Sieh dir in der Schule alle Mit-
schüler an, und du wirst merken,
dass sie alle verschieden sind und
dass diese Vielfalt etwas Schönes
ist. Sie ist eine Chance für die
Menschheit. Diese Schüler kom-
men aus ganz unterschiedlichen
Welten, sie können dir Dinge ge-
ben, die du nicht hast, so wie du
ihnen auch etwas geben kannst,
das sie nicht kennen. Auf diese
Weise ergänzen und bereichern
wir uns gegenseitig.
Tahar Ben Jelloun
In diesem Kapitel geht es um das Anderssein, z. B. weil man anders aussieht, sich anders verhält oder eine andere Meinung hat. Dass die Menschen so verschieden sind, macht die Welt vielfältig und interessant. Manchmal kön-nen aber auch Spannungen und Konfl ikte daraus entstehen. Das passiert z. B., wenn wir das Anderssein nicht akzeptieren und denken, jeder sollte so sein wie wir.
In diesem Kapitel lernt ihr,– die Perspektive zu wechseln und euch in andere hineinzuversetzen, – aus verschiedenen Perspektiven zu erzählen und zu schreiben,– über Konfl ikte nachzudenken und miteinander ins Gespräch zu kommen,– im Gespräch nach Lösungen für Spannungen und Konfl ikte zu suchen.
Schön, dass jeder anders ist!
Mertkan Özdemir
Ina Elison
N. Becker & G. Grey
Familie Stroinska
Adriana Müller
Gomez-Tutor
Zipse
Beyer-Bretz
5
10
11
1 Was fällt euch an den Namen auf den Klingelschildern auf? Was kann man daran erkennen?
2 Bildet Gruppen. Jede Gruppe sucht sich eines der beiden Gedichte aus und schreibt es auf ein großes Blatt Papier.
– Wem etwas einfällt, der schreibt seine Gedanken zum Text hinzu. – Sprecht über eure Ideen und Erfahrungen.
3 Lest das Zitat von Tahar Ben Jelloun. a) Was bedeutet der Satz „Vielfalt ist etwas Schönes“? b) Sucht eigene Beispiele für Tahar Ben Jellouns Meinung.
Vorhaben: Andere Kulturen kennenlernen Haltet Kurzreferate über verschiedene Länder:
– Sammelt Informationen über Land und Leute. – Informiert euch über Sprache, Kultur und Religion. – Vergleicht die Lebensweisen und Kulturen.
C Hinweise zur Durch-führung von Vorhaben findet ihr in Wissen und Können auf Seite 297.
Karlhans Frank
Du und ich
Du bist anders als ich,
ich bin anders als du.
Gehen wir aufeinander zu,
schauen uns an,
erzählen uns dann,
was du gut kannst,
was ich nicht kann,
was ich so treibe,
was du so machst,
worüber du weinst,
worüber du lachst,
ob du Angst spürst bei
Nacht,
welche Sorgen ich trag,
welche Wünsche du hast,
welche Farbe ich mag,
was traurig mich stimmt,
was Freude mir bringt,
wie wer was bei
euch kocht,
wer was wie bei
uns singt …
Und plötzlich erkennen
wir –
waren wir blind? –,
dass wir innen uns
äußerst ähnlich sind.
Für uns
sind die Andern anders.
Für die Andern
sind wir anders.
Anders sind wir,
anders die Andern,
wir alle andern.
James Krüss
12
Ein Auszug aus einem Jugendbuch lesen
Begegnung der Kulturen: Standpunkte verstehen und Kompromisse finden
1 Lies den Klappentext des Buches „Marokko am See”. a) Was erfährst du über die Hauptfigur? In welcher Situation befindet
Issa sich? b) Welche Probleme werden im Klappentext angesprochen?
Issa aus Marokko lebt in Amsterdam – ein Leben in zwei Welten. Den Kampf
der Kulturen erlebt er hautnah. Er kann drei Sprachen, aber keine so rich-
tig: die seiner marokkanischen Eltern, das Arabisch aus dem Koran und das
Niederländisch aus der Schule. Zu Hause lernt er, dass Jungs wertvoller sind
als Mädchen, in der Schule, dass Jungen und Mädchen gleichberechtigt sind.
Seinen älteren Bruder Mohammed hat der Vater rausgeschmissen, weil der
eine niederländische Freundin hat. In der Schule gibt es Probleme, außer-
dem wird Issa in eine Prügelei verwickelt. Eines Tages entdeckt er jedoch,
was er wirklich gut kann – Geschichten und Witze erzählen. …
Karlijn Stoffels
Die neue Schule
Heute war kein Tag für schöne Dinge. Morgen musste er in seine neue Schu-
le. Nicht auf die Hauptschule wie Faruk und Hischam und Kautar. Nicht auf
die Realschule wie Ikram, Bilal, Gadischa und Hidzjre. Er musste ganz allein
zu der Schule mit dem Esel. Flora College BVU hieß sie und man wurde dort
zum Gärtner oder Tierpfleger ausgebildet.
Issa wollte kein Gärtner werden und schon gar kein Tierpfleger, aber der Leh-
rer hatte gesagt, er müsse in eine kleine Klasse gehen, mit einer besonderen
Betreuung, und die gab es nicht in jeder Schule.
2 Zu Beginn der Geschichte kommt der Junge in eine neue Schule. Was ist das Besondere an der Schule?
3 Lies nun einen weiteren Auszug aus dem Buch. Warum ist die Schule für Issa problematisch? In welchem Konflikt befindet sich Issa?
BVU = Berufsvorbe-reitender Unterricht; hier eine Schule, die nur lernschwache Schüler auf sehr praktische Art und Weise auf den Beruf des Gärtners oder des Tierpflegers vor-bereitet.
5
5
Schön, dass jeder anders ist! 13
Einen Auszug aus einem Jugendbuch lesen
Religiöse Schweinefl eischverbote
Im Judentum und im Islam ist der Verzehr von Schweinefl eisch verboten. Spätestens seit dem
12. Jahrhundert wurde das Verbot mit der „unreinen“ Lebensweise von Schweinen begründet.
So schrieb ein Leibarzt des ägyptischen Sultans Saladin: „Wenn das Gesetz das Schweinefl eisch
verbietet, so vor allem deshalb, weil die Lebensgewohnheiten und die Nahrung des Tiers höchst
unsauber und ekelerregend sind. Das Maul eines Schweins ist so schmutzig wie der Kot selbst.“
Sie gingen zurück zum Tierkundeklassenraum.
Dort durften manchmal die Tiere frei herumlaufen. Heute durften die
Zwerghühner aus dem Stall. Sie liefen ihnen zwischen den Füßen hindurch.
Issa konnte sich nicht daran gewöhnen. Zu Hause musste immer alles sauber
sein, wie in einem Tempel, und eine Schule war doch so etwas Ähnliches wie
ein Haus. In ein Haus gehörten keine Tiere.
Vor den Sommerferien, bei der Einschreibung für die neue Schule, war der
Vater mitgegangen, zum Tag der offenen Tür. Mit starrem Gesicht war er in
der Schule herumgelaufen, hatte geschnuppert, als sie die Küche betraten,
und sich in den Tierställen die Nase zugehalten. Als er die Schweine sah, war
er aus dem Stall gerannt und nach Hause gegangen.
Auch einige Kinder aus seiner alten Klasse hatten die Schule besichtigt, aber
keiner wollte etwas mit unreinen Schweinen zu tun haben.
„Du bist selbst schuld“, hatte sein Vater später gesagt. „Du hättest eine sau-
bere Arbeit in einem Büro bekommen können, wenn du dich angestrengt hät-
test.“
„Ich habe mich angestrengt“, hatte Issa leise gesagt. „Aber es ist so schwer.
Die Sprache.“
„Deine Cousins in Marokko lernen zwei Sprachen in der Schule, Französisch
und Arabisch, und sie bekommen gute Noten. Deine Großmutter spricht vier
Sprachen, Arabisch, Marokkanisch, Französisch und die Sprache der Berber.
Und dabei hat sie nie eine Schule besucht. Und mein Sohn hütet Schweine!“
„Wir sind alle Hirten“, sagte die Mutter. „Das sagt der Prophet, Friede sei mit
ihm.“
Der Vater rümpfte die Nase. „Schafhirten, ja.“
4 Warum ist Issas Vater am Tag der off enen Tür nach Hause gerannt? Versuche den Standpunkt des Vaters zu verstehen und lies dazu auch den Text „Religiöse Schweinefl eischverbote“.
10
15
20
25
30
14
Karikaturen zu einem Sachtext in Beziehung setzen
Karikaturen verstehen
1 Wähle eine Karikatur aus und erkläre sie: – Beschreibe, was du siehst:
Auf dem Bild sieht man …; in der Sprechblase steht … – Auf welches Thema macht die Karikatur aufmerksam?
Es geht um das Thema … – Was kannst du aus dem Satz in der Sprechblase schließen?
Mit dem Satz … wird ausgedrückt, … – Was soll mit der Karikatur erreicht werden?
Die Karikatur will darauf aufmerksam machen, …
2 In dem Buch „Papa, was ist ein Fremder?“ erklärt der Autor Tahar Ben Jelloun seiner Tochter, was Rassismus ist. Lies die Erklärung.
Karikatur:Zeichnung, auf der
nur bestimmte
charakteristische
Merkmale, Eigen-
schaften oder Ver-
haltensweisen
übertrieben darge-
stellt werden.
Karikaturen wollen
zum Nachdenken
anregen.
5
Papa, was ist Rassismus?Rassismus ist ein ziemlich verbreitetes
Verhalten, das es in jedem Land gibt
und das in manchen Ländern leider so
alltäglich geworden ist, dass es vielen
schon gar nicht mehr auffällt. Dieses
rassistische Verhalten besteht darin, an-
deren Menschen zu misstrauen, sie zu
verachten und ungerecht zu be-
handeln, und zwar nicht, weil sie
uns etwas Schlimmes angetan hät-
ten, sondern einzig und allein,
weil sie anders aussehen oder aus
einer anderen Kultur stammen als
wir.
10
3 Diskutiert: Was haben die Karikaturen mit dem Text zu tun?
Schön, dass jeder anders ist! 15Schön, dass jeder anders ist! 15Werkstatt SchreibenSchön, dass jeder anders ist! 15Werkstatt Sprechen und ZuhörenSchön, dass jeder anders ist! 15
Konfl ikte mit einem Standbild verdeutlichen
Über Probleme nachdenken und sie im Gespräch lösen
Überall, wo Menschen zusammenleben, kommt es zu Missverständnissen und Konfl ikten. Das passiert zum Beispiel, wenn Menschen andere Vorstel-lungen haben, weil sie älter sind, andere Dinge erlebt haben oder nach an-deren Regeln leben. In dieser Werkstatt lernt ihr, wie ihr mit solch kritischen Situationen umgehen sollt und wie ihr Probleme im Gespräch lösen könnt.
Johannes und Karim sind verschiedener Meinung: Johannes ärgert sich, dass Karim auf dem Schulhof Türkisch spricht, obwohl es eine Empfehlung gibt, auf dem Schulhof nur Deutsch zu reden. Karim hält diese Empfehlung für unsinnig.
1 Lest die Äußerungen von Johannes und Karim. a) Versuche möglichst genau zu erklären, worin der Konfl ikt besteht. b) Was meint Karim, wenn er sagt: „Ich denke auch, dass es etwas
mit Vorurteilen zu tun hat“? c) Stellt die Situation als Standbild dar. Erklärt euer Standbild: Bestimmt Gedankensprecher, die den Personen die Hand aufl egen
und deren Gefühle formulieren.
C Hinweise zum Einsatz eines Ge-dankensprechers fi ndet ihr auf Seite 298.
Johannes
Schritt 1: Herausfi nden, worin der Konfl ikt besteht
Ich fühle mich durch diese Empfehlung kontrol-liert und eingeengt. Die Deutschen wollen damit einfach nur darauf hinweisen, dass wir Ausländer sind und uns „anpassen” sollen, da wir ja in Deutschland leben. Wenn jemand in der Klasse Französisch oder Spanisch spre-chen würde, würde niemand etwas sagen … Ich denke auch, dass es etwas mit Vorur-teilen zu tun hat.
Ich fi nde es nicht in Ordnung, dass ihr auf dem Schulhof Türkisch redet. Ihr lästert bestimmt über uns. Wir verste-
hen nichts und müssen es als Belei-digung aufnehmen. Ihr wollt nicht mit uns reden. Das fi nde ich einfach nur schade! Ihr soll-tet nicht die Größten spielen
und euch mal Gedanken machen.
Karim
Vorurteileine feste, meist
negative Meinung
über Menschen
oder Dinge, von de-
nen man nicht viel
weiß oder versteht.
161616 Werkstatt SchreibenWerkstatt Sprechen und Zuhören16
Konfl ikte im Rollenspiel lösen
2 Macht jetzt ein Rollenspiel:Sprich in der Rolle von Johannes oder Karim und formuliere, was dich ärgert oder stört.Ich fi nde es schrecklich, dass ihr immer …Ich könnte platzen, wenn …Ich bin enttäuscht darüber, dass …
3 Spielt nun das Gespräch und versucht, euch gegenseitig zu verstehen und euch zu einigen:
– Fragen stellen: Warum … – Rückfragen stellen: Wie hast du das gemeint? – Etwas einräumen: Das stimmt, aber … – Verstehen, was der andere meint: Ach so hast du das gemeint!
Ich habe dich anders verstanden … – Vorschläge machen: Können wir uns nicht darauf einigen …
4 Beobachtet und kommentiert euer Rollenspiel: – Haben die Spieler den Konfl ikt und die Lösungsversuche deutlich
dargestellt? – Wie haben die Spieler ausgedrückt, was sie denken und fühlen? – Welche Rolle spielen Wortwahl, Lautstärke, Stimmführung usw.? – Haben sie auch Gestik und Mimik wirkungsvoll eingesetzt? – Haben sie sich an die Gesprächsregeln gehalten?
(vgl. Tipps 1–3)
Schritt 2: Sich über den eigenen Standpunkt klar werden und seine Gefühle deutlich aussprechen
Schritt 3: Im Gespräch nach einem Kompromiss suchen
Schritt 4: Das Rollenspiel beobachten und kommentieren
Tipp 1
Geh dem Konfl ikt nicht aus dem Weg. Versuche herauszu-fi nden, worin der Konfl ikt besteht:– Sprich über das,
was dich ärgert oder stört.
– Stelle warum-Fragen.
Tipp 2
Höre genau zu, was dein Gegenüber sagt:– Lass ihn aus-
reden.– Versuche, seinen
Standpunkt zu verstehen.
– Achte darauf, dass du ihn nicht angreifst oder verletzt.
Tipp 3
Sucht gemeinsam nach einer Lösung:– Versucht heraus-
zufi nden, wo es Gemeinsam-keiten gibt.
– Verzichtet auf extreme Meinun-gen.
– Überlegt, wo ihr Zugeständnisse machen könnt.
Schön, dass jeder anders ist! 17
Eine Geschichte lesen und weiterschreiben
Eine Geschichte über Vorurteile
Federica de Cesco
Spaghetti für zwei
Heinz war bald vierzehn und fühlte sich sehr cool. In der Klasse und auf dem
Fußballplatz hatte er das Sagen. Aber richtig schön würde das Leben erst
werden, wenn er im nächsten Jahr seinen Töff bekam und den Mädchen zei-
gen konnte, was für ein Kerl er war. Er mochte Monika, die Blonde mit den
langen Haaren aus der Parallelklasse, und ärgerte sich über seine entzünde-
ten Pickel, die er mit schmutzigen Nägeln ausdrückte. Im Unterricht machte
er gerne auf Verweigerung. Die Lehrer sollten bloß nicht auf den Gedanken
kommen, dass er sich anstrengte.
Mittags konnte er nicht nach Hause, weil der eine Bus zu früh, der andere zu
spät abfuhr. So aß er im Selbstbedienungsrestaurant, gleich gegenüber der
Schule.
„Italienische Gemüsesuppe“ stand im Menü. Eine Schnitte Brot dazu und er
würde bestimmt satt. Er setzte sich an einen freien Tisch, nahm den
Kaugummi aus dem Mund und klebte ihn unter den Stuhl. Da
merkte er, dass er den Löffel vergessen hatte. Heinz stand auf
und holte sich einen.
Als er zu seinem Tisch zurückstapfte, traute er seinen Augen
nicht: Ein Schwarzer saß an seinem Platz und aß seelenruhig
seine Gemüsesuppe! Heinz stand mit seinem Löffel fassungslos
da, bis ihn die Wut packte. Zum Teufel mit diesen Asylbewer-
bern! Der kam irgendwo aus Uagadugu, wollte sich in der Schweiz
breitmachen und jetzt fiel ihm nichts Besseres ein, als ausgerech-
net seine Gemüsesuppe zu verzehren! Schon möglich, dass so was
den afrikanischen Sitten entsprach, aber hierzulande war das eine bo-
denlose Unverschämtheit! Heinz öffnete den Mund, um dem Menschen laut-
stark seine Meinung zu sagen, als ihm auffiel, dass die Leute ihn komisch an-
sahen. Heinz wurde rot. Er wollte nicht als Rassist gelten. Aber was nun?
Plötzlich fasste er einen Entschluss. Er räusperte sich vernehmlich, zog einen
Stuhl zurück und setzte sich dem Schwarzen gegenüber. Dieser hob den
Kopf, blickte ihn kurz an und schlürfte ungestört die Suppe weiter. Heinz
presste die Zähne zusammen, dass seine Kinnbacken schmerzten. Dann
packte er energisch den Löffel, beugte sich über den Tisch und tauchte ihn in
Töff Moped
5
10
15
20
25
30
18
Eine Geschichte lesen und weiterschreiben
die Suppe. Der Schwarze hob abermals den
Kopf.
Sekundenlang starrten sie sich an. Heinz be-
mühte sich, die Augen nicht zu senken. Er
führte mit leicht zitternder Hand den Löffel
zum Mund und tauchte ihn zum zweiten Mal
in die Suppe. Seinen vollen Löffel in der Hand,
fuhr der Schwarze fort, ihn stumm zu be-
trachten. Dann senkte er die Augen auf sei-
nen Teller und aß weiter. Eine Weile verging.
Beide teilten sich die Suppe, ohne dass ein
Wort fiel. Heinz versuchte nachzudenken.
„Vielleicht hat der Mensch kein Geld, muss schon tagelang hungern. Dann
sah er die Suppe da stehen und bediente sich einfach. Schon möglich, wer
weiß? Vielleicht würde ich mit leerem Magen ähnlich reagieren? Und Deutsch
kann er anscheinend auch nicht, sonst würde er da nicht sitzen wie ein Klotz.
Ist doch peinlich. Ich an seiner Stelle würde mich schämen. Ob Schwarze
wohl rot werden können?“ Das leichte Klirren des Löffels, den der Afrikaner
in den leeren Teller legte, ließ Heinz die Augen heben. Der Schwarze hatte
sich zurückgelehnt und sah ihn an. Heinz konnte seinen Blick nicht deuten.
In seiner Verwirrung lehnte er sich ebenfalls zurück. Schweißtropfen perl-
ten auf seiner Oberlippe, sein Pulli juckte und die Lederjacke war verdammt
heiß! Er versuchte den Schwarzen abzuschätzen. „Junger Kerl. Etwas älter als
ich. Vielleicht sechzehn oder sogar schon achtzehn. Normal angezogen: Jeans,
Pulli, Windjacke. Sieht eigentlich nicht wie ein Obdachloser aus. Immerhin,
der hat meine halbe Suppe aufgegessen und sagt nicht einmal danke! Ver-
dammt, ich habe noch Hunger!“
Der Schwarze stand auf. Heinz blieb der Mund offen. „Haut der tatsächlich
ab? Jetzt ist aber das Maß voll! So eine Frechheit! Der soll mir wenigstens die
halbe Gemüsesuppe bezahlen!“ Er wollte aufspringen und Krach schlagen.
Da sah er, wie sich der Schwarze mit einem Tablett in der Hand wieder an-
stellte. Heinz fiel unsanft auf seinen Stuhl zurück und saß da wie ein Ölgöt-
ze. „Also doch: Der Mensch hat Geld! Aber bildet der sich vielleicht ein, dass
ich ihm den zweiten Gang bezahle?“
Heinz griff hastig nach seiner Schulmappe. „Bloß weg von hier, bevor er mich
zur Kasse bittet! Aber nein, sicherlich nicht. Oder doch?“
Heinz ließ die Mappe los und kratzte nervös an einem Pickel. Irgendwie
wollte er wissen, wie es weiterging.
35
40
45
50
55
60
65
70
Schön, dass jeder anders ist! 19
Eine Geschichte lesen und weiterschreiben
Der Schwarze hatte einen Tagesteller bestellt. Jetzt stand er vor der Kasse
und – wahrhaftig – er bezahlte! Heinz schniefte. „Verrückt!“, dachte er. „To-
tal gesponnen!“ Da kam der Schwarze zurück. Er trug das Tablett, auf dem ein
großer Teller Spaghetti stand, mit Tomatensoße, vier Fleischbällchen und
zwei Gabeln. Immer noch stumm, setzte er sich Heinz gegenüber, schob den
Teller in die Mitte des Tisches, nahm eine Gabel und begann zu essen, wobei
er Heinz ausdruckslos in die Augen schaute. Heinz’ Wimpern flatterten. Hei-
liger Strohsack! Dieser Typ forderte ihn tatsächlich auf, die Spaghetti mit
ihm zu teilen! Heinz brach der Schweiß aus. Was nun? Sollte er essen? Nicht
essen? Seine Gedanken überstürzten sich. Wenn der Mensch doch wenig-
stens reden würde! „Na gut. Er aß die Hälfte meiner Suppe, jetzt esse ich die
Hälfte seiner Spaghetti, dann sind wir quitt!“ Wütend und beschämt griff
Heinz nach der Gabel, rollte die Spaghetti auf und steckte sie in den Mund.
Schweigen. Beide verschlangen die Spaghetti. „Eigentlich nett von ihm, dass
er mir eine Gabel brachte“, dachte Heinz. „Da komme ich noch zu einem gu-
ten Spaghettiessen, das ich mir heute nicht geleistet hätte. Aber was soll ich
jetzt sagen? Danke? Saublöd! Einen Vorwurf machen kann ich ihm auch nicht
mehr. Vielleicht hat er gar nicht gemerkt, dass er meine Suppe aß. Oder viel-
leicht ist es üblich in Afrika, sich das Essen zu teilen? Schmecken gut, die Spa-
ghetti. Das Fleisch auch. Wenn ich nur nicht so schwitzen würde!“
Die Portion war sehr reichlich. Bald hatte Heinz keinen Hunger mehr. Dem
Schwarzen ging es ebenso. Er legte die Gabel aufs Tablett und putzte sich mit
der Papierserviette den Mund ab. Heinz räusperte sich und scharrte mit den
Füßen. Der Schwarze lehnte sich zurück, schob die Daumen in die Jeansta-
sche und sah ihn an. Undurchdringlich. Heinz kratzte sich unter dem Roll-
kragen, bis ihm die Haut schmerzte. „Heiliger Bimbam! Wenn ich nur wüsste,
was er denkt!“ [ ... ]
75
80
85
90
95
Eine Geschichte lesen und weiterschreiben
20
1 Erzählt, was Heinz im Restaurant passiert.
2 Was erfahrt ihr über Heinz? Erstellt einen Figurensteckbrief.
3 Wie würdest du Heinz charakterisieren? – Findest du Eigenschaften, die passen?
Begründe deine Meinung mit Stellen aus dem Text. – Beschreibe auch, wie sich Heinz im Laufe der Geschichte verändert. selbstbewusst unsicher bescheiden angeberisch freundlich
off en cool nervös arrogant verlegen ängstlich
4 Heinz kennt den farbigen Jungen nicht, hat aber trotzdem eine klare Meinung über ihn. Welche Vorurteile hat Heinz über den Jungen? Markiere im Text (Folie) die Gedanken, die ihm durch den Kopf gehen.
5 Die Geschichte „Spaghetti für zwei“ ist an dieser Stelle noch nicht zu Ende. Schreibe einen Schluss.
6 Stellt euch eure Texte vor , bevor ihr sie mit dem Originalschluss auf Seite 299 vergleicht.
7 Lest jetzt den Schluss der Geschichte auf Seite 299. – Warum erlebt Heinz „den peinlichsten Augenblick seines Lebens“
(Z. 8)? – Wie würdest du Marcel charakterisieren? Begründe deine Meinung
aus dem Text. – Wie könnte es mit Heinz und Marcel weitergehen?
Inszeniert und spielt die Geschichte (siehe Seite 191).
Ideen und Anregungen
‡ Vorhaben: Einwanderung Zu allen Zeiten sind Menschen in andere Länder eingewandert. Erstellt
eine Plakatwand zum Thema „Einwanderung“.
SteckbriefName: HeinzAlter:Land:Aussehen:Freizeit/Hobby:
Überprüfe dein Wissen und Können 21
Über Probleme nachdenken und sie im Gespräch lösen
In dem Buch „Wir alle für immer zusammen” von Guus Kuijer geht es um das niederländische Mädchen Polleke, dessen Freund Mimun aus Marokko kommt. In Pollekes Klasse wird über ein „Berufsprojekt” diskutiert. Jede Schülerin und jeder Schüler soll sagen, was er einmal später werden will. Polleke sagt „Dichterin“. Was daraus folgt, kannst du in diesem Auszug lesen …
1 Lies nun die Episode aus dem Buch.
Guus Kuijer
„Aber ich hab es aus Versehen getan“
Auf der Straße drückte Mimun mir einen Zettel in die Hand.
Ich gehe nicht mehr mit dir, denn ich glaub, in meiner Kultur ist
das gar nicht erlaubt, dass eine Frau Dichter ist, ganz bestimmt
ist das nicht erlaubt, und wer will auch schon Dichter sein?
Als ich das Mama erzählte, lachte sie. Sie sagte: „Man muss
schon was dafür übrig haben, Polleke.“
„Wofür?“
„Für die Kunst.“
Manchmal könnte ich ihr glatt eine scheuern.
Als ich im Bett lag, hab ich mir ein Gedicht über Mimun ausge-
dacht. Das braucht sonst keiner zu wissen. Nicht mal meine
Mutter.
Ich musste ein bisschen weinen und dann bin ich eingeschla-
fen.
Am nächsten Tag schrieb ich Mimun einen Zettel:
Deine Scheißkultur kannst du dir sonst wohin stecken!
Dann geh doch mit so ’nem Mädchen, das immer mit einem
Staubtuch auf dem Kopf rumläuft. Ist ja auch praktisch.
Polleke
5
10
15
22
Das war dumm von mir, denn der Lehrer fand den Zettel. Er war ganz ge-
schockt. Das Berufsprojekt wurde abgeblasen. Wir mussten alles wegräu-
men. Wir mussten die Arme übereinander legen und gut zuhören. Dann
sagte der Lehrer, wir würden ein Antirassismusprojekt machen. Jetzt weiß
ich, dass man sich höchstens als faule Kartoffel beschimpfen darf. Alles ande-
re ist Rassismus.
Aber ich hab es aus Versehen getan. Weil ich so verrückt bin nach diesem be-
scheuerten Marokkaner.
Als ich Mama davon erzählte, wurde sie auch noch wütend! Nicht auf mich,
sondern auf den Lehrer.
Ich dachte, sie platzt gleich.
„Was?“, brüllte sie. „Hat dieser Kakerlak dich etwa als Rassistin beschimpft?“
Darüber musste ich nachdenken. Hatte dieser Kakerlak, ich meine, hatte der
Lehrer mich als Rassistin beschimpft?
„Nein”, sagte ich. „Im tiefsten Innern sind wir alle ein bisschen rassistisch,
das hat er, glaub ich, gesagt.“
„Gebrauch mal deinen Verstand, Polleke“, brüllte meine Mutter. „Das kam
doch NACH deinem Zettel, oder? Deine Scheißkultur kannst du dir sonst wo-
hin stecken!, das war doch der Auslöser, oder?“
Ja, so war es.
„Und das hast du geschrieben, weil Mimun mit dir Schluss gemacht hat?“
Ich nickte. Ich merkte, wie meine Augen feucht wurden. Ich schüttelte den
Kopf, um die Tränen rauszuschütteln. Wie ich dieses Heulgefühl hasse!
Das Gesicht meiner Mutter hellte sich auf. Sie ließ sich in einen Sessel fallen
und ihre Schultern fingen an zu zucken. Dann zuckte auch der Rest. Meine
Mutter ist einsdreiundachtzig groß und dick, da gibt es also einiges zum Zu-
cken. Erst dachte ich, sie weint, weil ich traurig bin, aber das war es nicht. Sie
zuckte vor Lachen!
„Weil er mit dir Schluss gemacht hat!“, quiekte sie. „Rassismus!“
2 Habt ihr den Text verstanden? Wählt eine Aufgabe aus: a Stellt den Auszug als Standbild mit Gedankensprecher dar. – Überlegt, welche Gefühle von Polleke und ihrer Mutter ihr darstel-
len möchtet. – Macht euch Notizen, was die Gedankensprecher sagen könnten.
b Beantworte folgende Fragen schriftlich: – Warum will Mimun nicht mehr mit Polleke gehen?
C Hinweise dazu findest du auf Sei-te 298.
20
25
30
35
40
45
Überprüfe dein Wissen und Können 23
– Warum denkt der Lehrer, dass Polleke rassistisch gehandelt hat? – Warum denkt die Mutter, dass Polleke keine Rassistin ist? – Welchen Standpunkt vertrittst du? Begründe ihn.
3 Wähle eine der beiden Aufgaben aus: Schreibt Pollekes Brief nach dem Gespräch mit der Mutter
a an Mimun oder b an den Lehrer.
4 Spielt das Konfl iktgespräch zwischen Pollekes Mutter und dem Lehrer: – Wer hat wen zum Gespräch gebeten? – Welche Standpunkte vertreten die Personen? – Worin besteht der Konfl ikt? – Welche Lösung wäre möglich? Beachtet die Gesprächstipps aus der Werkstatt, Seite 15/16.
‡ In EXTRA (S. 24) kannst du noch einmal üben, wie man gemeinsam ei-nen Kompromiss fi ndet. ‡ In EXTRA (Seite 25/26) lernst du an einem literarischen Text, den Standpunkt einer Figur einzunehmen und da-durch Vorurteile zu widerlegen.
‡ Wie man Konfl ikte im Gespräch löst, kannst du auch noch einmal in der Werkstatt (Seite 15/16) üben.
„Meine Auswahl, Meine Begründung, Eure Rückmeldung“▸▸▸
Wähle eine Arbeit aus dem Kapitel aus, von der du denkst, dass sie dir besonders gut gelungen ist. Deine Lehrerin/dein Lehrer soll daran sehen, was du dabei gelernt hast. Hinweise dazu fi ndest du auch in der Werkstatt Methoden und Arbeitstechniken auf Seite 266/267.
4 Konfl ikte erkennen und darüber sprechen4 Den eigenen Standpunkt darlegen und den Standpunkt
des anderen verstehen4 Im Gespräch (Rollenspiel) eine gemeinsame Lösung fi nden
Das kann ich schon!
2424 EXTRA
Konfl ikte in einem Rollenspiel lösen
Konfl ikte im Gespräch lösen
1 Suche dir einen Partner. Wählt zwei Kärtchen aus und macht ein Rollen-spiel. Sucht euch eine Rolle aus. Spielt als Sebastian und sein Bruder oder als Klara und ein Mitschüler.
– Erklärt den Standpunkt. – Versucht zu verstehen, warum die Personen sich so verhalten. – Schreibt auf, wie Sebastians Bruder und Klaras Mitschüler die Situa-
tion sehen.
2 Spielt, wie die beiden ins Gespräch kommen und nach einem Kompro-miss suchen. Nutzt dabei die Gesprächsformeln.
– Warum willst du immer …
– Kannst du mir erklären, …
– Was hältst du davon, wenn …
– Na gut, dann …
– Ich ärgere mich immer, weil …
– Ich bin enttäuscht, dass …
– Ich fi nde seltsam, dass du …
– Ich sehe ein, dass du …
Klaras Mitschüler
entgegnet:
„Nö, du willst doch nur
Bestimmerin sein.“
Sebastians
Bruder sagt:
„Zu Hause be-
stimmt mein
Bruder immer
alles. Das ge-
fällt mir gar
nicht! …“
Sebastians
Bruder sagt:
„Zu Hause be-
Sebastian meint:„Zu Hause habe ich das Kommando. Wenn ich mit meinem Bruder vor dem Fernseher sitze, entscheide ich, was wir gucken. Weil ich der Ältere bin. In der Schule bestimmen die Klassensprecher. Aber da will ich gar nicht das Kommando haben. Da mache ich lieber Quatsch.“
Klaras Mitschüler
Klara sagt:„Ich bestimme, wo es langgeht. Ich hab dann ein gutes Gefühl, weil alles ist, wie ich es will.“
Schön, dass jeder anders ist! 25Schön, dass jeder anders ist! 25EXTRA
Eine Geschichte lesen und die Perspektive von Figuren einnehmen
Über Vorurteile nachdenken
Joseph lebt in einer australischen Kleinstadt. Als Kind sieht er hier manch-mal einen Mann, der durch die Stadt rennt, wie ein Getriebener. Dieser „Running Man“ verfolgt Joseph bis in seine Träume hinein. Auch als Vier-zehnjähriger wird Joseph noch von diesen Alpträumen geplagt, bis er eines Tages eine wichtige Entdeckung macht …
1 Lies den Auszug aus dem Buch von Michael Gerard Bauer und finde heraus, warum Joseph solche Angst vor dem „Running Man“ hatte.
Michael Gerard Bauer
Angst vor dem „Running Man“
Seine Mutter bezeichnete die abgerissene Gestalt, die die Fußwege von Ash-
grove hinunterhetzte, immer als „diesen komischen Kerl“, doch Joseph selbst
hatte noch nie etwas Komisches an dem Running Man gesehen. Für ihn war
er, ganz wörtlich, Stoff für Albträume.
Joseph nannte ihn den Running Man, denn genau das tat er – er rannte, und
zwar ständig. Doch er hatte nicht die geschmeidigen Bewegungen eines Ath-
leten, sondern lief in einem etwas schiefen Galopp, so als würde er von einem
Dämon verfolgt, den nur er selbst sehen konnte.
Zu Josephs Erleichterung kreuzten ihre Wege sich selten, doch wenn, dann
raste Josephs Herz wie die Füße des Running Man, selbst dann noch, wenn
die rastlose Gestalt längst aus seinem Blickfeld verschwunden war. Und es
war nicht nur die verzweifelte Hast, die den Running Man so einzigartig
machte. Seine Kleider waren alt und abgetragen und hingen an dem großen,
mageren Knochengestell wie Lumpen an einer Vogelscheuche, sein langes
strähniges Haar unter dem verknitterten Hut mit schmaler Krempe stand
wirr in alle Richtungen ab. Verstärkt wurde dieser irritierende Eindruck
noch durch die hervortretenden großen Augen, die über den spitzen Wan-
genknochen wild hin und her jagten. Insgesamt war sein Auftreten das eines
Menschen, der sich den größten Teil seines Lebens versteckt gehalten hatte
und sich plötzlich in eine fremde, erschreckende Welt hinausgestoßen fand.
Joseph wusste, dass er mit seinen Gefühlen gegenüber dem Running Man
nicht allein dastand. Viele Menschen beäugten ihn misstrauisch und angewi-
5
10
15
20
2626 EXTRA
Eine Geschichte lesen und die Perspektive von Figuren einnehmen
dert. Die meisten gingen ihm aus dem Weg. Eltern zogen ihre Kinder unauf-
fällig, aber doch entschieden weg.
Gelegentlich erhaschte Joseph einen Blick auf den Running Man, wenn die-
ser wie ein Geist die Arthur Street entlangkam, um dann in der Ashgrove
Avenue zu verschwinden, doch gewöhnlich hatte er keine Ahnung, wo der
Mann herkam und wo er hinlief. Abgesehen von diesen zufälligen Begeg-
nungen auf der Straße sah Joseph ihn nur sonntags, im Gottesdienst in der
Judaskirche. Er erinnerte sich auch, dass Mrs. Mossop einmal empört geäu-
ßert hatte, dass der Running Man recht oft auf Beerdigungen auftauche, „un-
gewaschen und ohne Einladung“. In der Kirche saß er nie anderswo als in der
letzten Reihe. Dort hockte er am Ende der Kirchenbank, zusammengekauert
wie ein Mensch, der Schutz vor einem Schneesturm sucht, und seine Blicke
schossen wild hin und her, ohne konkret auf irgendetwas gerichtet zu sein.
Sein Körper schaukelte kaum merklich, aber doch ununterbrochen. Egal, wie
voll die Kirche sein mochte, in der Nähe des Running Man blieben immer
Plätze frei.
2 Was erfährst du über den „Running Man“? – Wie sieht er aus? – Wie verhält er sich?
3 Was denken Mrs. Mossop und die anderen Leute über den „Running Man“?
4 Wie verhalten sie sich ihm gegenüber? Unterstreiche (Folie) die Belege aus dem Text.
Viele Jahre später stößt Joseph zufällig auf einen Zeitungsartikel:
Das in Druckschrift fein säuberlich neben den Artikel geschriebene Datum
war der 22. April 1979. Das Gesicht des Running Man war natürlich noch
deutlich jünger und auch etwas voller, die Gesichtszüge weniger scharf, die
Haut nicht so gelblich. Das Haar war kürzer, und er trug Oberhemd und Kra-
watte. Joseph hätte das Bild leicht überblättern können, ohne dass es eine
Reaktion in ihm ausgelöst hätte, wäre da nicht etwas gewesen – der so ver-
traute leidende, qualvolle Blick, der so schmerzhaft das Gesicht des Running
Man prägte.
25
30
35
40
45
Schön, dass jeder anders ist! 27Schön, dass jeder anders ist! 27EXTRA
Eine Geschichte lesen und die Perspektive von Figuren einnehmen
Auf dem Foto saß der Running Man am Rande eines Gehwegs, die Füße im
Rinnstein. Jemand in Uniform – ein Sanitäter oder ein Feuerwehrmann –
legte ihm eine Hand auf die Brust, während ein zweiter Mann, der mit dem
Rücken zur Kamera stand, ihn an der linken Schulter hielt. Der Running Man
beugte sich weit vor, und im grellen Licht des Kamerablitzes war sein angst-
verzerrtes Gesicht gespenstisch weiß. Um die drei herum herrschte Dunkel-
heit. Die Schlagzeile unter dem Foto lautete: Mutter und Babys im Feuer um-
gekommen.
Joseph hatte den Artikel viele Male gelesen, und so hatte er die Einzelheiten
sofort parat. Mit richtigem Namen hieß der Running Man Simon Jamieson. Er
hatte in einer Buchhandlung in der Stadt gearbeitet. Die Ursache des Feuers
war nicht bekannt, vermutlich ein Kurzschluss. Bis die Nachbarn aufmerk-
sam wurden, stand das alte Holzhaus bereits in Flammen, die zusammen mit
dem dichten Rauch alle Bemühungen, jemanden daraus zu retten, unmöglich
machten. Mr Jamieson, der erst spät von der Arbeit nach Hause kam, habe
verzweifelt versucht, ins Haus vorzudringen, sei jedoch von Feuerwehrleu-
ten und Passanten daran gehindert worden. Drei Opfer des Brandes seien im
Kinderzimmer tot aufgefunden worden: Mrs Jamieson, 23, und ihre Zwil-
lingstöchter Amy und Jessica, elf Monate.
5 Versetze dich in die Lage von Joseph: Was denkt er nun über den „Running Man“ (Simon Jamieson)?
6 Schreibe Josephs Brief an Mrs. Mossop. Beachte die folgenden Schreibhinweise und die formalen Regeln eines Briefes:
50
55
60
65
– Wähle die richtige Anrede und mache dein Anliegen deutlich: Liebe Frau Mossop, schon lange …
– Stelle am Anfang deines Briefes noch einmal dar, was Mrs. Mossop und die anderen Leute über Simon Jamieson denken: Ich beobachte schon lange, wie …
– Mache deinen Standpunkt deutlich: Nicht richtig finde ich, dass …
– Versuche Mrs. Mossop zu erklären, warum sie ihre Vorurteile aufgeben sollte. Verwende dabei die Informationen aus dem Zeitungsartikel. Überlege dir Lösungsvorschläge, wie die Leute in Zukunft mit Simon Jamieson umgehen sollten.