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Sieh dir in der Schule alle Mit- schüler an, und du wirst merken, dass sie alle verschieden sind und dass diese Vielfalt etwas Schönes ist. Sie ist eine Chance für die Menschheit. Diese Schüler kom- men aus ganz unterschiedlichen Welten, sie können dir Dinge ge- ben, die du nicht hast, so wie du ihnen auch etwas geben kannst, das sie nicht kennen. Auf diese Weise ergänzen und bereichern wir uns gegenseitig. Tahar Ben Jelloun In diesem Kapitel geht es um das Anderssein, z. B. weil man anders aussieht, sich anders verhält oder eine andere Meinung hat. Dass die Menschen so verschieden sind, macht die Welt vielfältig und interessant. Manchmal kön- nen aber auch Spannungen und Konflikte daraus entstehen. Das passiert z. B., wenn wir das Anderssein nicht akzeptieren und denken, jeder sollte so sein wie wir. In diesem Kapitel lernt ihr, – die Perspektive zu wechseln und euch in andere hineinzuversetzen, – aus verschiedenen Perspektiven zu erzählen und zu schreiben, – über Konflikte nachzudenken und miteinander ins Gespräch zu kommen, – im Gespräch nach Lösungen für Spannungen und Konflikte zu suchen. Schön, dass jeder anders ist! Mertkan Özdemir Ina Elison N. Becker & G. Grey Familie Stroinska Adriana Müller Gomez-Tutor Zipse Beyer-Bretz 5 10

Schön, dass jeder anders ist! - Westermann Gruppe€¦ · weil sie anders aussehen oder aus einer anderen Kultur stammen als wir. 10 ... chen würde, würde niemand etwas sagen …

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Sieh dir in der Schule alle Mit-

schüler an, und du wirst merken,

dass sie alle verschieden sind und

dass diese Vielfalt etwas Schönes

ist. Sie ist eine Chance für die

Menschheit. Diese Schüler kom-

men aus ganz unterschiedlichen

Welten, sie können dir Dinge ge-

ben, die du nicht hast, so wie du

ihnen auch etwas geben kannst,

das sie nicht kennen. Auf diese

Weise ergänzen und bereichern

wir uns gegenseitig.

Tahar Ben Jelloun

In diesem Kapitel geht es um das Anderssein, z. B. weil man anders aussieht, sich anders verhält oder eine andere Meinung hat. Dass die Menschen so verschieden sind, macht die Welt vielfältig und interessant. Manchmal kön-nen aber auch Spannungen und Konfl ikte daraus entstehen. Das passiert z. B., wenn wir das Anderssein nicht akzeptieren und denken, jeder sollte so sein wie wir.

In diesem Kapitel lernt ihr,– die Perspektive zu wechseln und euch in andere hineinzuversetzen, – aus verschiedenen Perspektiven zu erzählen und zu schreiben,– über Konfl ikte nachzudenken und miteinander ins Gespräch zu kommen,– im Gespräch nach Lösungen für Spannungen und Konfl ikte zu suchen.

Schön, dass jeder anders ist!

Mertkan Özdemir

Ina Elison

N. Becker & G. Grey

Familie Stroinska

Adriana Müller

Gomez-Tutor

Zipse

Beyer-Bretz

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1 Was fällt euch an den Namen auf den Klingelschildern auf? Was kann man daran erkennen?

2 Bildet Gruppen. Jede Gruppe sucht sich eines der beiden Gedichte aus und schreibt es auf ein großes Blatt Papier.

– Wem etwas einfällt, der schreibt seine Gedanken zum Text hinzu. – Sprecht über eure Ideen und Erfahrungen.

3 Lest das Zitat von Tahar Ben Jelloun. a) Was bedeutet der Satz „Vielfalt ist etwas Schönes“? b) Sucht eigene Beispiele für Tahar Ben Jellouns Meinung.

Vorhaben: Andere Kulturen kennenlernen Haltet Kurzreferate über verschiedene Länder:

– Sammelt Informationen über Land und Leute. – Informiert euch über Sprache, Kultur und Religion. – Vergleicht die Lebensweisen und Kulturen.

C Hinweise zur Durch-führung von Vorhaben findet ihr in Wissen und Können auf Seite 297.

Karlhans Frank

Du und ich

Du bist anders als ich,

ich bin anders als du.

Gehen wir aufeinander zu,

schauen uns an,

erzählen uns dann,

was du gut kannst,

was ich nicht kann,

was ich so treibe,

was du so machst,

worüber du weinst,

worüber du lachst,

ob du Angst spürst bei

Nacht,

welche Sorgen ich trag,

welche Wünsche du hast,

welche Farbe ich mag,

was traurig mich stimmt,

was Freude mir bringt,

wie wer was bei

euch kocht,

wer was wie bei

uns singt …

Und plötzlich erkennen

wir –

waren wir blind? –,

dass wir innen uns

äußerst ähnlich sind.

Für uns

sind die Andern anders.

Für die Andern

sind wir anders.

Anders sind wir,

anders die Andern,

wir alle andern.

James Krüss

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Ein Auszug aus einem Jugendbuch lesen

Begegnung der Kulturen: Standpunkte verstehen und Kompromisse finden

1 Lies den Klappentext des Buches „Marokko am See”. a) Was erfährst du über die Hauptfigur? In welcher Situation befindet

Issa sich? b) Welche Probleme werden im Klappentext angesprochen?

Issa aus Marokko lebt in Amsterdam – ein Leben in zwei Welten. Den Kampf

der Kulturen erlebt er hautnah. Er kann drei Sprachen, aber keine so rich-

tig: die seiner marokkanischen Eltern, das Arabisch aus dem Koran und das

Niederländisch aus der Schule. Zu Hause lernt er, dass Jungs wertvoller sind

als Mädchen, in der Schule, dass Jungen und Mädchen gleichberechtigt sind.

Seinen älteren Bruder Mohammed hat der Vater rausgeschmissen, weil der

eine niederländische Freundin hat. In der Schule gibt es Probleme, außer-

dem wird Issa in eine Prügelei verwickelt. Eines Tages entdeckt er jedoch,

was er wirklich gut kann – Geschichten und Witze erzählen. …

Karlijn Stoffels

Die neue Schule

Heute war kein Tag für schöne Dinge. Morgen musste er in seine neue Schu-

le. Nicht auf die Hauptschule wie Faruk und Hischam und Kautar. Nicht auf

die Realschule wie Ikram, Bilal, Gadischa und Hidzjre. Er musste ganz allein

zu der Schule mit dem Esel. Flora College BVU hieß sie und man wurde dort

zum Gärtner oder Tierpfleger ausgebildet.

Issa wollte kein Gärtner werden und schon gar kein Tierpfleger, aber der Leh-

rer hatte gesagt, er müsse in eine kleine Klasse gehen, mit einer besonderen

Betreuung, und die gab es nicht in jeder Schule.

2 Zu Beginn der Geschichte kommt der Junge in eine neue Schule. Was ist das Besondere an der Schule?

3 Lies nun einen weiteren Auszug aus dem Buch. Warum ist die Schule für Issa problematisch? In welchem Konflikt befindet sich Issa?

BVU = Berufsvorbe-reitender Unterricht; hier eine Schule, die nur lernschwache Schüler auf sehr praktische Art und Weise auf den Beruf des Gärtners oder des Tierpflegers vor-bereitet.

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Einen Auszug aus einem Jugendbuch lesen

Religiöse Schweinefl eischverbote

Im Judentum und im Islam ist der Verzehr von Schweinefl eisch verboten. Spätestens seit dem

12. Jahrhundert wurde das Verbot mit der „unreinen“ Lebensweise von Schweinen begründet.

So schrieb ein Leibarzt des ägyptischen Sultans Saladin: „Wenn das Gesetz das Schweinefl eisch

verbietet, so vor allem deshalb, weil die Lebensgewohnheiten und die Nahrung des Tiers höchst

unsauber und ekelerregend sind. Das Maul eines Schweins ist so schmutzig wie der Kot selbst.“

Sie gingen zurück zum Tierkundeklassenraum.

Dort durften manchmal die Tiere frei herumlaufen. Heute durften die

Zwerghühner aus dem Stall. Sie liefen ihnen zwischen den Füßen hindurch.

Issa konnte sich nicht daran gewöhnen. Zu Hause musste immer alles sauber

sein, wie in einem Tempel, und eine Schule war doch so etwas Ähnliches wie

ein Haus. In ein Haus gehörten keine Tiere.

Vor den Sommerferien, bei der Einschreibung für die neue Schule, war der

Vater mitgegangen, zum Tag der offenen Tür. Mit starrem Gesicht war er in

der Schule herumgelaufen, hatte geschnuppert, als sie die Küche betraten,

und sich in den Tierställen die Nase zugehalten. Als er die Schweine sah, war

er aus dem Stall gerannt und nach Hause gegangen.

Auch einige Kinder aus seiner alten Klasse hatten die Schule besichtigt, aber

keiner wollte etwas mit unreinen Schweinen zu tun haben.

„Du bist selbst schuld“, hatte sein Vater später gesagt. „Du hättest eine sau-

bere Arbeit in einem Büro bekommen können, wenn du dich angestrengt hät-

test.“

„Ich habe mich angestrengt“, hatte Issa leise gesagt. „Aber es ist so schwer.

Die Sprache.“

„Deine Cousins in Marokko lernen zwei Sprachen in der Schule, Französisch

und Arabisch, und sie bekommen gute Noten. Deine Großmutter spricht vier

Sprachen, Arabisch, Marokkanisch, Französisch und die Sprache der Berber.

Und dabei hat sie nie eine Schule besucht. Und mein Sohn hütet Schweine!“

„Wir sind alle Hirten“, sagte die Mutter. „Das sagt der Prophet, Friede sei mit

ihm.“

Der Vater rümpfte die Nase. „Schafhirten, ja.“

4 Warum ist Issas Vater am Tag der off enen Tür nach Hause gerannt? Versuche den Standpunkt des Vaters zu verstehen und lies dazu auch den Text „Religiöse Schweinefl eischverbote“.

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Karikaturen zu einem Sachtext in Beziehung setzen

Karikaturen verstehen

1 Wähle eine Karikatur aus und erkläre sie: – Beschreibe, was du siehst:

Auf dem Bild sieht man …; in der Sprechblase steht … – Auf welches Thema macht die Karikatur aufmerksam?

Es geht um das Thema … – Was kannst du aus dem Satz in der Sprechblase schließen?

Mit dem Satz … wird ausgedrückt, … – Was soll mit der Karikatur erreicht werden?

Die Karikatur will darauf aufmerksam machen, …

2 In dem Buch „Papa, was ist ein Fremder?“ erklärt der Autor Tahar Ben Jelloun seiner Tochter, was Rassismus ist. Lies die Erklärung.

Karikatur:Zeichnung, auf der

nur bestimmte

charakteristische

Merkmale, Eigen-

schaften oder Ver-

haltensweisen

übertrieben darge-

stellt werden.

Karikaturen wollen

zum Nachdenken

anregen.

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Papa, was ist Rassismus?Rassismus ist ein ziemlich verbreitetes

Verhalten, das es in jedem Land gibt

und das in manchen Ländern leider so

alltäglich geworden ist, dass es vielen

schon gar nicht mehr auffällt. Dieses

rassistische Verhalten besteht darin, an-

deren Menschen zu misstrauen, sie zu

verachten und ungerecht zu be-

handeln, und zwar nicht, weil sie

uns etwas Schlimmes angetan hät-

ten, sondern einzig und allein,

weil sie anders aussehen oder aus

einer anderen Kultur stammen als

wir.

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3 Diskutiert: Was haben die Karikaturen mit dem Text zu tun?

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Schön, dass jeder anders ist! 15Schön, dass jeder anders ist! 15Werkstatt SchreibenSchön, dass jeder anders ist! 15Werkstatt Sprechen und ZuhörenSchön, dass jeder anders ist! 15

Konfl ikte mit einem Standbild verdeutlichen

Über Probleme nachdenken und sie im Gespräch lösen

Überall, wo Menschen zusammenleben, kommt es zu Missverständnissen und Konfl ikten. Das passiert zum Beispiel, wenn Menschen andere Vorstel-lungen haben, weil sie älter sind, andere Dinge erlebt haben oder nach an-deren Regeln leben. In dieser Werkstatt lernt ihr, wie ihr mit solch kritischen Situationen umgehen sollt und wie ihr Probleme im Gespräch lösen könnt.

Johannes und Karim sind verschiedener Meinung: Johannes ärgert sich, dass Karim auf dem Schulhof Türkisch spricht, obwohl es eine Empfehlung gibt, auf dem Schulhof nur Deutsch zu reden. Karim hält diese Empfehlung für unsinnig.

1 Lest die Äußerungen von Johannes und Karim. a) Versuche möglichst genau zu erklären, worin der Konfl ikt besteht. b) Was meint Karim, wenn er sagt: „Ich denke auch, dass es etwas

mit Vorurteilen zu tun hat“? c) Stellt die Situation als Standbild dar. Erklärt euer Standbild: Bestimmt Gedankensprecher, die den Personen die Hand aufl egen

und deren Gefühle formulieren.

C Hinweise zum Einsatz eines Ge-dankensprechers fi ndet ihr auf Seite 298.

Johannes

Schritt 1: Herausfi nden, worin der Konfl ikt besteht

Ich fühle mich durch diese Empfehlung kontrol-liert und eingeengt. Die Deutschen wollen damit einfach nur darauf hinweisen, dass wir Ausländer sind und uns „anpassen” sollen, da wir ja in Deutschland leben. Wenn jemand in der Klasse Französisch oder Spanisch spre-chen würde, würde niemand etwas sagen … Ich denke auch, dass es etwas mit Vorur-teilen zu tun hat.

Ich fi nde es nicht in Ordnung, dass ihr auf dem Schulhof Türkisch redet. Ihr lästert bestimmt über uns. Wir verste-

hen nichts und müssen es als Belei-digung aufnehmen. Ihr wollt nicht mit uns reden. Das fi nde ich einfach nur schade! Ihr soll-tet nicht die Größten spielen

und euch mal Gedanken machen.

Karim

Vorurteileine feste, meist

negative Meinung

über Menschen

oder Dinge, von de-

nen man nicht viel

weiß oder versteht.

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161616 Werkstatt SchreibenWerkstatt Sprechen und Zuhören16

Konfl ikte im Rollenspiel lösen

2 Macht jetzt ein Rollenspiel:Sprich in der Rolle von Johannes oder Karim und formuliere, was dich ärgert oder stört.Ich fi nde es schrecklich, dass ihr immer …Ich könnte platzen, wenn …Ich bin enttäuscht darüber, dass …

3 Spielt nun das Gespräch und versucht, euch gegenseitig zu verstehen und euch zu einigen:

– Fragen stellen: Warum … – Rückfragen stellen: Wie hast du das gemeint? – Etwas einräumen: Das stimmt, aber … – Verstehen, was der andere meint: Ach so hast du das gemeint!

Ich habe dich anders verstanden … – Vorschläge machen: Können wir uns nicht darauf einigen …

4 Beobachtet und kommentiert euer Rollenspiel: – Haben die Spieler den Konfl ikt und die Lösungsversuche deutlich

dargestellt? – Wie haben die Spieler ausgedrückt, was sie denken und fühlen? – Welche Rolle spielen Wortwahl, Lautstärke, Stimmführung usw.? – Haben sie auch Gestik und Mimik wirkungsvoll eingesetzt? – Haben sie sich an die Gesprächsregeln gehalten?

(vgl. Tipps 1–3)

Schritt 2: Sich über den eigenen Standpunkt klar werden und seine Gefühle deutlich aussprechen

Schritt 3: Im Gespräch nach einem Kompromiss suchen

Schritt 4: Das Rollenspiel beobachten und kommentieren

Tipp 1

Geh dem Konfl ikt nicht aus dem Weg. Versuche herauszu-fi nden, worin der Konfl ikt besteht:– Sprich über das,

was dich ärgert oder stört.

– Stelle warum-Fragen.

Tipp 2

Höre genau zu, was dein Gegenüber sagt:– Lass ihn aus-

reden.– Versuche, seinen

Standpunkt zu verstehen.

– Achte darauf, dass du ihn nicht angreifst oder verletzt.

Tipp 3

Sucht gemeinsam nach einer Lösung:– Versucht heraus-

zufi nden, wo es Gemeinsam-keiten gibt.

– Verzichtet auf extreme Meinun-gen.

– Überlegt, wo ihr Zugeständnisse machen könnt.

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Schön, dass jeder anders ist! 17

Eine Geschichte lesen und weiterschreiben

Eine Geschichte über Vorurteile

Federica de Cesco

Spaghetti für zwei

Heinz war bald vierzehn und fühlte sich sehr cool. In der Klasse und auf dem

Fußballplatz hatte er das Sagen. Aber richtig schön würde das Leben erst

werden, wenn er im nächsten Jahr seinen Töff bekam und den Mädchen zei-

gen konnte, was für ein Kerl er war. Er mochte Monika, die Blonde mit den

langen Haaren aus der Parallelklasse, und ärgerte sich über seine entzünde-

ten Pickel, die er mit schmutzigen Nägeln ausdrückte. Im Unterricht machte

er gerne auf Verweigerung. Die Lehrer sollten bloß nicht auf den Gedanken

kommen, dass er sich anstrengte.

Mittags konnte er nicht nach Hause, weil der eine Bus zu früh, der andere zu

spät abfuhr. So aß er im Selbstbedienungsrestaurant, gleich gegenüber der

Schule.

„Italienische Gemüsesuppe“ stand im Menü. Eine Schnitte Brot dazu und er

würde bestimmt satt. Er setzte sich an einen freien Tisch, nahm den

Kaugummi aus dem Mund und klebte ihn unter den Stuhl. Da

merkte er, dass er den Löffel vergessen hatte. Heinz stand auf

und holte sich einen.

Als er zu seinem Tisch zurückstapfte, traute er seinen Augen

nicht: Ein Schwarzer saß an seinem Platz und aß seelenruhig

seine Gemüsesuppe! Heinz stand mit seinem Löffel fassungslos

da, bis ihn die Wut packte. Zum Teufel mit diesen Asylbewer-

bern! Der kam irgendwo aus Uagadugu, wollte sich in der Schweiz

breitmachen und jetzt fiel ihm nichts Besseres ein, als ausgerech-

net seine Gemüsesuppe zu verzehren! Schon möglich, dass so was

den afrikanischen Sitten entsprach, aber hierzulande war das eine bo-

denlose Unverschämtheit! Heinz öffnete den Mund, um dem Menschen laut-

stark seine Meinung zu sagen, als ihm auffiel, dass die Leute ihn komisch an-

sahen. Heinz wurde rot. Er wollte nicht als Rassist gelten. Aber was nun?

Plötzlich fasste er einen Entschluss. Er räusperte sich vernehmlich, zog einen

Stuhl zurück und setzte sich dem Schwarzen gegenüber. Dieser hob den

Kopf, blickte ihn kurz an und schlürfte ungestört die Suppe weiter. Heinz

presste die Zähne zusammen, dass seine Kinnbacken schmerzten. Dann

packte er energisch den Löffel, beugte sich über den Tisch und tauchte ihn in

Töff Moped

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Eine Geschichte lesen und weiterschreiben

die Suppe. Der Schwarze hob abermals den

Kopf.

Sekundenlang starrten sie sich an. Heinz be-

mühte sich, die Augen nicht zu senken. Er

führte mit leicht zitternder Hand den Löffel

zum Mund und tauchte ihn zum zweiten Mal

in die Suppe. Seinen vollen Löffel in der Hand,

fuhr der Schwarze fort, ihn stumm zu be-

trachten. Dann senkte er die Augen auf sei-

nen Teller und aß weiter. Eine Weile verging.

Beide teilten sich die Suppe, ohne dass ein

Wort fiel. Heinz versuchte nachzudenken.

„Vielleicht hat der Mensch kein Geld, muss schon tagelang hungern. Dann

sah er die Suppe da stehen und bediente sich einfach. Schon möglich, wer

weiß? Vielleicht würde ich mit leerem Magen ähnlich reagieren? Und Deutsch

kann er anscheinend auch nicht, sonst würde er da nicht sitzen wie ein Klotz.

Ist doch peinlich. Ich an seiner Stelle würde mich schämen. Ob Schwarze

wohl rot werden können?“ Das leichte Klirren des Löffels, den der Afrikaner

in den leeren Teller legte, ließ Heinz die Augen heben. Der Schwarze hatte

sich zurückgelehnt und sah ihn an. Heinz konnte seinen Blick nicht deuten.

In seiner Verwirrung lehnte er sich ebenfalls zurück. Schweißtropfen perl-

ten auf seiner Oberlippe, sein Pulli juckte und die Lederjacke war verdammt

heiß! Er versuchte den Schwarzen abzuschätzen. „Junger Kerl. Etwas älter als

ich. Vielleicht sechzehn oder sogar schon achtzehn. Normal angezogen: Jeans,

Pulli, Windjacke. Sieht eigentlich nicht wie ein Obdachloser aus. Immerhin,

der hat meine halbe Suppe aufgegessen und sagt nicht einmal danke! Ver-

dammt, ich habe noch Hunger!“

Der Schwarze stand auf. Heinz blieb der Mund offen. „Haut der tatsächlich

ab? Jetzt ist aber das Maß voll! So eine Frechheit! Der soll mir wenigstens die

halbe Gemüsesuppe bezahlen!“ Er wollte aufspringen und Krach schlagen.

Da sah er, wie sich der Schwarze mit einem Tablett in der Hand wieder an-

stellte. Heinz fiel unsanft auf seinen Stuhl zurück und saß da wie ein Ölgöt-

ze. „Also doch: Der Mensch hat Geld! Aber bildet der sich vielleicht ein, dass

ich ihm den zweiten Gang bezahle?“

Heinz griff hastig nach seiner Schulmappe. „Bloß weg von hier, bevor er mich

zur Kasse bittet! Aber nein, sicherlich nicht. Oder doch?“

Heinz ließ die Mappe los und kratzte nervös an einem Pickel. Irgendwie

wollte er wissen, wie es weiterging.

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Eine Geschichte lesen und weiterschreiben

Der Schwarze hatte einen Tagesteller bestellt. Jetzt stand er vor der Kasse

und – wahrhaftig – er bezahlte! Heinz schniefte. „Verrückt!“, dachte er. „To-

tal gesponnen!“ Da kam der Schwarze zurück. Er trug das Tablett, auf dem ein

großer Teller Spaghetti stand, mit Tomatensoße, vier Fleischbällchen und

zwei Gabeln. Immer noch stumm, setzte er sich Heinz gegenüber, schob den

Teller in die Mitte des Tisches, nahm eine Gabel und begann zu essen, wobei

er Heinz ausdruckslos in die Augen schaute. Heinz’ Wimpern flatterten. Hei-

liger Strohsack! Dieser Typ forderte ihn tatsächlich auf, die Spaghetti mit

ihm zu teilen! Heinz brach der Schweiß aus. Was nun? Sollte er essen? Nicht

essen? Seine Gedanken überstürzten sich. Wenn der Mensch doch wenig-

stens reden würde! „Na gut. Er aß die Hälfte meiner Suppe, jetzt esse ich die

Hälfte seiner Spaghetti, dann sind wir quitt!“ Wütend und beschämt griff

Heinz nach der Gabel, rollte die Spaghetti auf und steckte sie in den Mund.

Schweigen. Beide verschlangen die Spaghetti. „Eigentlich nett von ihm, dass

er mir eine Gabel brachte“, dachte Heinz. „Da komme ich noch zu einem gu-

ten Spaghettiessen, das ich mir heute nicht geleistet hätte. Aber was soll ich

jetzt sagen? Danke? Saublöd! Einen Vorwurf machen kann ich ihm auch nicht

mehr. Vielleicht hat er gar nicht gemerkt, dass er meine Suppe aß. Oder viel-

leicht ist es üblich in Afrika, sich das Essen zu teilen? Schmecken gut, die Spa-

ghetti. Das Fleisch auch. Wenn ich nur nicht so schwitzen würde!“

Die Portion war sehr reichlich. Bald hatte Heinz keinen Hunger mehr. Dem

Schwarzen ging es ebenso. Er legte die Gabel aufs Tablett und putzte sich mit

der Papierserviette den Mund ab. Heinz räusperte sich und scharrte mit den

Füßen. Der Schwarze lehnte sich zurück, schob die Daumen in die Jeansta-

sche und sah ihn an. Undurchdringlich. Heinz kratzte sich unter dem Roll-

kragen, bis ihm die Haut schmerzte. „Heiliger Bimbam! Wenn ich nur wüsste,

was er denkt!“ [ ... ]

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1 Erzählt, was Heinz im Restaurant passiert.

2 Was erfahrt ihr über Heinz? Erstellt einen Figurensteckbrief.

3 Wie würdest du Heinz charakterisieren? – Findest du Eigenschaften, die passen?

Begründe deine Meinung mit Stellen aus dem Text. – Beschreibe auch, wie sich Heinz im Laufe der Geschichte verändert. selbstbewusst unsicher bescheiden angeberisch freundlich

off en cool nervös arrogant verlegen ängstlich

4 Heinz kennt den farbigen Jungen nicht, hat aber trotzdem eine klare Meinung über ihn. Welche Vorurteile hat Heinz über den Jungen? Markiere im Text (Folie) die Gedanken, die ihm durch den Kopf gehen.

5 Die Geschichte „Spaghetti für zwei“ ist an dieser Stelle noch nicht zu Ende. Schreibe einen Schluss.

6 Stellt euch eure Texte vor , bevor ihr sie mit dem Originalschluss auf Seite 299 vergleicht.

7 Lest jetzt den Schluss der Geschichte auf Seite 299. – Warum erlebt Heinz „den peinlichsten Augenblick seines Lebens“

(Z. 8)? – Wie würdest du Marcel charakterisieren? Begründe deine Meinung

aus dem Text. – Wie könnte es mit Heinz und Marcel weitergehen?

Inszeniert und spielt die Geschichte (siehe Seite 191).

Ideen und Anregungen

‡ Vorhaben: Einwanderung Zu allen Zeiten sind Menschen in andere Länder eingewandert. Erstellt

eine Plakatwand zum Thema „Einwanderung“.

SteckbriefName: HeinzAlter:Land:Aussehen:Freizeit/Hobby:

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Über Probleme nachdenken und sie im Gespräch lösen

In dem Buch „Wir alle für immer zusammen” von Guus Kuijer geht es um das niederländische Mädchen Polleke, dessen Freund Mimun aus Marokko kommt. In Pollekes Klasse wird über ein „Berufsprojekt” diskutiert. Jede Schülerin und jeder Schüler soll sagen, was er einmal später werden will. Polleke sagt „Dichterin“. Was daraus folgt, kannst du in diesem Auszug lesen …

1 Lies nun die Episode aus dem Buch.

Guus Kuijer

„Aber ich hab es aus Versehen getan“

Auf der Straße drückte Mimun mir einen Zettel in die Hand.

Ich gehe nicht mehr mit dir, denn ich glaub, in meiner Kultur ist

das gar nicht erlaubt, dass eine Frau Dichter ist, ganz bestimmt

ist das nicht erlaubt, und wer will auch schon Dichter sein?

Als ich das Mama erzählte, lachte sie. Sie sagte: „Man muss

schon was dafür übrig haben, Polleke.“

„Wofür?“

„Für die Kunst.“

Manchmal könnte ich ihr glatt eine scheuern.

Als ich im Bett lag, hab ich mir ein Gedicht über Mimun ausge-

dacht. Das braucht sonst keiner zu wissen. Nicht mal meine

Mutter.

Ich musste ein bisschen weinen und dann bin ich eingeschla-

fen.

Am nächsten Tag schrieb ich Mimun einen Zettel:

Deine Scheißkultur kannst du dir sonst wohin stecken!

Dann geh doch mit so ’nem Mädchen, das immer mit einem

Staubtuch auf dem Kopf rumläuft. Ist ja auch praktisch.

Polleke

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Das war dumm von mir, denn der Lehrer fand den Zettel. Er war ganz ge-

schockt. Das Berufsprojekt wurde abgeblasen. Wir mussten alles wegräu-

men. Wir mussten die Arme übereinander legen und gut zuhören. Dann

sagte der Lehrer, wir würden ein Antirassismusprojekt machen. Jetzt weiß

ich, dass man sich höchstens als faule Kartoffel beschimpfen darf. Alles ande-

re ist Rassismus.

Aber ich hab es aus Versehen getan. Weil ich so verrückt bin nach diesem be-

scheuerten Marokkaner.

Als ich Mama davon erzählte, wurde sie auch noch wütend! Nicht auf mich,

sondern auf den Lehrer.

Ich dachte, sie platzt gleich.

„Was?“, brüllte sie. „Hat dieser Kakerlak dich etwa als Rassistin beschimpft?“

Darüber musste ich nachdenken. Hatte dieser Kakerlak, ich meine, hatte der

Lehrer mich als Rassistin beschimpft?

„Nein”, sagte ich. „Im tiefsten Innern sind wir alle ein bisschen rassistisch,

das hat er, glaub ich, gesagt.“

„Gebrauch mal deinen Verstand, Polleke“, brüllte meine Mutter. „Das kam

doch NACH deinem Zettel, oder? Deine Scheißkultur kannst du dir sonst wo-

hin stecken!, das war doch der Auslöser, oder?“

Ja, so war es.

„Und das hast du geschrieben, weil Mimun mit dir Schluss gemacht hat?“

Ich nickte. Ich merkte, wie meine Augen feucht wurden. Ich schüttelte den

Kopf, um die Tränen rauszuschütteln. Wie ich dieses Heulgefühl hasse!

Das Gesicht meiner Mutter hellte sich auf. Sie ließ sich in einen Sessel fallen

und ihre Schultern fingen an zu zucken. Dann zuckte auch der Rest. Meine

Mutter ist einsdreiundachtzig groß und dick, da gibt es also einiges zum Zu-

cken. Erst dachte ich, sie weint, weil ich traurig bin, aber das war es nicht. Sie

zuckte vor Lachen!

„Weil er mit dir Schluss gemacht hat!“, quiekte sie. „Rassismus!“

2 Habt ihr den Text verstanden? Wählt eine Aufgabe aus: a Stellt den Auszug als Standbild mit Gedankensprecher dar. – Überlegt, welche Gefühle von Polleke und ihrer Mutter ihr darstel-

len möchtet. – Macht euch Notizen, was die Gedankensprecher sagen könnten.

b Beantworte folgende Fragen schriftlich: – Warum will Mimun nicht mehr mit Polleke gehen?

C Hinweise dazu findest du auf Sei-te 298.

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Überprüfe dein Wissen und Können 23

– Warum denkt der Lehrer, dass Polleke rassistisch gehandelt hat? – Warum denkt die Mutter, dass Polleke keine Rassistin ist? – Welchen Standpunkt vertrittst du? Begründe ihn.

3 Wähle eine der beiden Aufgaben aus: Schreibt Pollekes Brief nach dem Gespräch mit der Mutter

a an Mimun oder b an den Lehrer.

4 Spielt das Konfl iktgespräch zwischen Pollekes Mutter und dem Lehrer: – Wer hat wen zum Gespräch gebeten? – Welche Standpunkte vertreten die Personen? – Worin besteht der Konfl ikt? – Welche Lösung wäre möglich? Beachtet die Gesprächstipps aus der Werkstatt, Seite 15/16.

‡ In EXTRA (S. 24) kannst du noch einmal üben, wie man gemeinsam ei-nen Kompromiss fi ndet. ‡ In EXTRA (Seite 25/26) lernst du an einem literarischen Text, den Standpunkt einer Figur einzunehmen und da-durch Vorurteile zu widerlegen.

‡ Wie man Konfl ikte im Gespräch löst, kannst du auch noch einmal in der Werkstatt (Seite 15/16) üben.

„Meine Auswahl, Meine Begründung, Eure Rückmeldung“▸▸▸

Wähle eine Arbeit aus dem Kapitel aus, von der du denkst, dass sie dir besonders gut gelungen ist. Deine Lehrerin/dein Lehrer soll daran sehen, was du dabei gelernt hast. Hinweise dazu fi ndest du auch in der Werkstatt Methoden und Arbeitstechniken auf Seite 266/267.

4 Konfl ikte erkennen und darüber sprechen4 Den eigenen Standpunkt darlegen und den Standpunkt

des anderen verstehen4 Im Gespräch (Rollenspiel) eine gemeinsame Lösung fi nden

Das kann ich schon!

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2424 EXTRA

Konfl ikte in einem Rollenspiel lösen

Konfl ikte im Gespräch lösen

1 Suche dir einen Partner. Wählt zwei Kärtchen aus und macht ein Rollen-spiel. Sucht euch eine Rolle aus. Spielt als Sebastian und sein Bruder oder als Klara und ein Mitschüler.

– Erklärt den Standpunkt. – Versucht zu verstehen, warum die Personen sich so verhalten. – Schreibt auf, wie Sebastians Bruder und Klaras Mitschüler die Situa-

tion sehen.

2 Spielt, wie die beiden ins Gespräch kommen und nach einem Kompro-miss suchen. Nutzt dabei die Gesprächsformeln.

– Warum willst du immer …

– Kannst du mir erklären, …

– Was hältst du davon, wenn …

– Na gut, dann …

– Ich ärgere mich immer, weil …

– Ich bin enttäuscht, dass …

– Ich fi nde seltsam, dass du …

– Ich sehe ein, dass du …

Klaras Mitschüler

entgegnet:

„Nö, du willst doch nur

Bestimmerin sein.“

Sebastians

Bruder sagt:

„Zu Hause be-

stimmt mein

Bruder immer

alles. Das ge-

fällt mir gar

nicht! …“

Sebastians

Bruder sagt:

„Zu Hause be-

Sebastian meint:„Zu Hause habe ich das Kommando. Wenn ich mit meinem Bruder vor dem Fernseher sitze, entscheide ich, was wir gucken. Weil ich der Ältere bin. In der Schule bestimmen die Klassensprecher. Aber da will ich gar nicht das Kommando haben. Da mache ich lieber Quatsch.“

Klaras Mitschüler

Klara sagt:„Ich bestimme, wo es langgeht. Ich hab dann ein gutes Gefühl, weil alles ist, wie ich es will.“

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Schön, dass jeder anders ist! 25Schön, dass jeder anders ist! 25EXTRA

Eine Geschichte lesen und die Perspektive von Figuren einnehmen

Über Vorurteile nachdenken

Joseph lebt in einer australischen Kleinstadt. Als Kind sieht er hier manch-mal einen Mann, der durch die Stadt rennt, wie ein Getriebener. Dieser „Running Man“ verfolgt Joseph bis in seine Träume hinein. Auch als Vier-zehnjähriger wird Joseph noch von diesen Alpträumen geplagt, bis er eines Tages eine wichtige Entdeckung macht …

1 Lies den Auszug aus dem Buch von Michael Gerard Bauer und finde heraus, warum Joseph solche Angst vor dem „Running Man“ hatte.

Michael Gerard Bauer

Angst vor dem „Running Man“

Seine Mutter bezeichnete die abgerissene Gestalt, die die Fußwege von Ash-

grove hinunterhetzte, immer als „diesen komischen Kerl“, doch Joseph selbst

hatte noch nie etwas Komisches an dem Running Man gesehen. Für ihn war

er, ganz wörtlich, Stoff für Albträume.

Joseph nannte ihn den Running Man, denn genau das tat er – er rannte, und

zwar ständig. Doch er hatte nicht die geschmeidigen Bewegungen eines Ath-

leten, sondern lief in einem etwas schiefen Galopp, so als würde er von einem

Dämon verfolgt, den nur er selbst sehen konnte.

Zu Josephs Erleichterung kreuzten ihre Wege sich selten, doch wenn, dann

raste Josephs Herz wie die Füße des Running Man, selbst dann noch, wenn

die rastlose Gestalt längst aus seinem Blickfeld verschwunden war. Und es

war nicht nur die verzweifelte Hast, die den Running Man so einzigartig

machte. Seine Kleider waren alt und abgetragen und hingen an dem großen,

mageren Knochengestell wie Lumpen an einer Vogelscheuche, sein langes

strähniges Haar unter dem verknitterten Hut mit schmaler Krempe stand

wirr in alle Richtungen ab. Verstärkt wurde dieser irritierende Eindruck

noch durch die hervortretenden großen Augen, die über den spitzen Wan-

genknochen wild hin und her jagten. Insgesamt war sein Auftreten das eines

Menschen, der sich den größten Teil seines Lebens versteckt gehalten hatte

und sich plötzlich in eine fremde, erschreckende Welt hinausgestoßen fand.

Joseph wusste, dass er mit seinen Gefühlen gegenüber dem Running Man

nicht allein dastand. Viele Menschen beäugten ihn misstrauisch und angewi-

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Eine Geschichte lesen und die Perspektive von Figuren einnehmen

dert. Die meisten gingen ihm aus dem Weg. Eltern zogen ihre Kinder unauf-

fällig, aber doch entschieden weg.

Gelegentlich erhaschte Joseph einen Blick auf den Running Man, wenn die-

ser wie ein Geist die Arthur Street entlangkam, um dann in der Ashgrove

Avenue zu verschwinden, doch gewöhnlich hatte er keine Ahnung, wo der

Mann herkam und wo er hinlief. Abgesehen von diesen zufälligen Begeg-

nungen auf der Straße sah Joseph ihn nur sonntags, im Gottesdienst in der

Judaskirche. Er erinnerte sich auch, dass Mrs. Mossop einmal empört geäu-

ßert hatte, dass der Running Man recht oft auf Beerdigungen auftauche, „un-

gewaschen und ohne Einladung“. In der Kirche saß er nie anderswo als in der

letzten Reihe. Dort hockte er am Ende der Kirchenbank, zusammengekauert

wie ein Mensch, der Schutz vor einem Schneesturm sucht, und seine Blicke

schossen wild hin und her, ohne konkret auf irgendetwas gerichtet zu sein.

Sein Körper schaukelte kaum merklich, aber doch ununterbrochen. Egal, wie

voll die Kirche sein mochte, in der Nähe des Running Man blieben immer

Plätze frei.

2 Was erfährst du über den „Running Man“? – Wie sieht er aus? – Wie verhält er sich?

3 Was denken Mrs. Mossop und die anderen Leute über den „Running Man“?

4 Wie verhalten sie sich ihm gegenüber? Unterstreiche (Folie) die Belege aus dem Text.

Viele Jahre später stößt Joseph zufällig auf einen Zeitungsartikel:

Das in Druckschrift fein säuberlich neben den Artikel geschriebene Datum

war der 22. April 1979. Das Gesicht des Running Man war natürlich noch

deutlich jünger und auch etwas voller, die Gesichtszüge weniger scharf, die

Haut nicht so gelblich. Das Haar war kürzer, und er trug Oberhemd und Kra-

watte. Joseph hätte das Bild leicht überblättern können, ohne dass es eine

Reaktion in ihm ausgelöst hätte, wäre da nicht etwas gewesen – der so ver-

traute leidende, qualvolle Blick, der so schmerzhaft das Gesicht des Running

Man prägte.

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Schön, dass jeder anders ist! 27Schön, dass jeder anders ist! 27EXTRA

Eine Geschichte lesen und die Perspektive von Figuren einnehmen

Auf dem Foto saß der Running Man am Rande eines Gehwegs, die Füße im

Rinnstein. Jemand in Uniform – ein Sanitäter oder ein Feuerwehrmann –

legte ihm eine Hand auf die Brust, während ein zweiter Mann, der mit dem

Rücken zur Kamera stand, ihn an der linken Schulter hielt. Der Running Man

beugte sich weit vor, und im grellen Licht des Kamerablitzes war sein angst-

verzerrtes Gesicht gespenstisch weiß. Um die drei herum herrschte Dunkel-

heit. Die Schlagzeile unter dem Foto lautete: Mutter und Babys im Feuer um-

gekommen.

Joseph hatte den Artikel viele Male gelesen, und so hatte er die Einzelheiten

sofort parat. Mit richtigem Namen hieß der Running Man Simon Jamieson. Er

hatte in einer Buchhandlung in der Stadt gearbeitet. Die Ursache des Feuers

war nicht bekannt, vermutlich ein Kurzschluss. Bis die Nachbarn aufmerk-

sam wurden, stand das alte Holzhaus bereits in Flammen, die zusammen mit

dem dichten Rauch alle Bemühungen, jemanden daraus zu retten, unmöglich

machten. Mr Jamieson, der erst spät von der Arbeit nach Hause kam, habe

verzweifelt versucht, ins Haus vorzudringen, sei jedoch von Feuerwehrleu-

ten und Passanten daran gehindert worden. Drei Opfer des Brandes seien im

Kinderzimmer tot aufgefunden worden: Mrs Jamieson, 23, und ihre Zwil-

lingstöchter Amy und Jessica, elf Monate.

5 Versetze dich in die Lage von Joseph: Was denkt er nun über den „Running Man“ (Simon Jamieson)?

6 Schreibe Josephs Brief an Mrs. Mossop. Beachte die folgenden Schreibhinweise und die formalen Regeln eines Briefes:

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– Wähle die richtige Anrede und mache dein Anliegen deutlich: Liebe Frau Mossop, schon lange …

– Stelle am Anfang deines Briefes noch einmal dar, was Mrs. Mossop und die anderen Leute über Simon Jamieson denken: Ich beobachte schon lange, wie …

– Mache deinen Standpunkt deutlich: Nicht richtig finde ich, dass …

– Versuche Mrs. Mossop zu erklären, warum sie ihre Vorurteile aufgeben sollte. Verwende dabei die Informationen aus dem Zeitungsartikel. Überlege dir Lösungsvorschläge, wie die Leute in Zukunft mit Simon Jamieson umgehen sollten.