Live Art als Sandkörnchen im Alltagsgetriebe. Ein Rückblick auf das europäische EXCHANGE RADICAL MOMENTS! Live Art Festival 2011. Von Florian Sedmak.
RADIKALE PAUSE
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Radikale PauseLive Art als Sandkörnchen im Alltagsgetriebe. Zugespitzt auf einen einzigen Festivaltag entfachte die erste Ausgabe des EXCHANGE RA-
DICAL MOMENTS! Live Art Festivals einen wahren Aktionsrausch an Performances und
Interventionen mit etwa 300 direkt Beteiligten simultan in elf europäischen Städten. Berlin,
Bitola, Chisinau, Linz, Liverpool, London, Paris, Prag, Riga, Slubfurt und Stockholm waren die
Festivalschauplätze, an denen das Festival simultan stattgefunden hat.
Kunstbegegnungen, ganz draußen
Radikalität war und ist Programm des neuen internationalen Festivals – von der äußeren
Form bis zum darin Gebotenen. 60 KünstlerInnen aus aller Welt haben sich aus den üblichen
Komfortzonen der Kunst hinaus mitten ins Leben und auf Augenhöhe mit dem Publikum
begeben. Formal haben sie dabei in einer ausgesprochenen Randzone der Künste agiert,
die dem Kunstbetrieb mangels Verwertbarkeit bis heute suspekt geblieben ist. Live Art ist
ein Sammelbegriff für Kunstformen zwischen Intervention, Happening und Theater, in denen
die AkteurInnen persönlich, unmittelbar und direkt selbst handeln und dabei vielfach hohe
Risiken eingehen weil sie zur aktiven Teilhabe einladen. Live Art ist Kunst ohne Airbag, Netz
und Sicherungsleinen.
Ein besonderer Moment an diesem Freitag, den 11.11.2011: Eine Frau geht durch die
Straßen und über die Plätze von Linz, manchmal zielstrebig, manchmal suchend, abwar-
tend. Ihrem Gesicht ist abzulesen, dass sie wohl häufig lächelt – sie strahlt Freundlichkeit
und Wärme aus. Mit dem dunklen Mantel und der orangen Mütze mit farblich identischem
Schal ist ihre Erscheinung das, was als „gepflegt“ gilt. Keinem von außen nachvollziehbaren
Prinzip folgend, bleibt sie immer wieder stehen – auf der Straße, in Supermärkten, in Cafés
und spricht einen Menschen höflich an: „Entschuldigung, würden Sie mich bitte in die Arme
nehmen?“ So unterschiedlich die Menschen sind, so unterschiedlich sind die Reaktionen:
Ein weißbärtiger Obdachloser im Park öffnet bereitwillig die Arme, eine junge Frau mit Dread-
locks macht lachend mit, und auch die ältere Verkäuferin im Drogeriemarkt steht von ihrem
Sessel an der Kassa auf, um sich zur Umarmung über das Förderband zu beugen. Der Ver-
kehrspolizist mit der gelben Warnweste über der Uniform hingegen verweigert sich zögernd
– vielleicht liegt es an der Videokamera des Begleiters der Frau, die ihm diese so gar nicht
alltägliche Frage gestellt hat.
Und dann fallen Live Art und Faschingsbeginn zusammen: Am Eingang zur Linzer Flanier-
meile hat eine Blasmusikkapelle Aufstellung genommen, um im Viervierteltakt begleitet
von Gardemädchen im Stechschritt durch die Stadt zu ziehen. Gleich soll es losgehen. Der
Stabführer des Ensembles ersucht schon alle Umstehenden, beiseite zu treten. Die Frau auf
der Suche nach körperlicher Nähe erspäht die Szene und geht schnurstracks auf eines der
Gardemädchen zu, das sie verblüfft an den Stabführer verweist. Der wiederum zögert nicht
lange, als die Fremde vor ihm auftaucht und nimmt sie mit väterlicher Geste kurz, aber herz-
lich in den Arm – am 11.11. darf es schließlich auch einmal über die Grenzen gehen. Hinter
der von den meisten als solcher vermutlich gar nicht wahrgenommenen Performance, die
schlicht Into Your Arms heißt, steckt die belgische Performerin Béatrice Didier. Begonnen
hat sie die Serie der Umarmungen auf der Suche nach Trost am (autobiographischen) Ende
einer Liebesbeziehung. Mit EXCHANGE RADICAL MOMENTS! hat sie eine ideale Plattform für
die Fortsetzung ihrer Begegnungs-Arbeit gefunden und stellt souverän unter Beweis, wieviel
Radikalität in einer Sanftheit stecken respektive wie sanft sich ein radikaler Moment anfühlen
kann, in dem die Grenzen zwischen Vertrautem und Fremden in Frage gestellt werden.
Mitspieler statt Publikum
Zwei Jahre lang haben Die Fabrikanten – ein von KünstlerInnen betriebenes Büro für Kultur-
kommunikation – als geistige Urheber des Festivals vom österreichischen Linz aus an der zu-
nächst geistigen und dann künstlerischen wie organisatorischen Entwicklung von EXCHANGE
RADICAL MOMENTS! gearbeitet. Das Ergebnis ist ein europäisches Festival, das sich das
oft leichtfertig verklebte Etikett „neuartig“ wirklich verdient hat. Auch die Festivalidee selbst
hat eine lange Vorgeschichte. Sie beginnt bei der seit vielen Jahren erfolgenden Beschäfti-
gung der Fabrikanten mit Kunst- und Begegnungsformen, in denen sich die Hier-oben-Bühne/
dort-unten-Auditorium-Grenzen zwischen „KünstlerInnen“ und „Publikum“ so weit wie möglich
auflösen.
So geschehen unter anderem in einem interdiziplinären Arbeitssymposium im Niemands-
land an der östereichisch-tschechischen Grenze, über eine 100 Tage lang offen stehenden
Bretterbühne auf dem Marktplatz einer kleinen ländlichen Gemeinde, bis zum Knüpfen eines
analogen Menschennetzwerks über den temporären Austausch der zentralen Tische verschie-
denstener Haushalte. Sie beginnt auch mit dem in etlichen Projekten unternommenen Ver-
such, den abstrakten Begriff „Europa“ zu konkretisieren und wenigstens für sich selbst pla-
stisch zu machen.
Von heimlichen und unheimlichen Leidenschaften
„The ‚contract‘ is to share passionately and listen respectfully“, erklärt Katerina Kokkinos-
Kennedy von der australischen Gruppe triage live art collective, die im Zuge von EXCHANGE
RADICAL MOMENTS! in Berlin eines ihrer beiden Strange Passions-Cafés betreibt. Mit die-
sem alles andere als alltäglichen Café – „full conversational service takes up to 40 minutes“
– haben die KünstlerInnen eine sichere und einladende Umgebung geschaffen, in der sich
Fremde nach Voranmeldung oder spontan begegnen können. Im Zentrum der Begegnungen
stehen persönliche Leidenschaften, wofür und welcher Natur auch immer. „We hope to cater
for a vast range of passions“, meint Kokkinos-Kennedy dazu. Genau von diesen ihren Leiden-
schaften erzählen sich die paarweise an Tischen sitzenden Gäste. Sie kennen einander nicht
und kommunizieren im Schutz von Masken, die Teil des von den KünstlerInnen gebotenen
Service sind.
„We‘re encouraging people not to wait for the miracle – but to maybe trust, commit, and
create their own intimacy, moment and exchange. They can expect bilingual comedy, human
warmth, a desire to facilitate their meeting, our interest in them and what they experienced.“
Die Masken erleichtern es, wie Kokkinos-Kennedy aus Erfahrung weiß, ganz enorm, die an-
fängliche Schüchternheit zu überwinden und aus sich herauszugehen: „I have strange pas-
sions about climate change but also about pop music and even the subject of facing death.
We‘d like people to feel able to enter the dialogue regardless of the depth or simple pleasure
of their passions.“
Mandy, und viele andere SchönheitenLeidenschaftlich geht es anlässlich von EXCHANGE RADICAL MOMENTS! auch in Liverpool zur Sache. Hier bittet Mandy Romero, Transgenderkünstlerin aus der Hafenstadt an der Mersey, zur Begegung mit queerer und Transgenderkunst ins Tranny Hotel. Als solches hat sich das typisch englische Hotel Adelphi schick und mit etlichen Suiten, der Lobby und dem Tanzsaal zum Tummelplatz für TransgenderkünstlerInnen ge-macht, die das Haus in verschiedensten Stadien garderobistischer und kosmetischer Exzentrik bevölkern. Nach dem Eröffnungsevent mit Lazlo Pearlman´s radikaler und partizipativer Show „Dance me...“, La John Joseph´s Konzert und der Performance von Mandy Romero selbst lässt sich Drag-Künstler Thom Shaw im Zuge seiner Performance Drag Mountain von den interessierten Gästen aus einer zur Verfügung stehenden Garderobe opulent für den 11.11. und das folgende Wochenende ausstatten. Ane Lan und Karstein Solli bie-ten mit Irma’s Room jeweils zehnminütige Performances für jeweils einen Gast in ihrem Hotelzimmer. Ihnen folgen unter anderem Jo Clifford mit vier Auflagen seiner halbstündigen Darbietung The Gospel According to Jesus Queen Of Heaven sowie Regina Fiz und Miguel Moreira, die ihr einstündiges Ritual Wedding vollzie-hen, von dem Mandy Romero in ihrem Blog mandyfesto.weebly.com berichtet: „It was full of deep emotion and strange images. I tasted the chocolate on Migel‘s body - surely a communion not just a wedding - and the whole ambience of costume and movement was other-worldly. One of the strangest morning moments in
my life.“
Speisen wie Hitler & StalinEine parallele Reihe langer Tafeln steht auf der Bühne des kleinen Kreuzber-ger Theaters. Wie in der Pariser Kunstgalerie, in der gleichzeitig die Eindrücke des Eye Walk nachwirken, hallen auch hier Gespräche durch den Raum. Seit 11 Uhr am Vormittag wird hier gekocht; jede Stunde hat die Küchenbrigade gewechselt, jede Stunde ist ein anderes Mahl aufgetragen worden. Elf Rezepte werden in exzentrische Kulinarik umgesetzt sein, wenn die Küche um 23 Uhr schließen wird.Längst tragen die weiß ausgelegten Tische Gebrauchsspuren vom Essen und vor allem vom Kochen. Benutzte Teller, Besteck, Gläser und Küchengeräte stehen herum; Menschen sitzen an den Tischen zusammen. Die Atmosphäre ist eine der festlichen und zufriedenen Sättigung. EXCHANGE RADICAL MO-MENTS! war und ist hier Tauschbörse für ganz besondere Rezepte: Exchange Radical Recipies lautet die vom deutschen Künstler Benjamin Förster-Baldeni-us raumlaborberlin ausgegebene Parole. Aber: Wie kann Essen radikal sein? „Gar kein Essen zu haben ist wohl radikaler als zu kochen“, räumt der schlak-sige Förster-Baldenius ein. „Für unseren Gaumen gibt es aber aus anderen Kulturen genug Kombinationen und Zubereitungen, die sehr radikal anmuten.“
So tischen die radikalen KöchInnen in Kreuzberg direkt selbst aus der Spree geangelten und selbstgeräucherten Fisch auf und versuchten sich an der Zube-reitung von Stockfisch, den es eigentlich nur mehr als historische Reminiszenz gibt, die aus der modernen Küche völlig verschwunden ist. So skurril Speisenbezeichnungen wie „Zapatas letzter Wille“ oder „Konse-quentes Kochen“ anmuten, so ernst ist der historische Hintergrund des gas-tronomischen „Hitler-Stalin-Paktes“: Das Rezept bezieht sich auf das protkol-larisch erforderliche gemeinsame Essen der beiden Diktatoren anlässlich der Unterzeichnung ihres Paktes in Kaliningrad. Den Koch stellte es vor eine große Herausforderung: Hitler war Vegetarier, wohingegen Stalin nichts zu sich nahm, was nicht in der Hauptsache aus Fleisch zubereitet war.
1 + 1 = PauseZu diesen geschilderten kommen noch viele andere und unbekannte Momente der Begegnung mitten im Alltag – Momente, die sich kraft der Gleichzeitigkeit der vielen Festivalereignisse zwischen Balkan und Baltikum einer Zentralperspektive entziehen. 11, so rechnet EXCHANGE RADICAL MOMENTS! kunst-kabbalistisch vor, steht auch für 1 + 1. Für one-and-one. Oder für one-to-one. Und so kann die Kunst der Begegnung als one-to-one art gelten. Sicher ist: Für die, die dabei waren, ist die Zeit kurz stehen geblieben, haben sich die Stadt und die Wirklichkeit verändert. Magisch. Radikal.
www.11moments.org
Kontakt:
DIE FABRIKANTENwww.fabrikanten.atwww.11moments.org
EXCHANGE RADICAL MOMENTS! Live Art Festival erfolgte in Kooperation mit aMAZElab / MAST [Museo Arte Sociale e Territoriale] (IT), ELEMENTI – Center for Contemporary Public Arts (MK), KunstRaum Goethestrasse xtd / pro mente Oberösterreich (AT), SLUBFURT (DE), TINA B. – The Prague Contemporary Art Festival (CZ) as well as ASA (DE), BABUSCH (DE), Hebbel am Ufer (DE), KSA:K Center for Contemporary Art Chisinau (MD), Kunstfabrik am Flutgraben (DE), LCCA - Latvian Centre for Contemporary Art (LV), Contemporary Performance Network (US), homotopia (UK), TTT – Tomorrow’s Thoughts Today (UK) as well as PERFORMER STAMMTISCH (DE), No Budget Performance (SE) u.a.