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Page 1: Naturalism in German Literature (German)

Valentina Shasivari

Selbstmord und Alltag im Naturalismus

“Mach dich gefasst: totgeboren!”1

Mit dem folgenden Text zeige ich auf, dass im Naturalismus, spezi-

fisch in Papa Hamlet, der Selbstmord nicht zur Erhöhung der Span-

nung dient, die den Leser unterhalten soll, sondern als eine logische

Folge der Umstände gesehen wird. Diese wird nicht spektakulär dar-

gestellt und lädt genau deswegen zum Nachdenken ein.

Papa Hamlet endet mit dem Selbstmord seines Hauptdarstellers. Die

Umstände, in denen sich die Erzählung abspielt, porträtieren eine Zeit,

in welcher der Mensch von sozialen Veränderungen stark geprägt ist.

Die Lebensverhältnisse der Arbeiter haben sich mit dem Anbruch der

Industrialisierung drastisch verschlimmert: Es ist eine Menschenmas-

se entstanden, die in ärmlichen Umständen am Rande der Gesellschaft

lebte, während sich eine beschränkte, kleine Anzahl von Menschen an

der Produktion immer mehr bereicherte. Diese eindeutige Spaltung

zwischen Arbeitern und Profiteuren machte den sozialen Aufstieg der

Arbeiter unmöglich. Das Individuum wurde als ein Wesen empfun-

den, dessen Schicksal durch das Milieu, in das es hineingeboren wur-

de, schon vorbestimmt war und so musste man akzeptieren, dass „der

einzelne Mensch innerhalb dieser Entwicklung unfrei bleibt.”2 Wie in

der Realität wurde in der naturalistischen Literatur „der Mensch [...]

als Produkt seiner Umgebung gezeigt”3, im schlimmsten und üblichs-

ten Fall ein Nebenprodukt. Diese Lebensauffassung vermittelte das

                                                                                                               1 Hauptmann 2011: S. 122 2 Wucherpfennig 2010: S. 188 3 BBS Lüneburg 2009: S. 1

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Gefühl, nicht in den Verlauf des eigenen Lebens eingreifen zu kön-

nen. Man fühlte sich hilflos und das Leben selbst verlor an Sinn. „Wa-

rum hat uns – der liebe Gott das – Kind genommen?...und ich[...]muss

mich – weiterschleppen[...]. Ach hol mich bald nach, mein Linchen!

Hol mich bald nach!“ (Die Familie Selicke 2010, S. 53). Der Selbst-

mord markierte das Ende einer Ereigniskette, die nicht vom Menschen

beeinflusst werden konnte.

In Papa Hamlet befindet sich Niels Thienwiebel mit seiner Familie

am Rande der Verzweiflung und der soziale Abgrund ist eine Realität,

die sich von ihrer ungnädigsten Seite zeigt: die Wohnung und die

Kleidung befinden sich in einem miserablen Zustand, die Ernährung

ist mangelhaft und der Alkoholismus gehört zum Alltag. Die Hoff-

nungslosigkeit der Betroffenen, welche schon am Anfang des Stückes

geschildert wird, ist eine nachvollziehbare Konsequenz dieser Um-

stände: Niels Thienwiebel schaut aus dem Fenster: “Die Sonne

draussen ging gerade unter. Die Dächer sahen fuchsrot aus. Aber ein

Blick auf seinen alten, abgenutzten Schlafrock unten liess ihn sich

wieder zusammennehmen […]“(Papa Hamlet 2010, S. 21). Der Blick

auf sein miserables Aussehen bestätigt den Status des Aussenseiters,

welcher ihn definiert. Er realisiert, dass die Welt draussen nicht für

ihn ist und er bleibt in seiner Beschränktheit. Die wenigen Versuche

sich den Umständen anzupassen sind insignifikant und rücken schein-

bar wegen Ehrgeiz oder mangelnder Selbstbeherrschung in den Hin-

tergrund. Z.B. findet der grosse Thienwiebel die Arbeiten, die ihm an-

geboten werden, nicht genügend niveauvoll. „Geschrieben – e… hatte

man ihm zwar unterdessen bereits, aber – e… wie kam’s, dass sie um-

herstreiften?[…]Kurz und gut, es war eben nur eine Truppe gewesen,

und der grosse Thienwiebel hatte sich zu degradieren gefürch-

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tet.“(Papa Hamlet 2012, S. 43). Auch später, als die Vermieterin ihre

Miete fordert und Thienwiebel gezwungen ist, nach einer Arbeit im

Hafenviertel zu suchen, bleiben seine Bestrebungen, seine finanzielle

Lage zu verbessern, limitiert: „Er trieb sich nun ganze Tage lang im

Hafenviertel umher. - «Ha! Tot?! Für nen Dukaten, tot?» … Er hatte

wieder eine prachtvolle Ausrede. […] Er schnurrte sich herum so gut

es ging. […]Er kam jetzt selten mehr die Treppen in die Höhe gestol-

pert.“(Papa Hamlet 2010, S. 53).

Dies bestätigt weiterhin die Unfähigkeit von Thienwiebel, sich mit der

umgebenden Realität abfinden zu können. Sie wird stattdessen durch

Alkoholismus und durch die Erinnerungen an den vergangenen Ruhm

und an seine Rollen in der Schauspielerei verdrängt, was als ein weite-

res Zeichen für seine Hilflosigkeit gedeutet werden kann.

Diese Verhältnisse eskalieren dann bis zum Absturz der gesamten Le-

benssituation und werden zuerst mit Mord und dann Selbstmord zu

einem Ende geführt. Der Selbstmord trägt in dieser letzten Szene nicht

zur Erhöhung der Dramatik bei, sondern ist eher eine logische Folge-

rung, die in den bisher geschilderten Alltag durchaus hineinpasst. „Als

der dicke Sieversen dann endlich angestapft kam, konstatierte er, dass

der Mann erfroren war. «Erfroren an Suff!» Seinen zerbeulten Zylin-

der hatte ihm der kleine, buckelige Tille vorhin gerade gegen die La-

terne gequetscht.“(Papa Hamlet 2010, S. 63).

Niels Thienwiebels Tod ist ruhmlos dargestellt, wie auch sein Leben;

nicht einmal Selbstmord zu begehen präsentiert sich als eine Bege-

benheit in einem letzten, verzweifelten Akt, das eigene Leben in die

eigenen Hände zu nehmen. Stattdessen ist hier der Selbstmord auf die

Gewohnheiten, den Alkoholismus, des Darstellers zurück zu führen

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und kann deswegen eher als Kontinuität, statt als Abbruch des bishe-

rigen Ablaufs empfunden werden. Diese unspektakuläre und schlichte

Darstellung einer solch tragischen Eventualität, bringt die Normalität,

mit der die Zeit des Naturalismus täglich konfrontiert wurde, hervor.

In Papa Hamlet repräsentiert der Selbstmord, den unvermeidbaren

Untergang in seiner schlimmsten Form und dient als perfekten Ab-

schluss einer Episode, die in einer Welt, geprägt von vorprogrammier-

ter Hilflosigkeit, abläuft.

Literaturverzeichnis:

Wucherpfennig, Wolf (2010): Deutsche Literaturgeschichte. Von den Anfängen bis zur Gegenwart. Stuttgart: Klett.

Hauptmann, Gerhart (2011): Vor Sonnenaufgang. Berlin: Ullstein.

Holz, Arno/ Schlaf, Johannes (2010): Papa Hamlet. Stuttgart: Reclam.

Holz, Arno/ Schlaf, Johannes (2010): Die Familie Selicke. Stuttgart: Reclam.

Berufsbildende Schulen I Lüneburg. Christoph Wendeburg (2009): Epochenüberblick: ausgehendes 19. Jahrhundert/ Jahrhundertwende.

http://www.bbs1-luene-burg.de/joomla/files/deutsch/deutsch_homepage/naturalismus_1.pdf

(14.5.2012).

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