Nachrichten aus der Chemie | 58 | Februar 2010 | www.gdch.de/nachrichten
�Analytik�
Nichtlineare Oszillationsexperimente
Maik Nowak
In Oszillationsexperimenten mit großer Deformationsamplitude (LAOS) verhalten sich viskoelastische
Fluide wesentlich realitätsnäher als in Experimenten, die normalerweise rheologisches Material-
verhalten beschreiben. Dies verdeutlicht das Beispiel Hyaluronsäure, die in Gelenken schmierende und
dämpfende Funktion übernimmt.
� In einem Oszillationsexperiment wird ein zu untersuchendes Material einer sinusförmigen Deformation unterworfen und die entsprechende Antwort gemessen. Innerhalb des li-near-viskoelastischen Bereichs (LVB) ist die Antwort auf eine sinus-förmige Vorgabe ebenfalls eine Si-nusfunktion mit derselben Fre-quenz, und das Verhältnis von Span-nung zu Deformation unabhängig von der Vorgabeamplitude.
Oszillationsversuche innerhalb des LVB (small amplitude oscillatory shear, SAOS) verfolgen das Ziel, ein Material möglichst in einem defi-nierten Gleichgewichtszustand zu charakterisieren, um beispielsweise Informationen über das frequenz-abhängige Materialverhalten zu ge-winnen. Die dabei auftretenden und maximal zulässigen Deformationen entsprechen selten den Beanspru-chungen, denen ein Material in der Anwendung ausgesetzt ist.
Bei größeren Deformationen ist die Antwort eines Materials auf eine sinusförmige Anregung nicht mehr durch eine Sinusfunktion gleicher Frequenz zu beschreiben; sämtliche aus der Theorie der linearen Viskoe-lastizität bekannte Größen wie kom-plexer Modul |G*|, Speichermodul G', Verlustmodul G'' oder auch Ver-lustfaktor tan d verlieren ihre physi-kalische Bedeutung.
Abb. 1. Dynamische Moduln G' und G'' (schwarze und weiße Kreise) und Intensitätsverhält-
nis In/I1 der n-ten Harmonischen am Beispiel Xanthan-Gum-Lösung (schwarze Quadrate:
n = 3, weiße Quadrate: n = 5, schwarze Rauten: n = 7, weiße Rauten: n = 9).
Abb. 2. Dynamische Moduln, Intensitätsverhältnis I3/I1 und die entsprechenden Phasen aus
einer Deformationsrampe an 1 gew.-%iger Hyaluronsäure bei konstanter Frequenz von
1 Hz, 40 mm auf 50 mm-parallele Platten (schwarze Kreise: Speichermodul G', weiße Kreise:
Verlustmodul G'', schwarze Quadrate: relative Intensität für n=3, weiße Rauten: Phasenver-
schiebung d1, schwarze Rauten: d3).
157
�
Nichtlineares Verhalten quantifizieren
� Die Spannungsantwort eines Ma-terials auf eine sinusförmige Defor-mation mit großer Amplitude enthält außer dem Beitrag mit der Anre-gungsfrequenz weitere, höherfre-quente Anteile. Diese höheren Fre-quenzen sind ganzzahlige Vielfache der Anregungsfrequenz. Um die Bei-träge dieser höheren Frequenzanteile zu bestimmen, kann die Spannungs-antwort entweder einer Kreuzkorre-lation gegen Sinusfunktionen mit un-geraden Vielfachen der Anregungs-frequenz oder einer Fourier-Transfor-mation unterzogen werden.1–3) Die Kreuzkorrelation ergibt diskrete Wer-te für die Amplituden und Phasenver-schiebungen der höherfrequenten Anteile. Aus der Fourier-Transforma-tion resultiert ein ganzes Spektrum
dieser Größen mit Intensitätsmaxima bei den ungeraden Vielfachen der An-regungsfrequenz.
Aus dem Verhältnis der Amplitu-den der höherfrequenten Anteile zur Amplitude des Spannungsanteils mit der Anregungsfrequenz, ergeben sich nun Intensitätsverhältnisse In/I1
der n-ten Harmonischen (relative In-tensitäten, Abbildung 1, S. 157).
Mit Verlassen des linear-viskoelas-tischen Bereichs bei einer Deformati-onsamplitude im Beispiel (Abbil-dung 1) von 15 % steigt zunächst die relative Intensität der dritten, später dann auch die der fünften, siebten und neunten Harmonischen. Warum die relativen Intensitäten ein Maxi-mum überschreiten, wird zur Zeit noch untersucht.4–8)
Beispiel Hyaluronsäure
� Hyaluronsäure (Hyaluronan) ist ein Glykosaminoglykan, also linear aus bis zu 100 000 aufeinander fol-genden Disacchariden aufgebaut. Die Substanz kann bis zu sechs Liter Wasser pro Gramm binden, wobei ein hydratisiertes Hyaluronsäuremo-lekül einen bis zu 10 000 Mal größe-ren Raum beansprucht als das unhy-dratisierte.9)
Hyaluronsäure erfüllt im Körper viele Funktionen. Da Wasser prak-tisch nicht komprimierbar ist und dies somit auch für hyaluronsäure-haltiges Gewebe gilt, ist sie ein wich-tiger Bestandteil des Bindegewebes. Dies spielt vor allem während der Embryonalentwicklung ein Rolle, wenn feste Strukturen noch nicht entwickelt sind.10) Zudem dient Hyaluronsäure als Kosmetikum oder
zum Unterspritzen von Falten. In der plastischen Chirurgie ist sie ein Material zum Aufbau von Gesichts-konturen.10) Zudem findet sich Hya-luronsäure im Gallertkern der Band-scheiben11) oder als Hauptbestand-teil der Gelenkflüssigkeit.12)
Die Einsatzbedingungen, unter denen sowohl die schmierenden, als auch die dämpfenden Eigenschaften der Hyaluronsäure gefordert sind, entsprechen nicht denen im linear-viskoelastischen Bereich eines Rheo-meters; zu betrachten ist die Materi-alantwort auf extrem große Defor-mationen (large amplitude oscillato-ry shear, LAOS).
Abbildung 2 (S. 157) zeigt das Ergebnis einer Deformationsrampe an einer 1 gew.-%igen Hyaluron-säure bei einer Frequenz von 1 Hz. Der linear-viskoelastische Bereich erstreckt sich bis zu Deformatio-nen von etwa 60 %; danach nimmt der Verlustmodul G'' deutlich ab. Der Speichermodul bleibt bis ge-gen 100 % weitgehend konstant, nimmt danach aber ebenfalls ab. Bereits bei einer Deformation von 25 % ist aber eine signifikante rela-tive Intensität I3/I1 einer dritten Harmonischen zu erkennen, auf welche die Betrachtung hier be-schränkt bleibt.
Mit der dritten Harmonischen verbunden ist eine harmonische Phase u3, die mit zunehmender Deformation von –90° (= 270°) auf 0° (= 360°) ansteigt. Daher müssen die Wellenformen der Spannung zunächst nach links verzerrt sein, um mit steigender Deformation vertikal gestaucht zu werden (Ab-bildung 3).
Abb. 3. Wellenformen von Deformation und Spannung während der Deformationsrampe an Hyaluronsäure aus Abb. 2. (�0: Scher amplitude)
� QUERGELESEN
�� Bei einem Oszillationsexperiment im linear-
viskoelastischen Bereich reagiert ein Material auf
eine sinusförmige Deformation ebenfalls mit
einer einfachen Sinusfunktion. Voraussetzung
dafür ist, dass sich die Struktur des Materials
unter der Belastung nicht verändert.
�� In der Praxis gehen die Belastungen eines Materi-
als über den linear-viskoelastischen Bereich
hinaus. Im Experiment findet man bei großen
Anregungsamplituden neben der Anregungsfre-
quenz höherfrequente Anteile.
�� Parameter, um Materialverhalten im nichtlinea-
ren Bereich zu beschreiben, sind beispielsweise
das Verhältnis der Amplituden der höherfrequen-
ten Anteile zur Amplitude der fundamentalen
Spannung In/I1 oder zusammen mit den
jeweiligen Phasenverschiebungen.
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�Blickpunkt� Analytik 158
Abb. 4. Veranschaulichung des Einflusses höherer Harmonischer auf
das Materialverhalten im LAOS-Zirkel.13)
LAOS-Zirkel
� Welchen Einfluss höhere Harmo-nische auf das Materialverhalten ha-ben, lässt sich nicht direkt durch die harmonischen Phase u3 angeben; erst mit der aus der linearen Viskoe-lastizität bekannten Phasenverschie-bung d1 der (fundamentalen) Span-nung gegen die Deformation ergibt sich die (auf die Deformation bezo-gene) Phase d3: d3 = u3 + 3d1.
Die je nach Größe dieser Phase unterschiedlichen Auswirkungen der höheren Harmonischen auf das Materialverhalten lassen sich am LA-
OS-Zirkel13) (Abbildung 4) ver-anschaulichen.
Daraus lässt sich das Verhalten der Hyaluronsäure beispielsweise in einem Kniegelenk folgendermaßen interpretieren: • Bei Deformationen gerade außer-
halb des linear-viskoelastischen Bereichs zeigt sich das Material mit d3 um 90° quasi linear-elas-tisch, die höhere Harmonische wirkt sich also nur auf das visko-
se Verhalten aus, während die mit der Nichtlinearität einset-zende Scherverzähung eine ten-denziell stabilisierende Wirkung mit sich bringt, etwa beim Ste-hen.
• Bei Deformationen von einigen 100 % verfestigt sich das Material, dämpft z. B. beim Hüpfen, ist aber immer noch quasi linear-viskos, die höhere Harmonische wirkt sich also nur auf das elastische Verhalten aus.
• Bei extrem großen Deformatio-nen wie beim schnellen Laufen zeigen sich nun weniger diese verfestigenden, dämpfenden Ei-genschaften, sondern das Materi-al verhält sich scherentzähend, also schmierend, und verringert so die Reibung im Gelenk.
Zusammenfassung
� Durch oszillatorische Experimen-te mit großer Amplitude (LAOS) ist es möglich, unter realitätsnäheren Bedingungen den rheologischen
Fingerabdruck eines Materials zu er-halten.
Nichtlineares Verhalten lässt sich anhand der Wellenformen, also der zeitlichen Verläufe von Spannung und Deformation beschreiben.
Die Quantifizierung der höheren Harmonischen in der Spannungsant-wort auf eine sinusförmige Deforma-
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Analytik �Blickpunkt� 159
� Höhere Harmonische in der Spannungsantwort: Wellenformen
elastischem Verhalten der Fall. Das
Auftreten der dritten Harmo-
nischen hat aber eine Verformung
der Spannungswelle zur Folge, die
von der Phasenverschiebung u3
abhängt:
• Für u3 = 0° wird die Spannungs-
welle vertikal gestaucht (Annä-
herung an Rechteckwelle),
Die Abbildung zeigt die Wellenfor-
men der Spannung für I3/I1 = 0,1
bei verschiedenen Phasenverschie-
bungen d1 der Fundamentalen
und u3 der dritten Harmonischen
gegen die mit der Frequenz nor-
mierten Zeit über eine Periode. Die
hellen Symbole zeigen die Span-
nungsanteile und die dunklen
Symbole die Summe aus beiden
Spannungsanteilen, beide Größen
sind auf die Amplitude der fun-
damentalen Spannung normiert.
Die Deformation (durchgezogene
Linien) ist ebenfalls auf ihren Ma-
ximalwert bezogen.
Der Phasenwinkel u3 kann prinzi-
piell Werte zwischen 0° und 360°
annehmen, d1 nur Werte zwischen
0° und 90° entsprechend der „vis-
koelastischen Phasenverschie-
bung“ d. Für den Fall d1 = 0° verlau-
fen also Fundamentale und Defor-
mation in Phase; ohne eine dritte
Harmonische wäre dies bei ideal-
• für u3 = 90° wird die Span-
nungswelle nach rechts asym-
metrisch verzerrt,
• für u3 = 180° wird die Span-
nungswelle vertikal gestreckt
(Annäherung an Dreieckwelle)
• für u3 = 270° wird die Span-
nungswelle nach links asym-
metrisch verzerrt.
3 = 0° 3 = 90° 3 = 180° 3 = 270°
1 = 0°
1 = 30°
1 = 60°
1 = 90°
Maik Nowak ist promovierter Chemieinge-
nieur und seit 2005 Applikationsspezialist für
Rheologie bei TA Instruments, einem Unter-
nehmensbereich von Waters, in Eschborn.
gastropod pedal mucus and bioinspired
complex fluids for adhesive locomotion“,
Soft Matter 2006, 3, 634–643.
8) I. Vittorias, M. Parkinson, K. Klimke, B.
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branching topologies via Fourier-
transform rheology, NMR and simula-
tion using the Pom-pom model“, Rheol.
Acta 2007, 46, 321–340.
9) http://de.wikipedia.org/wiki/Glykosami
noglykane
10) http://de.wikipedia.org/wiki/Hyalu
rons%C3%A4ure
11) http://flexikon.doccheck.com/Nu
cleus_pulposus
12) http://flexikon.doccheck.com/Synovia
13) A. J. Franck, M. Nowak: „Non-Linear Oscil-
lation Testing with a Separate Motor
Transducer Rheometer“, XVth Int. Congr.
Rheol., 2008, Monterey, CA, USA.
14) A. C. Pipkin: „Lectures on Viscoelasticity
Theory“, Applied Mathematical Sciences,
Vol. 7, Springer-Verlag, Berlin, Heidelberg,
New York 1972.
15) M. Wilhelm: „New developments in me-
chanical characterization of materials:
FT-Rheology“, Vortrag anlässlich der Prä-
sentation des ARES-G2 in Karlsruhe am
14.10.2008 , veranstaltet von TA Instru-
ments.
tion gelingt beispielsweise über die re-lativen Intensitäten In/I1 und die har-monischen Phasen un, bezogen auf die fundamentale Spannung. Möglich ist die Quantifizierung auch über die Fourier-Koeffizienten Gn' und Gn'', die für n = 1 dem aus SAOS-Experimenten bekannten Speichermodul G' und dem Verlustmodul G''entsprechen. Analog zu Fourier-Koeffizienten eig-nen sich auch die Modulstärke |Gn*| und die auf die Deformation bezoge-nen Phase dn der jeweils n-ten Har-monischen, um das rheologische Ver-halten zu quantifizieren.
Gleich welche Darstellung man bevorzugt (eine alternative Darstel-lungsform findet sich beispielweise in Lit.14)), die Anzahl der Parameter nimmt pro höhere Harmonischer um jeweils zwei zu. Da es durchaus möglich ist, mit der Fourier-Trans-formation bis zu 147 höhere Har-monische mit hinreichendem Sig-nal-Rausch-Verhältnis zu detektie-ren,15) bieten sich nicht weniger als 294 weitere Freiheitsgrade bei der Interpretation des Verhaltens unter-suchter Materialien.
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LeitartikelAuf das Wissen kommt es an (p 111)Wössmann,Published Online: Mar 3 2009 4:38AM DOI: 10.1002/nadc.200961990
Abstract | Full Text: HTML, PDF (Size: 588K)Save Article
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Literatur
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