8/15/2019 «Normales gibt es in der Sexualität nicht» | Mamablog
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«Normales gibt es in der Sexualität
nicht»Von Mamablog-Redaktion, 7. Juni 2016
Beantwortet wöchentlich Fragen unserer Leser zu Sexualität und Liebe:
Sexualwissenschafterin Andrea Burri. (Christian Espinoza)
Sex ist omnipräsent – und doch wissen wenige wirklich Bescheid. Deshalb lanciert der TA mit der
Wissenschafterin Andrea Burri die Beratungskolumne «Sexologisch».
Eine von Andrea Burris Studien ging um die Welt. Ihr Team zeigte auf, dass es den weiblichen G-Punkt
womöglich gar nicht gibt. «Da war Feuer im Dach. Die Franzosen rasteten aus. Es war, als ob wir ihnen
etwas wegnehmen würden», erzählt sie. Bei einer anderen Studie war die Methode unorthodox:
Männern, die masturbierten, wurde durch ein Loch in der Wand Blut abgezapft, um den Einfluss des
Hormons Oxytocin auf den Orgasmus zu untersuchen. Einen medialen Wirbel erlebte die 35-jährige
Bernerin auch, als sie eine Arbeit präsentierte, die zum Schluss kam, dass Frauen mit hoher emotionaler
Intelligenz besseren Sex haben. Frauen also, die eigene und fremde Gefühle besser wahrnehmen,
verstehen und kommunizieren können, wie sie erklärt.
Burri gehört zu den führenden Sexualwissenschaftern und hat nach ihrem Studium der Klinischen
Psychologie an der Universität Zürich in England am King’s College und im finnischen Turku
geforscht. Nun steht der nächste Karriereschritt bevor: Ab Juli ist sie Assistenzprofessorin an der
Auckland University of Technology in Neuseeland. «Ich beschäftige mich mit weiblicher Sexualität, das
geht von Lustlosigkeit bis hin zu Problemen mit dem Orgasmus. Zudem bin ich in Forschungsprojekte
involviert, welche sich mit der vorzeitigen Ejakulation und Erektionsproblemen des Mannes
beschäftigen.» Zudem untersucht Burri Faktoren, welche Schmerzchronifizierung begünstigen.
Sie habe sich im Verlaufe ihres eigenen Studiums wie eine ausgehungerte Hyäne auf jeden Artikel über
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Sexualität gestürzt, da sei es eine klare Sache gewesen, diesem Forschungsdrang nachzugehen. Vor
allem mit sexuellen Funktionsstörungen hat sie sich intensiv auseinandergesetzt. Dabei wurde ihr klar:
«In den Medien wird ein völlig utopisches Bild von Sex vermittelt: Hat eine Frau nicht dreimal täglich
Lust, glaubt sie schon, mit ihr stimme etwas nicht. Das sorgt für viel Leidensdruck – sogar bei Personen,
die ganz ‹normal› sexuell aktiv sind.»
Eines ihrer Vorbilder ist die kanadische Sexologin Rosemary Basson. «Sie hat mit ihrem Modell der
weiblichen sexuellen Reaktion das bis anhin vorherrschende, rein physiologische Dogma gesprengt und
die Bedeutung anderer Faktoren wie Stress, emotionaler Zustand und zwischenmenschliche Intimität
betont», erzählt Burri. Bewundernswert findet sie auch die Arbeit von Alfred Kinsey sowie von Mastersund Johnson, die die Sexualforschung im prüden und konservativen Amerika der 50er- und 60er-Jahren
vorangetrieben haben. «Das ging so weit, dass sie die Paare im Labor live beim Sexualakt beobachtet
haben. Das wäre heute noch eine grosse Herausforderung, und man stelle sich mal vor, wie viel
Investition das damals benötigt hat», sagt Burri. Sie selber hat sich in der jüngeren Vergangenheit viel
mit genetischer Forschung innerhalb der Sexualität beschäftigt. Zu ihrem Job meint sie aber:
«Sexualforschung ist meistens nicht halb so spektakulär, wie man es sich vorstellt. So schaue ich mir
wie jeder andere Wissenschafter auch schliesslich Zahlen und Statistiken am Bildschirm an. Spannend
zu beobachten ist jedoch die enorme Vielfalt sexueller Ausdrucksmöglichkeiten. Jeder und jede ist
anders.»
In Deutschland und England hat Andrea Burri Beratungen gemacht: «Zu mir kamen vor allem Paare, diesich in einer Sackgasse befanden. Oder Menschen mit sexuellen Problemen wie erektiler Dysfunktion,
Lustlosigkeit oder mit Fragen zur sexuellen Identität.» Waren dabei Tendenzen ersichtlich? «Es ging
häufig um Sexflaute, welche sich nach Monaten oder Jahren einstellt. Oder um romantische Gefühle
anderen Personen gegenüber, welcher man nicht Herr wird.»
Bei diesen Beratungen und im Lauf ihrer Karriere habe sie vor allem eines begriffen: «Die menschliche
Sexualität ist hochkomplex. So etwas wie ‹normal› gibt es nicht.» Dazu komme, dass viele Menschen
nur oberflächlich Bescheid wüssten. Gerade bei ihren Studenten merke sie oft, dass es Wissenslücken
gebe. «Die meisten kennen etwa Begriffe wie Transsexualität, Fetischismus oder Voyeurismus. Doch
nur bei den wenigsten geht das Wissen auch in die Tiefe, sodass eine offene und liberale Haltung
möglich ist. Wer weiss zum Beispiel schon, was Intersexualität, auch Hermaphroditismus genannt, ist?Was die Ursachen sind und was es für seine Lebensqualität bedeutet?» Gibt es in unserer Gesellschaft
noch Tabus in der Sexualität, Frau Burri? «Ja, die gibt es. Wenn es etwa um frühkindliche Sexualität
oder sadomasochistische Präferenzen geht.» Sie findet es wichtig, als Wissenschafterin auch sexuelle
Edukation zu betreiben und Wissenslücken zu schliessen.
Sexologin Andrea Burri, die in ihrer Freizeit gerne einen schweren und schnellen Töff fährt oder selber
Käse und Eis herstellt, beantwortet deshalb neu wöchentlich am Freitag eine Leserfrage zum
Thema Sexualität und Liebe. Diese wird vertraulich behandelt und ohne Namensnennung publiziert.
Schreiben Sie ihr auf [email protected].
Samuel Reber ist Tagesleiter, Nachrichtenchef und Projektleiter beiTagesanzeiger.ch/Newsnet.
Publiziert am 7.06.2016 Kategorie: Sex & Liebe Stichworte: Beratung, Liebe, Sex
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