pharma:chNationales Krebsprogramm für die Schweiz 2011–2015Die Oncosuisse hat das zweite Nationale Krebsprogramm aufgelegt, diesmal für die
Periode 2011 bis 2015. Erklärtes Ziel ist «Weniger Krebskranke und bessere Aussichten für
Erkrankte». Dazu sollen Prävention und Früherkennung gefördert und die Qualität der
Behandlung verbessern werden. Mit dem Programm überwindet die Oncosuisse föderalis
tische Strukturen und stellt für Krebs nationale Gesundheitsziele dar.
Nationales Vorgehen, einheitliche Qualität und die
konsequente Vernetzung der vorhandenen Ressour-
cen in Form eines gesamtschweizerischen Pro-
gramms ist gerade bei Krebs in besonderem Mass
notwendig. Denn in unserer stetig älter werdenden
Bevölkerung, bei der Krebs wesentlich häufiger auf-
tritt als in jungen Jahren, dürften Krebserkrankungen
schon bald zur häufigsten Todesursache werden,
noch vor den Herz-Kreislauf-Erkrankungen.
Die nackten Zahlen in der Schweiz sind ernüchternd:
Etwa 85 000 Menschen leiden oder litten in den ver-
gangenen fünf Jahren an Krebs, jedes Jahr erkran-
ken 35 000 Menschen neu und jährlich sterben
16 000 Menschen an Krebs. Trotzdem gibt es auch
positive Nachrichten: Die Krebssterblichkeit hat in
der Schweiz in den vergangenen 40 Jahren bei den
meisten Krebsarten abgenommen. Heute lässt sich
das Fortschreiten der Krankheit oft verlangsamen,
die Schwere der Nebenwirkungen sowie der Schmer-
zen kann verringert werden. Mehr als die Hälfte aller
Krebsleiden können heute geheilt werden. Dies gilt
insbesondere für Krebsarten, die früh erkannt wer-
den und daher meist einfacher zu behandeln sind.
Zudem gibt es einige Krebstypen, die selbst im fort-
geschrittenen Stadium heilbar sind. Fortschritte wur-
den zum Beispiel bei Darm-, Lymphdrüsen- und
Brustkrebs erzielt sowie bei Krebserkrankungen bei
Kindern.
Bei der Qualität der Früherkennung und der Behand-
lung bestehen allerdings grosse kantonale Unter-
schiede und die Schweiz hinkt den europäischen
Ländern in diesem Bereich um Jahre hinterher. In der
Westschweiz und im Tessin werden alle Krebser-
krankungen registriert, in einigen Regionen in der
Deutschschweiz ist die Datenlage hingegen noch lü-
ckenhaft. Bis im Frühling 2012 soll ein Vorentwurf für
ein Bundesgesetz zur Registrierung von Krebser-
krankungen vorliegen. n
Die Krebssterblichkeit hat in der Schweiz in den vergange-nen 40 Jahren bei den meisten Krebsarten abgenommen.
1/11Markt und Politik
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pharma:ch 1/11
NAtiONAlES KrEBSPrOGrAMM Für DiE SchWEiZ 2011–2015
Nationales Krebsprogramm 2011–2015
n Hauptziele des nationalen Krebsprogramms
sind: die Entstehung von Krebs verhindern, die
Krebsfrüherkennung verbessern und eine am Pati-
enten orientierte Behandlung und Pflege von hoher
Qualität. Das Programm für 2011–2015 schliesst
am ersten Programm aus dem Jahre 2005 an.
Die im Programm begründeten Vorschläge sollen
als Grundlage für politische und gesellschaftliche
Entscheidungen dienen. Folgende Organisationen
sind Mitglied der Oncosuisse, die das Programm
erarbeitet hat: Krebsforschung Schweiz, Nationa-
les Institut für Krebsregistrierung und Epidemiolo-
gie, Schweizerische Pädiatrische Onkologie Grup-
pe, Schweizerische Arbeitsgemeinschaft für Klini-
sche Krebsforschung, Krebsliga Schweiz.
Im ersten Nationalen Krebsprogramm, 2005 bis
2010, hatte der Dachverband Oncosuisse das Ziel:
«Weniger Menschen erkranken und sterben an Krebs»
formuliert. Das Ziel wurde nicht erreicht und der Trend
ist ungebrochen: Nach wie vor steigt die Zahl jener,
welche an Krebs erkranken und daran sterben. Die
Schweiz gehört zu den «Hochrisikoländern» und hinkt
im Kampf gegen Krebs anderen Ländern hinterher.
Im Rating der Anzahl Neuerkrankungen und des Risi-
kos, an Krebs zu erkranken, liegen Schweizerinnen
und Schweizer auf Platz 16 von 40 europäischen Na-
tionen. Zwar weist die Schweiz vor allem bei der Be-
handlung gute Resultate aus. Doch insgesamt sind
die Bereiche Früherkennung, Prävention, Diagnose
und Behandlung von Krebserkrankungen heute in der
Schweiz qualitativ nicht gut genug, um besorgnis-
erregende Entwicklungen zu stoppen und negative
Trends zu brechen: Nirgends in Europa erkranken
heute so viele Menschen an Hautkrebs (Hautmela-
nom) wie in der Schweiz.
Die Schweiz soll nicht länger ein Hochrisikoland seinDie Zahl der Krebserkrankungen und der todesfälle nimmt zu – die Schweiz gehört im
internationalen Vergleich zu den «hochrisikoländern». Die Behandlungsergebnisse weisen
allerdings grosse kantonale Unterschiede auf. Je nach region und Krebsart ist der
Nachholbedarf erheblich. Die erfolgreichen Vorsorge, Früherkennungs und Behandlungs
ansätze sollen gemäss Krebsprogramm in allen Kantonen zur Anwendung kommen.
Nach wie vor zählt die Schweiz überdurchschnittlich
viele Menschen, welche an Brust-, Hoden- und Pros-
tatakrebs leiden oder etwa am sogenannten Hodg-
kin-Lymphom, einem bösartigen Tumor des Lymph-
systems. Zudem erkranken immer mehr Frauen an
Lungenkrebs – mit steigender Sterblichkeitsrate. Ein-
zig bei Magen- und Gebärmutterhalskrebs liegt die
Schweiz leicht unter dem europäischen Mittel.
langzeitüberlebende fordern uns
Grundsätzlich hängt das eher negative Gesamtbild
vor allem mit der rasch alternden Bevölkerung zu-
sammen. Krebs ist je länger, je weniger die akut be-
drohende Krankheit, sondern immer stärker ein chro-
nisches, langwieriges Leiden, das vor allem ältere
Menschen trifft. Die Betreuung dieser krebskranken
«Langzeitüberlebenden» in der Schweiz erfordert zu-
nächst einmal profunde Daten und dann ein hochkul-
tiviertes Zusammenspiel aller Involvierten um den
Kranken. Um die bestmöglichen Behandlungen zu er-
möglichen, müssen die heute nur unzulänglich erfass-
ten Behandlungsergebnisse (Outcome-Daten) ver-
bessert und vergleichbar gemacht werden. Welchen
Nutzen ein gut abgestützter Vergleich von Behand-
lungsergebnissen stiften kann, machte der St. Galler
Onkologe Beat Thürlimann mit seiner Brustkrebsstu-
die 2009 klar: In der Schweiz erhalten gegen 30 Pro-
zent der Brustkrebspatientinnen nicht die optimale
Therapie. Die Behandlungsergebnisse unterschieden
sich je nach Kanton erheblich. Entsprechend fordert
das Krebsprogramm nationale Qualitätssicherungs-
konzepte.
Föderal, verspätet, lückenhaft
Die Schweiz ist klein und überschaubar, das Netz ge-
gen Krebs aber lückenhaft: Die in kantonalen Krebs-
registern erfassten Krebserkrankungen decken heute
erst 16 Kantone ab. Damit sind lediglich 68 Prozent
der Schweizer Bevölkerung erfasst. Nur in der West-
schweiz und im Tessin werden heute alle Krebser-
krankungen registriert. In weiten Teilen der Deutsch-
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Prof. Dr. med. Jakob r. Passweg, Präsident Krebsliga Schweiz
Prof. Passweg, ist die Schweiz beim Krebs tatsäch-
lich ein Hochrisikoland?
Es gibt viele Krebserkrankungen in der Schweiz. Da-
für gibt es verschiedene Gründe. Zunächst einmal die
Altersstruktur der Bevölkerung. Wir haben viele alte
Leute. Dieser Trend wir zunehmen. Dann ist das Ri-
sikoverhalten bei uns in gewissen Bereichen offen-
sichtlich sorgloser als anderswo. So ist die Schweiz
in Europa spitze beim Melanom. Dann sind wir ein
Land, in dem relativ viele Frauen rauchen.
Wer aber an Krebs erkrankt, kann in der Schweiz auf
eine gute medizinische Versorgung zählen?
Betreffend Krebsmortalität steht die Schweiz relativ
gut da. Das darf man durchaus als Erfolg unseres Ge-
sundheitswesens darstellen. Verbesserungspotenzial
gibt es dennoch, insbesondere weil rund ein Drittel
aller Krebsfälle zu verhindern wären. Bei Prävention
und Früherkennung ist also noch einiges möglich. Um
Prävention zu betreiben, müssen wir die Ursachen
der Erkrankungen kennen. Für eine Früherkennung
brauchen wir möglichst genaue Kenntnisse über die
Entwicklung einer Krebsart möglichst von Beginn
weg. Beides senkt die Mortalität – ebenso wie Be-
handlungsfortschritte.
Wo ist in der Schweiz Handlungsbedarf?
Wenn das Nationale Krebsprogramm (NKP) tatsäch-
lich national wäre, würde das schon viel helfen. Wir
haben ein kantonales Gesundheitswesen, es ist also
stark fragmentiert. Es fehlt eine Koordination für über-
geordnete Ziele. Auch die Forschung ist nicht aus einer
schweiz werden sie erst seit Kurzem systematisch
erhoben, die Daten sind zudem nur beschränkt ver-
gleichbar. Erst 2010 wurde etwa begonnen, Daten
aus dem Kanton Luzern in einem Zentralschweizer
Krebsregister auszuwerten.
Solche Verspätungen sind angesichts der hohen
Erkrankungsraten besorgniserregend. Krankenge-
schichten, Daten über Lebensstil und Umfeld der
Kranken sind nämlich eine unerlässliche Basis, um
ein taugliches Bild der jeweiligen Krebserkrankung zu
erhalten. Und erst dann sind die Daten für Kranke
in anderen Regionen nützlich. Heute werden in der
Schweiz Daten aus Kantonen, welche seit 40 Jahren
(Kanton Genf) Krebsregister erstellen, mit Angaben
aus Kantonen verglichen, welche zum Beispiel erst
seit 2005 (Jura) ein Register führen. Diese stufenwei-
se Einführung eines kantonalen Monitorings bei Kran-
ken und Gesunden liefert keine national repräsenta-
tiven Zahlen über Neuerkrankungen, Lebensstil, Ri-
siken, Krankheit und deren Therapieform. Wichtige
regionale Erkenntnisse müssen zu nationalen wer-
den: Was ist aus dem erhöhten Risiko, in Bergregi-
onen an Magenkrebs zu erkranken, zu schliessen?
Warum gibt es im Kanton Waadt besonders viele Fäl-
le von Prostatakrebs? Weshalb erkranken in der Ro-
mandie deutlich mehr Frauen an Brustkrebs als in der
Deutschschweiz? Nur ein lückenloses Netz zur dau-
ernden epidemiologischen Überwachung von Neu-
erkrankungen lässt Folgerungen zu, die schliesslich
allen dienen.
Medikamentenkombinationen optimieren
Dem löchrigen Datenmaterial stehen in der Schweiz
nachweisliche Behandlungserfolge gegenüber. Die
Überlebensrate von Krebserkrankten ist deutlich hö-
her als in anderen europäischen Ländern. Einen we-
sentlichen Beitrag leistet hier die Pharmaindustrie.
Ihre Forschungs- und Entwicklungsanstrengungen
führen zu immer wirksameren, immer gezielter ein-
setzbaren und damit mit weniger Nebenwirkungen
behafteten Behandlungen. Weltweit wird derzeit an
über 1300 Wirkstoffen gegen Krebs geforscht. Die
forschenden Pharmaunternehmen der Schweiz sind
mit ihren globalen Forschungsstandorten in diesem
Bereich an vorderster Front engagiert. Im Fall von Gli-
vec von Novartis zur Behandlung insbesondere von
chronischer myeloischer Leukämie darf der Erfolg so-
gar direkt dem Forschungsplatz Schweiz zugeschrie-
ben werden. Solche und andere Krebsmedikamente
tragen viel dazu bei, der Diagnose Krebs schrittweise
etwas von ihrem Schrecken zu nehmen. Brustkrebs
ist dafür ein gutes Beispiel: Während Patientinnen bis
Ende der Siebzigerjahre ausschliesslich chirurgisch
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NAtiONAlES KrEBSPrOGrAMM Für DiE SchWEiZ 2011–2015
behandelt wurden und eine Brustamputation meist
unvermeidlich war, lässt sich das heute dank ver-
schiedenen Optionen und der passenden Medika-
mentekombination oft vermeiden.
Dennoch bleiben die Herausforderungen gross: Für
die 300 verschiedenen Krebserkrankungen kommen
zahlreiche Medikamente zu Anwendung. Viele erwei-
sen sich mit der Zeit auch für weitere Indikationen als
tauglich, also nicht nur für jene, die bei der Entwick-
lung im Vordergrund gestanden haben. Solche Off-
Label-Anwendungen sind häufig das Ergebnis einer
Zusammenarbeit zwischen praktizierenden Onkolo-
gen und der Industrie. Ähnliches kann über die An-
wendung von Medikamentekombinationen gesagt
werden. Oft ist es sinnvoll, mehr als ein Medikament
zur Bekämpfung einer Krebserkrankung einzusetzen
– in der Regel nacheinander, zuweilen auch gleichzei-
tig. Zentral ist deshalb die Forschungstätigkeit, wel-
che ergründet, wie Krebsmedikamente zu kombinie-
ren sind, um möglichst massgeschneiderte Therapi-
en anbieten zu können. Zwar werden in der Schweiz
immer noch viele klinische Studien durchgeführt, ihre
Zahl ist aber rückläufig. Gemäss Krebsprogramm gab
es 363 klinische Studien, davon 66 mit Indikation
Krebs. 2009 waren es noch 246 bzw. 48.
Die richtige Versorgung der Kranken mit individuell de-
finierten Medikamentenkombinationen ist jedoch nur
dann Erfolg versprechend, wenn genügend aussage-
kräftige Daten über vergleichbare Behandlungrichtlini-
en vorliegen. Was gemessen und verglichen werden
kann, lässt sich verbessern.
Qualitätssicherung bringt Qualitätsbehandlung
Deutlich zeigt sich das beim Brustkrebs: Während in
der Westschweiz und im Tessin die Mammografie-
Screenings (Früherkennung) innerhalb qualitätsgesi-
cherter Programme stattfinden, regiert in der Deutsch-
schweiz nach wie vor etwas der Zufall. Dies, obschon
internationale Erfahrungen belegen: Qualitativ hoch-
stehende Früherkennungsprogramme senken die
Sterberate bei Brustkrebs um 15 bis 30 Prozent. Ten-
denziell gilt dies auch für andere Krebsarten. Die
Schweiz verfügt mit den kantonalen Krebsregistern
(KKR), dem Schweizer Kinderkrebsregister (SKKR)
und der Todesursachenstatistik (TU) sowie dem an
der Universität Zürich angesiedelten National Institu-
te of Cancer Epidemiology and Registration (NICER;
www.nicer.org) mittlerweile über gute Strukturen,
um die Qualität der Daten auf das erforderliche Ni-
veau zu hieven. Dafür muss jedoch nicht nur das Er-
fassen der Daten vereinheitlicht werden; es braucht
auch eine interkantonale Datenbank, um schliesslich
übergeordneten Warte konzipiert. Es gibt Kantone mit
einem Präventionsprogramm, andere haben keines.
Bei der Früherkennung ist es nicht anders und auch bei
der Behandlung beharrt jeder Kanton auf seiner Auto-
nomie. Die Krebsregister sind je nach Kanton anders
organisiert und finanziert und nicht flächendeckend.
Gesamtschweizerische Zahlen sind jeweils eine Extra-
polation. Centers of Excellence wurden mit dem bis-
herigen Modell der Spitalfinanzierung aktiv verhindert.
Die Forderung nach einem flächendeckenden Regis-
ter wird immer wieder erhoben.
Ja, klar. Und dabei geht es nicht allein um die Zahl
von Erkrankungen, sondern ebenso um die Art der
Behandlungen und um die Behandlungsergebnisse.
Das bringt Erkenntnisgewinn und eine höhere Be-
handlungsqualität. Weiter geht es um eine Art Wirt-
schaftlichkeit: Die Gesellschaft gibt grosse Summen
für Krebsforschung und -behandlung aus. Sie hat ein
Anrecht zu erfahren, ob dieses Geld wirksam einge-
setzt wird.
Werden die Ausgaben für Krebsbehandlungen wei-
terhin steigen?
Nicht nur das, sie werden wohl explodieren. Wir wer-
den noch mehr ältere Leute und damit noch mehr
Krebserkrankungen haben. Dann sind sehr viele Sub-
stanzen in Entwicklung, von denen einige hoffentlich
grosse Fortschritte bringen werden. Teuer werden sie
alle sein.
Um dem zu begegnen, predigt eine Mehrheit der Ge-
sundheitsökonomen die Rationierung und wir haben
einen Bundesgerichtsentscheid vorliegen, der die
Krankenkassen von der Erstattung eines sehr teuren
«Betreffend Krebsmortalität steht die Schweiz relativ gut da. Verbes-serungspotenzial gibt es dennoch, insbesondere, weil rund ein Drittel aller Krebsfälle zu verhindern wäre.»
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die epidemiologische Krebsforschung auf nationaler
Ebene verankern und entsprechend fördern zu kön-
nen.
Bessere Prävention ist zwingend
Gerade bei der Krebsbekämpfung muss schliesslich
korrigiert werden, was für viele Krankheiten gilt: Es ist
nicht nachhaltig, rund 95 Prozent der Ausgaben –
und Bemühungen – für die Behandlung der beste-
henden Krankheit aufzuwenden, jedoch lediglich 5
Prozent in die Prävention zu stecken. Im Kampf ge-
gen die hohen Krebsraten in der Schweiz ist deshalb
die Forschung nicht nur am richtig kombinierten Me-
dikament, sondern auch im Bereich der möglichen
Krebsvorsorge zu fördern. Das würde sich lohnen,
sind doch rund ein Drittel der Krebsfälle durch Prä-
vention und Früherkennung zu vermeiden. Dabei bie-
tet die kleinräumige Schweiz auch Vorteile: Hier ist
gezielte und flächendeckende Prävention relativ ein-
fach zu realisieren. Gesundheitspolitiker, Medien und
involvierten Verbände können wirksam vernetzt wer-
den, um jenen Lebensstil – also Bewegung, gesunde
Ernährung etc. – zu propagieren, der zu einer Vermin-
derung des Krebsrisikos beiträgt. Schliesslich kann
dem Schreckgespenst Krebs am besten begegnet
werden, wenn der Schweizer (Wohlstands-)Bevölke-
rung im nationalen Krebsprogramm die positiven Ver-
haltensweisen in Erinnerung gerufen werden: genü-
gend Bewegung, Verzicht aufs Rauchen und eine
ausgewogene Ernährung sind eine gute Krebsprä-
vention. So kann sich die Schweiz mittel- bis langfris-
tig dem Ziel nähern, den Erkrankten die beste Be-
handlung und Pflege zukommen zu lassen. n
Medikaments gegen eine seltene Krankheit, Morbus
Pompe, entbindet. Wie stellen Sie sich dazu?
Es ist ein Bundesgerichtsfehlentscheid. Er ist diskri-
minierend, weil das Bundesgericht nicht unterschei-
det zwischen seltenen Krankheiten mit zum Teil sehr
teuren Behandlungen und häufigen Krankheiten, bei
denen es durchaus günstige Behandlungen gibt.
Erleben Sie Rationierung?
Es gibt derzeit keine klar geregelte Rationierungsbe-
strebung. Es wird aber überall Druck gemacht – die
Krankenkassen machen Druck auf die Ärzte und Pa-
tienten, das Bundesamt für Gesundheit auf Swiss-
medic und die Bewilligungsverfahren. Letzteres führt
dazu, dass uns in der Schweiz für die Patienten wich-
tige Erneuerungen später zur Verfügung stehen als in
andern Ländern. Faktisch gibt es keine Rationierung.
Jeder kann jedes Medikament bekommen, ungeach-
tet seines Alters und Zustandes. Und das ist auch gut
so, denn der Staat kann nicht entscheiden, wer noch
behandlungswürdig ist und wer nicht.
Wer soll denn entscheiden?
Es ist eine medizinische Entscheidung, welche Be-
handlung vernünftig ist. Das kann bei einem jüngeren
Menschen durchaus anders beurteilt werden als bei
einem alten. Krankheiten sind je nach Lebensphase
unterschiedlich, vieles hängt auch mit weiteren Er-
krankungen beim gleichen Patienten ab. Es gehört
zum täglichen Brot der Ärzte, sich die Konsequenzen
einer Behandlung oder einer Abklärung zu überlegen.
Nicht immer ist eine Behandlung oder Abklärung
sinnvoll. Mit Rationierung hat das allerdings nichts zu
tun. Das ist einfach richtiges und verantwortungsvol-
les ärztliches Handeln.
Und die Patienten?
Die sind durchaus bereit, solche Diskussionen zu füh-
ren. Sie wollen nicht selten wissen, wie sinnvoll eine
Behandlung (noch) ist und welche Kosten dabei an-
fallen. Und wenn sie selbst bezahlen müssten, wür-
den sie dann und wann auch anders entscheiden. n
Rund ein Drittel der Krebsfälle sind durch Prävention und Früherkennung zu vermeiden. So trägt beispielsweise der richtige Sonnenschutz dazu bei, das Risiko einer Hautkrebserkrankung zu senken.
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NAtiONAlES KrEBSPrOGrAMM Für DiE SchWEiZ 2011–2015
Wie können Ärzte und Therapeuten den Eltern krebs-
kranker Kinder helfen, ihre Gefühle besser zu verar-
beiten? Welches ist der künftige Beitrag der Medizin
für eine möglichst schonende Behandlung von Brust-
krebspatientinnen? Und wie lässt sich die Lebens-
qualität von Patienten mit Hirntumoren verbessern?
Solchen konkreten Fragen geht die Schweizer Krebs-
forschung auf den Grund. In der Schweiz tätige
Krebsforscherinnen und -forscher haben in den letz-
ten Jahren viele Fortschritte rund um Entstehung,
Diagnose, Behandlung und Bewältigung von Krebs
erzielt. Um daran anzuknüpfen und um weitere Fort-
schritte im Interesse der Patientinnen und Patienten
zu erzielen, braucht es in verschiedenen Bereichen
Anpassungen von Strukturen und Prozessen. Dazu
gehört der rasche Zugang zu neuen Medikamenten
und den damit verbundenen Therapiemöglichkeiten.
Obschon Krebspatienten in der Schweiz grössere
Prof. Herrmann, wie beurteilen Sie den Stand der kli-
nischen Forschung in der Schweiz?
Die klinische Krebsforschung in der Schweiz hat eine
Tradition von fast 50 Jahren. Sie ist entstanden durch
die Zusammenarbeit mit US-amerikanischen Studien-
gruppen, die wahrscheinlich die längste Tradition der
kooperativen klinischen Forschung weltweit haben.
Daraus ist dann die Schweizerische Arbeitsgemein-
schaft für klinische Krebsforschung (SAKK) entstan-
den, gegründet 1965. Die SAKK ist im Medizinbetrieb
Krebsforscher brauchen bessere BedingungenDie Krebsforschung in der Schweiz erbringt zwar gute resultate. Doch die klinische
Forschung droht ins Stocken zu geraten. Es wird zu kleinräumig gearbeitet, es gibt zu viele
administrative hürden und die finanziellen Aufwendungen zur Entwicklung neuer Medi
kamente sind enorm hoch. Die Zusammenarbeit aller Beteiligten muss optimiert werden.
Überlebenschancen haben als anderswo, geben die
administrativen Hürden hierzulande zunehmend An-
lass zu Besorgnis. Innovative Medikamente werden
von der Arzneimittelbehörde oftmals verzögert zuge-
lassen. Und so ist es auch mit der Rückerstattung
durch die Kassen. Beides mindert die Lebensqualität
und die Überlebenschancen von Krebskranken, statt
diese zu erhöhen.
Bis ein neues Krebsmedikament entwickelt und
marktfähig ist, dauert es rund zehn Jahre. Dabei fallen
Kosten von über einer Milliarde Franken an. Der Ein-
satz lohnt sich, denn viele neue Krebsmedikamente
wirken lebensverlängernd und verbessern die Le-
bensqualität der Patientinnen und Patienten. Die
jüngste Generation Krebsmedikamente verursacht
viel weniger Nebenwirkungen. Diese Art Medikamen-
te attackiert lediglich die Krebszellen, die gesunden
Prof. Dr. med. richard herrmann,
Präsident Oncosuisse
der Schweiz insofern vorbildlich, als sie von Anfang an
die kooperative und kollaborative klinische Forschung
unterstützt hat. Den damaligen Gründern ist klar ge-
worden, dass man klinische Forschung nicht an einem
einzelnen Spital betreiben kann, wenn man Ergebnis-
se bekommen will, die auch für eine grössere Patien-
tengruppe Gültigkeit haben. Insofern ist die klinische
Krebsforschung gut organisiert und gut strukturiert.
Allerdings setzt die Grösse der Schweiz diesen Aktivi-
täten Grenzen. Das ist in den vergangenen Jahren
zum Problem geworden. Es ist notwendig, viele Stu-
dien zu internationalisieren, um in vernünftiger Zeit ge-
nügend grosse Patientenzahlen zu erhalten.
Ist die klinische Forschung in der Schweiz darauf vor-
bereitet?
Ja, die SAKK selbst hat in verschiedenen Bereichen
Studien initiiert, die mit andern Ländern zusammen
durchgeführt wurden, oder sie beteiligt sich an Initia-
tiven von andern Ländern. Das ist also ein Geben und
Nehmen.
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Zellen werden geschont. Dabei werden die Patienten-
gruppen immer kleiner. Jede fünfte Krebsform ist eine
seltene Krankheit. Die letzten Jahre zeigten jedoch,
dass hier eindeutig zu wenig geforscht wird. Einer-
seits fehlen die Anreize des Gesetzgebers. Sie sind
erforderlich, weil bei seltenen Krankheiten, also bei
sehr kleinen Patientengruppen, die wirtschaftlichen
Perspektiven für Forschung und Entwicklung massiv
eingeschränkt sind. Im schlimmsten Fall würden sol-
che Medikamente gar nicht mehr entwickelt, weil sich
Hat die klinische Forschung Bedürfnisse im Zusam-
menhang mit solchen Studien?
Ja, wir scheitern gelegentlich oder auch häufiger an
streng sind. Wenn es aber darum geht, über «alte»
Medikamente, deren Nebenwirkungen man eigentlich
gut kennt, neue Erkenntnisse zu gewinnen, indem
man diese Medikamente etwa bei andern Erkrankun-
gen einsetzt, also beim sogenannten «off-label use»,
dann ist nicht zu verstehen, warum so extensive re-
gulatorische Einschränkungen gemacht werden.
Ist das in der Schweiz ausgeprägter als im vergleich-
baren Ausland?
Das ist in der Schweiz schon nicht ausgeprägter. Aber
dennoch ist alles schwieriger als im Ausland, weil in
der Schweiz die politischen Strukturen anders sind:
Kantone sind relativ kleine Einheiten, es gibt kantona-
le Ethikkommissionen und anderes mehr.
Nun wird das Humanforschungsgesetz das Prinzip
der Leitethikkommissionen bringen.
Ja, schon. Aber deswegen werden die andern Ethik-
kommissionen nicht einfach nichts mehr zu sagen ha-
ben. Die Leitethikkommission wird ein Gesuch zwar
Bis ein neues Krebsmedikament entwickelt ist und marktfähig wird, dauert es rund zehn Jahre. Der Einsatz lohnt sich, denn viele neue Krebsmedikamente wirken lebensverlängernd und verbessern die Lebensqualität der Patienten.
«Die klinische Krebsforschung in der Schweiz ist gut organisiert und gut strukturiert. Allerdings setzt die Grösse der Schweiz diesen Aktivitäten Grenzen.»
den regulatorischen Hürden. Der Aufwand für solche
Studien ist administrativ riesig. Die Regulation von
staatlicher Seite ist extensiv geworden. In der Schweiz
ist die Swissmedic dafür verantwortlich. Die Regulie-
rungswut ist ein generelles Problem für die klinische
Forschung. Hintergrund ist, zu verhindern, dass Men-
schen irgendwie zu Schaden kommen. Aber die an-
dere Seite ist, dass man damit auch Forschung ver-
hindern kann. Beim Einsatz neuer Medikamente kann
man noch verstehen, wenn die Regulierungen sehr
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pharma:ch 1/11
NAtiONAlES KrEBSPrOGrAMM Für DiE SchWEiZ 2011–2015
hauptsächlich begutachten, aber die regionalen
Ethikkommissionen werden immer noch ein Wort mit-
zureden haben – z.B. ob ein lokaler Untersucher als
ausreichend kompetent eingeschätzt wird, um eine
klinische Studie zu machen. Ausserdem muss z.B.
jede noch so geringe auch organisatorische Ände-
rung eines Studienprotokolls jeder Ethikkommission
gemeldet und von ihr genehmigt werden.
Aber es wird einfacher werden?
Zum Teil sicher. Aber bleiben wird der Konflikt um
die Abgrenzung zwischen Ethikkommissionen und
Swissmedic. Swissmedic versucht häufig, noch
Kompetenzen von Ethikkommissionen zu überneh-
men. Sie versucht, die Ethikkommissionen zu kont-
rollieren. Letztere sind darüber natürlich nicht immer
glücklich, während Swissmedic behauptet, es fehle in
den Ethikkommissionen an Kompetenz.
Behindert der administrative Aufwand auch die inter-
nationale Zusammenarbeit?
Das können wir überwinden, indem wir uns entspre-
chend organisieren. Dafür brauchen wir Fachleute,
die mit den Strukturen anderer Länder vertraut sind.
Die SAKK musste dafür eine Stelle schaffen.
Neben der Zusammenarbeit mit andern Ländern in-
nerhalb einer Studie gibt es auch die Zusammenar-
beit mit Labors.
In der klinische Krebsforschung geben wir uns seit
Jahren Mühe, die Patienten nicht nur zu behandeln
und festzuhalten, was die Behandlung am Patienten
bewirkt, sondern wir stellen uns die Frage, warum et-
was passiert oder nicht passiert. Dafür sind wir ver-
mehrt dazu übergegangen, Tumorproben von diesen
Patienten zu untersuchen. Wir gewinnen im Verlauf
einer Behandlung erneute Tumorproben, um zu se-
hen, warum eine Therapie wirkt und warum nicht. So
haben wir mehr Informationen, die uns helfen, noch
bessere Therapien zu entwickeln. Es ist der Weg,
den wir als «translational research» bezeichnen. Die
enge Zusammenarbeit zwischen der klinischen For-
die Kosten für Forschung und Entwicklung nicht über
die Verkäufe der Medikamente amortisieren lassen.
Andererseits will die Schweizer Bevölkerung den Zu-
gang zu solchen Medikamenten. Im gfs-Gesund-
heitsmonitor der Interpharma haben sich 83 Prozent
der Befragten für die Übernahme der Kosten bei sel-
tenen Krankheiten durch die Krankenversicherer aus-
gesprochen. Der Entscheid zur Kostenübernahme
soll primär aufgrund medizinischer Überlegungen und
unter Berücksichtigung der Lebensqualität der Pati-
entinnen und Patienten gefällt werden (91% der Be-
fragten).
trend zu individueller, massgeschneiderter
Behandlung
Die klinische Krebsforschung erzielte in jüngster Zeit
besonders dort Fortschritte, wo dank besserer Detail-
kenntnis die Behandlung exakter auf spezifische An-
griffspunkte bei der Krebsentstehung ausgerichtet
werden kann. Die Wahrscheinlichkeit, dass eine ziel-
gerichtete Therapie wirkt, lässt sich an sogenannten
Biomarkern ablesen.
Durch Zuordnung der Patienten in Subgruppen, die
am besten von einer bestimmten Therapie profitieren,
werden jedoch die Patientenzahlen immer kleiner, die
für entsprechende Studien geeignet sind.
In diesem Zusammenhang gewinnen die Biobanken
laufend an Bedeutung. In Biobanken werden Organ-,
Gewebe-, Blut- oder Zellenproben gesammelt, eben-
falls DNA. Gleichzeitig werden Informationen über
den Spender aufbewahrt. Beide Datensätze sind von
erheblichem Wert, um Grundlagen aus der Laborfor-
schung mit Krankheitsverläufen verknüpfen zu kön-
nen.
Biobanken liefern wichtige Daten, um die sogenann-
ten Biomarker ausfindig zu machen. Dank einer
grossen Zahl Proben lassen sich Häufigkeiten von
Krankheitskriterien eruieren. Die entsprechenden Er-
kenntnisse sind eine wichtige Basis für Krebsthera-
pien. Zur «massgeschneiderten» Krebsbehandlung,
wie sie in der Schweiz häufiger werden soll, gehört
schliesslich der Aufbau lückenloser Behandlungspfa-
de (pathways). Patienten mit derselben Krebsart oder
ähnlichen Kombinationen begehen möglicherweise
völlig unterschiedliche – individuelle – Behandlungs-
pfade. Erst die lückenlose Dokumentation der einzel-
nen Behandlungsschritte liefert mittel- bis langfristig
nützliches Wissen für alle Krebskranken. Und weil
Krebs immer stärker Charakteristika chronischer
Krankheiten zeigt, gilt alles in allem: Nur qualitativ ein-
wandfreie Daten und stete Innovation helfen, für
Krebskranke die beste und gleichzeitig auch die kos-
9
1/11 pharma:ch
schung und dem Labor ist ein wichtiger Schnittpunkt.
Er braucht Verständnis bei den behandelnden Ärz-
ten, aber auch bei den Patienten und den Ethikkom-
missionen, die nach dem Nutzen fragen, wenn wir
einem Patienten nach einer erfolgreichen oder auch
nicht erfolgreichen Therapie nochmals eine Tumor-
Welchen Stellenwert hat die Zusammenarbeit mit der
pharmazeutischen Industrie?
Sie ist sehr wichtig. Sie passiert auf verschiedenen
Ebenen. Da gibt es die primären Industrieinteressen.
Das heisst, die Industrie organisiert die Studien allei-
ne. Dann gibt es aber auch die Interessen der klini-
schen Forscher. Sie machen Studien, die für die In-
dustrie nicht höchste Priorität haben, aber dennoch
interessant sind. So kommt es immer wieder zu ge-
meinsamen Projekten. Dabei kann es um erweiterte
Anwendungen oder um seltenere Erkrankungen ge-
hen oder um die Anwendungen neuer Substanzen in
Kombination mit alten.
Seltene Krankheiten oder Untergruppen bei gewissen
Krankheiten sind ja in der Schweiz in der jüngsten Ver-
gangenheit verstärkt zum Thema geworden.
In diesem Zusammenhang ist es wichtig, über den
Patentschutz zu sprechen. Denn gerade in der Onko-
logie gibt es Bereiche, wo mehr und mehr Untergrup-
pen von Erkrankungen identifiziert werden, die ganz
tengünstigste Behandlung aufzubauen. Der Behand-
lungsqualität förderlich ist ferner die Bildung kleiner
Patientengruppen, deren Daten jedoch vergleichbar
sein müssen. Dies wiederum setzt eine hohe Vernet-
zung der nach wie vor regional stark fragmentierten
Krebszentren und deren Spezialisten voraus. Die
Pharmaindustrie unterstützt daher die Forderung im
nationalen Krebsprogramm, dass eine optimale Ver-
netzung erzielt werden muss: Strukturen und Formen
der Zusammenarbeit zwischen Universitäten, Indust-
rie, regionalen und kantonalen Zentren sind zu opti-
mieren; Schwerpunkte sind zu setzen und kritische
Grössen anzustreben.
Im Zusammenhang mit den Biobanken gibt es ge-
mäss Behörden und Spezialisten allerdings noch zu
viele ungeklärte Fragen und Hürden. Mit der Möglich-
keit, dass ein Patient, der Biomaterial zur Verfügung
stellt, seine Zustimmung zu einer Verwendung im In-
teresse der Krebsforschung erteilt, ist eine langwieri-
ge Diskussion vorangekommen. Noch sind aber beim
Datenschutz viele Fragen offen, die bisher sehr unter-
schiedlich beurteilt und eher problemzentriert anstatt
lösungsorientiert diskutiert werden. Gemäss den
Ausführungen im Krebsprogramm ist der Schutz in-
dividueller Daten abzuwägen gegenüber der Erhe-
bung von Gesundheits- und Behandlungsdaten zu-
gunsten der Forschung, die der entsprechenden Pa-
tientengruppe dient. Hierbei sei eine sensible, aber
nicht forschungsfeindliche Praxis zu entwickeln, die
den Wunsch des Patienten mitberücksichtige. Im
Weiteren müsse klar, verbindlich und langfristig gültig
«Die enge Zusammenarbeit zwi-schen der klinischen Forschung und dem Labor ist ein wichtiger Schnittpunkt. Es braucht Verständ-nis bei den behandelnden Ärzten, aber auch bei den Patienten und den Ethikkommissionen.»
probe entnehmen. Für den einzelnen Patienten ist
das wahrscheinlich nicht nützlich, aber es führt zu
einem enormen Erkenntnisgewinn. Wir erleben mehr
und mehr Offenheit und Verständnis für solche Un-
tersuchungen.
400 verschiedene Krebsarten
n Der Begriff Krebs steht für rund 400 verschie-
dene Krebsarten, denn bösartige Tumore können
sich aus beinahe jedem Zelltyp des menschlichen
Körpers entwickeln. Jede Krebsart entsteht an-
ders und muss einzeln betrachtet, diagnostiziert
und behandelt werden. Je mehr die Forscher über
die Entstehung von Krebs entdecken und wissen,
umso mehr zeigt sich, wie komplex diese Erkran-
kung ist. Derzeit sind Forscher weltweit daran, die
«genetischen Fingerabdrücke» der verschiedenen
Krebsarten zu entziffern, um selbst geringste ge-
netische Abweichungen zwischen zwei Krebsar-
ten feststellen zu können. Für Ärzte und Patienten
wird das Vorteile bringen, denn mit diesem Wissen
können Tests entwickelt werden, die rasch und
präzise bestimmen, an welchem Krebstyp der Pa-
tient leidet. Und eine präzise Diagnose ist der
Schlüssel zu einer erfolgreichen Behandlung.
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NAtiONAlES KrEBSPrOGrAMM Für DiE SchWEiZ 2011–2015
spezielle Behandlungen erfordern. Nehmen wir etwa
eine Untergruppe, die nur vier Prozent der Lungen-
krebserkrankungen ausmacht. Wenn ich da ein Me-
dikament unter den gleichen Anforderungen entwick-
le wie ein Medikament für alle Lungenkrebserkran-
kungen, brauche ich für die Studie zunächst einmal
wesentlich länger. Sollte ich ein nützliches Produkt
entwickelt haben, würde ich keinen so grossen Markt
haben, um die Entwicklungskosten wieder hereinzu-
holen. Wir laufen also die Gefahr, dass solche Medi-
kamente gar nicht entwickelt werden.
Das ist ja kaum wünschenswert. Wie kann das ver-
hindert werden?
Wenn die Industrie für eine so kleine Gruppe von Pa-
tienten Medikamente in ihrer Pipeline hat, dann haben
wir als Gesellschaft zwei Möglichkeiten, dem zu be-
gegnen. Wir können die Anforderungen für die Ent-
wicklung eines solchen Medikaments reduzieren. Wir
verlangen keine grossen Phase-III-Studien, sondern
wir sind zunächst mit einer Phase-II-Studie zufrieden.
Bei einem guten Ergebnis registrieren wir das Medi-
kament. Um das Ergebnis zu bestätigen, müssen da-
für nach der Registrierung noch Daten gewonnen
werden. So reduzieren wir die Entwicklungskosten.
Und die zweite Möglichkeit?
Man könnte die Patentlaufzeit verlängern, damit die
Entwicklung solcher Medikamente auch rentieren
kann. Sonst laufen wir Gefahr, dass solche Projekte in
der Schublade landen. Denn die Pharmaindustrie in-
vestiert das Geld ihrer Eigentümer. Und die sind frei zu
investieren oder nicht. Bei solchen Überlegungen
müssen wir uns immer an konkrete Beispiele halten.
So gibt es seltene Krankheiten, von denen wir schon
lange wissen, dass sie selten sind. Dann gibt es Er-
krankungen, die eigentlich häufig sind, von denen wir
nun aber gelernt haben: Das ist gar keine einheitliche
Erkrankung. Das ist eine Gruppe von verschiedenen
voneinander molekular unterscheidbaren Erkrankun-
gen, für die es ganz unterschiedliche Therapien
braucht. n
geregelt sein, wer Zugang zu den Proben erhält und
über deren Verwendung entscheidet. Die Klärung sol-
cher Fragen ist für den Erfolg der Krebsforschung in
der Schweiz ebenso entscheidend wie es die regula-
torischen Rahmenbedingungen als Ganzes sind.
Letztere schränken die medizinische Forschung, so
auch die Krebsforschung, immer stärker ein.
laborforscher und klinische Forscher
zusammenbringen
Im Kampf gegen Krebs ist es weiter unerlässlich, die
bisher eher unterentwickelte translationale Forschung
voranzubringen. Dafür müssen die Kontakte und die
Zusammenarbeit von Labor-(Grundlagen)-Forschen-
den und den klinisch Forschenden in den Spitälern
verbessert werden. Denn translationale Forschung
zielt auf eine zentrale Errungenschaft: Sie zeigt, wo
und wie Ergebnisse der Grundlagenforschung so
schnell als möglich klinisch anwendbar gemacht wer-
den können. In der Krebsbehandlung ist translationa-
le Forschung besonders wichtig, da diese vom Pati-
enten rasch wieder zurück ins Labor führt.
Klinische Forschung stärken statt schwächen
Die Situationsanalyse zeigt: Die Schweiz ist im Be-
reich der klinischen Forschung generell und ganz be-
sonders in der aufwendigen und auf starke Vernet-
zung ausgerichteten Krebsforschung im Hintertref-
fen. So stark, dass heute internationale Fachleute
bereits schliessen, die Schweiz behandle zu wenig
Krebspatienten in klinischen Studien. Das Ziel des vo-
rangegangen Krebsprogrammes 2005 bis 2010,
durch koordinierte Strukturen und genügend Ergeb-
nisse aus der Grundlagenforschung die Rahmenbe-
dingungen für die diagnostizierenden Ärzte zu ver-
bessern und so auch die klinische Forschung zu stär-
ken, wurde also nicht erreicht. Dass in den letzten
Jahren die Anforderungen an klinische Studien von
Behördenseite massiv verschärft wurden, erschwert
die Situation – und die Forschungsfinanzierung – zu-
sätzlich.
Obschon die Forderung unpopulär erscheinen mag:
Es braucht eine stärkere nationale Steuerung. Nur so
können die Nachteile der kleinräumigen Strukturen
überwunden werden. Die klinische Krebsforschung
muss administrativ entschlackt und finanziell stärker
gestützt werden. Strukturen und Formen der Zusam-
menarbeit zwischen Universitäten, Industrie, regio-
nalen und kantonalen Zentren müssen verbessert
werden. n
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Mit dem guten Beispiel vorangehenKrebs wird zur häufigsten todesursache werden. Deshalb kommt diesem vielschichtigen
Krankheitsbild in Forschung und Entwicklung grösste Aufmerksamkeit zu. Die Fortschritte
auch in der Schweiz bei Prävention, Früherkennung und Behandlung sind beträchtlich.
Doch verlangt die wachsende Zahl von Krebserkrankungen eine Konzentration der Kräfte.
Die Fortschritte im Kampf gegen Krebs sind unüber-
sehbar: Die Medikamente der jüngsten Generation
ermöglichen eine individuellere Behandlung, Patien-
tinnen und Patienten haben weniger Nebenwirkun-
gen zu erdulden als etwa noch vor 20 Jahren. Daraus
resultieren zusätzliche Lebensjahre bei besserer Le-
bensqualität. Auch bei der Prävention sind Erfolge
nicht zu verkennen. Rauchen, die weitaus häufigste
Ursache für Lungenkrebs, ist seit Jahren rückläufig.
Ernährung und Bewegung haben im Bewusstsein der
Bevölkerung einen festen Platz. Auch die Früherken-
nung gewinnt endlich an Stellenwert.
Dennoch ist die Schweiz in den Bereichen Prävention
und Früherkennung bestenfalls Durchschnitt. Der
Nachholbedarf ist beträchtlich. In der Behandlung er-
zielen unsere Ärzte zwar gute Ergebnisse, weitere
Verbesserungen sind aber unerlässlich. Denn mit
steigendem Alter nimmt das Krebsrisiko zu und die
Schweizerinnen und Schweizer haben das Glück ei-
ner sehr hohen und weiter steigenden Lebenserwar-
tung. Gefordert ist aber auch die Pharmaindustrie:
Zwar sind dank Medikamenten manche Krebsarten
mittlerweile heilbar und andere mindestens erträglich
geworden. Das Feld für Forschung und Entwicklung
ist allerdings noch weit. Weltweit wird daher an nicht
weniger als 1300 Wirkstoffen gegen Krebs geforscht.
Für all das müssen die Rahmenbedingen stimmen.
Dazu gehören
• ein regulatorisches Umfeld, das fördert statt
behindert
• eine intensive möglichst reibungslose
Zusammenarbeit zwischen der akademischen
Forschung und der Industrie
• das Bilden von Forschungsschwerpunkten
• Zentren, welche aufgrund ihrer Kompetenz und
Grösse diese Bezeichnung auch verdienen
• eine noch stärkere Qualitätsausrichtung und
Eingehen auf die Bedürfnisse der Patienten
Das Nationale Krebsprogramm 2011–2015 erhebt all
diese Forderungen und andere, welche die forschen-
de pharmazeutische Industrie teilt. Das Programm ist
ein Beispiel für vorbildliche Arbeit im Gesundheitswe-
sen. Unter der Leitung des Dachverbandes Onco-
suisse haben alle wichtigen Organisationen und Pro-
tagonisten der Krebsforschung und -medizin ihren
Beitrag geleistet. Das Ergebnis ist nicht einfach ein
Buch mit fast 200 Seiten. Das Ergebnis sind eine Be-
standesaufnahme, Schwerpunkte und Prioritäten für
die nächsten Jahre, Handlungsoptionen und vor al-
lem Ausdruck des Willens, einen Beitrag zur Quali-
tätssteigerung in der schweizerischen Gesundheits-
versorgung und zur Verteidigung des Spitzenplatzes
der Schweiz in der onkologischen Forschung zu leis-
ten. Dabei versucht das Programm, die Nachteile der
föderalistischen Strukturen zu überwinden, setzt na-
tionale Gesundheitsziele für die Onkologie und ist in
diesem Sinn für die Schweiz beispielhaft. n
thomas cueni, Generalsekretär Interpharma
pharma:ch 1/11
impressumherausgeber: Thomas B. Cueni, Roland Schlumpfredaktion: Interpharmalayout: Continue AG, BaselFotos: istockphoto und Novartis Media Library
Pharma:ch ist der Newsletter der Interpharma, des Verbandes der forschenden pharmazeutischen Firmen der Schweiz, Actelion, Merck Serono, Novartis, Roche, Amgen, Bayer, Cilag und Vifor. Diese Plattform will durch differenzierte Information Verständnis für die medizinisch-pharmazeutische Forschung und Entwicklung in der Schweiz schaffen.
Hintergrundinformationen und Stellungnahmen finden Sie unter www.interpharma.ch.
interpharmaPostfach, 4003 BaselTelefon 061 264 34 00Telefax 061 264 34 [email protected]