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Predigt über Epheser 1, 17-23 am Fest Christi Himmelfahrt
am 29. Mai 2014
im ökumenischen Gottesdienst in der Kreuzkirche Reutlingen
Pfarrerin Astrid Gilch-Messerer
HAP Grieshaber, Herzauge
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Liebe Gemeinde,
„Wie im Himmel“ lautete ein Filmtitel, der vor 9 Jahren in unsere
Kinos kam. Ein erfolgreicher Stardirigent kehrt in sein Heimatdorf
zurück. Gesundheitlich schwer angeschlagen, muss er seine Karriere
aufgeben. Doch die Musik lässt ihn nicht los. Er kann die Sänger des
kleinen Kirchenchores im Dorf begeistern. Sie lernen, an sich selbst zu
glauben. Sie werden eine singende Gemeinschaft, in der jeder und
jede seinen/ihren eigenen Ton findet. Schließlich sind sie gemeinsam
so gut, dass sie in einem internationalen Gesangswettbewerb
auftreten. Dort zieht der Chor alle in seinen Bann. Die Begeisterung
springt über. Die Zuhörer des Konzerts stehen auf und singen mit.
Den Film „Wie im Himmel“ sahen mehr als eine Million Zuschauer.
Sie erlebten Menschen, die plötzlich an sich selbst glauben konnten.
Die zusammenwuchsen und ein gemeinsames Ziel hatten. Auch
Hindernisse und Schwierigkeiten konnten sie davon nicht abbringen.
Ist in dem kleinen schwedischen Dorf mit seiner traumhaft stillen
Landschaft also ein Stück Himmel? Ist die gemeinsame Musik, die die
Menschen verbindet und an sich selbst glauben lässt, eine
himmlische Erfahrung?
Das Paradies auf Erden ist das kleine Dorf jedenfalls nicht. Ganz im
Gegenteil. Es geht dort ganz schön irdisch zu. Eine Frau wird von
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ihrem Mann geschlagen. Der Pfarrer der Gemeinde fühlt sich
plötzlich an den Rand gedrängt. Mit unlauteren Mitteln will er den
Dirigenten wieder loswerden.
Und im Dorf gibt es genauso Eifersucht und Neid, Geschwätz und
Gerede wie anderswo auch. Aber es gibt ein paar Menschen, die
plötzlich mehr sehen. Sie glauben an das, was sie für sich selbst
erhoffen. Und deshalb ist ihr Leben auf einmal „wie im Himmel“.
Um wie im Himmel zu leben, müssen Sie, liebe
Gottesdienstbesucherinnen und –besucher, diesen Film nicht
unbedingt gesehen haben. Sie brauchen auch nicht in einem Chor
mitzusingen. Aber ein bisschen tiefer zu sehen und fester zu hoffen,
macht es Ihnen unter Umständen leichter. Sie können ein Stück
Himmel hier auf der Erde erfahren. Die Bibel ist davon überzeugt. Der
Predigttext am heutigen Fest Christi Himmelfahrt lädt Sie dazu ein. Er
stammt aus dem Epheserbrief. Hören Sie einfach einmal zu.
Der Gott Jesu Christi, unseres Herrn, der Vater der Herrlichkeit, gebe
euch den Geist der Weisheit und Offenbarung, damit ihr ihn erkennt.
Er erleuchte die Augen eures Herzens, damit ihr versteht, zu welcher
Hoffnung ihr durch ihn berufen seid, welchen Reichtum die
Herrlichkeit seines Erbes den Heiligen schenkt und wie überragend
groß seine Macht sich an uns, den Gläubigen, erweist durch das
Wirken seiner Kraft und Stärke.
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Er hat sie an Christus erwiesen, den er von den Toten auferweckt und
im Himmel auf den Platz zu seiner Rechten erhoben hat, hoch über
alle Fürsten und Gewalten, Mächte und Herrschaften und über jeden
Namen, der nicht nur in dieser Welt, sondern auch in der zukünftigen
genannt wird.
Alles hat er ihm zu Füßen gelegt und ihn, der als Haupt alles überragt,
über die Kirche gesetzt. Sie ist sein Leib und wird von ihm erfüllt, der
das All ganz und gar beherrscht.
(Epheser 1,17-23)
Heute ist das Fest Christi Himmelfahrt. Aber das Bibelwort spricht
von uns. Es hat zuerst die Menschen im Blick. Erst danach schaut der
Verfasser des Epheserbriefes auf Jesus.
Es ist, wie wenn er damit sagen wollte: Wer den Himmel erleben will,
der muss sich nicht auf das ferne Jenseits vertrösten lassen. Hier auf
der Erde ist das schon möglich. Wenn, ja wenn Sie mit den Augen des
Herzens zu sehen beginnen.
Sie und ich werden heute also eingeladen, noch einmal tiefer zu
blicken. Hinter die Dinge zu schauen. Zu fragen: Gibt es mehr zu
entdecken, als vordergründig zu sehen ist? So ein Blick mit den Augen
des Herzens ist eigentlich ganz einfach. Es gibt ihn im Alltag immer
wieder. Denken Sie nur an einen Blumenstrauß. Wer ihn geschenkt
bekommt, sieht nicht nur die grünen Stängel und die farbigen
Blütenblätter. Er erkennt nicht nur, dass hier Ranunkeln und Rosen zu
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einem schönen Strauß zusammengestellt wurden. Die Blumen
bedeuten viel mehr. Nach einem heftigen Streit können sie zum
Beispiel sagen: „Entschuldigung. Bitte verzeih mir“. Im Krankenhaus
wollen sie Mut machen und Farbe bringen, auch wenn der Besucher
schon längst wieder gegangen ist. Und wenn ein junger Mann seiner
Freundin die ersten Blumen schenkt, dann sagt er damit: Du, ich mag
dich sehr.
Auch die Zeit lässt sich unter solch einem Blickwinkel betrachten.
Wer sich Zeit nimmt für einen Menschen, der schätzt ihn hoch ein. Er
sagt damit: Du bist mir wichtig. Wenn du mich brauchst, bin ich für
dich da. Das muss nicht jedes Mal ausgesprochen werden. Und
trotzdem ist klar, was das heißt, wenn ein Mensch mir eine Stunde
lang zuhört, obwohl er selbst genug zu tun hat.
Oder wenn mir jemand hilft, meinen Einbauschrank
zusammenzubauen, auch wenn seine eigene Freizeit knapp ist. Wem
deutlich geworden ist, was das bedeutet, dem kann dabei das Herz
aufgehen.
Das Herz ist in der Bibel der Ort, wo ein Mensch ganz bei sich selbst
ist. Es ist die Mitte und der Kern einer Person. Gemeint ist der
Bereich, wo jemand fühlt und denkt, wo er oder sie empfindet und
begehrt, wo er oder sie sich freut und traurig ist.
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Wenn der Epheserbrief heute vorschlägt, mit den Augen des Herzens
zu sehen, dann darf ich mich als ganzen Menschen ansprechen
lassen, und nicht nur mit meinem Denken oder mit meinem Fühlen.
Ich soll nicht nur schauen, was mit meinen beiden Augen zu sehen ist.
Ich darf erkennen, was dahinter liegt. Diese Fähigkeit traut die Bibel
dem Menschen zu.
Herzauge hat der Reutlinger Künstler HAP Grieshaber den Holzschnitt
genannt, den ich Ihnen auf das Gottesdienstblatt abgedruckt habe.
Und er meint wohl dasselbe wie unser Predigttext: Schauen mit dem
Herzen.
Ein Blumenstrauß sagt dann plötzlich mehr. Wenn jemand Zeit hat
für mich, bekommt das eine tiefere Bedeutung. Es geht darum, diese
tiefere Bedeutung zu erkennen und mit den Augen des Herzens zu
deuten.
In unserem Predigttext heißt es: „Gott erleuchte die Augen eures
Herzens, damit ihr versteht, zu welcher Hoffnung ihr durch ihn
berufen seid.“ Wer mit den Augen des Herzens zu sehen beginnt,
sieht tiefer und erkennt hinter den Dingen mehr. Er oder sie kann
sich selbst und sein oder ihr Leben im Licht Gottes und seiner frohen
Botschaft deuten.
Nur - wie sieht man denn mit den Augen des Herzens? Auf welche
Weise ist solch ein tieferer Blick möglich, um hinter den ganz
alltäglichen Dingen etwas von Gott zu erahnen?
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Eine Möglichkeit kann die Unterbrechung sein. Eine kleine Pause
mitten im Trubel des Alltags hilft, Kopf und Herz wieder neu für das
Wesentliche frei zu bekommen.
Dafür gibt es viele Gelegenheiten. Im Supermarkt zum Beispiel.
Natürlich können Sie sich in der langen Schlange an der Kasse
darüber ärgern, dass dort vorne wieder einmal nichts vorwärts geht.
Sie können sich wütend fragen, warum denn nicht endlich eine
zweite Kassiererin kommt. Sie könnten die Zeit aber auch ganz
anders nutzen:
Zum Beispiel, indem Sie sich an den Kalenderspruch erinnern, den
Sie nicht vergessen wollten.
Oder Sie schauen vor ihrem inneren Auge noch einmal auf das
Lächeln, das Ihnen Ihr Mann/Ihre Frau heute Früh zum Abschied
schenkte.
Auch am Arbeitsplatz sind solch kleine Unterbrechungen möglich. Die
Zeit, die der Computer braucht, um hochzufahren, ist solch eine
Gelegenheit. Bevor der Arbeitstag so richtig beginnt und Ihre Kraft
fordert, lohnt es sich, kurz innezuhalten.
„Was zählt heute? Was ist mir für diesen Tag wirklich wichtig?“,
könnte eine lohnende Art sein, tiefer zu schauen als nur auf die
Termine und Arbeiten, die zu erledigen sind.
„Seitdem ich das mache, sind meine Prioritäten anders“, sagte
kürzlich jemand zu mir.
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Auch den Trick mit den bunten Glassteinchen finde ich hilfreich. Eine
Frau erzählte mir, sie habe in ihrer Jackentasche ein paar bunte
Glassteinchen. Jedes Mal, wenn sie sich über etwas freut, wandert
ein solches Steinchen von der Jacken- in die Hosentasche. Und am
Abend holt sie die Steine dann aus ihrer Hosentasche wieder hervor
und blickt in aller Ruhe noch einmal auf die schönen Erlebnisse des
Tages. „Manchmal sind das ja nur Kleinigkeiten“, sagt sie. „Aber ohne
die Steine wäre vieles am Abend einfach schon vergessen. Und so
gehe ich ganz anders schlafen“.
Ich kenne Menschen, die sich solch einen Herzensblick auf ihren Tag
jeden Abend gönnen. Und sie tun das nicht allein, sondern beziehen
Gott ganz bewusst mit ein:
- Indem sie ihn bitten, mit auf den Tag zu schauen.
- Indem sie fragen, was in seinen Augen wichtig gewesen ist. Und
indem sie dann alles in Gottes Hände legen.
- Mit dieser Praxis kommen sie dem Wunsch aus dem
Epheserbrief ganz nahe: „Gott erleuchte die Augen eures
Herzens, damit ihr erkennt, zu welcher Hoffnung ihr durch ihn
berufen seid“
Wer mit den Augen des Herzens sieht, sieht mehr und erlebt ein
Stück Himmel bereits hier auf der Erde. Denn Himmel erleben heißt
sich Gott nahe zu fühlen, und das ist nicht erst im Jenseits möglich.
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Darauf macht der Epheserbrief heute aufmerksam. Das Bibelwort
spricht von der Hoffnung, die es im Leben gibt.
Wo sind bei mir hoffnungsvolle Momente?
Wann fühle ich mich gestärkt und getröstet?
Vielleicht sind es nur Augenblicke, in denen wir erfahren, dass Gott
nahe ist.
Auch Jesus sah mit den Augen seines Herzens. Immer wieder muss es
in seinem Leben Augenblicke gegeben haben, in denen er sich ganz
mit Gott verbunden wusste. Es waren himmlische Momente mitten
auf der Erde. Die Bibel erzählt: Jesus hat sie ganz bewusst gesucht.
Er unterbrach seinen Alltag, um tiefer zu sehen. Zum Beispiel in
Kafarnaum. Ein Tag sah dort so aus: Er lehrte in der Synagoge. Vor
vielen Menschen sprach er überzeugend von Gott. Dann besuchte er
die Familie von Petrus. Als er dessen kranke Schwiegermutter heilte,
sprach sich das überall in der Stadt herum. Den ganzen Abend kamen
Menschen mit ihren Sorgen und Krankheiten zu ihm. „Die ganze Stadt
war vor der Haustür versammelt“, schreibt der Evangelist Markus.
Und er deutet damit an, dass Jesus wohl noch tagelang beschäftigt
gewesen wäre.
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Doch am nächsten Morgen machte Jesus nicht einfach so weiter. In
der Frühe, als es noch dunkel war, suchte er sich einen einsamen Ort.
Ich stelle mir vor: Nach dem anstrengenden Tag bis in den Abend
hinein war das für Jesus solch ein himmlischer Moment. Es war eine
Gelegenheit, wieder zu sich selbst und zu Gott zu finden.
Oder denken Sie an die Taufe im Jordan. Mit vielen anderen
Menschen kommt Jesus zu Johannes dem Täufer. Als er sich taufen
lässt, tut sich für ihn der Himmel auf. Er hört eine Stimme, die zu ihm
spricht: Du bist mein geliebter Sohn, an dir habe ich Gefallen
gefunden.
Eine schönere Zusage kann es eigentlich gar nicht geben.
Solche himmlischen Momente müssen Jesus stark geprägt haben.
Sie befähigten ihn, tiefer zu schauen. In ganz alltäglichen Dingen
konnte er mehr erkennen, als zu sehen war. Ein kleines Senfkorn zum
Beispiel, das zu einer großen Pflanze heranwuchs, erinnerte Jesus an
das Reich Gottes. So ist es auch mit dem Himmelreich, sagt er seinen
Freunden. Es beginnt ganz klein. Am Anfang ist es kaum
wahrzunehmen und doch wird es einmal ganz groß sein.
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Die Fischer am See werden in seinen Augen zu Menschenfischern. Als
Jesus sieht, wie sie die Netze auswerfen und die Fische einsammeln,
da hat er ein Bild vor Augen: So sollen sie es auch unter den
Menschen machen.
Und auch in der Natur erkennt Jesus Dinge, die eigentlich gar nicht zu
sehen sind.
Fast alle Menschen waren damals in der Landwirtschaft tätig und
beim Säen und Ernten dabei. Jesus erinnern die aufgehende Saat und
die heranwachsende Frucht an Gottes Wort. Wo es die Herzen der
Menschen erreicht, wächst das Reich Gottes im Leben der Menschen
heran.
Diese Beispiele zeigen: Jesus schaut mit den Augen des Herzens.
Er erkennt mehr, als zu sehen ist, und er erkennt darin Gottes
Wirken. Das müssen für ihn himmlische Augenblicke gewesen sein -
mitten auf der Erde.
Liebe Gemeinde,
wenn wir heute das Fest Christi Himmelfahrt feiern, dann sagen wir
damit: Diese himmlischen Augenblicke im Leben Jesu waren keine
Trugbilder. Es waren keine Täuschungen. Die Gemeinschaft mit Gott,
die Jesus auf Erden in himmlischen Momenten erfahren hat, erlebt er
nun für immer und ewig.
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Was er hier auf Erden mit den Augen seines Herzens geschaut und
geahnt hat, das ist für ihn nun Wirklichkeit geworden.
Unser Predigttext spricht davon in den höchsten Tönen. Er besingt in
einem hymnischen Lied, was Jesus von Gott geschenkt wurde:
- Gott hat Jesus zu sich geholt. Er hat ihm den Ehrenplatz an
seiner rechten Seite gegeben.
Jesus ist jetzt hoch erhaben über alle Mächte und Gewalten,
über alle kleinen und großen Herrscher dieser Welt. Nichts und
niemand kann ihn mehr von dieser Gemeinschaft mit Gott
trennen.
Spüren Sie den Jubel und die Freude, die die ersten Christen bei
diesem Gedanken hatten? Merken Sie, was für eine besondere
Sprache sie dafür verwendeten? Mit solchen und ähnlichen Worten
erinnerten sich die Christen in Ephesus an das Fest der Himmelfahrt
Jesu. Nicht wie das damals geschah, war ihnen wichtig zu sagen,
sondern dass es geschah.
Sie freuten sich für ihren Herrn. Sie wussten: Etwas Besseres als die
Gemeinschaft mit Gott konnte ihm nicht passieren. Deshalb priesen
sie Gott, der so groß an Jesus gehandelt hatte. Die himmlischen
Momente Jesu auf Erden hatte Gott nun ein für allemal bestätigt.
Was Jesus mit den Augen des Herzens schon mitten in dieser Welt
gesehen hatte, durfte er jetzt für immer schauen.
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Das machte den Adressaten des Epheserbriefes Mut für ihr eigenes
Leben.
Der Himmel lässt sich erleben und erfahren. Wer mit den Augen des
Herzens sieht, darf ahnen, was ihn und sie dereinst erwartet.
Es gibt viele Möglichkeiten, auf die Gemeinschaft mit Gott in kleinen
und großen Zeichen aufmerksam zu werden.
Ich wünsche Ihnen viele himmlische Momente mitten auf der Erde.
Und meinen Wunsch an Sie kann ich nicht schöner sagen als der
Epheserbrief das heute ausdrückt:
Gott erleuchte die Augen Ihres Herzens,
damit Sie erkennen, zu welcher Hoffnung Sie berufen sind.
Dazu segne Sie Gott, der Vater und der Sohn und der Heilige Geist.
Amen.