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NORDWESTSCHWEIZDIENSTAG, 3. MÄRZ 2015 AUSLAND 7

Nichts, aber auch gar nichts, deutet ander Sadie Lane im VerwaltungsbezirkCaroline County darauf hin, dass hierein kaltblütiger Terrorist begraben liegt.Und doch, zwischen ärmlichen Häusernund Unterholz, das mit Abfall übersätist, befindet sich der Eingang zum al-Barzakh-Friedhof – seit rund zwei Jah-ren die letzte Ruhestätte von TamerlanZarnajew, dem mutmasslichen Drahtzie-her des Anschlages auf den Marathon inBoston im Frühling 2013.Dass Zarnajew ausgerechnet an einer

schmalen Landstrasse in Doswell (Virgi-nia) begraben liegt, ist eine komplizier-te Geschichte, die Einblick in das nichtimmer einfache Zusammenleben zwi-schen christlichen und muslimischenAmerikanern gibt.Der al-Barzakh-Friedhof wurde vor

mehr als einem Jahrzehnt ins Leben ge-rufen, durch die muslimische Gemein-de in Richmond, der Hauptstadt desBundesstaates Virginia. Das Land stell-te ein gläubiger Afroamerikaner zurVerfügung, der in Doswell wohnt, ei-nem Nest an der Autobahn I-95.

Zarnajews Grab ist anonymHeute sind auf dem minimalistischen

Begräbnisfeld, das durch einen einfa-chen Bretterzaun vor neugierigen Bli-cken abgeschirmt ist, 60 Menschen be-graben. Simple Tafeln geben Auskunftüber den Namen und den Todestag derHingeschiedenen. Einige Gräber, dar-unter dasjenige von Tamerlan Zarna-jew, sind anonym.Die Leiche des 26-jährigen Attentä-

ters wurde im Mai 2013 in einer Nacht-und-Nebel-Aktion nach Doswell trans-portiert. Zuvor hatte ein Begräbnisinsti-tut in Massachusetts eine Woche langnach einer letzten Ruhestätte für Ta-merlan Zarnajew gesucht, der mit sei-nem jüngeren Bruder Dschochar vierMenschen getötet und die MetropoleBoston in Angst und Schrecken versetzthatte. Vergeblich. Keiner der kontak-tierten Friedhöfe in Massachusetts,Connecticut oder New Jersey wollte dieLeiche des Mannes. Und der Direktordes Begräbnisinstitutes stand unter Po-lizeischutz, weil sich vor seinem Unter-nehmen wütende Demonstranten ver-sammelten.Dann meldete sich eine Frau aus Rich-

mond bei dem Begräbnisinstitut, aufge-schreckt durch die verfahrene Situation,die «Amerika von der schlimmsten Sei-te» zeige. Martha Mullen, eine damals48-jährige Christin, kontaktierte die Or-ganisation Islamic Funeral Services ofVirginia, die den al-Barzakh-Friedhofbetreibt, und arrangierte eine Grabstät-te für den älteren Zarnajew. «Jesus hatuns gesagt: Liebt eure Feinde», sagte siezur Begründung ihrer Aktion.Als die Behörden des Verwaltungsbe-

zirks Caroline County davon erfuhren,war die Leiche des russischstämmigenAttentäters bereits unter der Erde. EinAufschrei der Empörung ging durch denländlichen Bezirk, in dem knapp 30 000Menschen leben. Heisssporne behaup-teten gar, nun werde Doswell zu einemWallfahrtsort für islamistische Extremis-ten. Eine ähnliche Debatte spielte sich

kürzlich in Frankreich ab, als eine Kon-troverse um die Leiche der beiden«Charlie Hebdo»-Attentäter entbrannte.

«Kein ernsthafter Zwischenfall»Zwei Jahre später zeigt sich: Die gan-

ze Aufregung war umsonst. «Wir hattenkeinen ernsthaften Zwischenfall im Zu-sammenhang mit dem al-Barzakh-Friedhof, sagt C. Scott Moser, die Num-

mer zwei der Polizei von CarolineCounty. Zwar erhalte das Büro des She-riffs «vereinzelte Anrufe» besorgter An-wohner, aber die erwähnten Problemewürden jeweils rasch beigelegt. PolizistMoser räumt deshalb ein, dass der Wir-bel um Tamerlan Zarnajew wohl vor al-lem auf «falschen Wahrnehmungen»beruht habe. Mehreren Lokalpolitikernist die Angelegenheit allerdings immer

noch zu heikel. Sie lehnten es ab, aufAnfrage Stellung zur letzten Ruhestättedes Terroristen aus Boston zu geben.Auch die Betreiberin des Friedhofs

scheint kein Interesse daran zu haben,auf die Ereignisse des Frühjahres 2013zurückzukommen. Nashid Ali, Kassen-wärter der gemeinnützigen Organisa-tion, sagt am Telefon bloss: «Es ist allesgesagt.» Immerhin: Ganz spurlos ist der

Rummel um Zarnajew am al-Barzakh-Friedhof nicht vorbeigegangen. AmEingang stellt ein Eisentor sicher, dasssich kein unbefugter Besucher auf demGelände verirrt. Und bei den Grabfel-dern ist eine Tafel angebracht, die dar-auf aufmerksam macht, dass «Statuen,Sitzbänke, Blumen, Grabsteine, Mauso-leen oder andere Kunstbauten» aus-drücklich verboten seien.

Die letzte Ruhestätte eines TerroristenUSA Vor zwei Jahren wurde Tamerlan Zarnajew auf einem muslimischen Friedhof in Virginia begraben

VON RENZO RUF, DOSWELL (VIRGINIA)

Der Eingang zum al-Barzakh-Friedhof, wo Tamerlan Zarnajew, der Drahtzieher des Attentats auf den Boston-Marathon im Jahr 2013, begraben ist. RENZO RUF

Tamerlan Zarnajew. JULIA MALAKIE/KEYSTONE

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wei Monate dauerte das harzigeProzedere: Doch nun scheintBundesrichter George O’Toole

genügend Geschworene gefunden zuhaben, um die zweite Runde im Pro-zess gegen Dschochar Zarnajew (21)einzuläuten. Morgen Mittwoch solldas aufwendige Verfahren gegen denmutmasslichen Bombenleger, das bisim Juni dauern könnte, in Boston mitden Eröffnungsplädoyers beider Sei-ten beginnen. Die Suche nach neutra-len Geschworenen dauerte so lange,weil sich die meisten der 1373 aufge-botenen Bürgerinnen und Bürger be-

Zreits eine Meinung über die Schuld vonZarnajew gebildet haben. Sie zeigten sichim Zwiegespräch mit Richter O’Tooleüberzeugt davon, dass Dschochar zusam-men mit seinem älteren Bruder Tamer-lan den Anschlag auf den Marathon inBoston im Frühjahr 2013 verübt hatte.Die Verteidigung plädierte deshalb dar-auf, den Prozess zu verlagern. Sie bissaber auf Granit: Zuletzt wies am Freitagein Berufungsgericht den entsprechen-den Antrag ab. Zarnajew, dem die Todes-strafe droht, werde in Boston in den Ge-nuss eines fairen Prozesses kommen,versicherte das Gericht. (RR)

Der Prozess gegen Dschochar Zarnajewkönnte bis im Juni dauern

BOSTON-BOMBER

Die Palästinenser machen Ernst mit ihrerAbsicht, Israel vor dem InternationalenStrafgerichtshof (ICC) zu verklagen. AlsDatum für eine erste Klage sei der 1. Aprilfestgesetzt worden, sagte MohammedSchtajje, Mitglied des Exekutivkomiteesder Palästinensischen Befreiungsorgani-sation (PLO). Die Klage werde den Gaza-Krieg im vergangenen Jahr und die Sied-lungsaktivitäten Israels in den Palästinen-sergebieten betreffen. Schtajje sprachvon einem der «ersten wichtigen Schrit-te». Die israelische Regierung äussertesich zunächst nicht. (SDA)

Palästinenser

Erste Klage gegenIsrael im April

In einer Rede vor den Delegierten derpro-israelischen Lobby-Organisation Ai-pac (American Israel Public AffairsCommittee) betonte Netanjahu seinenRespekt für den Demokraten BarackObama und das Amt des US-Präsiden-

ten, das dieser ausübt. Er habe nichtden Eindruck entstehen lassen wollen,dass er Obama gering schätze, sagteder Likud-Politiker sinngemäss.Auch versicherte Netanjahu, er habe

kein Interesse daran, dass Israel nunplötzlich Teil der parteipolitischen De-batte in Washington werde. Denn bis-her seien Demokraten und Republika-ner Seite an Seite gestanden, wenn esdarum gegangen sei, die engen Bezie-hungen zwischen Amerika und Israelzu unterstützen. «Ich bedauere», sagteNetanjahu, «dass einige Menschen mei-nen Besuch in Washington falsch ver-standen haben.»

Der israelische Ministerpräsident,der sich in zwei Wochen der Wieder-wahl stellt, will heute Dienstag den ver-sammelten Abgeordneten und Senato-ren in Washington erklären, warum erdie laufenden Verhandlungen zwischenden Westmächten und dem Iran überdas iranische Atom-Programm ablehnt.

«Moralische Verpflichtung»Es sei seine «moralische Verpflich-

tung», auf die Gefahren eines Abkom-mens hinzuweisen, sagte Netanjahu.Demokraten äussern sich besorgt überdiese Rede, die auf einer Einladung desrepublikanischen Vorsitzenden (Speak-

ter) des Repräsentantenhauses beruht.Sie werfen Netanjahu vor, er wolle ei-nen Keil zwischen Demokraten und Re-publikaner treiben. Und sie kritisierenSpeaker John Boehner, dass er Netanja-hu eingeladen habe, ohne sich zuvormit dem Weissen Haus abzusprechen.Damit sabotiere er die Verhandlungenmit dem Iran.Auch die amerikanische UNO-Bot-

schafterin Samantha Power zeigte sichgestern Montag vor den Aipac-Delegier-ten konziliant. Sie sagte, dass die Part-nerschaft zwischen den USA und Israelüber der Parteipolitik stehe. Dafür er-hielt sie warmen Applaus.

Washington Vor seinem Auf-tritt im US-Parlament hat derisraelische MinisterpräsidentBenjamin Netanjahu versucht,die Wogen etwas zu glätten.

Netanjahu sendet versöhnliche Signale aus

VON RENZO RUF

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