensetzungund Gedächtniseigenschaften dieserKunststoffe nicht exakt definiert [15].

Baumgart et al. [1] beschrieben dasRückstellverhalten von Implantaten ausGedächtnislegierungen. Sie wiesen dar-auf hin, dass bereits geringfügige Verän-derungen hinsichtlich der Materialzu-sammensetzung eine deutliche Auswir-kung auf das Erinnerungsverhalten zei-gen. Xu u. Li [15] untersuchten den MEan unterschiedlichen Polymeren (Poly-urethan und Polyethylen-Nylon-Kopo-lymer) und konnten einen Zusammen-hang zwischen der Struktur des Kunst-stoffes und dessen Rückstellvermögenfeststellen. Tschakaloff et al. [13] habeneinen ME an DL-Polylaktiden erkannt,diesen aber nicht direkt untersucht. Los-ken et al. [10] ist es gelungen, den ME anPlatten aus Resomer 207 (Polyglykolid)durch thermische Behandlung zu redu-zieren. Zuerst wurden die biodegradier-baren Platten auf 200°C erhitzt und 45 sbei dieser Temperatur gehalten. NachAbkühlen wurde diese Behandlungwiederholt, d. h. die Platten wurden er-neut auf 200°C erwärmt und die Tempe-ratur über 40 s gehalten. Durch diesethermische Prozedur konnte der MEweitgehend ausgeschaltet werden. DieUntersuchungen wurden qualitativ, nichtjedoch quantitativ ausgewertet.

In der vorliegenden Studie wurdebei allen untersuchten resorbierbarenKunststoffmaterialien ein Gedächtnis-verhalten beobachtet (Abb. 3, 4, 5, 6, 7).

Ein Vergleich der amorphen Mate-rialien Resomer R 208 und Resomer RG504 mit den teilkristallinen PolymerenResomer RL 209 und RL 214 lässt hier-

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Abb. 2 � Verteilung der angefer-tigten Prüfkörper (n=240) für die

Bestimmung des ME

Abb. 3 � Winkelabnahmebei Rückstellung einesStabs aus einem Winkelvon 45° (Medianwerte von10 Messungen)

Abb. 4 � Winkelabnahmebei Rückstellung einesStabs aus einem Winkelvon 90° (Medianwerte von10 Messungen)

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bei keinen Einfluss bezüglich des Me-mory-Verhaltens erkennen. Im Gegen-satz dazu zeigt sich jedoch ein signifi-kant geringeres Rückstellverhalten derHomopolymeren Resomer R 208, RL209 und RL 214 gegenüber dem Kopoly-mer Resomer RG 504. Daher ist nichtder kristalline oder amorphe Aufbau,sondern die Materialzusammensetzung,d. h. ob es sich um ein Homo- oder Ko-polymer handelt, für den Gedächtnisef-fekt von Bedeutung. Das Kopolymer RG504 besteht aus 2 verschiedenen Kunst-stoffen und zeigt somit Parallelen zu denin der Literatur beschriebenen „shape

memory polymers“. Die Gedächtnispoly-mere sind aus einer harten (irreversi-blen) und einer weichen (reversiblen)Phase zusammengesetzt. Dem 2-phasi-gen Aufbau kommt im Hinblick auf denGedächtniseffekt eine ausschlaggeben-de Bedeutung zu [9]. Die Phasen diffe-rieren bezüglich ihrer Schmelztempera-tur (Tm) bzw. ihres Schmelzintervalls so-wie der jeweiligen Glasübergangstem-peratur (Tg). Bei einer kritischen Tem-peratur (Tk), die sich zwischen derSchmelztemperatur der weichen Phase(Tw) und der Schmelztemperatur derharten Phase (Th) befindet, wird eine

Art gummielastischer Zustand erreicht.Die reversible Phase ist zu diesem Zeit-punkt geschmolzen und zeigt einen sig-nifikanten Abfall des Elastizitätsmoduls.Die irreversible Phase beschränkt sichauf geringere intermolekulare Bewe-gungen. Bestehende Strukturen dieserirreversiblen Phase wie Kristalle oderVernetzungspunkte können die Formerinnern.Wird ein Memory-Polymer beider kritischen Temperatur (Tk) defor-miert und anschließend abgekühlt, wirddie neue Form „eingefroren“ und fixiert.Eine erneute Erwärmung auf Tk führtdazu, dass der Kunststoff durch die freiwerdende gespeicherte elastische Ener-gie, die dem Material während der Ver-formung aufgezwungen wurde,zu seinerUrsprungsform zurückkehrt [5].

Aus unseren Experimenten ist desWeiteren eine Abhängigkeit zwischender Größe des Verformungswinkels unddem ME festzustellen.Die bei einer Win-kelverformung auftretenden Zug- undDruckbelastungen bewirken gegensätz-liche Verspannungen im Material in Ab-hängigkeit von den jeweiligen Moleku-largewichten. Die äußere Kontur desWinkels wird Zugkräften ausgesetzt,woraus eine Dehnung mit relativer Län-genänderung resultiert. Der innere Win-kel wird mit Druck belastet. Die Druck-belastung bewirkt eine Verkürzung(Stauchung) des Materials [7]. Der Ein-fluss des Molekulargewichts auf den MEist initial am ausgeprägtesten und wirdmit zunehmender Hydrolyse des Poly-mers (1. und 2. Phase der Kunststoffde-gradation nach Kronenthal [8]) an Be-deutung verlieren [8, 11].

Es ist zu erwarten, dass beide Artender Belastung den ME der untersuchtenPolymere beeinflussen. Gedächtnispoly-mere (hier: Polyurethane) reagieren aufunterschiedliche Deformationen wieDehnung, Stauchung, Torsion und Ver-biegung mit einem Erinnerungsverhal-ten [6].Wird ein Prüfkörper auf 90° ver-formt, entstehen Verzerrungen im Ma-terialgefüge.Verformungen auf kleinereWinkel (hier: 45°) gehen mit geringerenMaterialverspannungen einher. In denVersuchen zeigte sich, dass sich die Ver-suchskörper der 90°-Gruppe stärker zu-rückstellen als die der 45°-Gruppe. Eskann demnach von einem Zusammen-hang zwischen Verzerrungen und Ge-dächtniseffekt ausgegangen werden.Vermutlich steigt das Bestreben der Mo-leküle, in einen spannungsfreien Zu-

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Abb. 5a,b � Statistische Auswertung des Rückstellungsvermögens der untersuchten resorbierbarenPolymere, Form Stab, nach 30 min bei Vorverformung: a auf Winkel 45°, b auf Winkel 90°

Abb. 6a,b � Statistische Auswertung des Rückstellungsvermögens der untersuchten resorbierbarenPolymere, Form Platte, nach 30 min bei Vorverformung: a auf Winkel 45°, b auf Winkel 90°

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stand überzuwechseln, mit dem Gradder Verspannungen im Material an, wieauch in vergleichbaren Untersuchungenvon Bhattacharyya u. Tobushi [2] festge-stellt wurde. Sie beobachteten, dass beiGedächtnispolymeren aus Polyurethaneine Abhängigkeit zwischen dem Gradder Verformung und der mechanischenAntwort in Form einer Rückstellung be-steht. Insbesondere konnten durch einenperiodischen Anstieg der Deformatio-nen die elastischen Kapazitäten der Me-mory-Polymere maximal ausgeschöpftwerden. Es kam zu steigenden Verspan-nungen im Material, die sich in größe-ren Rückstellungswerten äußerten.

Nicht nur der Deformationswinkel,sondern auch die geometrische Formder Prüfkörper scheint mit dem Rück-stellverhalten der biodegradierbarenPolymere zu korrelieren. Bei den Prüf-körpern mit Plattenform [Dimension:Breite¥Stärke¥Länge (in mm): 6¥0,5¥40] wird stets die größte Rückstellungbeobachtet. Die Gitter (12¥1¥40) neh-men die Mittelstellung ein.Am formsta-bilsten zeigt sich der Stab (2¥2¥40) mitdem geringsten ME. So scheint die Stär-ke des Materials auf den Gedächtnisef-fekt Einfluss auszuüben. Je größer dieMaterialstärke des Polymers ist, destogeringere Werte weist der Gedächtnisef-fekt auf. Dies steht im Widerspruch zuder Verspannungstheorie, wonach Prüf-körper großer Materialstärke wie derStab (Stärke: 2 mm) ein breiteres Ver-spannungsfeld aufweisen und sich somit

weiter zurückstellen müssten. Aber ge-rade die Prüfkörper großer Stärke wei-sen kleine Gedächtniswerte auf.

Besonders bei großen Materialstär-ken wird möglicherweise eine starkeÜberdehnung bzw. Stauchung im Ver-biegungsareal provoziert.Daher wird er-wartet, dass die Strukturen überlastetwerden und ihre Fähigkeit, mit Rück-stellkräften auf den ME einzuwirken,verlieren. Dieses Phänomen kann durchvergleichbare Untersuchungen an Poly-urethanen von Bhattacharyya u. Tobus-hi [2] belegt werden. Sie konnten zeigen,dass einwirkende Kräfte, die über einenSchwellenwert hinausgingen, die Mate-rialkapazitäten überlasteten. Dies äu-ßerte sich in einer Abnahme des Ge-dächtniseffekts.

Ferner weisen die untersuchtenPolymere ein thermosensibles Verhaltenauf. Kim et al. [6] beschrieben bei Ge-dächtnispolymeren aus Polyurethan ei-ne Abhängigkeit des Deformationsver-haltens von der Temperatur. Diese Be-obachtung deckt sich mit den Ergebnis-sen der vorliegenden Untersuchung.

Die Versuchsdurchführung orien-tierte sich an Verarbeitungsmethodenvon resorbierbaren Osteosynthesemate-rialien: Die auf 50°C erwärmten Prüf-körper wurden verformt und in einemauf 37°C temperierten Wasserbad depo-niert, das die Verhältnisse einer Adapta-tion bei Körpertemperatur widerspie-gelt. Durch Wärmediffusion gleicht sichdie Temperatur des auf 50°C erhitzten

Prüfkörpers im Wasserbad kontinuier-lich der Körpertemperatur von 37°C an.

Xu u. Li [15] wiesen darauf hin,dass thermoplastische Memory-Polyme-re oberhalb ihrer Glasübergangstempe-ratur weich und flexibel sind. In diesemZustand können die Polymere durchvon außen einwirkende Kräfte problem-los verformt werden. Wird das Materialdurch Entzug dieser Kraft entlastet, stelltsich der Prüfkörper in seine Ausgangs-form zurück. Erst durch eine Abkühlungdes Kunststoffs kann die neue Form ein-gefroren und fixiert werden.

Innerhalb der ersten Messminutezeigen alle Testreihen den ausgeprägtes-ten ME. Es ist anzunehmen, dass dieuntersuchten Prüfkörper nach 1 min je-ne kritische Temperatur unterhalb ihrerGlasübergangstemperatur erreicht ha-ben, bei der die neue Form eingefrorenwird und kein starker Gedächtniseffektmehr möglich ist. Hierin mag die Erklä-rung für den prägnanten initialen Ge-dächtniseffekt zu finden sein.

Dennoch ist selbst im abgekühltenZustand bei den untersuchten Prüfkör-pern noch ein geringer ME zu beobach-ten. Diese Feststellung deckt sich mitden Angaben in der Literatur. Kim et al.[6] belegten, dass auch nach Abkühlungder Polyurethangedächtniskunststoffeeine Rückstellung nachgewiesen werdenkann, die mit der Auflösung innererSpannungen in Relation gebracht wird.

Für das Resomer R 208 und das Re-somer R 209 ist der Gedächtniseffektnach einer Zeitspanne von 1 min weit-gehend abgeschlossen, während dieserVorgang bei dem Resomer RL 214 etwa 5 min und dem Resomer RG 504 etwa 15 min andauert.

Aus den vorliegenden Untersu-chungen können Informationen für dienotwendige Zeitspanne, die eine Kunst-stoffosteosyntheseplatte an die Lager-oberfläche individuell im thermoplasti-schen Zustand zumindest adaptiert wer-den sollte, abgeleitet werden. Da in derRegel die thermoplastisch verformtenOsteosyntheseplatten mit entsprechen-den Osteosyntheseschrauben im Lager-knochen fixiert werden, kann bei Kunst-stoffen mit ausgeprägtem ME ein zu-sätzlicher,klinisch unkalkulierbarer Zugauf die Schraubenköpfe ausgeübt wer-den,wodurch eine Fraktur in diesem Be-reich provoziert werden kann. Insbe-sondere bei kleinem Schraubendesignmuss dieser Sachverhalt berücksichtigt

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Abb. 7a,b � Statistische Auswertung des Rückstellungsvermögens der untersuchten resorbierbarenPolymere, Form Gitter, nach 30 min bei Vorverformung: a auf Winkel 45°, b auf Winkel 90°

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werden. So wäre bei Osteosyntheseplat-ten aus Resomer R 208 und RL 209 eineFixierung der Platten über einen Zeit-raum von 1 min empfehlenswert. Zu ei-nem späteren Zeitpunkt kann davonausgegangen werden, dass das Trans-plantat weitgehend stabilisiert ist undkaum ein weiterer Gedächtniseffekt auf-tritt. Dagegen sollten die Adaptations-zeiten für das Resomer RL 214 auf 5 minund für das Resomer RG 504 auf 15 minverlängert werden. Bei den zurzeit kom-merziell verfügbaren polymeren Osteo-synthesesystemen soll kein klinisch re-levanter ME auftreten. Nichtsdestotrotzsollte dieser Sachverhalt bei der Wahl ei-nes entsprechenden Produkts kritischhinterfragt werden.

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