Manfred Oehmichen
Picasso malt die Verzweiflung
Literareon | Sachbuch
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Die Bombardierung und nahezu komplette Zerstörung
der kleinen spanischen Stadt Guernica im spanischen
Bürgerkrieg war der Impuls zu Pablo Picassos gleich-
namigen Werk für die Weltausstellung in Paris im Jahre
1937. Neben zahlreichen Vorzeichnungen, Skizzen und
Gemälden im Umfeld von dem weltberühmten Wandge-
mälde widmete sich Picasso nahezu ein ganzes halbes
Jahr dem Problem der bildlichen Darstellung der mimi-
schen Veränderungen einer verzweifelten Frau, deren
Kind durch die Bombardierung getötet wurde. Manfred
Oehmichen unternimmt den Versuch, einer umfassen-
den und tiefgreifenden Analyse dieser Bildserie. Detail-
liert und informativ beschreibt der Verfasser die Bilder,
gruppiert sie, beschreibt die vielschichtigen histori-
schen und biographischen Einflüsse, Bedingungen und
Verflechtungen, um eine Annäherung an die Bilderserie
des Ausnahmekünstlers des zwanzigsten Jahrhunderts
zu ermöglichen.
ISBN 978-3-8316-1885-9
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Manfred Oehmichen
Picasso malt die Verzweiflung
Eine Analyse von Picassos Bildserie »Guernica
postscriptum« aus dem Jahre 1937
Literareon
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation
in der Deutschen Nationalbibliografie.
Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet
über http://dnb.d-nb.de abru�ar.
Titelabbildung: David Seymour (Magnum),
veröffentlicht am 13. Juli 1937 in Co-Soir
© 2016 Manfred Oehmichen
Printed in EU
Literareon im Herbert Utz Verlag GmbH
Tel. 089 – 30 77 96 93 | www.literareon.de
ISBN 978-3-8316-1885-9
5
Inhaltsverzeichznis
Danksagung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7
Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9
Zur Entstehung der Bildserie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13
Ikonografie des ›menschlichen‹ Leidens bei Picasso . . . . . . . . . . . . . . . . . 16
Picassos Motivation und die kunsthistorische Bedeutung
der Bildserie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24
Paraphrasen der verzweifelten Frau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26
Bildserie »Fliehende Frau mit totem Kind« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27
Bildserie »Das Gesicht der verzweifelten Frau« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34
Phase 1: Bilder während und nach Fertigstellung von
Guernica (13. Mai bis 16. Juli 1937) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35
Picassos Sommerurlaub . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59
Phase II: Bilder nach dem Sommerurlaub
(12. Oktober 1937 bis Ende 1937) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59
Phase III: Bilder mit der Pathos-Formel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75
Interpretation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85
Bildsprache Picassos: Expressive Bilderschrift . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85
Übersicht und Zusammenschau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 86
Ikonografische Aspekte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95
Biografischer Hintergrund . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104
Schlussfolgerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114
Picassos malerische Intention . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114
Picassos emotionale Intention . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117
Anmerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 122
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 124
Abbildungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 130
7
Danksagung
Für die vielseitige Unterstützung bei Abfassung dieses Büchleins
möchte ich mich bedanken, besonders bei Win Labuda, der die
Anfänge des Aufsatzes mit redigierte, bei Rudi Hupfeld, der zwi-
schenzeitlich leider verstorben ist, bei Ingo Pedal, der als letzter
Korrektor noch wesentlich zum Inhalt beigetragen hat, bei Dag-
mar Angermann, die die Reproduktionen und Zusammenstellung
der Bilder verantwortet, und bei meiner Frau, Brigitta, die den
Text wiederholt durchgelesen hat.
9
Einführung
Am 26. April 1937 wurde im Rahmen des Spanischen Bürgerkrie-
ges die kleine spanische Stadt Guernica bombardiert und dem
Erdboden gleichgemacht. Zahlreiche Menschen starben in den
Trümmern oder fielen den Flammen zum Opfer. Das erschrecken-
de Geschehen nahm Picasso zum Anlass, das Wandgemälde Guer-
nica zu erstellen, das das Leiden und die Verzweiflung besonders
von Müttern thematisiert, deren Kinder bei diesem Luftangriff
getötet wurden. Nach den ersten 5 Skizzen, die als Vorzeichnun-
gen zum Wandgemälde zu verstehen sind, entwickelte sich jedoch
eine gewisse Autonomie des Themas »Frau mit totem Kind«, das
Picasso – unabhängig von dem Wandgemälde – in der Folgezeit
mehrfach bearbeitete. Im Zuge dessen stieß Picasso auf ein wei-
teres Detailthema, das »Gesicht der verzweifelten Frau«, dem er
sich ein halbes Jahr lang widmete. Es handelt sich um klagende
und verzweifelte Frauen bzw. Frauengesichter, die durch ihre phy-
siognomischen Veränderungen ihren Schmerz ausdrücken. Das
Bildkonvolut kann unter dem Thema »Verzweiflung« zusammen-
gefasst werden und hat sich mit dem Begriff »Guernica postscrip-
tum« in der Literatur etabliert.
Das Konvolut an Skizzen, Zeichnungen, Radierungen und Öl-
gemälden hat ein Volumen von knapp 60 Bildern. Der Umfang
der Bildserie überrascht selbst im Werk Picassos, zumal er sich
einem Thema widmete, das im Jahr 1937 nicht als Picasso-typisch
anzusehen war. Picasso spürt mit großer Sensibilität der Psyche
einer verzweifelten Frau nach und entwickelt eine Bildsprache,
die erlaubt, unterschiedliche emotionale Zustände darzustellen.
10
Eine erste Veröffentlichung von Bildern dieser Serie erfolgte
1964 durch Arnheim im Zusammenhang mit einer monografi-
schen Analyse des Bildes Guernica. Auch weiterhin wurden zusam-
men mit den monografischen Darstellungen von Guernica diese
Zeichnungen veröffentlicht, nie aber vollständig. Das Problem
lag unter anderem daran, dass erst sukzessive der ganze Umfang
der Bildproduktion Picassos bekannt wurde.
Im Ausstellungskatalog 1981 wurde zum 100. Geburtstag von
Pablo Picasso in München erstmals die Sammlung Marina Picas-
sos in Deutschland gezeigt, und damit auch zahlreiche Bilder aus
dieser Serie veröffentlicht. W. Spies (1981) war der Herausgeber
des Katalogs und nahm speziell auch zu diesem Bildkomplex Stel-
lung. Mehr als 10 Jahre später, im Jahre 1993, konnte in Deutsch-
land L. Ullmann in seiner umfangreichen Monografie einen Teil
der Bilder veröffentlichen. In beiden Fällen ging es den Autoren
unter anderem darum, den Leser auf diesen Bildkomplex auf-
merksam zu machen sowie um die Klärung einzelner Bild-Zusam-
menhänge und um die Einordnung der Serie in das Gesamtwerk
Picassos. Etwa 10 Jahre später widmeten sich Biografen den ein-
zelnen Frauen, zu denen Picasso ein Verhältnis hatte, besonders
Dora Maar und Marie-Thérèse Walter. So konnte auf biografische
Zusammenhänge mit diesem Bildkomplex hingewiesen werden
(Caws 2002, Baldassari 2006). Auch in diesen Biografien wur-
de neues Bildmaterial veröffentlicht. Allen Autoren ging es weder
um eine detaillierte Analyse der Bildserie als Ganzes, noch um
die Wiedergabe des gesamten Bildfundus.
Eine monografische Darstellung dieser Bildgruppe erfolgte in
spanischer Sprache unter dem Titel Guernica. Legado Picasso, he-
rausgegeben vom spanischen Kultusministerium in Madrid. Die-
11
ser reich bebilderte Katalog hatte vor allem die Absicht, die Freu-
de des spanischen Volkes über den Transfer des Bildes Guernica
aus New York nach Madrid zu feiern, nachdem Franco gestorben
war. Im Zuge dieses Transfers wurden auch alle zugehörigen Vor-
zeichnungen nach Madrid überführt, ebenso wie die nach Guer-
nica entstandenen Zeichnungen und Gemälde Picassos, die laut
seiner Verfügung immer zum Wandgemälde gehören sollten.
Einen Ansatz zu der vorliegenden Gesamtdarstellung und
Analyse präsentierte der von Frau Judi Freeman im Jahre 1994
herausgegebene Ausstellungskatalog. Er entstand im Rahmen der
Ausstellung Weeping Woman in Los Angeles, New York und Chica-
go. Der Freeman-Katalog versucht, die Bildserie mit den Frau-
enbildnissen Picassos ab Ende 1920 bis Anfang 1940 in einen
Zusammenhang zu stellen. Der Katalog subsumiert das bis dahin
existierende Wissen und gibt viele interessante Hinweise. Er be-
absichtigt aber keine systematische Analyse.
Mit dieser Bildserie versuchte Picasso, ausgehend von dem
Wandgemälde Guernica (Abb. 1), das Thema »Verzweiflung« um-
fassend bildlich darzustellen und durch Struktur, Farbe und
mimischen Ausdruck sowohl bestimmte Emotionen auszuloten
als auch Darstellungsmöglichkeiten auszuprobieren. Dabei be-
schränkte er sich auf die Darstellung des Emotionsspektrums ei-
ner Mutter, deren Kind gerade durch einen Bombenangriff oder
ein Feuer getötet wurde. Diesem Thema widmete er sich mit der
ihm eigenen Besessenheit und Intensität, indem er die realisti-
sche Anatomie und Farbgebung den physiognomischen Verän-
derungen unterordnete, die er als charakteristisch für eine be-
stimmte emotionale Alteration ansah, nämlich die Verzweiflung.
Es ist sicher ein schwieriges Unterfangen, die Bildmasse, die
12
Pablo Picasso hinterlassen hat, zu ordnen und zu analysieren. Pi-
casso selbst hatte hierzu schon zu Lebzeiten insofern seinen Bei-
trag geleistet, als er ab 1930 versuchte, seine Zeichnungen und
Bilder regelmäßig zu datieren. Hilfreich sind zwischenzeitlich
auch systematische Registerbände bzw. Kataloge mit dem An-
spruch einer vollständigen Erfassung von Picassos malerischem
und plastischem Werk. Dennoch gibt es bis zum heutigen Tag
immer noch Schwierigkeiten bei der Zuordnung, einerseits weil
nicht alle Werke datiert sind, andererseits weil immer wieder
neue Werke zum Vorschein kommen, die dann in anderen Kata-
logen oder Büchern zitiert werden, sich aber der jeweils vorheri-
gen Systematik entziehen. Das gilt auch für die Paraphrasen der
»Verzweifelten Frau«.
Mit Worten soll im Folgenden versucht werden, das bildneri-
sche Werk Picassos zu diesem Thema nachzuvollziehen, obgleich
Picassos eigene Devise zweifelsohne richtig ist: »Über Bilder lässt
sich nichts sagen, man liebt sie oder verabscheut sie, aber mit
Worten lassen sie sich nicht erklären« (s. Rubinstein 1980). Von
vornherein muss daher festgestellt werden, dass der vorliegende
Versuch nur eine Annäherung sein kann. Dabei handelt es sich
überwiegend um eine Beschreibung der Bilder und auch – aber
nur in groben Zügen – um eine Interpretation ihres Ausdrucks,
die im Detail jedem Betrachter selbst überlassen bleiben muss.
Sehr wohl möglich ist dagegen die chronologische und systema-
tische Zuordnung der Bilder.
In einer gekürzten Fassung wurde bereits im Jahre 2006
auf einem Kongress in Padua über dieses Thema referiert (vgl.
Oehmichen 2010).
13
Zur Entstehung der Bildserie
Der Spanier Pablo Picasso war im Mai 1937 bereits ein weltbe-
rühmter Künstler und befand sich im Alter von 56 Jahren auf
dem Höhepunkt seiner Karriere. Er lebte in Paris, war verheiratet
mit Olga Kokhlowa, mit der er sich allerdings auseinandergelebt
hatte. Zu dieser Zeit hatte er zwei Geliebte, Marie-Thérèse Walter
und Dora Maar, was seine private Situation erschwerte. Im Januar
1937 erhielt er den offiziellen Auftrag von der spanischen repu-
blikanischen Regierung, ein Wandgemälde für den spanischen
Pavillon auf der ab Mai 1937 stattfindenden Weltausstellung in
Paris zu malen. Diesen Auftrag nahm er (mehr oder weniger)
an (1). Bis Ende April 1937 hatte er jedoch offenbar noch keine
endgültigen Vorstellungen zum vorgesehenen Wandgemälde.
Nachdem am 17. Juli 1936 eine Gruppe von Generälen unter
Franco in Spanien den Sturz der demokratisch gewählten repu-
blikanischen Regierung proklamiert hatte, brach der Spanische
Bürgerkrieg aus, der bis zum Einmarsch der Franco-Anhänger in
Madrid am 28. März 1939 andauerte. Am 26. April 1937 erhielt
die »Legion Condor«, eine deutsche Fliegerstaffel, die auf Seiten
der Faschisten gegen die Republikaner kämpfte, den Auftrag, eine
kleine und offenbar militärisch unbedeutende baskische Stadt zu
bombardieren (2). Es war der erste totale Luftangriff in der Ge-
schichte der Menschheit. Die ganze westliche Welt war durch die
Unfassbarkeit eines solchen Geschehens maßlos entsetzt.
Picasso selbst war als Spanier selbstverständlich durch den
Spanischen Bürgerkrieg emotional betroffen, da seine Familie
und seine Freunde weiterhin in Spanien lebten. Er selbst un-
14
terstützte die Republikaner gegen die Faschisten. Bereits im
Januar 1937 arbeitete er an zwei großen Radierungen mit dem
Titel Traum und Lüge Francos, die je in 9 kleinere Felder eingeteilt
waren. In den insgesamt 18 Feldern nahm er in Form von Comic-
strips mit polemischen bis sarkastischen Karikaturen zu den po-
litischen und kriegerischen Auseinandersetzungen in Spanien
Stellung, wobei er vier kleine Felder der 2. Radierplatte zunächst
nicht bearbeitete, die schließlich erst im Juni 1937 ausgefüllt
wurden (3).
Offenbar zutiefst betroffen aber war Picasso – wie auch die
gesamte Weltöffentlichkeit – durch das grausame Geschehen in
Guernica am 26. April 1937. Er nahm die Bombardierung von
Guernica zum Anlass, sich ab 1. Mai 1937 (also unmittelbar an-
schließend) dem geplanten Wandgemälde für den Pariser Pavil-
lon zu widmen. Das Werk wurde schließlich auch nach der zer-
störten Stadt benannt, Guernica (Abb. 1). Dieses monumentale
Gemälde (349,3 × 776,6 cm) wurde am 6. Juni 1937 fertiggestellt
und konnte in den spanischen Pavillon transportiert werden, der
schließlich mit Verzögerung am 12. Juni 1937 eröffnet wurde (4).
Symbolisch-metaphorisch wird auf diesem Gemälde das
furchtbare Leiden nicht nur des spanischen, sondern jeden
Volkes im Krieg beschrieben und beklagt. Das Gemälde ist dem
kubistischen Stil zuzuordnen. Die vorkommenden Metaphern
stammen u. a. aus dem Stierkampf: Im Zentrum schreit ein töd-
lich verletztes, zusammenbrechendes Pferd, am linken Rand des
Gemäldes steht ein ruhiger Stier, während im Übrigen das Bild
durch drei klagende Frauen und eine beobachtende Frau be-
stimmt wird. Das Werk wanderte nach der Pariser Ausstellung
durch einen Großteil der westlichen Welt und ist wohl das be-
15
Abbbildung 1
16
kannteste Bild Picassos, das sich heute in Madrid, Museo Nacional
Centro de Arte Reina Sofia, befindet.
Im Zusammenhang mit dem Wandgemälde entstanden ca. 60
Vorzeichnungen, Skizzen, Detaildarstellungen sowie Gemälde,
wobei sich ein Teil der Bilder ausschließlich auf die physiogno-
mischen Veränderungen der Frau in extremem psychischem Leid
und in der Verzweiflung konzentrieren. Noch während der Arbeit
am Wandgemälde verselbstständigte sich dieses spezielle Thema,
das nach Fertigstellung des Wandgemäldes Guernica für nahezu
ein halbes Jahr zu Picassos Hauptmotiv wurde. Picasso erstellte
in der zweiten Hälfte des Jahres 1937 beinah obsessiv Zeichnun-
gen, Gemälde und Radierungen mit Frauengesichtern, die hoch-
gradige Verzweiflung und furchtbares Leiden widerspiegelten.
Diese Arbeiten wurden geradezu monoman nach Fertigstellung
des Wandgemäldes durchgeführt. Da Picasso beinah jedes dieser
individualisierten Bilder genau datiert hat, lässt sich auch die
Chronologie unschwer nachvollziehen.
Ikonografie des ›menschlichen‹ Leidens bei Picasso
Offensichtlich von Goya thematisch und von El Greco formal be-
einflusst, widmete sich der zwanzigjährige Picasso in seinen ers-
ten Pariser Jahren von 1901 bis 1905 teilweise pathetisch, teilwei-
se manieriert dem menschlichen Elend, der Traurigkeit und Ver-
zweiflung der Armen, der Bettler, der Säufer und der Huren (8).
17
In der sogenannten Blauen Periode, die Picasso auch seine »sen-
timentale« Phase nannte, beschränkte er sich nicht nur auf eine
eingeschränkte Farbskala, also auf Variationen in Blau, sondern
auch inhaltlich auf ein spezifisches Generalthema – offenbar
mitunter beeinflusst durch das Denken Nietzsches, Ibsens,
Maeter links u. a. – nämlich die Darstellung der Armut und der
Sinnlosigkeit der menschlichen Existenz (Abb. 2b). Diese The-
men verfolgte er mit großer Hartnäckigkeit, offenbar um alle ihm
innewohnenden inhaltlichen, formalen und farblichen Möglich-
keiten auszuschöpfen. Die Periode beginnt mit dem Gemälde Die
Beerdigung Casagemas (9), das er seinem Freund Casagemas nach
dessen Freitod widmete.
Eines der damaligen Hauptthemen war auch die Ambivalenz
der Mutter-Kind-Beziehung, offenbar basierend auf einer tief-
re li giö sen Grundeinstellung, die manche Bilder auch im Sinne
einer säkularisierten Madonnendarstellung kennzeichnen las-
sen können. Durch den Rückgriff auf die Marien-Ikonografie
inszenierte Picasso einen Mutterkult, der speziell in Spanien be-
steht. Gedo (1980) spricht in diesem Zusammenhang auch von
einer zugrundeliegenden ›Überidealisierung der Mutter‹. Wie
Becht-Jördens und Wehmeier (2003) beschreiben, betrachtete
Picasso offenbar mit sehnsuchtsvoller und zugleich angstvoller
Faszination die Mutter mit ihrem Kind in immer neuen Modifi-
kationen. Das Mutter-Kind-Motiv mag u. a. auch durch die Fa-
milienstruktur der Picasso-Familie angeregt worden sein, deren
Opfer Picasso selbst war. Picasso wurde fast nur von Frauen auf-
gezogen, die ihn als einziges männliches Kind besonders liebten,
verehrten und vereinnahmten (Penrose 1958, Richardson 1991).
Die Blaue Periode endete schließlich – nach einer Übergangs-
18
Abbbildung 2
19
zeit, die sich der Melancholie des fahrenden Volkes widmete, der
sogenannten Rosa Periode – mit dem Portrait von Gertrude Stein
im Jahre 1906. In der Folge entwickelte sich im Zusammenhang
mit Picassos neuen Erfahrungen über die Kultur der Primitiven,
u. a. durch archäologische Funde aus Spanien, die Phase des Ku-
bismus.
In den Jahrzehnten danach, die entsprechend dem interna-
tionalen Picasso-Schrifttum als Perioden des Klassizismus und
des Surrealismus klassifiziert werden, gibt es kaum Darstellungen
menschlichen Leidens. Bis Mitte der zwanziger Jahre hatte Picas-
so die menschliche Gestalt im Zuge von rationalen Analysen der
Bildstruktur deformiert, nicht aber zur Verstärkung des emotio-
nalen Ausdrucks. Etwa ab 1925 (Abb. 3a, b – Der Tanz) werden mi-
mische Veränderungen bei Menschen erstmals wieder dargestellt.
Anfänglich beschränkt sich dies jedoch auf negative Emotionen
wie Hass, Hysterie, Aggression und Eifersucht jeweils beim Täter,
nicht aber beim Opfer. Eine Ausnahme bildet die am 22. Januar
1937 gezeichnete Vergewaltigungsszene. Hier stellt Picasso das
Klagen und Schreien einer Frau als Opfer mit weit geöffnetem
schwarzem, lochartigem Mund und zirkulär angelegten Zähnen
dar (Abb. 3c). Diese Zeichnung ist allerdings bereits während der
Aktivitäten Picassos im Zusammenhang mit dem Spanischen Bür-
gerkrieg entstanden, wenige Tage nach der vorläufigen Fertigstel-
lung der zwei großen Radierplatten am 8. Januar 1937, aber am
gleichen Tag, an dem er Modifikationen von Kopf- , Mund- und
Augen-Partien skizzierte (Abb. 4b). Vorher jedoch, selbst in der
Serie »Rettung« Anfang der 30er Jahre, in der es um die Rettung
von Ertrinkenden geht, bleiben die Gesichter der Rettenden und
Geretteten emotionslos.
20
Abbbildung 3
21
Abbbildung 4
22
In der Zeit, die vorwiegend durch surrealistische Darstellun-
gen geprägt war, entstanden allerdings Bilder, in denen auch
Emotionen dargestellt wurden, die kaum zu entziffern sind. Un-
übersehbar aber überwogen auch hier aggressive Tendenzen.
Trotz einer unendlichen Vielzahl an Portraits sind Emotionen
bei von Picasso gemalten Menschen praktisch nicht dargestellt,
ebenso wenig in den Radierungen in Traum und Lüge Francos, die
im Zusammenhang mit dem Spanischen Bürgerkrieg – noch vor
Guernica – entstanden waren. Exemplarisch und extrem expressiv
werden allerdings gegen Ende der 20er und in den beginnenden
30er Jahren wiederholt die Qualen und der Schmerz von Tieren,
speziell des sterbenden Pferdes in der Corrida und des Minotau-
rus, bis an die Grenze des Zumutbaren ausgedrückt.
Als ersten Versuch des Ausdrucks von Verzweiflung könnte ein
kleines Gemälde mit dem Titel Kreuzigung (Abb. 5) aus dem Jahre
1930 gelten, in dem Maria als verzweifelte Mutter Christi – aller-
dings surreal überzeichnet – in Gestik und Mimik klagend darge-
stellt wird. Zwei Jahre später paraphrasiert Picasso zeichnerisch
das Kreuzigungsbild, den Isenheimer Altar, von Grünewald, mit
teilweise extrem anschaulicher Wiedergabe der verzweifelten Ma-
ria Magdalena.
Wie bereits erwähnt: Erstmals im Zusammenhang mit dem
Bild Guernica wird die dramatisch-expressive Konfrontation einer
anklagend-schreienden und vor allem leidenden Frau zu einem
Zentralmotiv. Auch auf dem Bild Guernica sind die Frauen kla-
gend, allerdings eher randständig, und die eigentliche Klage wird
durch ein Pferd verdeutlicht, das groß und breit das Zentrum
des Bildes einnimmt. Nach 1938 jedoch gehört die in der Nach-
Guernica-Periode erprobte und hier wiedergegebene menschbe-
23
Abbbildung 5
24
zogene Opferikonografie zum ständigen Repertoire der privaten
Ikonografie Picassos.
Picassos Motivation und die kunsthistorische
Bedeutung der Bildserie
Eine Frage aber ist, ob der Spanische Bürgerkrieg Picassos einzi-
ges Motiv war, sich ein halbes Jahr lang mit Zeichnungen, Gemäl-
den und Radierungen zu diesem Sujet malerisch zu äußern. Zum
Teil wurde es schon erwähnt: Die Auflösung der realistischen
Physiognomie war ein Problem, mit dem sich Picasso bereits seit
Beginn der Periode des Kubismus beschäftigte, praktisch seit
1906. Im Jahr 1937 inspirierte ihn zweifelsohne zunächst seine
Betroffenheit durch das Geschehen in Guernica. Sicher aber
dürfte auch das Fehlen einer erst mit der Arbeit an dem Bild
Guernica gewonnenen Erfahrung bei der Darstellung von Trauer
und Verzweiflung eine Rolle gespielt haben. Abgesehen von der
unmittelbaren Faszination für das Thema handelt es sich auch
um ein malerisches Problem, das bei Picasso zu dem Versuch
führte, die ganze psychologische Bandbreite der mimischen Ver-
änderungen einer Frau visuell zu erfassen, wie sie die Folge der
Bombardierung hätte sein können.
Spies (6) wies auf einen weiteren Gesichtspunkt hin, der al-
lerdings unabhängig von psychologischen und politischen As-
pekten ein besonderes Stilmerkmal Picassos beschreibt, nämlich
25
das Stilelement der Wiederholung. Indem Picasso ein Motiv in
zahlreichen Variationen wiederholte, schlichen sich dank Ermü-
dung und auch dank der Lust zur Transgression unvermeidlich
neue Formlösungen ein, bis diejenige erreicht war, mit der Picas-
so am meisten übereinstimmte. Dies wäre als kinematografische
Methode zu bezeichnen.
Im vorliegenden Fall gelang ein bildhafter Ausdruck emoti-
onal-dramatischen Inhalts, der in der Kunstgeschichte zu einer
Änderung der visuellen Wiedergabe menschlicher Emotionen
geführt hat. Picasso bewegt sich mit diesem Paradigmenwechsel
auf der gleichen Ebene wie Giotto, der im 13. Jahrhundert u. a.
mit den Fresken der Capella degli Scrovegni all‘Arena in Padua
den Schritt von der byzantinischen Schule in die Neuzeit vollzog
(7). Giotto di Bondone hatte erstmals tiefste menschliche Anteil-
nahme und emotionale Beteiligung bildlich in Mimik und Gestik
dargestellt (Abb. 2a). Er wurde damit zum Wegbereiter eines bild-
nerischen Ausdrucks, der auf einer unmittelbaren persönlichen
Beobachtung von Natur, Wirklichkeit und Menschen sowie seiner
Gefühle beruhte. Andererseits wird bei Picasso durch extreme
Modifikationen und Auflösungen der Gesichtsstrukturen spezi-
ell in den Paraphrasen der »Verzweifelten Frau« eine Vielzahl an
Varianten der Verzweiflung bildlich auf eine bis dahin undenk-
bare Weise wiedergegeben. Diese Modifikationen bleiben in der
Bildserie nahezu ausschließlich auf die Physiognomie beschränkt,
wobei sich eine nahezu vollständige Auflösung und Destruktion
der realistischen Physiognomie entwickelte. Das heißt auch: Seit
Giotto ist eine fast 700jährige Bildgeschichte u. a. mit diesen Pa-
raphrasen in ein neues Stadium getreten.
26
Paraphrasen der verzweifelten Frau
Im Gegensatz zum Kubismus, der durch eine strikte, eher geo-
metrische Bildarchitektur gekennzeichnet ist, bestimmen in den
Bildern, die im Zusammenhang mit Guernica entstanden sind, or-
ganische Konturlinien den Umriss der Gesichter. Teils mit bio-
morphen Strukturen, teils mit Mitteln des analytischen Kubismus
können die Ausdrucksmöglichkeiten des Körpers, insbesondere
des Gesichtes, deutlich vielfältiger zur Geltung gebracht wer-
den. Es sind die vom zugefügten Schmerz zerstörten Gesichter,
die den Protest gegen das vermeidbare und unsinnige Leiden der
Frauen (im Krieg) ausdrücken. Es wird das Pathos des Leidens
dargestellt, wobei sich bei jedem einzelnen Bild ein eigenes, indi-
viduelles Ausdrucksspektrum entwickelt. Modifikationsversuche
in Form von Skizzen hatte – wie gesagt – Picasso in Teilen schon
längere Zeit vorher begonnen. So liegen Skizzen von Mund-Mo-
difikationen bereits vom 11. Oktober 1936 und 22. Januar 1937
vor (Abb. 4a, b), aber auch – während und nach der Guernica-Fer-
tigstellung – von den Augen (Abb. 4c, d) bzw. von Augen zusam-
men mit Tränentuch vom 20.Mai und vom 24. 20. 1937 (Abb. 4e).
27
Bildserie »Fliehende Frau mit totem Kind«
Im Jahre 1937 fertigte Picasso vom 8. Mai bis 22. Juni eine Serie
von insgesamt dreizehn Zeichnungen / Gemälden einer »fliehen-
den Frau mit totem Kind«. Am 8. Mai 1937 erscheint dieses Motiv
erstmals in einer Vorzeichnung zum Wandgemälde Guernica als
neue Bildidee, die zunächst tragend wird (Abb. 6a). Während die
ersten vier schwarz weiß gehaltenen Zeichnungen vom 8./9. Mai
1937 ebenso wie eine (erste) farbige Zeichnung vom 10. Mai 1937
noch als Vorzeichnungen und Studien für das Wandgemälde
Guernica gelten können (Abb. 6), müssen die später entstande-
nen dramatischen Bilder (Abb. 7) als eigenständige Werke gese-
hen werden, da die klagende Frau und (offenbar) Mutter mit dem
toten Kind auf dem großen Wandgemälde bereits am 11. Mai 1937
fertig konzipiert war und nicht mehr verändert wurde (Abb. 8).
Auf den durchgehend farbigen Skizzen (Abb. 7) wird eine re-
gelrechte Flucht aus einem brennenden Haus geschildert. Das
tote Kind im Arm haltend schreit die Mutter in schierer Verzweif-
lung gen Himmel. Dieses Motiv wird auf einem weiteren, später
entstandenen Bild (Abb. 10) in ähnlicher bzw. verstärkter gesti-
scher Dynamik dargestellt, wobei in allen diesen Bildern die Ge-
sichtsstruktur (Ausnahme Abb. 7d) eher in den Hintergrund tritt.
Zur Bildgruppe »Frau mit totem Kind« gehören u. a. auch die
drei Radierungen der vier noch leeren Felder der zweiten Radier-
tafel von Traum und Lüge Francos (s. oben), die am 7. bzw. 8. Juni
1937 ergänzt wurden. Während das 16. Bild auf der 2. Platte
(Abb. 9a) eine Frau zeigt, die klagend und anklagend mit ihrem
toten Kind im Arm aus einem brennenden Haus flüchtet, wird in
28
Abbbildung 6
29
Abbbildung 7
30
Abbbildung 8
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Abbbildung 9
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Abbbildung 10
33
Feld 18 eine umgekehrte Situation geschildert, die allerdings von
gleicher Dramatik und Ungeheuerlichkeit ist. Die Frau ist durch
einen Pfeil im Hals tödlich verletzt und ein Mann (der Kindesva-
ter?) liegt mit einer Kopfverletzung offenbar tot im Hintergrund,
während zwei eindeutig lebendige Säuglinge hilfesuchend nach
der Mutter greifen (Abb. 9b). In dem dritten Radierteil der Tafel
schließlich liegen Mutter und Kind – offenbar beide tot – Kopf
an Kopf vereint am Boden (Abb. 9c).
Sehr viel später, am 26. September 1937, entsteht nochmals
ein Bild Fliehende Frau mit totem Kind (Abb. 10). Dies sollte wohl
neben Guernica bestehen können. Es ist mit nahezu 200 cm Brei-
te ein sehr großes Bild, das – wie Guernica – in schwarz-weiß auf
Leinwand gemalt wurde. Es wirkt wie eine abschließende Zusam-
menfassung des Themas »Fliehende Frau mit totem Kind«.
Auf diesem Bild rast eine Frau geradezu diagonal von rechts
unten nach links oben durch die gesamte Bildfläche. Sie hält den
Kopf und den Körper des toten Kindes in der rechten Hand, wäh-
rend der linke Arm rückwärts gewandt in Richtung der rechten
oberen Bildecke reicht. Ihr Mund ist weit geöffnet, eine spitze,
lanzettartige Zunge wird nach oben gestreckt. Die Augen lagern
in bootähnlichen Schüsseln, die Brüste sind nackt. Die Frau ist
mit einem Kopftuch und einer Stola bekleidet. Das ganze Bild ist
kubistisch ausgearbeitet, wobei seine Dynamik und der erkenn-
bare Realismus eine starke Wirkung entfalten. Es ist offensicht-
lich bewusst asymmetrisch belassen und wirkt insgesamt unfertig.
Es ist in der Bildgruppe »Fliehende Frau mit totem Kind« zweifels-
ohne das stärkste Bild einer Frau auf der Flucht, mit den Zeichen
der verzweifelten Klage und Anklage.
Picasso verlässt relativ frühzeitig das Motiv »Fliehende Frau
34
mit totem Kind«, das er – wie gesagt – im September in Form des
großen Gemäldes (Abb. 10) nochmals aufgegriffen hatte. Dieses
kann als Endgültig neben Guernica bestehen.
Bildserie »Das Gesicht der verzweifelten Frau«
Inhaltlich und strukturell von der Darstellung der »fliehenden
Frau mit totem Kind« getrennt, entwickelte Picasso eine zweite,
umfangreichere Serie, die sich nahezu ausschließlich auf die Mo-
difikation der Physiognomie einer verzweifelten Frau beschränkt.
Ab wann sich die Serie »Gesicht der verzweifelten Frau« bei Pi-
casso verselbstständigt hat, ist nicht ganz klar, da die Übergän-
ge fließend sind. Bereits die dritte Zeichnung Fliehende Frau mit
totem Kind (Abb. 7e) zeigt jedoch eine sehr differenzierte Ge-
sichtsstruktur, die nicht mehr in das große Wandgemälde gepasst
hätte: Das Gesicht ist gen Himmel gerichtet, der Mund ist offen,
schreiend, mit sichtbaren Zähnen und Zunge, wobei allerdings
die Körperhaltung der Frau insgesamt aussagekräftiger ist als das
Gesicht. Spätestens mit der ersten Darstellung eines isolierten
Frauengesichtes am 13. Mai 1937, das eine detaillierte, verzweifel-
te Mimik wiedergibt und stilistisch ebenso wenig in das Wandge-
mälde Guernica passt (Abb. 11a), kann eine Eigenständigkeit des
Motivs und der Beginn der Serie angenommen werden.
In der zweiten Hälfte des Jahres 1937 muss Picasso von der
Problematik so fasziniert gewesen sein, da er offenbar nicht nur
35
die im Gesamtverzeichnis der Bildwerke Picassos aufgeführten
Bilder und Zeichnungen produzierte, sondern zusätzlich auch
auf Streichholzschachteln gezeichnet, in Kieselsteine Köpfe ge-
ritzt (vgl. 10) und möglicherweise auch eine Kopf-Skulptur mit
diesem Titel geschaffen hat. Die Vielzahl der visuellen Darstel-
lungen dieses Sujets, die Picasso bei jeder nur möglichen Gele-
genheit zwang, eine verzweifelte Frau visuell zu fixieren, sprechen
für die Intensität und Besessenheit, mit der Picasso dieses Thema
bearbeitete.
Die Bildserie »Gesicht der verzweifelten Frau« weist eine Rei-
he von gemeinsamen Merkmalen auf:
• es handelt sich überwiegend um eine Fokussierung auf den
Bildausschnitt Gesicht und Kopf der Frau;
• das Gesicht ist nahezu regelmäßig im Halbprofil dargestellt;
• von Beginn an sind Augen und Mund die Ausdrucksträger,
dann aber kommen hinzu: Tränen und Tränenspuren sowie
Taschen- bzw. Tränentuch, Hände, Kopftuch und Hut;
• der Wechsel der emotionalen Verfassung der Dargestellten
wie auch die Art und Weise der Darstellung selbst ist das of-
fensichtliche malerische Ziel Picassos.
Phase 1: Bilder während und nach Fertigstellung von Guernica
(13. Mai bis 16. Juli 1937)
Picasso verändert die normale Anatomie, destruiert die Gesichter,
fügt Tränenspuren, Taschentücher und Hände hinzu, verlegt die
Gesichter der Frauen in dunkle, teilweise kastenartig enge Räume
bzw. gibt der Umgebung eine extrem unterkühlte Farbigkeit und
36
bezieht auf diese Weise den Betrachter mit in die verzweifelte
Situation dieser Frauen ein. Der überwiegende Teil der Gesichter
weint, andere sind eher aggressiv. Das unermessliche Leid dieser
Frauen drückt sich in den nach außen gestülpten, nahezu heraus-
fallenden Augen sowie dem weit geöffneten Mund aus, der seine
Klage in die Öffentlichkeit schreit oder sich in ein Taschentuch
verbeißt. Die Tränenspuren, die wie Kanäle die Gesichter durch-
ziehen, wirken zerstörend. Die Grenz wer tig keit der Darstellungen
verdeutlicht gleichzeitig auch die Grenze der Existenz der Frauen,
die mit diesen Bildern in Frage gestellt wird.
Die 1. Bildgruppe entsteht in der Zeit vom 13. Mai bis 15. Juni
1937 (Abb. 11). Es sind Skizzen, die von Picasso möglicherweise
zunächst auch als Vorlage für Frauengesichter auf dem Wandge-
mälde Guernica vorgesehen waren, und zwar für die links außen
auf dem Bild Guernica dargestellte »Klagende Frau mit totem Kind«
und / oder für die rechts außen dargestellte »Fallende Frau«.
Durch die lanzettartige Zunge der Klagenden (Abb. 11b) wird die
direkte Assoziation mit dem Zentralmotiv des Wandgemäldes,
dem »sterbenden Pferd« (Abb. 11d) bekräftigt: Ausdruck einer Ver-
zweiflung, des Schmerzes, der Angst, der Wut und des Zorns. Die
gen Himmel gerichtete spitze Zunge verdeutlicht klagend und
anklagend-schreiend den psychischen Schmerz der Frau. Bild 11c
ist insgesamt ausdrucksstärker, wobei der Ausdruck im Vergleich
zu den Bildern 11a und b weniger aggressiv, sondern eher hilf-
los-verzweifelt ist, da hier das Gesicht durch die deutlichen Trä-
nenspuren zerrissen ist und Modifikationen der Pupillen entstan-
den sind, die Ähnlichkeiten mit Schmetterlingen aufweisen.
Das Gesicht der Frauen der Gruppe 1 besteht aus einer
rein linearen Kontur, die das Halbprofil wiedergibt. Nur Abbil-
37
Ab
bb
ild
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38
dung 11a ist farbig: der Hintergrund sandfarben und die Haare
wässrig-blau. Die jeweils angedeuteten plastischen Mundregio-
nen sind zusammen mit der Nase nach links oben bzw. himmel-
wärts gerichtet (Abb. 11a–c). Die Stirn wird in Abbildung 11b und
c in Falten dargestellt. In Abb. 11b sind die tropfenförmigen Au-
gen miteinander verbunden, die Wimpern stehen kreisförmig-ra-
diär um die Augen, teilweise in Gruppen sortiert; mit Tränen wer-
den in Abbildung 11c Tränenspuren verbunden.
Das Entsetzen spiegelt sich in drei weiteren Zeichnungen
(2. Bildgruppe) wieder, die am 24. bzw. 28. Mai 1937 entstanden
sind (Abb. 12). Sie unterscheiden sich in nahezu jeder Hinsicht
von den Gesichtern der ersten Gruppe. Das Profil ist nach unten
gerichtet (Abb. 12a, b), in Zeichnung 12a allerdings nach links, in
Zeichnung 12b nach rechts. Demgegenüber ist die Blickrichtung
der Gesichter in Bild 12c und d nach oben bzw. eher nach links
orientiert.
Die Zeichnungen hinterlassen primär einen verwirrten Ein-
druck. Dieser entsteht vor allem durch die vielen langen schwar-
zen bzw. schwarz-blau durchwirkten wirren Haare, die gleichzei-
tig auch den dunklen Hintergrund der Zeichnungen erzeugen
(Abb. 12a und b). Ferner weist das Gesicht in Abb. 12a durch
fleckförmige, gestrichelte Dunkelverfärbungen einzelner Ge-
sichtregionen eine leicht plastische Form auf. Die Verwirrtheit
wird verstärkt durch bogenförmige Linien, die das Gesicht in
Form von Tränenspuren durchqueren (Abb. 12a). Die Augen in
Abb. 12a sind auseinandergezerrt und die Augenbrauen sind
dick, ebenso bogenförmig und mit Vogelfedern vergleichbar. Die
Stirn ist durch sich überkreuzende dicke Falten aufgelöst. Die
Wimpern sind nahezu zirkulär und in seltsamen Gruppen um das
39
Abbbildung 12
40
Auge herum angeordnet. Der Blick des Betrachters konzentriert
sich allerdings vor allem auf den Mund, der wie das Endglied ei-
nes offenen Rohres wirkt, aus dem eine geschuppt wirkende Zun-
ge spitz herausragt. Hierdurch entsteht die Assoziation mit dem
Zustand des Erbrechens.
Abbildung 12b zeigt einen sehr flach gezeichneten Kopf, na-
hezu horizontal mit dem Gesicht auf eine Fläche gebracht, der
Blick nach rechts unten gerichtet, wobei die Mundregion eher
klein wiedergegeben ist. Trotzdem entsteht auch hier durch eine
herausgestreckte spitze Zunge und zirkulär angeordnete Zähne
der Eindruck des Erbrechens. In keinem der zwei Bilder ist eine
Klage oder Anklage erkennbar, nur die passiven, resigniert ertra-
genen Schmerzen, die zum Erbrechen zu führen scheinen.
Dem Ausdruck vergleichbar ist auch das in Abbildung 12c
gezeigte Gesicht, das zwei Tage später, am 28. Mai 1937, entstand.
Es ist im Gegensatz zu den ersten zwei Bildern dieser Gruppe far-
big. Auf roten Schultern schließt sich ein kurzer Hals mit nahezu
kreisrundem Kopf an, dessen Gesicht nach links oben gewendet,
und dessen Kopf wiederum mit wirren, aber vergleichsweise kur-
zem, schwarzen Haar bedeckt ist. Der Mund ist mit herausge-
streckter bogenförmiger, spitz zulaufender Zunge und sichtbaren
Zahnreihen weit geöffnet. Um die tropfenförmigen Augen finden
sich wiederum in Gruppen sortierte und radiär angeordnete
Wimpern, während die Augenbrauen vogelfederähnlich gezeich-
net wurden. Von beiden Augen ziehen blau- bzw. rotfarbene Trä-
nenspuren quer durch das Gesicht. Am linken Bildrand, direkt im
Blickfeld der leidenden Frau, wird eine Gebäudewand mit blauem
Fenster und gelber Strichelung als Hinweis auf ein Feuer sichtbar.
Das Bild vermittelt wiederum (wie die Gesichter in den Abbildun-
41
gen 12a und b) den Eindruck der Resignation, der Verwirrtheit
bis hin zum Erbrechen.
Offenbar versuchsweise skizzierte Picasso am gleichen Tag
auch einen klagenden Mann mit der Pathos-Geste der erhobe-
nen Hände und dem nach oben hin offenen Mund mit spitzer
Zunge (Abb. 12d). Auch in diesem Bild wird die Verwirrtheit vor
allem durch Bart- und Achselhaare und vielfache Tränenspuren
im Gesicht wiedergegeben. Möglicherweise ist diese Skizze als
Ersatz für die »Fallende Frau« in Guernica gedacht gewesen. Die
Zeichnung vermittelt die intensive Klage eines Mannes und nicht
so sehr seine Resignation, die für den Ausdruck der drei anderen
Bilder des gleichen Tages prägend ist. Das Motiv eines klagen-
den Mannes schien Picasso offensichtlich weder für das Gemäl-
de Guernica passend, noch unternahm er diesbezüglich innerhalb
der Serie weitere Versuche.
In der Zeit vom 31. Mai bis zum 3. Juni 1937 produziert Pi-
casso eine 3. Bildgruppe bestehend aus vier nahezu quadrati-
schen Blättern von gleicher Größe, die eine ähnliche Struktur
und Farbgebung aufweisen (Abb. 13) und durch eine gewisse
Ähnlichkeit mit der Kopfkontur des Gesichtes in Abbildung 7d
auffallen. Auf allen diesen Zeichnungen, teils mit Gouache, teils
mit Farbstiften bearbeitet, findet sich ein nahezu kreisförmiger
Kopf mit geöffnetem Mund, aus dem eine spitze, lanzettförmige
Zunge herausgestreckt ist, wobei das Profil und der Mund in al-
len Zeichnungen dieser Gruppe in Richtung rechts oben gestellt
ist. Die Kopfkontur ist mit einer feinen schwarzen Linie vorge-
zeichnet, die teils farbig übermalt wurde. In allen Zeichnungen
liegt der Kopf wie ein Kreis auf einer horizontalen, leicht bogen-
förmigen karierten Fläche, die die Schultern darstellen könnten,
42
Abbbildung 13
43
ohne Hals als Übergang. Die Augen sind tropfenförmig, und in
den Bildern 13b–c seltsam spiralig, wie aus dem Kopf herausge-
dreht. Bogenförmige Tränenstraßen sind ausschließlich in den
Bildern 13a und b vorhanden. Vogelfederähnlich sind die Augen-
brauen angelegt (Abb. 13b, c), seltsam fächerförmig die Wimpern
(Abb. 13b–d).
Die Bilder in Abbildung 13c und d haben einen hellen, weißen
Hintergrund und sind nur fleckförmig – ohne Berücksichtigung
der vorgegebenen linearen Strukturen – mit den Primärfarben
Gelb-Rot-Blau-Grün durch Farbstifte koloriert. Demgegenüber
ist in den Zeichnungen 13a und b der ganze Hintergrund un-
terschiedlich intensiv blaufarben, wobei sich auch hier die Farb-
grenzen nicht an die vorgegebenen linearen Strukturen halten.
Bei allen vier Bildern sind die Haare auffällig, die ausgesprochen
schütter sind und wie abgelöste Stacheln aussehen. Auf Bild 13a
sind durch Übermalung im Hintergrund des Kopfes zusätzlich
noch brennende Häuser und im Scheitelbereich des Kopfes, wie
um Hilfe rufend, fünf Fingerendglieder zu sehen. Quer durch das
obere Gesichtsdrittel zieht sich ein breiter gelber Streifen, der
offenbar vom brennenden Haus im Hintergrund ausgeht. Fleck-
förmiges Rot ist in dem überwiegend blaufarbenen Gesicht ver-
teilt. Diese Zeichnung ist außerdem von – allerdings unklaren –
geradlinigen, dicken blauen Linien durchzogen. Die Gesichter
auf allen diesen Bildern sind wie Masken. Fragt man nach den
Emotionen, dann drücken sie wiederum verzweifelte Resignati-
on aus. Wie Palau (2011) richtig beschreibt, wirken die runden
Köpfe aber auch wie rudimentäre Bomben, die umgehend explo-
dieren könnten.
In Struktur und Farbgebung sehr ähnlich, aber mit deutlich
44
erkennbarer hilfloser Verzweiflung im Gesicht hatte Picasso be-
reits am 22. Juni 1937 den Kopf einer Frau mit dem Kopf ihres
Kindes vor einem Haus mit Fenster gemalt (Abb. 7d). Dieses Ge-
sicht ist allerdings nach links gerichtet und hat strukturelle und
farbliche Ähnlichkeit mit Abbildung 12c. Im Gegensatz zu den
Bildern der 3. Bildgruppe trägt diese Frau ein grünes Tuch als
Kopfbedeckung. Der Übergang vom Rumpf zum Kopf erfolgt hier
durch einen relativ langen Hals, wobei in der Kinn-Hals-Nische
der Kopf des Kindes gelegen ist. Schließlich sind eine Hand der
Mutter und beide Hände des Kindes sichtbar. Die Augen der
Mutter liegen relativ weit voneinander entfernt, haben keine
spiralige Struktur und sind durch eine schräg verlaufende Linie,
die den Nasenrücken darstellt, voneinander getrennt. Erkennbar
aber wird die nahezu animalische Liebe der Mutter zum Kind,
die der Mutter die Kraft ermöglicht, lauthals zu klagen und an-
zuklagen.
Anfang des Monats Juli (7. bis 8. Juli 1937) füllte Picasso zu-
nächst die noch offenen Felder in der Radierung Traum und Lüge
Francos und entwickelte damit eine eigene Gruppe an Bildern,
wobei er alle vier Felder dem Motiv der trauernden bzw. verzwei-
felten Frau widmete. Auf drei der Radierungen sind neben der
Frau auch tote Kinder abgebildet (vgl. Abb. 9), nur einmal, im 15.
Feld der Radierung, wird auch ein isolierter Frauenkopf mit Trä-
nenspuren dargestellt (Abb. 14a). In dieser Radierung finden sich
u. a. die Motive der wirren Haare, des offenen Mundes mit her-
ausgestreckter Zunge und der hier schlangenförmig durch das
Gesicht laufenden und sich überkreuzenden Tränenspuren sowie
zusätzlich zwei Hände, flehend gen Himmel gerichtet. Das Wei-
nen steht in diesem Feld der Radierung im Vordergrund, zusam-
45
Abbbildung 14
46
men mit der Klage und der großen Verzweiflung, Emotionen, die
mitunter auch die anderen drei nachgeholten Radierungen die-
ser Tafeln bestimmen (Abb. 9).
Picasso schrieb offenbar in der Zeit vom 15. bis 18. Juni 1937
zu den Radierungen Traum und Lüge Francos einen handschriftlich
vorliegenden Text. Das Prosa-Gedicht versah er am Ende mit der
kleinen, farbigen Zeichnung eines Frauenkopfes als »Weinende«
(Abb. 14b). Der Kopf befindet sich in Rückenlage, das Gesicht
mit offenem Mund und tränenden, tropfenförmigen Augen nach
oben gerichtet. Die Farbflächen mittels Kreide sind überwiegend
außerhalb des Gesichtes vorhanden: Grün, Gelb, Rot, während
das Gesicht nahezu frei von Farbe und detaillierter Struktur ist.
Nur die Augenbrauen und die Haare sind rot gefärbt. Es wird die
Klage einer hilflos Verzweifelten dargestellt.
Als 4. Bildgruppe lassen sich drei Zeichnungen zusammenfas-
sen, die am 8. bzw. 13. Juni 1937 entstanden sind (Abb. 15). Die
Zeichnungen sind untereinander bezüglich Größe, Struktur und
Farbgebung sehr ähnlich. Eine Zeichnung ist ausschließlich line-
ar und ohne Farbe (Abb. 15a), während die anderen zwei Zeich-
nungen diskret farbig angelegt sind und hierin Ähnlichkeit mit
den Bildern der 3. Bildgruppe aufweisen.
Die Gesichter hingegen unterscheiden sich signifikant: Sie
sind längs gestellt, das Halbprofil ist nach links gerichtet. Der
Mund ist wiederum angedeutet plastisch geformt, die Gesichts-
strukturen eher flach, jedoch mit einem linear gezeichneten
Jochbein durchsetzt und von nur wenigen Tränenspuren durch-
zogen. Der Mund ist verzweifelt geöffnet und zeigt die Zähne der
äußeren linken Zahnreihe. Die Zunge befindet sich am Mundbo-
den, die Mundwinkel sind tief nach unten gezogen. Die Pupillen
47
Ab
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g 1
5
48
sind durch sich überkreuzende Strichelung dunkel und wirken in
Abb. 15c wie Löcher. Dadurch bekommt dieses Gesicht eine grö-
ßere Intensität des Ausdrucks der Verzweiflung. Die Farbe Blau
dominiert, wobei zusätzlich noch Rot und Orange-Gelb hinzu-
kommt, Farben, die im Gesicht nur fleckförmig strukturübergrei-
fend eingesetzt wurden. Die Physiognomie drückt vor allem eine
maßlose Traurigkeit aus, zusammen mit Resignation und Passi-
vität.
Zu einer 5. Bildgruppe können drei Zeichnungen (Abb. 16)
zusammengefasst werden, wobei allerdings zwei der Zeichnungen
(Abb. 16b, c) nicht auf den Tag genau datiert sind, nur das Jahr
1937 ist bekannt. Alle drei Zeichnungen sind mit schwarzer Krei-
de erstellt. Der Hintergrund ist jeweils schwarz. Sie alle sind ge-
kennzeichnet durch eine deutliche mimische Aggressivität.
Zu dieser Gruppe gehört ein kleines Bild vom 19. Juni 1937
(Abb. 16a). Es handelt sich um ein Gesicht mit Schultern und
Hals bei tiefschwarzem Hintergrund. Auf den quer gestellten
Schultern sitzt in dem längs gezeichneten Bild ein langer Hals,
der zu dem quer gestellten Kopf einer Frau führt. Das Gesicht ist
nach oben gerichtet, mit offenem, schreiendem Mund, aus dem
die spitze Zunge gen Himmel gestreckt ist. Am linken Bildrand
findet sich ein vergittertes Fenster. Die schwarzen langen Haare
fallen bis auf die Schultern. Betont auf dem Bild sind nur die
Augen und der Mund, so dass das Gesicht aus diesen beiden Par-
tien zu bestehen scheint. Die Augen sind groß und wie Spinnen
strukturiert. Der Mund ist plastisch ausgeformt. Geradlinige Trä-
nenspuren durchqueren das Gesicht diagonal. Das Gesicht klagt
verzweifelt an.
Eine gewisse Ähnlichkeit im Ausdruck und der Darstellungs-
49
Ab
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g 1
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50
weise zeigen auch die zwei undatierten Zeichnungen aus dem
Jahr 1937 (Abb. 16b, c). Beide Zeichnungen haben einen über-
wiegend schwarzen Hintergrund. Die Halbprofile sind nach links
gerichtet, zentraler Blickpunkt ist jeweils der im Profil dargestell-
te offene Mund mit freiliegenden Zähnen. Im Bild 16b ist der
Mund nahezu kreisförmig, wobei die Vorderzähne von Ober- und
Unterkiefer sich wie zum Biss berühren. Vor dem Gebiss aber
findet sich ein schwarzer großer Knopf, der entsprechend Picas-
sos Ikonografie einen Fensterknopf darstellen könnte. Es scheint,
als würde die Frau aus Verzweiflung in ihn hineinbeißen. Diese
Zeichnung ist im Übrigen an Einfachheit nicht zu überbieten:
Doppellinien, die den unregelmäßig konturierten, flachen Kopf
abgrenzen, zwei knopfartige Kreise als Augen und längs gestri-
chelte schwarze, schulterlange Haare neben dem kreisförmigen
Mund. Trotz der Einfachheit der Struktur ist die emotionale Aus-
sage evident: Das Gesicht drückt neben der Aggressivität zusätz-
lich eine hilflose Verzweiflung aus.
Ein kreisförmiger Mund besteht auch in der dritten Zeich-
nung (Abb. 16c), die ein nahezu klassisches Profil darstellt. Es
wird eine Frau mit aggressiver, spitzer Nase und frei stehenden
Zähnen im offenen, angedeutet dreidimensionalen Mund wieder-
gegeben. Ihre Augen sind schwarz umrandet und weisen beider-
seits spitz zulaufende Augenwinkel auf. Der Mund scheint zum
Biss (oder zum Schrei?) entschlossen. Sowohl der Mund als auch
die spitz zulaufende Nase und die spitzen Augenwinkel machen
den Zustand der Aggressivität deutlich. Es ist eine ungeheure
Verzweiflung erkennbar, die in Aggressivität umgeschlagen ist.
Bei den beiden zuletzt beschriebenen Bildern stellt sich na-
turgemäß die Frage, ob sie überhaupt zur hier beschriebenen
51
Bildserie gehören, da die Frauen nicht weinen. Beide Bilder fallen
aus der übrigen Bildproduktion Picassos im Jahre 1937 vollstän-
dig heraus, so dass es sich am ehesten um emotionale Varianten
der »verzweifelten Frau« unter Betonung von Aggressivität han-
deln dürfte.
In einer 7. Bildgruppe vom 22. Juni 1937 handelt es sich um
zwei lineare Schwarzweiß-Zeichnungen (Abb. 17a, b) und um zwei
Ölgemälde (Abb. 17c, d), wobei die Schwarzweiß-Zeichnungen
offenbar vorbereitende Skizzen für die Gemälde des gleichen Ta-
ges darstellen. Die gemeinsamen Merkmale dieser vier Bilder
sind: längs gestellte längliche Köpfe mit Hals und Schultern, das
Gesicht nach links gerichtet, ein Tränentuch, das hier erstmals
als neu eingeführtes Motiv erscheint, und das offenbar mit der
rechten Hand an die rechte Gesichtshälfte gehalten wird. Die lin-
ke Hand begrenzt das Gesicht nach unten in halbkreisförmiger,
bootähnlicher Struktur mit extrem spitz zulaufenden, nach links
gerichteten Fingernägeln. Die Augen sind wiederum tropfenför-
mig mit in Gruppen getrennten Wimpern und sternartigen Pupil-
len. Vom linken Auge gehen jeweils zwei geradlinige Tränenspu-
ren aus. Lange, strähnige Haare reichen bis an die Schultern.
Die zwei farbigen Gemälde mit ähnlichem Motiv haben ei-
nen homogenen schwarzen Hintergrund. Das Bild in Abbil-
dung 17c zeigt orangefarbene Schultern und ein blau-grün ge-
färbtes, aber grau wirkendes Gesicht mit rosafarbenen Wangen
und blau-schwarzen Haaren. Die Farbwirkung entspricht einem
todesähnlichen Zustand. Diese Wirkung wird im zweiten Gemäl-
de noch gesteigert (Abb. 17d), da hier außer dem blau-grauen
Gesicht nur ein blasses, gedecktes Grün der Schulterbekleidung
besteht. Mit dieser Farbgebung wird die Todesnähe der Frau ver-
52
Abbbildung 17
53
deutlicht. Das neue Motiv eines Tuches, das in den folgenden
Bildern nahezu regelmäßig vorhanden ist, agiert hier als zusätz-
liches gestisches Motiv, das besänftigend wirkt. In der gesamten
Bildserie tritt nur in dieser Bildgruppe eine nahezu vollständi-
ge linke Hand in Erscheinung, deren Fingernägel spitz zulaufen
und aggressiv bzw. wie eine Schere oder anders geartete Waffe
erscheinen. Zusammenfassend wird auf den Bildern eine tiefe,
verzweifelte Traurigkeit verdeutlicht, wobei die spitz zulaufenden
Fingernägel eine zusätzliche aggressive Komponente bilden.
Eine eigene Gruppe (8. Bildgruppe) bilden zwei Bilder
(Abb. 18) vom 26. Juni 1937. Beide Werke sind überwiegend durch
runde Gesichtsstrukturen ohne Ecken oder Spitzen charakteri-
siert. Man vermeint geradezu das Schluchzen zu hören, so deut-
lich ist hier die Trauer zum Ausdruck gebracht. In Abbildung 18a
ist der Mund weit geöffnet, was einen tiefen Blick in die Mund-
höhle erlaubt. Die Zunge liegt am Mundboden, die Lippen sind
nach außen gestülpt. Die Blickrichtung der Augen der Frau ist
nach links oben orientiert; die Augen selbst liegen weit ausein-
ander, sie sind sternförmig durchkreuzt. Von hier gehen Trä-
nenspuren aus, die das Gesicht durchtrennen. Diese und die
schwarzen Haare tragen dazu bei, den Zustand der Verwirrtheit
zu verdeutlichen. Das Gesicht ist wiederum durch eine diskrete,
blau-graue Farbigkeit und angedeutete Tränenspuren charakteri-
siert. Der Hintergrund des Bildes ist zu einem Drittel grau bis
schwarz gefärbt.
In Abbildung 18b ist der Blick der Frau ebenso nach links,
aber nach unten gerichtet. In der rechten Hand – hinter dem
Gesicht – befindet sich ein (abgerundetes) Taschentuch zum Ab-
wischen der Tränen. Der Hintergrund des Bildes ist total schwarz.
54
Abbbildung 18
55
Das Gesicht ist fahl-grün und wirkt durch die Tränenspuren zer-
rissen bzw. vollständig in Auflösung begriffen. Ausschließlich die
Wangen und die Nasenspitze sind fleckförmig rot gefärbt. Der
Kopf ist mit einem karierten Kopftuch, der spanischen Mantilla,
bedeckt. Die Finger der linken Hand befinden sich fächerförmig
am unteren Bildrand. In beiden Bildern, so unterschiedlich sie
in ihrer Struktur und Farbe sind, ist eine resignierte Traurigkeit,
eine Introversion erkennbar, ein In-sich-Hineinweinen.
Die 9. Bildgruppe besteht aus 7 Einzelbildern, die in den Ab-
bildungen 19 und 20 zusammengefasst wurden und stammen aus
der Zeit 26. 6. bis 16. 7. 1937. Die Bilder sind alle farblos und ha-
ben gewisse Ähnlichkeiten in der grausamen Gesichtszerstörung.
Bei Abbildung 19a handelt es sich um eine sehr große Ra-
dierung (72,3 × 49,3 cm) vom 2. Juli 1937. Diese Radierung ist al-
lerdings besonders erschreckend: Der Mund ist mit abgesenkten
Mundwinkeln zum Weinen geöffnet, die Augen sind in die tiefen
Augenhöhlen zurückgefallen, ein Taschentuch wird in Richtung
der linken Gesichtshälfte gehalten und bildet damit einen dunk-
len Grund hinter dem bereits dunklen Gesichtsprofil. Das Tuch
wird von der linken Hand gehalten, von der drei Finger mit spitz
zulaufenden Fingernägeln am unteren Tuchrand sichtbar werden,
während am Bildvorderrand die kurzgeschnittenen Nägel von
fünf Fingern der rechten Hand fächerförmig drapiert sind. Der
Kopf ist nach rechts unten geneigt, wobei das Gesicht nicht nur
maßlos traurig, sondern verzweifelt und in sich gekehrt ist, dabei
jedoch in keiner Weise anklagend wirkt.
Das gemeinsame Merkmal der übrigen sechs abgebildeten
Frauen ist ein Taschentuch, auf das die Frauen verzweifelt beißen,
wodurch in diesem Fall eine gewisse Ähnlichkeit der dargestell-
56
Abbbildung 19
57
ten Emotionen entsteht. Die Bilder stammen aus der Zeit vom
26. Juni bis 16. Juli 1937. Die Gesichter der Frauen sind in un-
terschiedliche Richtungen gewendet. Die Köpfe sind teilweise in
einem schmalen Kasten gefangen (Abb. 19b, d, 20a), während auf
zwei anderen Bildern (19c, 20c) der Hintergrund homogen, über-
wiegend schwarz dargestellt ist. Jedes Bild stellt durch den Biss
auf das Tuch einerseits die noch vorhandene Kraft zum Wider-
stand und zum Überleben der Frauen dar, andererseits aber auch
die verzweifelte Hilflosigkeit. Dabei erzeugen die Bilder eine je-
weils eigene Wirkung und geben so Nuancen der psychischen
Veränderungen wieder.
Dabei ist das Gesicht in Abbildung 19d besonders furchter-
regend. Hier wirken die Augen wie ausgestanzte schwarze Löcher
und die tiefschwarzen Wimpern wie Schmauchspuren nach einer
Schussverletzung. Ebenso erschreckend ist das Bild in Abbildung
20a, das am 16. Juli 1937 entstand. Picasso wandte hier auf be-
lichtetem und entwickeltem (schwarzem) Film eine bestimmte
Ritztechnik an. Das Motiv erscheint so in schwarz-weiß. Picas-
sos Geliebte Dora Maar, selbst Fotografin, brachte ihm die Vor-
gehensweise bei. Die Frau auf dem Bild befindet sich in einem
Kasten, blickt nach links und beißt auf ein Tuch, das allerdings
in diesem Fall eher wie ein Knebel aussieht und den Eindruck
erweckt, dass die Frau an ihrem Leid erstickt.
Die zwei sehr ähnlichen Bilder in den Abbildungen 20b und
20c zeigen das deutlich geformte Gesicht einer Frau mit Kopf-
tuch, die ein klassisches Profil aufweist. Vor allem in Abbildung
20b mit tiefschwarzem Hintergrund ist die Verzweiflung deutlich
ausgeprägt, die hier – wie auf allen Bildern mit Biss auf das Ta-
schentuch – in Aggressivität überzugehen scheint.
58
Abbbildung 20
59
Picassos Sommerurlaub
Im August und September zieht Picasso mit Dora Maar nach
Mougins, wo er schon im Vorjahr gewesen war, und trifft sich
dort mit Freunden, vor allem mit dem Ehepaar Éluard. Während
der Ferien ist Picasso aktiv und malt viel, nahezu ausschließlich
Frauenportraits. Bevorzugte Modelle sind Dora Maar und Nusch
Éluard. Während dieser offenbar sehr glücklichen Zeit sind far-
benprächtige Bilder mit phantasievollen Variationen von Ge-
sichtern und Kleidungsstücken entstanden, die eine entspannte
und fröhliche Ferienzeit wiedergeben. In dieser Zeit scheinen
die Sujets »Guernica«, »Spanien« und die »Verzweifelte Frau« wie
vergessen.
Phase II: Bilder nach dem Sommerurlaub (12. Oktober 1937
bis Ende 1937)
Nach der Rückkehr aus dem Urlaub und zurück in Paris sind die
alten Probleme wieder präsent und der Spanische Bürgerkrieg
holt Picasso ein. Inzwischen ist das ganze Baskenland durch die
Faschisten besetzt und das Entsetzen über die Vorkommnisse ist
größer denn je.
Am 6. Oktober 1937 fertigt er eine Zeichnung an, die das Pro-
blem der »Verzweifelten Frau« auf eine ganz andere Ebene stellt.
Die neu sichtbaren humorigen Elemente verraten einen gewissen
Abstand des Malers zum Thema. Dies bedeutet aber auch, dass es
ihm weiterhin darum ging, Form- und Ausdrucksvariationen ei-
ner verzweifelten Frau darzustellen. Zusammen mit einer anderen,
60
undatierten kleinen Skizze sollte dies die 10. Bildgruppe (Abb. 21)
darstellen.
In Bild 21a vom 6. 10. 1937 wird der Kopf einer weinenden
Frau mit halbkreisförmigem, weit geöffnetem Mund und daraus
hervorgestrecktem Pfeil als Zungenäquivalent gezeichnet. Durch
eine ebenfalls halbkreisförmige Linie sind die tropfenförmigen
Augen miteinander verbunden, zwei Tränenstraßen durchziehen
das Gesicht und strichförmige Haare finden sich am Hinterkopf.
Dabei ist der Kopf auf eine Leiter gesetzt, die auf Rädern rollt.
Mit dieser Zusammenstellung einzelner Motive aus der Serie
macht sich Picasso offenbar lustig über seine eigenen Bild erfin-
dungen.
Eine weitere, undatierte Bleistiftzeichnung eines Frauenge-
sichtes auf einer Streichholzschachtel aus dem Jahre 1937 zeigt
eine andere Perspektive. In dieser Zeichnung (Abb. 21b) steht
offenbar die Wiedergabe der physiognomischen Veränderungen
im Gesicht nicht im Vordergrund, sondern die Wiedergabe von
linear-rhythmischen Strukturen. Es handelt sich um ein rechts-
gerichtetes Halbprofil mit halbkreisartig weit offenem, räumlich
dargestelltem Mund und lanzettförmiger, herausgestreckter Zun-
ge sowie blattähnlichen Gebilden an Ober- und Unterlippe. Ge-
genläufig zu diesem Halbkreis ist ein offener zweiter Halbkreis
vorhanden, der linear beide Augen miteinander verbindet. Wie-
derum gegenläufig bilden zwei Halbkreise die obere und hintere
Kopfbegrenzung mit einer mittleren Einkerbung, aus der heraus
vier Haare wachsen, die in die linke obere Bild ecke reichen. Das
Bild ist eine weitere Variation des Generalthemas, allerdings
ohne bewegenden emotionellen Anspruch. Es existieren noch
weitere derartige Skizzen, teilweise auf Streichholzschachteln
61
Abbbildung 21
62
(Abb. 21c–f) (10), auf deren detaillierte Beschreibung hier jedoch
verzichtet wird.
Hingegen wirken die ernstzunehmenden Bilder der verzwei-
felten Frau nach dem Urlaub noch erschreckender als die vor
dem Urlaub gefertigten. Am 12. und 13. Oktober 1937 entstan-
den die wohl grauenvollsten Bilder der Serie (Abb. 22), die hier
zur 11. Bildgruppe zusammengefasst wurden. Die Zeichnung in
Abbildung 22a stellt die Vorzeichnung zum Gemälde in Abbil-
dung 22b dar und wirkt noch nicht ganz so furchtbar wie das
endgültige Gemälde, obwohl es mit 90,1 × 58,4 cm extrem groß
ist. Am auffälligsten sind in beiden Bildern wiederum Augen und
Mund. Besonders in Abbildung 22b sind die Augen aus dem Ge-
sicht herausgelöst, die Augäpfel schwimmen in bootähnlichen
Schüsseln. Das Gesicht ist durch Hell-Dunkel-Variationen plas-
tisch ausgestaltet, wirkt insgesamt verwirrend mit Bergen und
Tälern und ist vollkommen in Auflösung begriffen. Die Tränen
fließen kaskadenähnlich wie ein Wasserfall über das Jochbein.
Der Mund ist weit geöffnet, die abgerundete Zunge bei freilie-
genden Zähnen wie beim Erbrechen ausgestreckt. Die Lippen
sind wulstig nach außen gestülpt, die Nase ist übergroß und ani-
malisch mit riesigen Nasenöffnungen versehen, die nach rechts
oben gerichtet sind. Hinter dem nach rechts gewendeten Halb-
profil befindet sich im Gemälde ein großes Taschentuch, das im
Kontrast zum durch Rundungen geformten Gesicht mit geradli-
nigen Falten wie ein aufgespanntes Zirkuszelt auf die Fingerkup-
pen der linken Hand gespannt ist, das über die obere Kopfbe-
grenzung hinaus läuft. Der Hintergrund des Gemäldes ist tief-
schwarz. Das Gesicht einschließlich Tuch ist blass-blau gefärbt
und die einzige Farbe im Bild. Es entsteht der Eindruck eines
63
Ab
bb
ild
un
g 2
2
64
nach Außen gewendeten Inneren, vergleichbar mit sichtbar ge-
wordenen Eingeweiden. Deformierende Verdrehungen verwan-
deln den Kopf in einen vollständig zerquälten Formenkomplex.
Die vier Bilder in Abbildung 23, die in der Zeit vom 17. bis
24. Oktober 1937 entstanden sind, werden als 12. Bildgruppe zu-
sammengefasst. Es handelt sich durchgehend um farbige Ölbil-
der auf Leinwand, die alle durch die gleiche rechtsgewendete
Blickrichtung, die Benutzung eines Tränen- bzw. Taschentuches
und sichtbare Hände gekennzeichnet sind. Die Gesichter sind
durchgehend von resignativer Verzweiflung gezeichnet, ohne
Klage oder Anklage. Während Picasso die Bilder 23a und b in
kubistisch-flächenhaftem Stil gemalt hat, sind die Bilder in den
Abbildungen 23c und d in linearer Struktur wiedergegeben.
Während die Frau mit der Mantilla (Abb. 23a) – als Spanierin aus-
gewiesen – auf das Taschentuch beißt und mit der linken Hand
daran zerrt, wird auf den übrigen Bildern das Tuch nur zum Ab-
trocknen der Tränen benutzt. Im gleichen Bild (Abb. 23a) werden
die Hände als zusätzliches psychologisches Motiv eingesetzt: Die
rechte Hand steht mittig unter dem Gesicht, ist auf den Betrach-
ter gerichtet, der durch die Frau mit der Hand abgewiesen wird;
die linke Hand ist mit dem Taschentuch verknotet, auf das die
Frau beißt und an dem sie zieht, wodurch ihre innere Spannung
verdeutlicht wird.
Besonders die Mundstruktur, so unterschiedlich sie auch
dargestellt wird, ist in diesen Bildern prägend für den Eindruck
der Resignation. Der Mundwinkel ist leicht nach unten gezogen,
der Mund ist spaltförmig geöffnet. Der Mund ist im Profil bir-
nenförmig durchsichtig und bekommt dadurch einen deutlichen
Ausdruck der Traurigkeit, der in Abb. 23d noch durch die eng
65
Abbbildung 23
66
beieinader liegenden Augen verstärkt wird. Die Augenbrauen
in den Bildern 23a und b haben wiederum eine bogenähnliche
Form, sind in die Stirn gezogen und erinnern an Vogelfedern. Von
den Augen gehen einzelne Tränenlinien aus. Die Augen sind in
Abb. 23a und b aus den Augenhöhlen herausgelöst und schwim-
men, wie schon in einigen Vorstudien, in bootsähnlichen Schüs-
seln. Die Pupillen kommunizieren miteinander und sind jeweils
nach innen gerichtet. Die Augen in Abbildung 23b bestimmen
das Bild: Sie sind als markante ideografische Bezeichnung für
Verzweiflung und Trauer in keilartige schwarzbraune Schatten
eingefasst (12). Demgegenüber sind die Augen in Abbildung 23c
flächig in die gleiche netzartige, feinlinierte Binnenstruktur ein-
gebettet, die auch das graue bis schwarze Gesicht bestimmt. In
Abbildung 23d hingegen sind die Augen nur durch einen kleinen,
stecknadelgroßen Kreis charakterisiert, wobei ein Punkt im Zen-
trum die Pupille darstellt. Farblich ist Abbildung 23a gelb betont,
mit braunem Rumpf und orange-violettem Kopftuch, während in
Abbildung 23b grün vorherrscht, das durch das Rosa der Wangen
und Lippen kontrastiert wird. In Abbildung 23c herrschen die
Farben Violett, Weiß und Schwarz vor, während Abbildung 23d
durch die Farbe Grau bestimmt wird, das sich vom schmutzigen
Gelb im Hintergrund und gedecktem Grün auf Höhe der Schul-
tern absetzt.
Das Bild in Abbildung 23c ist stilistisch und emotional be-
sonders überraschend. Bei homogenem violettem Hintergrund
und grauem Gesicht fällt vor allem das kontrastierende schnee-
weiße Taschentuch auf, das als großes Dreieck – wie ein Segel –
das Blickzentrum des Bildes bestimmt und über die grau-weißen
Hände den Blick zum Gesicht führt. Das Gesicht selbst ist von ei-
67
nem Netzwerk feiner Linien durchzogen, innerhalb dessen pikto-
grammartig Augen, Nasenöffnungen, Mund und Jochbein durch
breite schwarze Linien abgegrenzt sind. Der flache Kopf wirkt wie
skelettiert, beinah geisterhaft. Die vom Körper losgelösten Hän-
de halten das weiße Taschentuch wie eine Trophäe. Das Bild er-
weckt Assoziationen mit Zerfall, Verwesung und Todesverweisen,
betont durch das Violett des Hintergrundes und das kontrastie-
rend weiße, dreieckige Taschentuch. Daix (1993) geht davon aus,
dass dieses Bild durch Picassos Besuch bei Paul Klee im Jahr 1937
beeinflusst worden ist.
Das Bild in Abbildung 23d ist der Abbildung 23c trotz der
reinlinearen Struktur sehr ähnlich, unterscheidet sich vor allem
in der Farbgebung allerdings deutlich: Das Gesicht ist zwar eben-
so grau, der Hintergrund aber wässrig grau-gelb, die Haare dun-
kel-grau und der Rumpf grünlich. Auch auf diesem Bild liegt das
weiße, dreieckige Tuch im Blickzentrum, allerdings bei deutlich
geringerem Kontrast zum Hintergrund. Das Bild wirkt insgesamt
morbide und kraftlos.
In allen vier Bildern entsteht durchgehend der Eindruck ei-
ner unüberwindbaren Verzweiflung und endgültigen Resignation,
die vor allem in den Abbildungen 23c und d in einen todesähnli-
chen Zustand zu führen scheinen.
Am 22. Oktober 1937 folgt ein Einzelbild (Abb. 24), das keiner
Gruppe zuzuordnen ist. Es entstand mithilfe der bereits beschrie-
benen Ritz- bzw. Kratz-Technik am belichteten und entwickelten
Film und ist entsprechend schwarz-weiß, wobei ein Frauenkopf
im Profil nach links gegen eine schwarze Hauswand mit Fenster
gewendet ist. Der Mund ist leicht geöffnet, die in Schüsseln
schwimmenden Augen tränen in Form von ausgesprochen dicken
68
Abbbildung 24
69
Tränenspuren, das Haar ist tiefschwarz wie die Hauswand. Das
Bild zeigt eine in tiefster Depression verlorene, unendlich trauri-
ge Frau ohne jegliche Zukunft, die in der Dunkelheit ihres seeli-
schen Zustandes wie gefangen wirkt.
Zwei Gemälde bilden die Bildgruppe 13 (Abb. 25) und sind
der vorläufige Abschluss der Bildserie. Sie entstanden am 26. und
28. Oktober 1937 und stellen offenbar den Versuch Picassos dar,
in Form einer Bild-Synthese die erarbeiteten einzelnen Motive
einzuarbeiten. Dies gelang ihm nicht in einem einzigen Bild,
doch in diesen zwei deutlich gegensätzlichen Bildern ist das Vor-
haben zweifelsohne geglückt.
Die Weinende mit rotem Hut (Bild 25a) ist durch eine extrem
dissonante und aggressive Farbigkeit gekennzeichnet und fällt
damit eigentlich aus der ganzen Serie heraus. Stilistisch hält sich
das Bild an den analytischen Kubismus mit überwiegend geo-
metrischen Strukturen, die das Gesicht regelrecht zerfurchen.
Dargestellt wird ein Halbprofil, das nach rechts gerichtet ist. Die
Frau beißt auf ein Tuch bei geschlossener, aber sichtbarer Zahn-
reihe, wobei sie mit zwei sich mit dem Gesicht überschneidenden
Händen am Tuch zerrt. Die Hände wie auch das Tuch sind mit
dem Gesicht durch ein lineares Netzwerk verbunden. Den Hin-
tergrund bildet eine längsgestreifte Wand von gelb-oranger Far-
be, einer braunen Fußleiste und einem roten Fußboden. Die hell-
blaue, gesichtszentrale Region ist geradlinig begrenzt und bildet
von beiden Augen ausgehend nahezu ein Sechseck. Dieses dehnt
sich nach unten hin bis in den Halsbereich aus. Zusammen mit
der blass-blauen bis weißen Farbgebung des Gesichtszentrums
bekommt man den Eindruck eines Gesichtsskeletts. Die blass-
blaue Farbe geht auch auf das Tuch und die das Tuch haltenden
70
Abbbildung 25
71
Hände über. In Längsrichtung ist das Gesicht durchquert von
tiefblauen, linearen Tränenspuren, die das mittlere und untere
Drittel des Gesichtes in zahlreiche kleine Felder zergliedern. Um
dieses hellblaue Sechseck herum sind grelle Primärfarben ver-
teilt: Grün und Gelb im vorderen, unteren Gesichtsanteil, blau-
schwarze Haare und roter Hut mit tiefblauer Blume im oberen
und hinteren Kopfbereich. Die Augen sind oval-flächig und lie-
gen wiederum in schiffchenartigen Schüsseln, die Pupillen sind
sternförmig, wobei das rechte Auge, auf den Betrachter blickend,
etwas nach unten versetzt liegt. Die Wimpern verlaufen unter
Aussparung der inneren Augenbegrenzungen radiär, die Nase ist
in den unteren blau-farbigen Gesichtsblock mit einbezogen und
eher unauffällig. Das Gesicht wirkt vital und aggressiv in ihrer
Trauer.
Der Kontrast zwischen Blickzentrum und Bildperipherie ist
offenbar bewusst angestrebt, wodurch der Betrachter hin- und
hergerissen wird. Er blickt primär auf das Gesichtszentrum, das
farbneutral blassblau ist. Der Blick des Bildbetrachters wird
durch die Farben immer wieder in die Peripherie abgeleitet (13).
In diesem Zusammenhang zitiert Ullmann (1993) Picasso: »Ich
möchte den Geist in eine ihm ungewohnte Richtung lenken, ihn
aufwecken. Ich möchte dem Betrachter etwas enthüllen, was er
ohne mich nicht entdeckt hätte. Meine Absicht ist, die Dinge in
Bewegung zu bringen, diese Bewegung durch widersprüchliche
Spannungen, durch gegnerische Kräfte zu provozieren … « (14).
Das Bild in Abbildung 25a gilt als endgültige formale Lösung
und als eigentlicher Schlusspunkt der Bildserie »Verzweifelte
Frau«. Marero (1953) schildert die emotionale Situation der hier
dargestellten Frau:
72
»Picasso malte eine verzweifelte Frau, eine jener Frauen, die
man täglich auf der Straße sieht. Sie trägt einen Modehut und
befindet sich zum Einkauf unterwegs. Man sieht, dass sie sich das
Haar mit Pomade eingerieben hat. Sie zog eine bestickte Bluse
an, und dann ging sie fort. Aber man sieht auch, dass ihr ganzes
Leben jetzt allein aus einem Taschentuch besteht, für die Tränen,
die sie weint. Kein äußerer Anlass, sich so aufzuregen, ist zu er-
kennen, auch keine Krebserkrankung gefährdet sie. Wie Eiszapfen
hängen die Tränen an ihren Wangen. Ihre Augen können nichts
mehr sehen. Wangen und Stirn – ein einziges Bild von Schmerz
und Leid. Die Finger gehorchen ihr nicht mehr. Man möchte mei-
nen, es bleibe ihr nichts mehr als das Taschentuch. Alles andere
ist Verzweiflung ohne einen Lichtstrahl, ohne jegliche Hoffnung.«
Das zweite Bild, das 2 Tage später entstanden ist (Abb. 25b),
gibt mit entgegengesetzten malerischen Mitteln eine etwas mo-
difizierte, aber ähnliche emotionale Situation wieder. Die Farben
sind hier jedoch durchgehend blass und schmutzig, in ak tiv- wäss-
rig. Die Strukturen sind biomorph abgerundet und mit dünnen
schwarzen Linien wiedergegeben, die die Bildstruktur bestim-
men. Farblich gehen Gesicht und Hintergrund ineinander über,
wobei das Profil durch einen schwarzen Schatten gegen den Hin-
tergrund abgegrenzt ist.
Es handelt sich wiederum um ein nach rechts gerichtetes
Halbprofil, jetzt allerdings mit Blick in die rechte obere Bildecke.
Die freiliegenden Zähne der Frau beißen auf ein weißes Tuch, das
mit der linken Hand aus dem Mund gezerrt wird. Die strähni-
gen, leicht rosa gefärbten Haare sind mit einem rötlich-braunen
Tuch bedeckt. Der Oberkörper der Frau steckt in einer hellbraun
gestreiften Oberbekleidung, zu der die rechte Hand mit ihren
73
gefächerten, blass grün-grau gefärbten Fingern am unteren Bild-
rand nur einen schwachen Kontrast bildet. Das Gesicht ist von
ebenso blasser grau-gelb-grüner Farbe mit rosa Flecken in der
Augen- und Mundregion, wobei die Farben wie Wasserfarben in-
einander verschwimmen. Die Augen sind deutlich höhenversetzt,
die Augenbulbi treten aus den Augenhöhlen heraus und haben
sternförmige Pupillen. Je eine Tränenspur lässt sich aus jedem
Auge verfolgen. Nur vorsichtig sind durch Strichelung und Farb-
gebung plastische Gesichtsformen angedeutet. Der Hintergrund
ist homogen, von rosa-grauer Farbe. Der Betrachter bekommt den
Eindruck einer unendlich verzweifelten, resignierten und kraftlo-
sen Frau, die nahezu in den Hintergrund zu verschwinden droht.
Mit diesen zwei Bildern ist die Kontinuität der Bildserie un-
terbrochen, aber offenbar nicht beendet, auch wenn diese Bilder,
besonders aber Bild 25a, als Picassos Zusammenfassung der in
der Serie gemachten Bilderfahrungen gilt. Allerdings am 20. No-
vember 1937 malt Picasso eine Frau mit grünem Gesicht und
rechtem Arm (Abb. 26). Es handelt sich jetzt erstmals um eine
Halbfigur mit Schultern, oberer Brustkorbhälfte und mit Darstel-
lung des rechten Armes in einer blau gestreiften Oberkörperbe-
kleidung vor schwarzem Hintergrund. Das Gesicht ist wiederum
im Halbprofil nach rechts oben gewendet. Der rechte Arm hält
ein seltsam spiralig aufgedrehtes Tuch, das bei aufgeworfenen
blauen Lippen zwischen den gelben Zahnreihen eines geschlos-
senen Gebisses verschwindet. Die Augen sind gegeneinander
versetzt und liegen der Gesichtsoberfläche wie Spiegeleier flach
auf. Die Pupillen sind punktförmig mit hellblauer Iris. Sie werden
umgeben von schwarzen und im äußeren Bereich weißen Kreisen,
um die sich Wimpern radiär anordnen. Ein Auge liegt auf Höhe
74
Abbbildung 26
75
der Nasenwurzel, das andere an einer Stelle, an der man das rech-
te Ohr erwarten würde. Nur vom Auge auf Höhe der Nasenwurzel
gehen zwei geradlinige, mitten in der Wange punktförmig enden-
de Tränenspuren aus. Mittig in der Wange liegt ein relativ scharf
begrenzter gelber kreisförmiger Fleck. Die im Nacken gelegenen
Haare sind streifenförmig und von rosa Farbe. Die am Hinterkopf
gelegenen Haare sind blau mit schwarzen Strähnen, wobei das
Gesicht, vom bereits erwähnten gelben Wangenmal abgesehen,
grün ist. Dieses Bild stellt zwar hinsichtlich des emotionalen Aus-
drucks keine neue Alternative zu den bisherigen Bildern dar, ist
aber strukturell und farblich sicher eine weitere Modifikation,
die im Gegensatz zu den letzten zwei Bildern in ihrer hilflosen
Verzweiflung überwiegend anklagend ist.
Phase III: Bilder mit der Pathos-Formel
Eine beeindruckende und überzeugende Alternative stellt das am
18. Dezember 1937 entstandene kleine Bild Die Bittstellerin
(Abb. 27a) dar, das mit der vier Tage später entstandenen Zeich-
nung Flehende (Abb. 27b) (16) zu einer eigenen Gruppe zusam-
mengefasst werden kann (Bildgruppe 14). Diese Bilder sind aller-
dings nicht auf das Gesicht beschränkt, vielmehr werden die
Frauen in ganzer Statur dargestellt. Das gemeinsame Merkmal ist
eine neu eingeführte Pathos-Formel: die erhobenen Arme als
Zeichen der Klage, Anklage und Verzweiflung. Im Falle der Figur
in Abbildung 27a zieht zwar das Gesicht als Zentrum den Blick
des Betrachters auf sich, aber die Körperhaltung und Gestik
– und hier besonders die übergroßen Hände – spielen eine be-
76
Abbbildung 27
77
deutendere Rolle. Im zweiten Bild spielt demgegenüber die Geste
der erhobenen Arme die Hauptrolle, während die Mimik absolut
in den Hintergrund tritt.
Die Bittstellerin ist ein Bild, das stilistisch wiederum dem ana-
lytischen Kubismus nahe steht, mit winkligem Gesicht, geformter
freiliegender rechter Brust und übergroßen, grob gegliederten
Händen. Das Gesicht ist als Halbprofil nach links oben gewen-
det, der Kopf ist mit einem Tuch bedeckt, der Mund geöffnet bei
freiliegenden Zähnen und einer Zunge zwischen den Zahnreihen.
Die Augen sind perspektivisch versetzt dargestellt, regulär in den
Augenhöhlen gelegen, von tropfenähnlicher Form. Der Kopf liegt
im oberen Drittel des Bildes, mittig zwischen den auffällig grob
strukturierten Händen, wodurch das Gesicht ebenso betont ist wie
durch die fleckförmig verteilte rote Farbe, die nur im Gesicht zu se-
hen ist. Der extrem verkürzte Rumpf nimmt die unteren zwei Drittel
der Bildfläche ein, wobei zwar die Füße sichtbar, die Beine jedoch
unter dem Rock versteckt und offenbar auf ein Minimum reduziert
sind. Dargestellt ist das Urbild einer verzweifelten, klagenden Frau.
In Bild 27b handelt es sich um die rein flächenhafte Dar-
stellung einer Frau, die ihre Arme in gleicher Form zum Himmel
erhoben hat und deren beide Brüste frei liegen. In diesem Bild
ist das Gesicht perspektivisch minimiert: Der lange, nach oben
spitz zulaufende Hals endet in einem kleinen Kopf mit nach links
gewendetem, offenem Mund und kleinsten Augen. In diesem Fall
ist – wie in Abbildung 27a – die unbedeckte Brust als Indiz für
ein zu stillendes Kind zu werten.
In keinem dieser Bilder sind allerdings Tränen dargestellt, so
dass Freeman (1994) mit Recht daran zweifelt, ob diese Bilder
der Serie der »Weinenden Frau« zuzurechnen sind. Aber auch in
78
den bereits aufgeführten, hier beschriebenen Bildern sind nicht
durchgehend Tränen oder Tränenspuren zu beobachten. Und
schließlich sind diese zwei Bilder vor allem durch die Pathosges-
te miteinander verbunden und erklären sich am ehesten in der
Kontinuität der Serie einer »Verzweifelten Frau«. Denn verzweifelt
sind offenbar auch diese zwei Frauen.
Die Pathosformel ist auch in einem dritten Bild enthalten, ei-
ner Zeichnung. Die Fischerfamilie am Strand (Abb. 27c): Eine Mut-
ter mit nackten Brüsten steht mit erhobenen Armen auf einem
Boot, während am gleichen Ort ein schlafender oder toter Mann
mit gestreckten, rechtwinklig abgewinkelten Armen wie gekreu-
zigt liegt, eine Zeichnung, die u. a. die Assoziation einer säkulari-
sierten Pietà aufkommen lässt.
Im Jahr 1937 soll Picasso die »Verzweifelte Frau« auch als
Skulptur erstellt haben (vgl. Spies, Abb. 28). Es handelt sich um
einen runden Kopf mit einem Gesicht, das in einem Winkel von
ca. 45 Grad nach oben gerichtet ist, ohne Hals, Rumpf oder Hän-
de. Der Mund ist leicht geöffnet, so dass der Eindruck des Wei-
nens entsteht. Doch weder Angst oder Schrecken noch Verzweif-
lung sind erkennbar. Das Gesicht zeigt eine weitgehend ausgegli-
chene Physiognomie. Es ist weder zergliedert noch zerrissen. In
keiner Weise sind die malerischen und zeichnerischen Modifika-
tionen des Ausdrucks vergleichbar mit ihrer Darstellung von Ver-
zweiflung, Angst, Zorn, Klage, Hilflosigkeit, Bitterkeit, Resignati-
on und Depression. So muss bezweifelt werden, ob tatsächlich
dieses Thema den Hintergrund der Skulptur darstellt. Palau
(2011) datiert die Skulptur zudem auf das Jahr 1935, so dass mög-
licherweise Datierung und Titel nicht zutreffend sind.
Stilistische Merkmale des Bildkomplexes »Verzweifelte Frau«
79
Abbbildung 28
80
wie auch von Guernica waren in der Folgezeit typische expressive
Kennzeichen der Malerei Picassos, der Stil seiner späteren Jahre.
Er übernahm aber auch einzelne Motive, die er im Rahmen der
Variationen der »Verzweifelten Frau« erarbeitet hatte. Hier soll nur
auf drei eklatante Beispiele eingegangen werden.
Im Jahre 1939 malte Picasso zahlreiche Portraits von Dora
Maar in unterschiedlichen Stilen und Situationen. Dora Maar
wird in diesen durchaus farbenfrohen Portraitstudien als ernste
Frau dargestellt, als deren Kennzeichen vor allem ihre extra va-
gante Kleidung, insbesondere ihre Hüte und langen Fingernägel
erkennbar werden. Hierunter findet sich ein Bild, das den Titel
Trauernde trägt (Abb. 29). Auf diesem Bild – wie auch auf manchen
anderen – hat Dora Maar eine rüsselartige Nase, einen roten Hut
und – ganz außergewöhnlich – realistische Tränen auf den Wan-
gen. Diese und die traurige Mimik rechtfertigen den Bildtitel.
Dieses Bild aber zeigt in keiner Weise die innerste, existentielle
Betroffenheit des Gesichtes, die alle übrigen Werke der Serie
»Verzweifelte Frau« aufweisen.
In einem Skizzenblock des Jahres 1959 erstellte Picasso Para-
phrasen zum Stierkampf in Assoziation mit der Kreuzigung Chris-
ti (Abb. 30a). In diesem Zusammenhang zeichnete er auch eine
»Mater dolorosa« mit Krone und Tränen (Abb. 30b). Da auch das
Wandgemälde Guernica durch die Motive des Stierkampfes (»Stier
und sterbendes Pferd«) und der Kreuzigung (dreiteiliges Altarbild,
Wiedergabe von Opfern tödlicher Gewalt) bestimmt wird, ist es
naheliegend, in der »Mater dolorosa« des Jahres 1959 ein (anato-
misch nahezu richtiges) realistisch-klassisches Bild einer ver-
zweifelten Frau zu sehen, in dem zumindest die Tränenspuren an
Motive der »Weinenden Frau« erinnern (vgl. Blunt 1969).
81
Abbbildung 29
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Abbbildung 30
83
Im Jahre 1962 (Skizzenbuch 62 des Jahrgangs 1962) widmete
sich Picasso mit Zeichnungen der Interpretation des Gemäldes
Raub der Sabinerinnen von Jaques David (Abb. 31a). Er machte
hierzu zahlreiche Vorzeichnungen. Im Skizzenbuch sind mehr-
fach Varianten schmerzverzerrter Gesichter enthalten, die an
Motive der Serie »Verzweifelte Frau« erinnern (Abb. 31c). Aller-
dings wurden die Gesichter weder in gleicher Weise verstümmelt
und zerrissen wie in der hier besprochenen Serie aus dem Jahre
1937, noch wurden vergleichsweise detaillierte Ausdrucksformen
der Emotionen erreicht – sie wurden offenbar auch nicht ange-
strebt (vgl. Abb. 31b). Hier übernahm Picasso das Motiv »Mutter
mit totem Kind« im Gemälde und schuf nach 25 Jahren ganz ähn-
liche Details (Abb. 31b).
Als drittes Beispiel sei das letzte Selbstportrait Picassos aus
dem Jahre 1972 aufgeführt. In das farblich extrem blasse, nahezu
in Verwesung übergehende blau-grüne Gesicht (Abb. 31d) über-
nahm Picasso das Motiv der Tränenspuren.
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Abbbildung 31
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Interpretation
Bildsprache Picassos: Expressive Bilderschrift
Picasso strebte mit Guernica – und in der Zeit danach – eine ›be-
griffliche‹ Bildsprache mit der Absicht einer extremen Expressivi-
tät an. Er versuchte, allgemein verständliche Bildzeichen in Form
von ideografischen und surrealen Darstellungen zu entwickeln,
um eine Reduktion auf wenige Ausdrucksträger zu erreichen.
Demnach nahm er im »Gesicht der verzweifelten Frau« im Sin-
ne einer »expressiv übersteigerten, zeichenhaften Visualisierung
von mentalen und psychischen Vorgängen« (18) eine Reduktion
auf Augen und Mund vor. Diese Tendenz wird von Picasso selbst
angesprochen (19):
»Natur ist nur mit Hilfe von Zeichen in Malerei übersetzbar.
Aber ein Zeichen erfindet man nicht. Man muss sich intensiv um
Ähnlichkeit bemühen, damit sich schließlich die Zeichen heraus-
kristallisieren. Für mich ist Surrealität nichts anderes, und nie
etwas anderes gewesen, als jene wesenhafte Ähnlichkeit jenseits
der Formen und Farben, in denen die Dinge uns erscheinen.«
Dem im Kopf des Künstlers vorgestellten bzw. angestrebten
Ausdruck aber werden alle übrigen Bedingungen untergeordnet,
d. h. es gilt nicht mehr die gewohnte Realität wie wir sie täglich
erleben, weder die übliche Ansicht einer Landschaftsstruktur,
noch die natürliche Farbe. Der Betrachter soll durch die bild-
liche Darstellung eine emotional-mentale Information erhalten,
die verbal nicht mehr wiederzugeben ist.
Auffällig an der Bildersprache Picassos, die besonders am
86
Beispiel der Serie »Verzweifelte Frau« vorgeführt wird, ist die von
Spies (20) besonders herausgestellte Repetition: Ein Thema wird
mehrmals wiederholt, wobei das Bild variiert wird. Die Arbeits-
weise deutet Spies als ein »Kumulieren ständig neuer Formvari-
ationen«. Er spricht von einem »unmerklichen Tropismus«, der
die Formen nach und nach zu jeder irgendwie denkbaren Ver-
formung zwingt.
Im Schrifttum zu Picasso wird bei jeder Interpretation durch-
gehend auf die mehrschichtigen Einflüsse verwiesen, ohne die
ein echtes Verstehen und Nachvollziehen der bildlichen Darstel-
lungen Picassos oftmals nicht möglich ist. Von Bedeutung sind
vor allem ikonografische Einflüsse aus der Kunstgeschichte sowie
dem eigenen Werk (Picassos ›private‹ Ikonografie), auf die bereits
verwiesen wurde. Ganz wesentlich aber müssen auch zusätzliche
Einflüsse aus der eigenen Biografie berücksichtigt werden, auf
die Picasso wiederholt selbst hingewiesen hat. In der Regel aber
überlappen sich die einzelnen Faktoren und bilden so neue, im-
mer überraschende Bilderfindungen.
An dieser Stelle aber soll zunächst eine Übersicht und Zusam-
menschau dessen gegeben werden, was bisher dargestellt wurde.
Übersicht und Zusammenschau
Unter Verwendung unterschiedlicher, immer neuer Bildzeichen
beabsichtigte Picasso in der zweiten Hälfte des Jahres 1937, wäh-
rend und nach Fertigstellung des großen Wandgemäldes Guernica,
das unendliche Leid und die Verzweiflung einer Frau darzustellen,
deren Kind gewaltsam zu Tode gekommen ist. Emotionale Basis
87
ist ein fundamentales Geschehen, das für eine Mutter bis an die
Grenze der eigenen Existenz reicht, wobei sich u. a. die Frage
stellt: Warum ist das Kind getötet worden, und nicht ich? Kann
und darf ich noch überleben?
Picasso hat in 14 Bildern die Verzweiflung am Motiv »Fliehen-
de Frau mit totem Kind« dargestellt, wobei er weniger die Beto-
nung auf den Gesichtsausdruck als vielmehr auf die Körperhal-
tung, die Körperbewegung und Gestik legte, um die Angst, Furcht
und Verzweiflung auszudrücken. In etwa 40 weiteren Bildern hat
sich Picasso auf das Gesicht einer Frau – ohne Hinweis auf den
Tod des Kindes und dessen Ursache – beschränkt, wobei er in
vielen Variationen die Verzweiflung, die Trauer und Angst sowie
die Klage zum Ausdruck bringt. In drei weiteren Bildern versucht
Picasso mit einer einzigen Geste, die er verschiedenen Situatio-
nen zuordnet, Verzweiflung, Angst und Anklage wiederzugeben,
nämlich mit der Pathos-Formel: Das Gesicht gen Himmel gewen-
det und die Arme hilfesuchend erhoben.
Der vorliegende Aufsatz konzentriert sich vor allem auf die
von Picasso variierten physiognomischen Veränderungen von
Frauen in einer solchen verzweifelten Situation, die in dieser
Vielfalt und in dieser Zahl selbst für Picasso, der Serien liebte,
einmalig sind. Die Bilder werden hier in Abhängigkeit vom Zeit-
punkt der Entstehung auf einer Zeitschiene gruppiert wieder-
gegeben. Die Gruppierung ist dabei relativ grob, wobei etwa 13
Bildgruppen unterschieden wurden, auf Grund jeweils differenter
Techniken und / oder Strukturierungen und / oder Farben.
MALTECHNIKEN: Picasso verwendet nahezu alle Techniken, die
ihm zur Verfügung stehen. Überwiegend erstellt er Zeichnungen
auf Papier mit Bleistift, Tinte, Farbstift, Kreide und Gouache. Da-
88
neben ist ein großer Anteil der Bilder mit Ölfarbe auf Leinwand
gemalt (Abb. 7d; 17e, d; 18b; 22b; 23a–d; 25a, b; 26). in Einzel-
fällen handelt es sich um Radierungen und Kaltnadel-Grafiken
(Abb. 9; 14a; 19b, c bzw. 19d; 20b), sowie um Ritzungen auf entwi-
ckeltem Filmmaterial (Abb. 20a, 24). Eine fragliche Skulptur steht
zur Diskussion (Abb. 28). Der größte Teil der Bilder ist in schwarz-
weiß wiedergegeben, was sich bei dem Thema anbietet und u. a.
Assoziationen mit dem Wandgemälde Guernica weckt. Auffällig ist
das Gesicht in Abbildung 25a, das eine drastische, schreiende
Farbigkeit aufweist und, wie auch die Schwarzweiß-Kontraste, die
extreme Situation dieser Frau verdeutlicht.
STILRICHTUNG: Der Kopf der Frauen ist überwiegend durch
eine lineare Umrisszeichnung im Profil dargestellt, wobei das
Gesicht eher flächenhaft wiedergegeben wird. Die Fläche be-
kommt eine gewisse Plastizität durch fleckförmige Grautöne, die
bis ins Schwarz reichen können, oder auch durch Farbflächen.
Nur der Mund ist in einer Vielzahl der Bilder räumlich ausge-
arbeitet. Überwiegend handelt es sich in allen Bildern um mehr
oder weniger deutliche Assoziationen mit dem analytisch-kubis-
tischen Stil Picassos. Eine Ausnahme bilden die zwei Zeichnun-
gen in Abbildung 22, die durchgehend plastisch ausgearbeitet
wurden, wodurch die Gesichter den Eindruck eines Bergmassivs
erwecken.
BILDHINTERGRUND: Der Hintergrund der Bilder ist überwie-
gend homogen weiß und nur in Einzelfällen homogen schwarz
(Abb. 15c; 16a–c; 17c, d; 18b; 19b, c; 20c; 22b; 23b; 26) bzw. halb
schwarz, halb weiß (Abb. 17c). In weiteren Fällen ist der Hinter-
grund homogen farbig (orange – Abb. 11a, blau – Abb. 15b, violett
– Abb. 23c, gelb – Abb. 23d, rosa – Abb. 25b). Nur in wenigen Ein-
89
zelfällen sind auch im Hintergrund Details ausgearbeitet: In Ab-
bildung 12c und 13a ein brennendes Haus, in Abbildung 24 ein
Haus mit Fenster, eine hilfesuchende Hand gen Himmel gestreckt
(Abb. 13a, 14a). In einzelnen Bildern ist der Frauenkopf in einen
Kasten verbannt (Abb. 19b, d, 20a, 21c, d) bzw. vor eine orange-
farbene Bretterwand gestellt (Abb. 25a). Die schwarze Hinter-
grundfärbung verdeutlicht die Hoffnungslosigkeit der Situation
dieser Frauen. Die farbigen Hintergründe sind nur in Verbindung
mit der Färbung der Gesichter zu verstehen und wurden bereits
im Teil Paraphrasen interpretiert. Die Struktur-Zeichnungen im
Hintergrund gehen offenbar zurück auf die Ausgangssituation
der Bildserie: Flucht aus einem brennenden Haus. Demgegen-
über basiert die Darstellung eines Kastens um den Kopf der Frau
auf einer neuen Bildidee. Er dient als Hinweis auf die extreme
gedankliche und emotionale Einschränkung der Personen durch
das Schicksal ›wie in einem Gefängnis‹.
PROFIL- UND BLICKRICHTUNG: Alle Frauengesichter sind jeweils
in doppelter Ansicht wiedergegeben, wie sie Picasso-typisch ist:
Im Profil und frontal gleichermaßen. Dominierend ist jedoch im-
mer das Profil, das durch die Lokalisation von Nase und Mund
bestimmt wird, obgleich die Pupillen auch eine andere Richtung
des Blickes annehmen lassen müssen. Die Mehrzahl der Frauen-
köpfe ist nach links orientiert (24 mal), was offenbar auch die
Richtung der Flucht ist, wie sie in den Zeichnungen Fliehende
Frau mit totem Kind und in Guernica von Picasso dargestellt wurde
(Abb. 6a–c; 7a–c). Bezieht man die Richtung des Blickes mit ein,
dann kommt der Blick nach oben (sowohl nach rechts wie auch
nach links) in insgesamt 27 Bildern am häufigsten vor. Diese
Blickrichtung assoziiert den Bombenangriff auf Guernica eben-
90
so wie die Unendlichkeit des Universums, das am Ende das fatale
Geschehen zu verantworten hat.
KOPFBEDECKUNG: Es handelt sich ausschließlich um eine spa-
nische Mantilla, die hin und wieder dargestellt wird und Assozia-
tionen an den Spanischen Bürgerkrieg erlaubt. Sie ist erkennbar
auf Abbildung 10 in schwarz (Fliehende Frau mit totem Kind) und
erscheint in Abbildung 18b in orange-gelber Farbe, in Abbildung
23a pinkfarben, in Abbildung 24 in schwarz und in Abbildung
25b orangefarben. Schließlich trägt die Frau im Abschlussbild
(Abb. 25a) eine grellfarbige Kopfbedeckung in Form eines roten
Hutes mit blauer Blume, offenbar um die Absurdität zwischen
dem (gedachten) tödlichen Hintergrundgeschehen und der noch
vorhandenen Vitalität der leidenden Frau zu demonstrieren.
HAARE: Die Haare sind überwiegend geordnet und werden
kaum als Ausdrucksträger genutzt. Nur in zwei Bildgruppen spie-
len sie eine Rolle. In Abbildung 12 sind sie Ausdruck einer ex-
tremen psychischen Verwirrung, die in den Bildern 12a und b
besonders ausgeprägt ist. Dieses Motiv findet sich auch in Abbil-
dung 14a. Im Gegensatz zu diesen Bildergruppen ist der Kopf in
den vier Bildern der Ziffer 13 nur spärlich mit Haaren bedeckt,
wobei jedes Einzelhaar voluminös und spitz zulaufend dargestellt
ist und wie der (nicht sehr stabile) Stachel eines Igels imponiert.
Sie haben möglicherweise eine aggressive Tendenz, aber könn-
ten eine Metapher des Verlustes sein: Der Haarbesatz ist extrem
minimiert.
STIRN: Strichförmige, sich überschneidende, gerade verlau-
fende Linien kennzeichnen Stirnfalten und sind als zusätzliche
Struktur in etlichen Frauengesichtern erkennbar (Abb. 11b, c;
12a, c; 15c; 16a; 17a–d; 18a, b; 23c, d). Sie verdeutlichen die
91
Ernsthaftigkeit der Situation und entsprechen oftmals auch der
realen mimischen Veränderung einer tatsächlich verzweifelten
Person.
NASE: Die Nase wird von Picasso nur in Einzelfällen als ein
kompetenter Ausdrucksträger angesehen. Überwiegend ist sie,
wie schon erwähnt, in seitlicher Ansicht im Profil dargestellt
und mit zwei kommaförmigen Nasenöffnungen versehen. Nur in
4 Bildern ist auch die Nase auffällig: In Abbildung 12a und 22
ist sie auf überdimensionierte Größe geschwollen und wirkt na-
hezu wie Pferdenüstern, eine Formveränderung, die auch häufig
in der realen Situation einer weinenden Person zu beobachten
ist. In Abbildung 16c ist die Nase ausgesprochen spitz zulaufend
und wirkt zusammen mit den sichtbaren Zähnen ausgesprochen
aggressiv. In Abbildung 16b ist die Nase rüsselförmig dargestellt
und erscheint – zusammen mit den übrigen schwarz-weißen Ge-
sichtsstrukturen – ebenso aggressiv.
AUGEN: Die Augen müssen zusammen mit dem Mund als we-
sentlichste Ausdrucksträger der gesamten Bildserie angesehen
werden. Entsprechend den unterschiedlichen anatomischen
Strukturen sollen die Variationen hier aufgeführt werden.
AUGENBRAUEN: Wenn Augenbrauen vorhanden sind, werden
diese dem jeweiligen Auge zugeordnet. Sie sind überwiegend
bogenförmig, wobei der Bogen zumeist in Gegenrichtung zur
Augenrundung verläuft (Abb. 11c; 12c, d; 13a–d; 15; 16a; 17; 18;
19–25). Hin und wieder sind sie winkelförmig mit zwei linearen
Schenkeln versehen (Abb. 12a, b), teilweise haben sie die Form
von Vogelfedern (Abb. 13a–c, 15) und deuten damit die haarige
Struktur an.
WIMPERN: Sie sind durch feinste radiäre Striche zirkulär um
92
das Auge herum angeordnet, wobei sie teils gleichmäßig verteilt,
teils in kleinen Gruppen (Abb. 12, 17) sortiert werden. Auffällig
und einmalig sind die Gesichter der Abbildung 13, in der die
Wimpern fächerförmig wiedergegeben wurden.
AUGÄPFEl: Zu Beginn der Serie sind die Augäpfel ausschließ-
lich linear begrenzt. Sie werden tropfenförmig, beinah bohnen-
förmig gebogen dargestellt. Die Augäpfel liegen überwiegend
dicht beieinander und gehen teilweise auch ineinander über.
Es fallen allerdings die Bilder auf, in denen die Augen weit aus-
einander stehen (Abb. 12a; 15; 18a; 20b; 23; 26). Hier wird der
Eindruck einer besonders ausgeprägten Hilflosigkeit erzeugt. In
den vier Zeichnungen der Abbildung 13 sind die Augäpfel spi-
ralig wiedergegeben, wie wenn sie aus dem Kopf heraus gedreht
worden wären. Das hier verdeutlichte Phänomen der Isolierung
der Aug äpfel wird im weiteren Serienverlauf wieder aufgegrif-
fen, wenn die Augäpfel wie in Schiffchen schwimmend darge-
stellt werden (Abb. 19; 20; 22; 23a, b; 24; 25). Im Hintergrund
mag die Idee gestanden haben, dass die Augen vom Tränenmeer
mitgeschwemmt werden. Eine Sonderform nimmt schließlich die
Darstellung in Abbildung 26 ein. Hier sind die Augäpfel wie Spie-
geleier dargestellt und liegen flach der Kopfhaut auf, wirken in
dieser Lokalisation allerdings eher komisch.
PUPILLEN: Überwiegend sind die Pupillen rund und schwarz,
teilweise auch nur punktförmig. Sie wurden in den ersten Bildern
auch schmetterlingsartig verformt dargestellt (Abb. 11c, 12a),
später jedoch überwiegend sternförmig in Form von sich über-
kreuzenden Linien (Abb. 15c; 16a, c; 17; 18; 19; 20), die jedoch
teilweise so dunkel wirken, dass der Eindruck eines ausgestanz-
ten schwarzen Lochs entsteht.
93
TRÄNENSPUREN: Die Tränenspuren scheinen teilweise zierlich,
dargestellt in Form von feinen Linien, die über die Wangen lau-
fen (Abb. 11b; 14a; 15; 25b), teilweise aber auch grob wie Kerben
oder Falten im Gesicht (Abb. 12a, c; 16a; 17; 18; 20; 24; 25a). Sie
sind teils gradlinig (Abb. 15c; 16a; 17; 18; 26), teils bogenförmig
(Abb. 12; 14a; 25a), teils wellenförmig sich überkreuzend (Abb. 14a,
25b), teils aber auch kaskadengleich über die Gesichtswölbungen
fließend (Abb. 19; 22; 23a, b; 24). In jedem Fall durchsetzen sie
das Gesicht, teilweise fragmentieren sie es, was eine Destruktion
der normalen Gesichtsanatomie zur Folge hat, die den psychi-
schen Zustand der betroffenen Frau wiederzugeben scheint.
MUND UND TRÄNENTUCH: Während Kopf und Gesicht überwie-
gend flächig dargestellt wurden, ist der Mund im Großteil der
Bilder plastisch geformt, so dass die Mundhöhle als Höhle sicht-
bar wird. Der Mund ist in den ersten Zeichnungen schreiend
geöffnet mit herausgestreckter, teils spitzer, teils abgerundeter
Zunge (Abb. 11; 12; 13; 14a; 16a), wobei die Zähne zwar überwie-
gend sichtbar sind, ihnen aber überwiegend keine wesentliche
Bedeutung zugemessen wird. Ausschließlich in drei Zeichnungen
sind sie als Indikator einer – allerdings sehr massiven – Aggressi-
on eingesetzt (Abb. 12a; 16b, c). In der weiteren Entwicklung der
Bildserie ist der Mund halb geschlossen, der Mundwinkel im Pro-
fil abgerundet und die Lippen leicht aufgeworfen, ein Phänomen,
das dem realen Weinen entspricht.
Die Zunge ist in den ersten Bildern spitz zulaufend, wie sie
auch im Gemälde Guernica dargestellt wurde, und stellt das In-
diz einer extremen Klage und Anklage dar. In der weiteren Seri-
enentwicklung entsteht der Eindruck des Erbrechens durch den
offenen Mund und die herausgestreckte Zunge. Zunehmend aber
94
stellt Picasso neben den offenbar laut schreienden Frauen auch
einen anderen Typus der verzweifelten Frau dar, der in sich ge-
kehrt ist, still weint und hilflos dem Schicksal ausgesetzt zu sein
scheint (Abb. 14b, 15). Dieser Charakter der Verzweiflung wird
fortgesetzt mit Einführung des Tränentuchs (Abb. 17; 18; 19; 22b;
23b–d). Auch diese Frauen schreien ihre Not nicht aus sich he-
raus, sondern leiden unter dem Schmerz, den sie nicht lindern
können. Schließlich führt Picasso das verzweifelte Beißen auf ein
Taschentuch als neues Motiv ein, das einerseits das Schreien er-
setzt und die innere Vitalität der Frauen demonstriert, anderer-
seits aber auch das ›In-sich-Hineinfressen‹ des Schmerzes zeigt
(Abb. 19b-d; 20; 25; 26). Es demonstriert eine offenbar ›verbisse-
ne‹ Aggressivität.
HAND BZW. HÄNDE: Mit der Einführung des Tuches als neu-
es Motiv musste Picasso auch die Hand als Tuchhalter etablie-
ren. Schon früher war die Hand bereits zweimal als Nebenmotiv
aufgetreten: in Abbildung 13a als Hintergrundmotiv und in der
Radierung zu Traum und Lüge Francos (Abb. 14a). In diesem Zusam-
menhang hatte die Hand jeweils die Bedeutung der Pathosformel.
Mit Einführung des »Tuch«-Motivs wurde die Hand regelmäßig
wiedergegeben, teils sichtbar und teils hinter dem Tuch versteckt.
Deutlich erkennbar werden Hände in den Abbildungen 17, 22b,
23a–d, 25 und 26. Eine eigene Bedeutung ist der Hand aus-
schließlich in zwei Bildern zuzumessen. In Abbildung 17 macht
die Hand am unteren Bildrand den Eindruck einer Rinne, die
offenbar die Tränenflut aufzufangen versucht, und in Abbildung
23a wird die offene Hand in Richtung Betrachter gehalten, den
sie abzuweisen scheint, als würde die dargestellte Frau in diesem
Zustand nicht gesehen werden wollen.
95
Ikonografische Aspekte
Bei einem Künstler, dessen Leben wie bei Picasso nahezu von Ge-
burt an auf Zeichnen und Malen konzentriert war und der zudem
ein hervorragendes, wenn nicht eidetisches (visuelles) Gedächt-
nis hatte, ist es unvermeidbar, hinter jedem Sujet auch Bilder der
künstlerischen Vorgänger zu sehen. So wundert es nicht, dass
Picasso einerseits Bildserien erstellte, die als Paraphrasen von
Bildern anderer Künstler in die Kunstgeschichte eingegangen
sind (u. a. Velazquez: Las Meninas; Manet: Frühstück im Grünen; vgl.
auch Müller 2002b), andererseits aber auch, dass nahezu hin-
ter jedem Einzelwerk Picassos auch zahlreiche Vorgänger-Bilder
existieren, die eine Vorbildfunktion für Sujet, Struktur und / oder
Farbe darstellen (21). Bei nahezu jedem Werk Picassos ist somit
immer auch die Ikonografie der Kunstgeschichte inbegriffen bzw.
in jedem Fall mitzudenken (Cowling 2002).
Dabei mutet es jedoch seltsam an, dass die christliche Bildtra-
dition von Picasso nur ganz sporadisch und ausnahmsweise über-
nommen wird (22). Kein Zweifel besteht heute jedoch daran, dass
Picasso mit den Paraphrasen des Motivs »Gesicht der verzweifel-
ten Frau« die christliche Bildtradition der ›Klagenden Frau unter
dem Kreuz Christi‹ im Sinne einer profanen Version der ›Mater
dolorosa‹ (23) assoziiert hat. Mit Sicherheit hatte Picasso zu
diesem Zeitpunkt die Kreuzabnahme von Rogier van der Weyden
im Prado, die Pieta von Avignon von Enguerrand Quarton (1455)
im Louvre und den Isenheimer Altar von Matthias Grünewald in
Colmar gesehen (16). Erörtert werden als ikonografische Vorla-
gen außerdem folgende Werke: Giotto (1303–1310) – Fresken in
der Capella degli Scrovegni all‘Arena in Padua (24), Guido Reni
96
(1575–1642) – Der bethleheminische Kindermord (1611) in Bologna
(25) und Dürers Radierung Christi Beweinung (1506–26). An die-
ser Stelle soll nur auf ausgewählte Vorbilder eingegangen werden.
Rogier von der Weyden (1399–1464): Kreuzabnahme
Die Kreuzabnahme (Abb. 32a, b), die im Prado (Madrid) hängt,
wurde von Picasso sicher während seines Aufenthaltes in Madrid
gesehen. Der entkleidete Leib des gestorbenen Christus ist über-
wiegend quer gestellt. Rechts und links versammeln sich zahlrei-
che Figuren. Links erkennt man die in Ohnmacht zusammenge-
sunkene Maria, um die sich Johannes und eine Frau bemühen.
Marias Gesicht ist blass, wobei die Farbe des Gesichtes mit der
Farbe des Leibes Christi korrespondiert. Links außen oben er-
kennt man die weinende Maria Magdalena mit einem Taschen-
tuch, das ihre Nase und die Augen verdeckt. Tränen sind in den
Gesichtern von Maria, Maria Magdalena, Johannes und Josef von
Arimathäa sichtbar. Bei aller gedrängten Theatralik besteht je-
doch eine kühle Distanz, die im extremen Gegensatz zur Betrof-
fenheit steht. Speziell aber das weinende Gesicht mit Taschen-
tuch von Maria Magdalena (Abb. 32b) lässt auch an die »Verzwei-
felte Frau« bei Picasso denken.
97
Ab
bb
ild
un
g 3
2
98
Grünewald: Isenheimer Altar (1515); Magdalenas Klage (undat.)
Da Picasso 1932 Colmar besucht hatte und anschließend zeich-
nerische Paraphrasen der Kreuzigung erstellte, besteht kein
Zweifel: Er kannte und schätzte diesen Altar offenbar sehr. Er
zeichnete u. a. Maria Magdalena, die links vom Kreuz mit offenem
Mund und verknoteten Händen kniet (Abb. 33a, b). Im Zusam-
menhang mit der Bildserie »Verzweifelte Frau« wurde bisher Grü-
newalds Altarbild Magdalenas Klage (1515) nicht erwähnt. Es zeigt
als zentrales Motiv das Bild einer verzweifelten Frau, während die
Kreuzigung Christi eher randständig und wie zur Begründung
der Verzweiflung der Frau dargestellt ist (Abb. 33c, d). Es wäre
erstaunlich, wenn dieses extrem eindrucksvolle Bild mit dem
schmerzverzerrten Gesicht Magdalenas Picasso unbekannt ge-
blieben sein sollte, zumal diese Kopie des großformatigen Gemäl-
des erst 1920 unter fast spektakulären Umständen entdeckt und
bekannt wurde. Der gekreuzigte Christus wird dezentral in
Schrägstellung von hinten wiedergegeben, ohne sichtbares Ge-
sicht, nur der brutal überzeichnete, deformierte (verletzte) Kör-
per und eine überdimensionierten Leiter werden sichtbar. Maria
Magdalena wird demgegenüber mit einem ins Hässliche gestei-
gerten, höchst expressiven mimischen wie gestischen Ausdruck
wiedergegeben.
99
Abbbildung 33
100
Spanien: Marienverehrung
Vor allem in Südspanien spielt die Jungfrau Maria gemäß der spa-
nisch-christlichen Bildtradition eine besondere Rolle. Bei den
Karfreitag-Prozessionen, die regelmäßig bis zum heutigen Tag
stattfinden, wird ein Bild von Maria, oder aber – häufiger – eine
Marienfigur durch die Straßen der Stadt getragen. Chipp (28)
konnte speziell auf die Virgin de la Macarena (1658) in Sevilla von
Pedro de Mena verweisen. Die Tränen sind als Glasperlen auf der
Fotografie auch deutlich sichtbar (Abb. 34a). In Malaga, dem Ge-
burtsort Picassos, existierte während seiner Jugendzeit eine ver-
gleichbare farbige Holzskulptur desselben Künstlers, die jedoch
verbrannt ist. Russell (29) konnte eine ähnliche Figur dieses
Künstlers ausfindig machen (Abb. 34b). Aufgrund einer Zeich-
nung Picassos aus dem Jahre 1959, auf die bereits oben hingewie-
sen wurde (Abb. 30b), besteht zudem auch kein Zweifel daran,
dass Picasso das Marienmotiv kannte und als Topos benutzte. Zu
den spanisch-christlichen Motiven gehört auch das »Tränen-
tuch« (30), das – wie Weisner (31) vermittelt – durch einen Fin-
gerring gezogen über der Hand hängend eine Tradition in Spani-
en ist.
Francisco Goya: Los Desastres de la Guerra (1810)
Goyas Radierserie Los Desastres de la Guerra (1810 ff) schildert
Kriegsszenen in allen nur denkbaren Schrecken, u. a. den Überfall
auf wehrlose Frauen und Kinder, Vergewaltigungen, Verstümme-
lungen, Hinrichtungen durch Erhängen bzw. Erdrosseln, Erste-
101
Abbbildung 34
102
chen, Massenhinrichtungen durch Erschießen, Leichenfledderer
usw. Es werden keine Individuen als Täter oder Opfer dargestellt,
vielmehr beschreibt Goya eine kollektive Tragödie.
Goya lässt sich als Vorbild dieser dramatischen Bildserie bei
Picasso nicht wegdenken. Zwar sind keine gesonderten Gesichts-
studien Goyas zur klagenden, verzweifelten Frau bekannt, aber
die Radierungen zum Spanisch-Französischen Krieg stellen al-
lein und für sich genommen bereits eine totale Trauer, eine Klage
und Anklage – nicht nur von Frauen – in ihrer hoffnungslosen
Verzweiflung dar und haben allein aus diesem Grund eine Vor-
bildfunktion. Details zu diesem Thema finden sich auf nahezu
jeder Radierung, z. B. die Pathosformel (Detail aus der Radierung
Nr. 41; Abb. 34c).
Eisenstein: Panzerkreuzer Poternkin (1925)
Einfluss auf Picasso dürften jedoch auch aktuellere Ereignisse
genommen haben. Neben Pressemitteilungen und Pressefotos
über die Bombardierung von Guernica und ihre Folgen könnte
auch eine Sequenz aus dem Film Panzerkreuzer Potemkin von Sergej
Michailowitsch Eisenstein eine Inspiration gewesen sein, auf die
bereits wiederholt verwiesen wurde (32). In einer langen Einstel-
lung wird der Schrecken und das Entsetzen einer Mutter darge-
stellt, deren Kind sich im Kinderwagen ihrer Kontrolle entzog
und im Chaos der Revolte unaufhaltsam und mit zunehmender
Geschwindigkeit die Riesentreppe von Odessas Hafen hinabrollt.
Die Einstellung zeigt das hilflose und verzweifelte Klagen dieser
Frau (Abb. 34d), die ihr totes Kind den die Treppe heruntermar-
103
schierenden zaristischen Truppen entgegenträgt. Die Soldaten
schießen ungezielt in die auf der Treppe befindlichen revoluti-
onären Massen der Bevölkerung und die Frau bricht schließlich
unter den Schüssen der Konterrevolutionäre zusammen. Der
Kopf der klagenden Mutter, die in Großaufnahme sekundenlang
den Mund zum Schrei geöffnet hält, ist von einer Mantille um-
hüllt. Diese Assoziation ist naheliegend, da auch im Spanischen
Bürgerkrieg die russischen Revolutionäre auf Seiten der Republi-
kaner gegen die Faschisten kämpften. Picasso war ein begeister-
ter Filmbesucher, weswegen anzunehmen ist, dass er diesen Film
kannte.
Juan Miró: Der Schnitter (1937)
Es sei ferner auf den möglichen Einfluss auch eines zeitgenös-
sischen Malers verwiesen. Der in Paris lebende Spanier Juan
Miró hatte ebenso wie Picasso einen Auftrag zur Erstellung eines
Wandgemäldes auf der Pariser Weltausstellung und zeigte im spa-
nischen Pavillon 1937 ein großes Bild mit dem Titel Der Schnitter
(550 × 365 cm groß, Abb. 34e), das offenbar verlorengegangen ist.
Die zentrale Figur eines Mannes mit Sense auf diesem surrea-
listisch beeinflussten Bild ist mit drei lanzettförmigen Zungen
versehen, ein Topos, das sich bei einzelnen verzweifelten Frauen
in der Serie »Verzweifelte Frau« sowie dem sterbenden Pferd in
Guernica (vgl. Abb. 11b–d) bei Picasso wiederfindet.
104
Ferrer de Morgado: Madrid 1937
Für den spanischen Pavillon in Paris fand zusätzlich eine
Kunstausschreibung statt. Es sollte der Widerstandswille des
spanischen Volkes und das Leid der Bevölkerung durch den fa-
schistischen Bombenterror dargestellt werden, wie Ullmann (33)
beschreibt. Das damals am meisten beachtete Werk stammt von
Ferrer de Morgado mit dem Titel Madrid 1937 (Abb. 34f). Im Vor-
dergrund ist eine Fliehende zu sehen, im Hintergrund findet sich
eine Mutter mit Kind. Es muss als wahrscheinlich angesehen wer-
den, dass Picasso auch dieses Bild kannte.
Biografischer Hintergrund
Ein biografischer Hintergrund wird der Werkgruppe »Verzweifelte
Frau« von nahezu allen Autoren, die sich mit Picassos Biografie
befassen, zugrunde gelegt, wobei sich fast alle einig sind, dass
Dora Maar als Modell der »Verzweifelten Frau« fungierte, eine der
zwei Geliebten Picassos im Jahre 1937. So stellen u. a. zwei neuere
Biografien bereits im Titel fest, Dora Maar und die »Weinende«
seien identisch (34). Tatsächlich wird im gesamten Schrifttum
durchgehend die Bemerkung Picassos gegenüber Françoise Gi-
lot (35) über Dora Maar zitiert:
»Ich konnte kein Bild von ihr malen, auf dem sie lacht. Für
mich ist sie immer die weinende Frau. Vor Jahren habe ich sie in
verzerrten Formen gemalt, nicht aus Sadismus und auch nicht
mit Vergnügen, sondern nur einer Vision folgend.« Ähnlich zi-
tiert auch Malraux Picasso (36): »Für mich ist Dora immer eine
105
weinende Frau gewesen. Gut. Eines Tages konnte ich sie schaf-
fen ... Ich konnte sie schaffen. Das ist alles. Das ist wichtig, weil
Frauen Leidensmaschinen sind. Wie bei Guernica. Gar nicht
lange nach Guernica. Man darf nicht zu genau wissen, was man
macht.«
Mit diesen Feststellungen werden weitere Aussagen Picassos
bestätigt: »Mein Werk gleicht einem Tagebuch ... es ist sogar als
Tagebuch datiert« (37) bzw. »Ich male, wie andere ihre Autobio-
grafie schreiben. Bilder, ob fertig oder nicht, sind Seiten mei-
nes Tagebuchs und als solche haben sie Bedeutung« (38). Gedo
(1980) gibt ihrer Dissertationsarbeit sogar den Titel Picasso. Art
as Autobiography, in der sie zahlreiche Beispiele von bildlichen
Darstellungen Picassos auf Grund privater und öffentlicher Er-
eignisse, teils mit psychologischem Einfühlungsvermögen, teils
auch psychoanalytisch interpretierend wiedergibt.
Spies (30) weist darauf hin, dass Picasso wiederholt die Hys-
terie Olgas, die biomorph vegetative Passivität Marie-Thérèse Wal-
ters und schließlich die intellektuelle Eckigkeit und Sprödigkeit
der Dora Maar formal dargestellt hat, wobei die Identität nicht
aufgrund der physiognomischen Ähnlichkeit erkennbar wurde,
sondern mit Hilfe psychischer Konstanten (Abb. 35 u. 36). Picas-
so findet für Marie-Thérèse Walter und Dora Maar in den Jahren
1936/37 analoge Bildlösungen: Besonders für die Darstellung von
Dora Maar nutzt Picasso eine kantig-aggressive Bildsyntax, wobei
diese beinahe vexierbildhaften Deformationen Verweisfunktion
auf die psychische Disposition der Geliebten besitzt (39).
Ausschließlich Josep Palau i Fabre (2011) geht von einem
anderen Aspekt aus. Er vergleicht das Profil von Marie-Thérèse
Walter mit dem Profil der »Verzweifelten Frau« auf den meisten
106
Abbbildung 35
Abbbildung 36
108
der Bilder und sieht überwiegend einen gradlinigen Übergang
von Stirn zur Nase, wie ihn charakteristischerweise Picasso bei
eindeutigen Portraits von Marie-Thérèse Walter gemalt hat. Er
vermutet daher, dass nicht Dora Maar Modell saß, sondern Ma-
rie-Thérèse Walter. Dabei weist er zusätzlich darauf hin, dass Pi-
casso bereits im Jahre 1928 ein Profil von Marie-Thérèse Walter
gemalt hatte, auf dem sie mit der Hand ein Taschentuch an den
Mund hält (Abb. 36d, e), aber weder weint noch verzweifelt ist.
Als Beispiel für die Einbeziehung der eigenen Emotionen und
Biografie in sein Werk mag u. a. das Selbstportrait mit Monster
(1929; Bild 37a) gelten, dem möglicherweise eine Auseinander-
setzung mit seiner Ehefrau, Olga Khokhlova, vorausgegangen war.
Als Beispiel hierfür könnte auch die Zeichnung Mann hält ein
Pferd (Abb. 37c, d) vom 23. Oktober 1937 gelten, die zeitlich der
Serie »Verzweifelte Frau« zuzuordnen wäre. Ein Mann steht inner-
halb einer Stierkampfarena und kommuniziert rufend nach links,
hält in der rechten Hand eine Peitsche und mit der linken Hand
ein Pferd, offenbar eine alte Mähre. Der Kopf des Mannes ist zwi-
schen zwei Frauengesichtern gezeichnet, die sich beide offenbar
hinter einer Barriere befinden, links vom Männerkopf ein schö-
nes, symmetrisches und ausgeglichenes Gesicht und rechts ein
weinendes, hässliches Gesicht. Es ist davon auszugehen, dass Pi-
casso hier seine eigene Situation schildert: er selbst zwischen
seinen zwei Geliebten – links Marie-Thérèse Walter, rechts Dora
Maar mit weinendem Gesicht. Das widerspenstige Pferd (bei Pi-
casso ein Code für ›Frau‹ – s. Penrose 1973) wäre dann offenbar
Olga zuzuordnen.
Ferner nahm Picasso im Jahr 1946 eine Überblendung der Ra-
dierung einer »Verzweifelte Frau« mit einem Portrait von Françoi-
109
Abbbildung 37
110
se Gilot vor (Bild 37b), als die Trennung von Dora Maar real
wurde und Picasso mit seiner neuen Geliebten Françoise Gilot
zusammenlebte (32). Auf dieser Radierung wurde die »Verzwei-
felte Frau« (also Dora Maar) um 180 Grad gedreht, d. h. auf den
Kopf gestellt, während das Angesicht von Françoise Gilot richtig
herum wiedergegeben wurde, wodurch Picasso – gleichsam me-
taphorisch – seine biografische Veränderung beschreibt.
Wenn aber Picasso Dora Maars Gesicht als verzweifelte dar-
stellt, fragt man sich warum, zumal er zur gleichen Zeit Portraits
von ihr erstellt, die sie mit sanfter Melancholie in den Farben
rot und gelb wiedergeben, d. h. in den spanischen Nationalfar-
ben (Abb. 35a). Hierzu gibt allenfalls die oben zitierte Äußerung
Picassos eine Antwort (40). Andererseits aber ist Daix (41) zuzu-
stimmen, der feststellt, dass Picasso mit der um 26 Jahre jünge-
ren Dora Maar eine zweite Jugend erlebt haben muss, wenn man
die frohen Farben ihrer übrigen Portraits betrachtet (Abb. 35b),
»als wollten sie auf das Rot ihrer langen gemalten Fingernägel
antworten und mit dem Lied des Lebens den Tumult der Massen
übertönen. Dora Maar ist das lebendige Leben, das starke Glück,
vor einem Hintergrund der Angst.« Dora Maar wird immer wieder
mit Optimismus, Energie und Zärtlichkeit dargestellt (Abb. 35c),
aber auch mit stolzer Distanz und Zurückhaltung. Eine typische
Charakterstudie Picassos wird auch in Abbildung 36d erkennbar,
die vor allem im Vergleich mit dem am gleichen Tag fertiggestell-
ten Gemälde von Marie-Thérèse Walter (Abb. 36c) die charak-
terologischen Unterschiede bewusst verdeutlicht. Im Vergleich
zu Marie-Thérèse Walters Bild ist der Gesamteindruck dunkel,
spitze Formen überwiegen. Dora Maar fixiert den Maler bzw. Be-
trachter mit wachen Augen, während der Blick von Marie-Thérèse
111
Walter träumerisch und in sich gekehrt wirkt. Dora Maar trägt
ein kompliziertes Kleid und einen auffälligen Hut im Vergleich
zum schlichten Kleid und den glatten, unbehüteten Haaren von
Marie-Thérèse Walter. Regelrechte Spannungen zwischen Picasso
und Dora Maar bestanden offenbar zur damaligen Zeit nicht und
kamen erst in den Jahren 1942/43 auf, als Picasso Françoise Gilot
kennen lernte (42). Aber auch Dora Maar selbst verwahrte sich –
verständlicherweise – gegen das Axiom, sie sei die Weinende. Sie
sagt: »Alle Portraits von mir sind Lügen. Sie sind alle ›Picassos‹,
keines ist Dora Maar.« (43)
Fasst man die persönliche Beziehung zwischen Picasso und
Dora Maar zusammen, so lässt sich – trotz allem – kein plausibler
Grund erkennen, warum Dora Maar zum Vorbild für die Werk-
gruppe »Verzweifelte Frau« wurde. Allerdings ist auf den zahlrei-
chen Fotografien, die bei Caws (2000) bzw. Baldassari (2006)
wiedergegeben werden, Dora Maar kaum lächelnd oder gar la-
chend und mimisch eher starr wiedergegeben. Wir wissen aus
ihrer Biografie, dass sie trotz ihres jungen Alters von 26 Jahren
eine selbstbewusste, emanzipierte und bereits künstlerisch eta-
blierte Frau war. Sie beherrschte mehrere Sprachen, insbeson-
dere sprach sie auch fließend Spanisch. Sie war außerdem po-
litisch aktiv und engagiert und konnte Picasso mitunter in das
ihm fremde Metier der Fotografie einführen. Sicher ist ferner
davon auszugehen, dass sie Picasso in Diskussionen auch Paroli
bot. Andererseits mag sie sich durch Picassos übermenschliche
Vitalität zur Passivität gezwungen gesehen haben, was wiederum
ihn inspiriert haben dürfte, eigene Ängste und Spannungen in
ihrer Person gespiegelt zu sehen (45). Das sind allerdings nur
Spekulationen. In jedem Fall arbeitete Picasso zwischen Juni und
112
Oktober 1937 obsessiv an dem Motiv »Verzweifelte Frau« und war
offenbar inspiriert, u. a. durch Dora Maar.
Eine zweite biografische Ebene wäre die private Situation
Picassos im Jahre 1937, in der er zweifelsohne genügend Erfah-
rungen von Angst, Verzweiflung, Eifersucht, Zorn und Wut von
Frauen hatte gewinnen können. Zwar lebte er 1937 bereits zwei
Jahre von seiner Ehefrau Olga Khokhlova getrennt, aber sie wa-
ren nicht geschieden und offenbar hielten die Querelen mit ihr
an, während Picasso sich seit 1927 im Geheimen seiner sehr jun-
gen Geliebten Marie-Thérèse Walter widmete, die ihm im Jahre
1935 eine Tochter gebar. Dies veranlasste Olga dazu, aus dem
Haus Picasso auszuziehen. In den Jahren 1935/36 gewann Picas-
so als weitere Geliebte Dora Maar. Wie schon erwähnt, waren die
Gegensätze von Marie-Thérèse und Dora für Picasso wiederholt
Grundlage für ähnlich positionierte aber gegensätzliche Por-
traits (vgl. Abb. 35b mit 36b, sowie 35d mit 36c) sowie auch für
unterschiedliche (symbolische) Stillleben oder für die bildliche
Umsetzung von Stierkampf und Szenen mit Minotaurus. Dabei ist
Marie-Thérèse Walter immer positiv-erotisch-vital und ausglei-
chend besetzt, während Dora Maar eher fein und elegant, intelli-
gent und aktiv dargestellt wird.
Zweifelsohne bestand ein deutlicher Gegensatz zwischen den
zwei Geliebten Picassos, wie er auch von allen Zeitzeugen (siehe
auch die oben zitierte Aussage von Spies) bestätigt wird (vgl. 44).
Marie-Thérèse Walter war eine liebe, sanfte Frau, sehr weiblich
und von großer Schönheit – ganz Freude und Friede. Dora Maar
wurde hingegen als nervös, unruhig und verquält beschrieben.
Marie-Thérèse war unbeschwert; bei ihr konnte Pablo Picasso sei-
ne intellektuelle Existenz vergessen und seinen Instinkten folgen.
113
Mit Dora führte er ein Leben im Geist und in verbaler Auseinan-
dersetzung. Allerdings ist denkbar, dass wiederholt Differenzen
aufbrachen, wie sie im Roman von Avril (2002, S. 53) auch ge-
schildert werden.
Eine dritte biografische Ebene aber dürfte mindestens von
gleicher Bedeutung gewesen sein: der Bürgerkrieg in Spanien.
Dieser Krieg veranlasste Picasso erstmals zu zahlreichen politi-
schen und sozialen Aktivitäten. Dies beinhaltete politische Stel-
lungnahmen, zunächst in Form von Radierungen (Traum und Lüge
Francos) und Blättern, die er zugunsten republikanischer Flücht-
linge zu verkaufen beabsichtigte. Auch das Bild Guernica kam u. a.
im Zusammenhang mit den übrigen Exponaten im spanischen
Pavillon einem politischen Bekenntnis für die Republikaner
gleich. Schließlich erfolgten direkte finanzielle Zuwendungen
an spanische Flüchtlinge und – auch öffentliche – persönliche
Stellungnahmen (46): »In dem Wandgemälde ... und in meinen
gesamten neueren Arbeiten erkläre ich deutlich meine Abscheu
vor der militärischen Kaste, die Spanien in einem Ozean von
Schmerz und Tod ertränkt hat.« Die persönliche Anteilnahme am
Leid der spanischen Bevölkerung dürfte zweifelsohne ein wesent-
liches Motiv für die Werkgruppe gewesen sein, wobei besonders
das Topos ›Mater dolorosa‹ – wie auch die Corrida – als typisch
spanische Metapher verstanden werden muss. Hierzu passt die
Zeichnung Fischerfamilie am Strand (Abb. 27c), auf der u. a. eine
säkularisierte Pietà erkennbar sein kann. Zusätzlich wäre zu fra-
gen, inwieweit die politisch aktive Dora Maar auf rationaler Ebe-
ne Inspiration und Vorbild für die Werkgruppe »Verzweifelte Frau«
gewesen sein könnte.
114
Schlussfolgerung
Picassos malerische Intention
Während der zwanzigjährige Picasso in der Blauen Periode seine
Bildsprache an den Vorbildern seiner Zeit und deren Vorgängern
orientiert hatte, stand ihm 1937 mit 56 Jahren zwischenzeitlich
ein ungeheures Formen- und Farbrepertoire zur Verfügung, das
allerdings bis zum Jahre 1937 bei der Darstellung von Gefüh-
len – wenn überhaupt – eher eingeschränkt Anwendung fand.
Es beschränkte sich mehr oder weniger auf die Wiedergabe von
Hass, Hysterie und Aggression, vermied aber die Wiedergabe fei-
nerer menschlicher Gemütszustände wie Leid, Schmerz, Trauer,
Depression, Verzweiflung, Angst usw. Aufgeschreckt durch den
Spanischen Bürgerkrieg aber sah Picasso die Notwendigkeit der
Wiedergabe auch dieses emotionellen Spektrums.
Eindeutig festzustellen ist: Auch wenn Picasso in diesem Bild-
komplex ein halbes Jahr lang »Verzweiflung« als sein Hauptmo-
tiv ansah und er auch hinterher das ganze Bild- und Zeichen-
konvolut als untereinander verbunden – und zum Bild Guernica
zugehörig – verstanden wissen wollte, hatte er doch zu keinem
Zeitpunkt vor, hieraus eine eigene Serie zu entwickeln. Die ma-
lerischen Versuche erfolgten offenbar alle spontan aus innerem
Beweggrund und nicht in der Absicht einer Systematisierung.
Ullmann (47) fasst die nach Guernica entstandene Bildserie
»Verzweifelte Frau« folgendermaßen zusammen: »Die Serie doku-
mentiert den Variationsreichtum und die Aussagekraft des mit
dem Guernica-Motivkreis erarbeiteten bildnerischen Vokabulars
115
für Darstellungen menschlichen Leidens«. Dabei wird das zen-
trale »Guernica«-Motiv der verzweifelten Klage in Bildthemen
(»Fliehende Frau mit totem Kind« oder das »Gesicht einer verzwei-
felten Frau«) weiter verfolgt. Mit dem Thema »Verzweifelte Frau«
versucht Picasso, prägnante ideografische Kürzel für quälenden
psychischen Schmerz und panische Angst zu erfassen, mitunter
in Kombination mit einer signalartigen Farbigkeit. Dabei konzen-
trieren sich die Aussagen jeweils nur auf ein einzelnes Gesicht.
»Nie wieder erreichte Picasso eine emotionale Intensität auf
kleinen Kreideskizzen von Mutter und totem Kind wie zu diesem
Zeitpunkt, als er das Bild Guernica zu malen begann« (48).
Die »Verzweifelte Frau« ist nach Bernard Berndac (1987) im
Zusammenhang mit dem Wandgemälde Guernica aber auch das
Symbol der spanischen Frau während des Spanischen Bürger-
krieges (bzw. auch des ganzen spanischen Volkes, Gohr 1981)
zu verstehen. Das Gesicht der Frau ist der Ort der Zerrissenheit
und des Grauens, das ganz Spanien erfährt. Zugleich aber ist es
auch das Gesicht der von Picasso geliebten Frau Dora Maar, die
für ihn offenbar im besonderen Sinne die verzweifelte Frau dar-
stellte, nämlich als politisch bewusste, spanisch sprechende und
selbst künstlerisch tätige Gefährtin, die mit der Kunst und den
Gegenwartsproblemen, die Picasso seinerzeit verfolgten, über-
einstimmte. Außer Frage steht jedoch, dass Picasso niemals nur
eine bestimmte Frau als Motiv hatte.
Sicherlich stellte der Spanische Bürgerkrieg und das für ihn
substantiell gewordene Leiden des spanischen Volkes einschließ-
lich seiner Freunde und Verwandten eine zentrale Motivation
für Picasso dar, sich nahezu ein halbes Jahr lang monoman dem
Thema der »Verzweifelten Frau« zu widmen. Zudem war er aktuell
116
mit der Anfertigung eines Wandgemäldes für die Weltausstellung
beauftragt. Die Formensprache der Studien lässt die realistische
Anatomie weitgehend außer Acht und konzentriert sich nur auf
den emotionalen Ausdruck. Dieser führt nicht nur im übertrage-
nen Sinne zu einer Verwerfung und Zerstörung aller psychischen
und physischen Normen, sondern auch in der sichtbaren Realität
zu einer ›Normveränderung‹ des menschlichen Erscheinungsbil-
des. Das Gesicht wird deformiert, es wird destruiert und zerris-
sen, wie auch das innere Gleichgewicht der betroffenen Perso-
nen. Insofern ist die ›Destruktion‹, wie sie Picasso vornimmt, das
formale Äquivalent des inneren, psychischen Geschehens. Die
mit der Werkgruppe gewonnene bildnerische Sprache als eine
Metapher für Leid, Schmerz, Verzweiflung usw. ist ohne Zweifel
von zeitloser Gültigkeit und wird für Picasso in den folgenden
Jahren maßgebend und tragend bei Darstellungen menschlichen
Leides.
Bezogen auf die Intention der Destruktion jedoch, die die
Methode des Malprozesses Picassos darstellte, und die sich na-
turgemäß auch inhaltlich in der Bildserie wiederfindet, kann
zusätzlich festgestellt werden, dass diese Intention sogar einen
Aspekt der geistigen Realität des ganzen letzten Jahrhunderts
widerspiegelt. Sie ist dementsprechend nicht nur themenimma-
nent, sondern drückt eine globale Aussage von Picassos – und
unserer – Weltsicht (und Realität) aus. Picassos Bilder der »Ver-
zweifelten Frau« sind somit sicherlich auch Sinnbild der Leidens-
geschichte unserer Zeit.
117
Picassos emotionale Intention
Giotto hatte im 14. Jahrhundert versucht, den Menschen nicht
nur als Symbol des Menschseins mit nahezu genormter Mimik,
Gestik und Farbe darzustellen, sondern als Individuum mit un-
terschiedlichen Gefühlen und Regungen, d. h. er versuchte eine
Realität darzustellen, die in der Malerei bis dahin nicht exis-
tierte. So auch Picasso. Entsprechend Balzacs Novelle Novelle Le
Chef-d‘œuvre inconnu (1831), die Picasso hoch schätzte und mit
Zeichnungen versehen hatte, gilt auch für ihn das Axiom des Pro-
tagonisten: »Der Auftrag der Kunst besteht nicht darin, die Natur
nachzuahmen, sondern sie auszudrücken.« Picasso selbst stellte
fest (49): »Durch Kunst drücken wir unsere Vorstellung von dem
aus, was Natur nicht ist.« Er gibt ferner an – und propagiert da-
mit eine neue Sichtweise (50): »Jetzt wissen wir, dass Kunst nicht
Wahrheit ist. Kunst ist eine Lüge, die uns die Annäherung an die
Wahrheit ermöglicht, zumindest an die Wahrheit, die für uns er-
kennbar ist.« Und das bedeutet für Picasso (51): »Ein Bild ist die
Summe von Additionen. In meinem Fall ist ein Bild die Summe
von Destruktionen. Ich mache ein Bild – und dann zerstöre ich
es … Trotzdem ist am Ende nichts verloren.« Gestützt wird die-
se Stellungnahme, die allerdings ausschließlich den Malprozess
Picassos beschreibt, durch folgende Formulierung (52): »Ja, ich
fühle, dass mein Malen einen Kampf darstellt, wirklich im Sinne
einer Revolution.« Der Malprozess selber aber dürfte gleichzeitig
auch ausschlaggebend für den Betrachter sein, der sich an die
Maxime Picassos zu halten hat (53): »Kunst ist nicht die Nutzan-
wendung eines Schönheitskanons, sondern das, was Instinkt und
118
Gehirn über jeden Kanon hinaus fassen können.« Picasso änder-
te die Sichtweise grundsätzlich – wie Giotto seinerzeit.
Das Phänomen der monatelangen Wiederholung des gleichen
Themas ist als ein Zeichen der konzeptuellen Kunst zu werten, die
sich mehr für den Mechanismus der Schöpfung, für den Prozess
der Bildentstehung interessiert als für das Resultat. Für Picasso
bedeutet dies auch, dass er auf der Suche nach Vollkommenheit
war; eine Methode, durch die Erkundung der Vielheit der Stile
zur Wahrheit zu gelangen (55). »Wenn ich die Wahrheit in mei-
nen Bildern suche, kann ich hundert Bilder mit dieser Wahrheit
machen.«
Hinsichtlich der Darstellung von emotionellen Details mag
eines von Picassos kleinen Gemälden Aufschluss zur gedankli-
chen Intention geben, deren Datierung bisher unklar ist (56):
Weibliche Figur durch den Krieg in Spanien inspiriert (Abb. 38). Es
handelt sich um ein polemisches Sujet – ein politisches Propag-
andabild – mit direktem Bezug zum Bürgerkrieg. Dargestellt wird
das Portrait der Marquesa, einer christlichen Hure, die den mau-
rischen Soldaten, die ihrerseits die Jungfrau Maria verteidigen,
Geld zuwirft (57). Das Gemälde enthält folgenden Text im Hinter-
grund: »Bildnis der Marquesa, eines christlichen ›Arschlochs‹, das
maurischen Soldaten, den Beschützern der heiligen Jungfrau,
eine Münze zuwirft«. Mit diesem Bild sprach Picasso u. a. die Fi-
nanzierung der nationalistischen Armee durch die spanischen
Aristokraten und Finanziers an, die die islamischen Mauren dazu
brachten, die christliche Jungfrau Maria gegen das spanische
Volk zu verteidigen.
Baldassari (2006) interpretiert das ungewöhnliche Bild fol-
gendermaßen: Die Marquesa (Goyas Maya), die auf dem Balkon
119
Abbbildung 38
120
wie wild die spanische Fahne schwenkt, stellt unverwechselbar
die elegante, extravagante Dora Maar dar, die mit ihren krallenar-
tigen langen Fingernägeln die Wut und Ohnmacht des Künstlers
Picasso symbolisiert. Mit diesem Gemälde nimmt Dora Maar die
Position einer allgemeingültigen Allegorie an, in der Picasso sei-
ne Ängste und seine Zerrissenheit zum Ausdruck bringt.
Dieses Bild zeigt sicherlich keine verzweifelte Frau und gehört
schon gar nicht zur Werkgruppe »Verzweifelte Frau«, aber mit Si-
cherheit zum Komplex »Spanischer Bürgerkrieg«. Auch hier – wie
bei der »Verzweifelten Frau« – muss Dora Maar die Rolle eines
bildlichen Symbols übernehmen: Sie ist assoziiert mit der poli-
tischen Situation in Spanien. Baldassari (59) notiert, dass sich
Dora Maar aufgrund ihrer ausgeprägten künstlerischen Sensibi-
lität, ihrer Fähigkeit, mit Picasso mitzuleiden und ihrem offenbar
großem Engagement in politischen und sozialen Fragen geradezu
als ein Spiegel von Picassos Seelenqualen anbot.
Der Bildkomplex »Verzweifelte Frau« gibt demnach u. a. den zer-
rissenen emotionalen Zustand Picassos – und nicht Dora Maars –
wieder, der offenbar tatsächlich im Wesentlichen durch das Lei-
den und den Schrecken der Bevölkerung Spaniens während des
Spanischen Bürgerkrieges verursacht wurde. Es handelt sich so-
mit um seine eigene, auf die Physiognomie einer Frau (Dora Maar)
projizierte Stellungnahme zu den politischen Verhältnissen Spa-
niens, die er, offenbar mehr rational bestimmt, im Wandgemälde
Guernica sehr komplex realisiert hatte, und die er in einem zweiten
Anlauf eher emotional bestimmt in der Werkgruppe »Verzweifelte
Frau« variiert wiederholen konnte, jetzt allerdings eher eindimen-
sional auf die mimischen Veränderungen der Frau beschränkt.
In jedem Fall aber ist festzuhalten, dass oszillierend mit dieser
121
offenbar ebenso rational gesteuerten Absicht die aktuelle, pri-
vat-biografische Situation (die Beziehungen zu Dora Maar, Marie-
Thérèse Walter und Olga Khokhlova) einen zusätzlichen emotio-
nalen Impetus gegeben haben dürfte. Beeinflusst aber wurde Pi-
casso sicherlich auch durch den ikonografischen (und zusätzlich
biografischen) Hintergrund einer mit Spanien assoziierten ›Mater
dolorosa‹. Schließlich erprobte Picasso in unendlicher Vielfalt die
Darstellung des mimischen Ausdrucks menschlichen Leidens, der
für die bildliche Darstellung menschlicher Emotionen bei Picasso
tragend wurde. Es fand damit – wie anfangs festgestellt – in der
Geschichte der bildenden Kunst ein gestalterischer Umbruch bei
der visuellen Darstellung von Emotionen in der Physiognomie des
Menschen statt, den man vielleicht mit dem Umbruch im 13. Jahr-
hundert durch Giotto gleichsetzen könnte, der die Entwicklung
der Kunst im westlich abendländischen Kulturkreis bestimmte.
Dabei sollte davon ausgegangen werden, dass der wichtigste
Impuls, d. h. auch das ursprüngliche und tragende Element, ohne
Zweifel die Bombardierung von Guernica und der Spanische Bür-
gerkrieg war, den anzuklagen das primäre Ziel Picassos gewesen
sein dürfte. Die »Verzweifelte Frau« ist aber das Symbol auch des
eigenen Schmerzes, der eigenen Hilflosigkeit und Aggression
– nicht nur gegenüber den Verhältnissen in Spanien, sondern
auch gegenüber den persönlichen Verhältnissen, die weiterhin
bestehenden Klagen seiner Ehefrau Olga –, die er in die Bilder
projizierte. Die Bilder sind unabhängig von diesem Krieg und der
Bombardierung von Guernica verständlich und haben, wie das
große Wandgemälde, eine viel allgemeinere Aussage zum Ziel:
die Klage gegen die Grausamkeit und Unsinnigkeit eines jeden
Krieges.
122
Anmerkungen
1. Barr 1946, S. 195–206; Oppler 1987, S. 47 ff.; Chipp 1988,
S. 24–34; Ullmann 1993, S. 520, Anm. 260
2. Ullmann 1993, S. 45–58; v. Hensbergen 2004, S. 19–68;
Patterson 2007, S. 16–48
3. Spies 1968, S. 32
4. v. Hendbergen 2004, S. 76
5. Barr 1946, S. 206
6. Spies 1981, S. 20
7. Marcucci 1965, S. 631–648; Strauss 1972, S. 92
8. Daix und Boudaille 1966, S. 49
9. siehe PP 1901–3071
10. vgl. Caws 2002, S. 124; s.a. PP37–221–226
11. Freeman 1994, S. 72
12. Ullmann 1993, 5. 161
13. Ullmann 1993, S. 163
14. Gilot und Lake 1965, S. 51
15. Ullmann 1993, Abb. 169
16. Ullmann 1993, Abb. 167
17. Ullmann 1993, S. 177
18. Ullmann 1993, S. 148
19. Brassai 1966, S. 121
20. Spies 1981, S. 20f
21. Fundación Carlos de Amberes 1999/2000; Cowling E 2002;
Müller M, Hrsg 2002
22. Rombold G 1988, S. 96 ff.; Becht-Jördens G, Wehmeier PM
2003; Weisner U 1984
123
23. Ullmann 1993, S. 163
24. Russell1988, S. 127; Ullmann 1993, S. 172
25. Russell 1988
26. Blunt A 1969, S. 45; Ferrier JL 1977, S. 41
27. Cowling 2002, a.a.O., S. 599
28. Chipp 1988, S. 108
29. Russell 1988, S. 2830. Ullmann 1993, S. 151
31. Weisner 1991, S. 348, Anm. 98
32. Freeman 1994, S. 90 f.
33. Ullmann 1993, S. 99
34. Baldassari 2006, Förster T 2000
35. Gilot und Lake 1967, S. 121
36. Malraux 1975, S. 129
37. Richardson 1991, S. 15
38. Gilot und Lake 1967, S. 121
39. Spies 1992, S. 32
40. Müller M, 2004, S. 19
41. Sircoulomb-Müller, V-A 2002, S. 67
42. Ullmann 1993, S. 33
43. Gilot und Lake 1965, S. 225
44. Daix 1993, S. 171
45. Caws 2000, S. 120
46. Lord 1994, S. 105
47. Weisner 1984, S. 31
48. Förster 2002, S. 212
49. The New York Telegram, 21. 08. 1937, Reprint Oppler 1987,
5. 224 f.
50. Ullmann 1993, 5. 134
51. Chipp 1988, S. 108
124
52. Keel 1982, S. 87
53. De Zayas 1923
54. Zervos 1935, S. 173–176, Reprint: Oppler 1987, S. 224 f.
55. L‘Humanite 29./30. 10. 1944; Reprint: Oppler 1987, S. 250
56. Baldassari vermutet, dass das Bild am 19. Januar 1937 ge-
malt worden sei, an dem Tag, an dem der Geburtsort Pi-
cassos, Malaga, durch die Faschisten eingenommen wurde;
im Picasso Project (PP) wird hingegen der September 1937
angegeben.
57. Spies 1993, S. 17 f.
58. Permelin 1967, S. 41
59. Baldassari 2006, S. 16
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Jahrgang, chronologisch geordnet).
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130
Abbildungsverzeichnis
Zuordnung der Abbildungen in einem Gesamtverzeichnis bzw.
zu Originalveröffentlichungen (vgl. alphabetisches Literaturver-
zeichnis): Bloch I; Bloch IV; Caws; MP – Musée Picasso; PP –Pi-
casso Project; Ullmann
ABB. 1: Picasso – Guernica (06. 06. 1937) Öl auf Leinwand,
349,3 × 776,6 cm (PP37–155)
ABB. 2: Mutter mit Kind
(a) Giotto: Detail aus dem Fresco, Capella degli Scovegni
all’Arena in Padua (1303–1310)
(b) Picasso: Picassos Mutter mit Kind (1903) Pastel,
47,5 × 40,5 cm (PP1903–122)
ABB. 3: (a) Der Tanz (1925) Öl, Leinwand, 214,9 × 142,8 cm Über-
sicht (PP25–052)
(b) Der Tanz – Detail: zweifach dargestelltes Gesicht (im
Profil und frontal)
(c) Vergewaltigung (20. 01. 37) Bleistift, Papier,
21,5 × 27,5 cm (PP37–15)
ABB. 4: Picasso-Detail-Skizzen mit Variationen von Auge, Mund,
Tränentuch u. Kopf
ABB. 5: Picasso-Die Kreuzigung (07. 12. 30) Öl, Sperrholz,
50 × 65 cm (PP30–18)
131
(a) Mund, Augen (09/10. 10. 1936) Bleistift, Tinte,
27 × 21cm (PP36–81)
(b) Mund u. Augen (22. 01. 1937) Bleistift auf blauen
Papier, 27 × 21cm (PP37–15)
(c) Stierkopf, Augen, (20. 05. 1937) Bleistift und Gouache,
23,2 × 29 (PP37–128) (d) Augen, Tränentuch (24. 10. 1937)
Bleistift, Tinte, 25,5 × 17,9 cm (PP37–215)
(e) Augen, Tränentuch (25. 10. 1937) Bleistift, Tinte,
20,5 × 16,6 (PP37–216)
ABB. 6: Picasso Studien – Mutter mit totem Kind (08.05 bis
10. 05. 1937)
(a) Komplettstudie zu Guernica, Bleistift, 24,1 × 45,7 cm
(08. 05. 1937) PP37–113
(b) Detail-Studie zu Guernica, Bleistift, 24 × 45,5 cm
(08. 05. 1937) PP37–114
(c) Detail-Studie zu Guernica, Bleistift, Tinte,
24 × 45,3 cm (09. 05. 1937) PP37–115
(d) Detail-Studie zu Guernica, Bleistift, 45,3 × 24 cm
(09. 05. 1937) PP37–117
(e) Detail-Studie zu Guernica, Bleistift, Kreide,
45,7 × 24,4 (10. 05. 1937) PP37–122
ABB. 7: Picasso – Das Drama: Mutter mit totem Kind (13.05 bis
22. 06. 1937)
(a) Bleistift, Kreide, 23,9 × 45,5 cm (13. 05. 1937) PP37–
126
(b) Bleistift, Kreide, Gouache, 23,1 × 29,2 (28. 05. 1937)
PP37–137
132
(c) Bleistift, Kreide, Gouache, Collage, 23,1 × 29,2 cm
(28. 05. 1937) PP37–138
(d) Öl, Leinwand, 55 × 46 cm (22. 06. 1937) PP37–163
ABB. 8: Picasso – Guernica – Mutter mit totem Kind – Detail
(11. 05. 37) (bereits fertig konzipiert im ersten fotogra-
fisch dokumentierten Zustand des Wandgemäldes)
ABB. 9: Picasso – Mutter mit totem Kind (26. 09. 1937) Öl, Lein-
wand, 130 × 195 cm (PP37–200)
ABB. 10: Picasso-Details aus der Radierung Traum und Lüge Fran-
cos (08. 06. 1937) (Bloch I, 297, 298)
(a) Flüchtende Frau mit totem Kind (9 × 14 cm)
(b) Tödlich verletzte Frau Mann mit zwei lebendigen
Säuglingen (9 × 14 cm)
(c) Tote Frau mit totem Kind (9 × 14 cm)
ABB. 11: Picasso – Bildgruppe 1 der »Verzweifelten Frau« (13.05
bis 28. 05. 1937)
(a) Bleistift, Kreide, 45,4 × 24 cm (13. 05. 1937) PP37–
124
(b) Bleistift, Gouache, 29 × 23,2 cm (20. 05. 1937) PP37–
131
(c) Bleistift, Gouache, 29,2 × 23,1cm (24. 05. 1937)
PP37–132
(d) Pferdekopf, Bleistift, 26,9 × 21cm (02. 05. 1937)
PP37–109
133
ABB. 12: Picasso – Bildgruppe 2 der »Verzweifelten Frau« (24.05.
bis 28. 05. 1937)
(a) Bleistift, Gouache, 29,2 × 23,2 (24. 05. 1937) PP37–
133
Bleistift, Gouache, 23,2 × 29,3 cm (27. 05. 1937) PP37–
135
(b) Klagender Mann, Bleistift, Gouache, 23,2 × 29,3 cm
(27. 05. 1937) PP37–136
Bleistift, Kreide, Gouache, 23,2 × 29,3 cm (28. 05. 1937)
PP37–139
ABB. 13: Picasso – Bildgruppe 3 der »Verzweifelten Frau« (31.05.
bis 03. 06. 1937)
(a) Bleistift, Kreide, Gouache, 23,2 × 29,3 cm
(31. 05. 1937) PP37–140
Bleistift, Kreide, Gouache, 23,2 × 29,3 cm (05. 06. 1937)
PP37–143
(b) Bleistift, Kreide, Gouache, 23,2 × 29,3 cm
(03. 06. 1937) PP37 142
(c) Bleistift, Kreide, Gouache, 23,2 × 29,3 cm
(03. 06. 1937) PP37–144
ABB. 14: Picasso – Detail aus der Radierung Traum und Lüge Fran-
cos (08. 06. 1937) (Bloch I, 297, 298) bzw. 18. 06. 1937
(Freeman 1994)
(a) Weinende Frau, 9 × 14 cm
(b) Zeichnung unterhalb eines Textes zu Traum und Lüge
Francos 818. 06. 1937) Freeman (1994, S. 72)
134
ABB. 15: Picasso – Bildgruppe 4 der »Verzweifelten Frau« (08. bis
13. 06. 1937)
(a) Bleistift, 29 × 23 cm (08. 06. 1937) PP37–157
(b) Bleistift, Kreide, Gouache, 29 × 23 cm (08. 06. 1927)
PP37–156
(c) Bleistift, Kreide, 29 × 23 cm (13. 06. 1937) PP37–158
ABB. 16: Picasso – Bildgruppe 5 der »Verzweifelten Frau«
(19. 06. 1937)
(a) Bleistift, Gouache auf Pappe, 12 × 9 cm (19. 06. 1937)
PP37–162
(b) Kreide, 29 × 23,3 cm (1937) PP37–167
(c) Bleistift, 29,3 × 21,2 cm (1937) PP37–219
ABB. 17: Picasso – Bildgruppe 6 der »Verzweifelten Frau«
(22. 06. 1937)
(a) Tinte, 65 × 50 (1937) PP37–162 (a)
(b) Bleistift, Gouache, 64 × 49,5 cm (22. 06. 1937) PP37–
166
(c) Öl, Leinwand, 55 × 46 cm (22. 06. 1937) PP37–164
(d) Öl, Leinwand, 55 × 46 cm (22. 06. 19937) PP37–165
ABB. 18: Picasso – Bildgruppe 7 der »Verzweifelten Frau« (26.06.
bis 02. 07. 1937)
(a) Kreide, Gouache, Leinwand, 55 × 46 cm (26. 06. 1937)
PP37–169
(b) Öl, Leinwand, 55 × 46 cm (26. 06. 1937) PP37–170
135
ABB. 19: Picasso – Bildgruppe 8 der »Verzweifelten Frau« (26.06.
bis 02. 07. 1937)
(a) Radierung, 72,3 × 49,3 cm (02. 07. 1937) Bloch I 1333
(b) Tinte, 15 × 11cm (26. 06. 1937) PP37–171a
(c) Radierung (01. 07. 1937) MP2976
(d) Kaltnadel, 34,5 × 24,8 cm (04. 07. 1937) MP2776
ABB. 20: Picasso – Bildgruppe 9 der »Verzweifelten Frau« (04.07.
bis 16. 07. 1937)
(a) Entwickelter Foto-Film (16. 07. 1937) MP2762
(b) Kaltnadel, 34,5 × 24,6 cm 8 (04. 07. 1937) MP2775
(c) Tinte, 15 × 11 cm (04. 07. 1937) PP37–171
(d) Tinte, 25 × 16 cm (06. 07. 1937) PP37–172
ABB. 21: Picasso – Bildgruppe 10 der »Verzweifelten Frau«
(06. 10. 1937)
(a) Bleistift, 9,5 × 14 cm (06. 10. 1937) PP 37–203
(b) Bleistift, Streichholzschachtel (1937) PP37–222
(c) Bleistift, Streichholzschachtel (1937) PP37–224
(d) Farbstift, Streichholzschachtel (1937) Caws 2002
(S. 124)
(e) Bleistift, Streichholzschachtel (1937) PP37–221
(f) Bleistift, Streichholzschachtel (1937) PP37–223
ABB. 22: Picasso – Bildgruppe 11 der »Verzweifelten Frau« (12.10.
bis 13. 10. 1937)
(a) Bleistift, Tinte, Feder 90 × 58,5 cm (12. 10. 1937)
PP37–204
136
(b) Öl, Tinte, Leinwand, 55 × 46 cm (13. 10. 1937) PP37–
205
ABB. 23: Picasso – Bildgruppe 12 der »Verzweifelten Frau« (17.10.
bis 24. 10. 1937)
(a) Öl, Leinwand, 92 × 73 cm (17. 10. 1937) PP37–206
(b) Öl, Leinwand,55,3 × 46,3 cm (18. 10. 1937) PP37–207
(c) Öl, Leinwand, 55 × 46 cm (18. 10. 1937) PP37–208
(d) Öl, Leinwand, 25,5 × 17,3 cm (24. 10. 1937) PP37–214
ABB. 24: Picasso – Einzelbild einer »Verzweifelten Frau«
(22. 10. 1937)
Entwickelter Negativ-Film eingeritzt (22. 10. 1937) Bloch
III, Nachtrag zu I, 302
ABB. 25: Picasso – Bildgruppe 13 der »Verzweifelten Frau« (26.10.
bis 28. 10. 1937)
(a) Weinende mit Rotem Hut, Öl, Leinwand, 60 × 49 cm
(26. 10. 1937) PP37–217
(b) Öl, Tinte, Wasserfarbe, 40 × 26,1cm (28. 10. 1937)
PP37–218 08–73
ABB. 26: Picasso – Einzelbild einer »Verzweifelten Frau«
(20. 11. 1937) Öl, Leinwand, 55 × 38 cm (20. 11. 1937)
PP37–227
ABB. 27: Picasso – Bildgruppe 14 der »Verzweifelten Frau« (18.12.
bis 22. 12. 1937)
137
(a) Die Bittstellerin, Gouache auf Holztafel, 24 × 28,5
(18. 12. 1937) PP37–248
(b) Flehende, Farbstifte, Papier, 26 × 11cm (22. 12. 1937)
Ullmann 1993, Abb. 167
© Fischerfamilie am Strand (20. 12. 37) Bleistift, Kohle,
Papier, 21 × 27 cm (Ullmann Abb. 169)
ABB. 28: Picasso – Skulptur Weinende, Gips, 9,5 × 8 × 4 cm (1937)
PP37–262
ABB. 29: Picasso – Trauernde (16. 10. 39) Öl, Leinwand, 55 × 38 cm
(PP39–273)
ABB. 30: Picasso – 1959 – Skizzenblock mit Assoziation: Christus
und Stierkampf
(a) Christus am Kreuz, Tinte, 37 × 27 cm (02. 03. 1959)
PP59–42
(b) Mater dolorosa, Lithografie, Kreide, 37 × 27
(02. 03. 1959) PP59–30
ABB. 31: Picasso – Raub der Sabinerinnen (1962) – Selbstportrait
(1972)
(a) Raub der Sabinerinnen (Gemälde) Öl, Leinwand,
97 × 130 cm (08. 11. 1962) (PP1962–270)
(b) Raub der Sabinerinnen (Gemälde) Detail
© Raub der Sabinerinnen (Skizze), Kohle, 21 × 27 cm
(26. 10. 1962) PP62–239
(d) Selbstportrait, Bleistift, Kreide, 65,7 × 50,5 cm
(30. 06. 1972) PP72–173
138
ABB. 32: Potentieller Einfluss: Van der Weyden,
(a) Roger van der Weyden Kreuzabnahme
(1450?)-(Übersicht)
(b) Roger van der Weyden Kreuzabnahme – (Detail)
ABB. 33: Potentieller Einfluss: Matthias Grünewald
(a) Grünewald Isenheimer Altar, (1502–1515) –
(Übersicht)
(b) Grünewald Isenheimer Altar – (Detail)
Grünewald Magdalenas Klage (1515?) – (Übersicht)
Grünewald Magdalenas Klage – (Detail)
ABB. 34: Potentielle Einflüsse aus der Kunstgeschichte
(a+b) Pedro de Mena Mater dolorosa, Holzskulptur (ca
1650)
(c) Francisco Goya Los Desastras de la Guerra (1810)
(Detail aus Radierung Nr. 41)
(d) Eisenstein, Film Panzerkreuzer Potemkin (1925)
(e) Juan Miro Der Schnitter (1937)
(f) Ferrer de Morgado Madrid 1937
ABB. 35: Picasso – Dora Maar als Modell
(a) Portrait Dora Maar, Öl, Leinwand, 55,3 × 46,3 cm
(23. 11. 1937) PP37–229
(b) Portrait Dora Maar, Öl, Leinwand, 92 × 65 cm (1937)
PP37–230
(c) Portrait Dora Maar, Bleistift, 31,5 × 40,5 cm
(28. 01. 1937) PP37–16
139
(d) Liegende Frau auf Sofa (DM), Öl, Leinwand,
97 × 130 cm (21. 01. 1939) PP39–15
ABB. 36: Picasso – Marie-Thérèse Walter als Modell
(a) Portrait Marie-Thérèse Walter, Öl, Leinwand,55 × 46 cm
(15. 01. 1937) PP37–05
(b) Portrait Marie-Thérèse Walter, Öl, Leinwand,100 × 81cm
(06. 01. 1937) PP37–02
© Liegende Frau lesend, Öl, Leinwand, 96,5 × 130 cm
(21. 01. 1939) PP39–16
(d) Profil einer Frau, Öl, Leinwand, Größe unbekannt
(12. 08. 1928) PP28–176 Palau 131
(e) Profil einer Frau, Öl, Leinwand, 35 × 24 cm
(13. 08. 1928) PP28–177 Palau 132
ABB. 37: Beispielhaft biografische Notizen Picassos in Form von
Bildern
(a) Picasso – Selbstportrait mit Monster, Öl, Leinwand,
71 × 60,5 cm (1929) PP29–08
(b) Picasso – Françoise Gilot u. Weinende, Kaltnadel,
69,6 × 49,6 cm (1946) M. Müller, S. 67
© Picasso – Ein Mann hält ein Pferd, Tinte, 29 × 49 cm
(23. 10. 1937) PP37–2 (Übersicht)
(c) Picasso – Ein Mann hält ein Pferd (Detail)
ABB. 38: Picasso – Portrait der Marchioness, Öl, Leinwand,
38 × 46 cm (1937) PP37–201