SWR2 MANUSKRIPT ESSAYS FEATURES KOMMENTARE VORTRÄGE
SWR2 Forum Buch Redaktion und Moderation: Wolfram Wessels
Mit neuen Büchern von: Geza Vermes, Carel van Schaik und Kai Michel, Wilfried Buchta, Jacques Le Goff, Michael Hudson
Sendung: Sonntag, 18. Dezember 2016
Redaktion: Wolfram Wessels
Produktion: SWR 2016
Geza Vermes: Vom Jesus der Geschichte zum Christus des Dogmas Aus dem Englischen von Klaus-Jürgen Thornton Verlag der Weltreligionen, 383 Seiten, 34 Euro Rezension: Pascal Fischer Carel van Schaik, Kai Michel: Das Tagebuch der Menschheit. Was die Bibel über unsere Evolution verrät Rowohlt, 576 Seiten, 24,95 Euro Gespräch mit Carel van Schaik Wilfried Buchta: Die Strenggläubigen. Fundamentalismus und die Zukunft der islamischen Welt Hanser Berlin, 240 Seiten, 20 Euro Rezension: Holger Heimann Jacques Le Goff: Geschichte ohne Epochen? Ein Essay. Aus dem Französischen von Klaus Jöken Philipp von Zabern, 188 Seiten, 24,95 Euro Gespräch mit Eike Gebhardt Michael Hudson: Der Sektor. Warum die globale Finanzwirtschaft uns zerstört. Aus dem Amerikanischen von Dorothee Merkel und Thorsten Schmidt. Klett-Cotta, 670 Seiten, 26,95 Euro Rezension: Barbara Eisenmann
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Geza Vermes: Vom Jesus der Geschichte zum Christus des Dogmas Rezension: Pascal Fischer
Vielen ungelehrten Christen erscheint die Bibel noch immer aus einem Guss: Das Alte Testament kündigt den Messias an; das Neue Testament berichtet konsistent von seiner Ankunft und seinem Wirken, egal, wo man es aufschlägt. Nichts könnte falscher sein, belegt Geza Vermes minutiös, indem er die Umbrüche nachzeichnet, die Jesus erst nachträglich zu Christus machten. Vermes' Quellen sind das Neue Testament, zum Teil Apokryphen, die Schriftrollen von Qumran sowie die herausragenden Theologen bis zum Konzil von Nizäa im Jahre 325. „Der nebulöse Kreis der Spekulation schloss sich um eine Gestalt, die trotz des verbalen Zugeständnisses ihrer Menschlichkeit immer mehr als transzendenter Gott denn als wahrer Mensch aus Fleisch und Blut wahrgenommen wurde.“ Liest man die Quellen ihrer Entstehungsgeschichte nach, so erweisen sich zahlreiche christliche Dogmen als nicht jesuskompatibel: Als Gottessohn sah Jesus sich nicht; der Titel ist eher eine damals geläufige Bezeichnung von Propheten, Heilern, Exorzisten. Die Rede vom „Vater“ ist ebenfalls uralt. Jesus sah sich als Jude, nicht als Begründer einer neuen kosmopolitischen Weltreligion für allerlei Heiden; seine Bewegung galt ihm und den Zeitgenossen als Untergruppierung des Judentums. Auch Jesu Jünger gingen nach der Kreuzigung wie selbstverständlich noch in den Tempel. „Dass ein Nichtjude ihr Glaubensgenosse wird, war für die ersten Anhänger der Jesusbewegung kaum vorstellbar.“ Das Abendmahl – ein nettes Gemeinschaftsessen, das erst später zur Nachahmung von Jesu Henkersmahlzeit wurde. Das Reich Gottes: Bald bevorstehend, ehe es dann doch nicht kam, nicht mehr unmittelbar erwartet wurde und immer abstrakter beschrieben wurde. Die Taufe: ein Reinigungs- und Umkehrritual und erst später der Nachvollzug von Jesu Auferstehung. Die Idee der Kirche: fehlt völlig. Mit Paulus beginnen die meisten dieser großen Ritualumdeutungen. Zugleich spricht die Bewegung hellenistische Heiden an und möchte sie mit philosophischen Argumenten überzeugen. So wird Jesus im Jahre 100 zum Logos, zum Fleisch gewordenen Wort: „Der bemerkenswerteste Beitrag des Johannes zur weiteren Entwicklung des Christentums besteht in einer eindeutigeren Verkündigung von Jesu Göttlichkeit als sonst wo im Neuen Testament. In den synoptischen Evangelien würde man nach einer solchen Aussage vergeblich suchen.“ Die Entwicklung wird an Fahrt aufnehmen und Jesus schlussendlich auf dem Konzil von Nizäa umdeuten: zum Gottessohn, ewig als Teil der Trinität dagewesen, anbetungswürdig
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wie Gott selbst. Nüchtern zeigt Vermes immer wieder, dass frühere Positionen damit quasi Häresie gewesen sein müssten: Noch Paulus betete nicht Christus an, nur Gott. Noch der Evangelist Johannes sah Jesus als zweitrangig hinter dem Herrn an. Dass das christliche Glaubensbekenntnis 325 mit Christi Ebenbürtigkeit zu Gott aufwartet, verdankt sich nicht einer Rückkehr zu Jesus, sondern: einem jüdisch-hellenischen Ideenmix, einer poetischen Allegorisierung, einer nachträglichen philosophischen Durchdringung, zuletzt aber dann einem argumentativem und politischem Geschacher auf dem Konzil. Mit den zentralen Lehren hätte alles ganz anders kommen können. Und auch für kleinere Gewissheiten hält Vermes verschmitzt ein Erschütterungspotential bereit. „Römisch katholische Christen, die an den Gedanken eines zölibatären Klerus gewöhnt sind, mag überraschen, dass mangelnde Eheerfahrung in der paulinischen Kirche als Ausschlussgrund für das Bischofsamt galt. Als Kandidaten kamen nur einmal verheiratete Männer infrage […]. Wer seiner Familie vorzustehen und seine Kinder großzuziehen verstand, bewies damit seine Fähigkeit, nach der Herde zu sehen. Merkwürdigerweise hätten der bekennende Junggeselle Paulus und in dieser Hinsicht sogar Jesus die Aufnahmeprüfung für das edle und schwierige Amt des Bischofs nicht bestanden.“ Überhaupt belegt das Bischofsamt an sich, dass angesichts des ausgebliebenen nahen Weltendes eine Kirchenverwaltung nötig wurde. Von Jesu Prophezeiung des sehr bald kommenden Gottesreichs hatte man sich bald mit fadenscheinigen Argumenten verabschiedet. Das englische Original blieb nicht ohne Reaktionen von höchstem Range. Die renommierte Religionswissenschaftlerin Karen Armstrong monierte, Vermes unterstelle Manipulation, wo christliche Theoretiker einfach nur das Wunder der Trinität fassen wollten – mit damals immer ausgefeilteren Argumenten. Eine akademische Kritik, die an der klar belegbaren Entwicklung des Jesus zum Christus jedoch nicht zu rütteln vermag. Die außerdem herunterspielt, wie die Kirche den Blick verstellt auf einen Menschen aus Fleisch und Blut, auf eine relativ antitheoretische Religion des Herzens. „Von Nizäa bis in die Reformationszeit und darüber hinaus war das Christsein in erster Linie von intellektueller, ja philosophischer Beipflichtung bestimmt, vom Festhalten am rechtgläubigen Dogma der Kirche.“ Der englische Bischof Rowan Atkinson monierte: Vermes könne nicht zeigen, was die Faszination und das Neue an Jesus hinter all den Diskurswechseln ausmache. Das aber klingt wieder, als wolle Atkinson die Geschichte eben von hinten lesen. Er will Vermes' Argumentation schlicht nicht ernstnehmen. Weniger für Fachleute der „Leben-Jesu-Forschung“, aber für die institutionalisierte Religion und den einfachen Gläubigen ist dieses Buch eine ungeheure Provokation. Geza Vermes erinnert deshalb zum Ende hin besänftigend an die Renaissance, die sich der Bibel neu zuwandte und den Protestantismus hervorbrachte. Damals wie heute eine Revolution.
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„Es scheint, als habe sie nun ein Stadium erreicht oder würde es demnächst erreichen, wo abermals eine Erweckung erforderlich ist, eine neue ›Reformation‹, die sich voller Inbrunst der reinen religiösen Vision und dem Enthusiasmus Jesu zuwendet, des jüdischen charismatischen Boten Gottes, und nicht der vergöttlichenden Botschaft, die Paulus, Johannes und die Kirche mit ihm verknüpft haben.“ Das Christentum als verdrehte jüdische Sekte. Es ist eine einzigartige, wenngleich auch uralte narzisstische Kränkung. Christen sollten sie nicht eilfertig abtun als Werk eines narzisstisch gekränkten Juden, der verbockt die Sache mit dem Messias Jesus Christus leugnet. Sie fielen damit in allzu alte Muster des Frühchristentums zurück, mit seinem charakteristischen Antisemitismus. Vielmehr noch: Wer die Jahrhunderte währende Evolution der menschlichen, allzumenschlichen Religionsverfertigung verfolgt, dem werden religiöse Wahrheiten insgesamt unwahrscheinlicher. Wie weit der Leser deshalb über Vermes hinausgeht und Agnostiker wird, muss er selbst entscheiden. Die Lektüre lohnt in jedem Fall: Unaufgeregt, hochgelehrt, nah an den Quellen, in einfacher Sprache und mit klarer Argumentation.
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Wilfried Buchta: Die Strenggläubigen. Fundamentalismus und die Zukunft der islamischen Welt Rezension: Holger Heimann
Die arabische Welt ist in Auflösung begriffen. Alte Ordnungen sind zerfallen, ohne dass neue funktionierende Strukturen an ihre Stelle getreten wären. Mörderische Kriege führen dazu, dass noch der kleinste Rest an verbliebener Stabilität in Trümmern versinkt. Das ist der Boden, auf dem Verelendung und Verzweiflung unter den Menschen wachsen – aber auch ein religiöser Fanatismus gedeiht. Der Islamwissenschaftler Wilfried Buchta, der selbst viele Jahre in Bagdad gelebt hat, zeichnet in seinem Buch diese bedrohliche Entwicklung detailliert und kenntnisreich als einen langen Prozess nach. O-Ton 1 Ich hoffe, dass ich mich täusche. Aber im Rückblick – seitdem ich 1983 zum ersten Mal in diese Welt hineingefahren bin bis heute, 2016, das sind immerhin 33 Jahre – ist da so ein Trend festzustellen. Islamisch-fundamentalistische Gruppierungen werden immer stärker. In einigen Ländern kommen sie an die Macht, dann werden sie wieder vertrieben. Wie im Iran, dort sind sie an der Macht angekommen und haben sich auch halten können. In Ägypten kamen sie an die Macht – die Muslimbruderschaft – und wurden dann vertrieben. Der Trend scheint mir unaufhaltsam. Islamisch-fundamentalistische Gruppierungen saugen Nahrung aus dem Versagen westlicher Ideologien. Das ist bei diesen pro forma säkularen, nationalistischen Militärregimen vor allem der arabische Nationalismus in verschiedenen Spielarten, und der scheitert regelmäßig. Buchta skizziert knapp, wie sich als Reaktion erst auf den osmanischen und dann auf den europäischen Imperialismus der säkulare arabische Nationalismus als neue ordnende Ideologie entwickelte. Sein Manko blieb, dass er die Versprechen auf ein besseres Leben, auf Freiheit und Wohlstand nur sehr bedingt einlöste. Mehr noch: Der Versuch, Staat und Gesellschaft gewaltsam zu säkularisieren, habe nur oberflächliche Spuren hinterlassen und dazu geführt, das Konzept der Säkularisierung insgesamt zu diskreditieren. Den neuen Regimen fehlte es mithin an Legitimität. Die Unzufriedenheit in der Region wuchs immer weiter an. Doch es waren bekanntlich nicht die vom Westen mit so viel Hoffnung begrüßten demokratischen Reformbewegungen, die in dieser Situation erfolgreich waren. Buchta glaubt sogar, dass sie letztlich kontraproduktiv gewirkt haben. Zitat 1 Die Demokratieproteste haben einen bereits seit langem unter der Oberfläche verborgenen Zerfallsprozess von Nationalstaaten ohne echte Staatlichkeit beschleunigt, der nun, da sich die Grenzen zwischen Syrien und dem Irak aufgelöst und da sich auf deren Territorien sowie in Libyen und dem Jemen schon etliche kleine Protostaaten gebildet haben, unumkehrbar geworden zu sein scheint. Das Machtvakuum wurde zunehmend durch islamisch-fundamentalistische Gruppierungen gefüllt. Buchta macht plausibel, warum die Lehren der Strenggläubigen anders als der
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westliche Demokratieimport anschlussfähig an islamische Traditionen waren, wenngleich sie diese entstellen und pervertieren. In einer der dunkelsten Passagen seines ohnehin düsteren Buches, schildert er, wie sämtliche Reformer gescheitert sind, häufig sogar mit ihrem Leben bezahlt haben. Triumphiert habe stattdessen eine Ideologie der Vereinfachung. O-Ton 2 Der islamische Fundamentalismus ist eine religiöse Spielart des Islam, der davon profitiert, dass er eine Sprache spricht, die die Mehrheit der Bevölkerung versteht. Sie ist religiös – eine Sprache, die sich auf den Koran, die Scharia bezieht, darauf immer wieder referiert, leicht verständlich ist, den Menschen geläufig ist. Als entscheidendes Epochendatum betrachtet der Autor das Jahr 1979. Denn die Revolution im Iran führte nicht nur zum Sturz des Schahs, sondern brachte zugleich die Teheraner Mullahs an die Macht, die ein ausgeklügeltes theokratisches System der Checks und Balances entwarfen. Mit der Festigung ihrer Herrschaft im Innern war für die neuen, religiösen Führer aber lediglich der erste Schritt getan. O-Ton 3 Erst durch die Iranische Revolution von 1979 ist aus dem schlafenden Riesen, dem Schiitenstaat Iran, ein revolutionärer Staat geworden mit einer Ideologie, die darauf abzielt, seine Revolution zu exportieren. Mal aggressiver, wie im Iran-Irak-Krieg, mal weniger aggressiv. Stellvertretend dafür steht die Existenz der Iranischen Revolutionswächtergarden, die immer wieder versuchen, unterdrückte Schiiten im Ausland zu unterstützen und ihnen Hilfe angedeihen zu lassen und die latenten Konflikte dadurch anfachen. Auf der anderen Seite Saudi-Arabien, dessen Königshaus mit dem Westen kooperiert, aber das Königshaus ist ja nur eine der beiden Hauptsäulen der Macht, die andere Säule ist der wahhabitische Staatsklerus. Der wahhabitische Staatsklerus steht hinter einer Fülle von Organisationen, die nur ein Ziel haben, den wahhabitischen Islam zu exportieren. Der wahhabitische Isam sieht Schiiten per se als Todfeinde an. Die Gegenüberstellung von sunnitischem und schiitischem Islam und der Antipoden Saudi-Arabien und Iran gehört zu den spannendsten Passagen des Buches und bildet den Kern von Buchtas Argumentation. Der Autor verfolgt den Konflikt der beiden Hauptströmungen des Islam zurück bis zum Schisma im siebten Jahrhundert. Und er macht deutlich, wie dieser Konflikt durch die amerikanische Invasion im Irak 2003 an Dynamik gewann. Denn mit dem Sturz der sunnitischen Regierung Saddam Husseins konnten die Iraner ihren Einfluss im mehrheitlich schiitischen Irak entscheidend ausdehnen. Dass Saudi-Arabien in der Folge umso angestrengter versucht hat, die iranischen Machtbestrebungen einzudämmen, ist sicher zutreffend. Aber zweifelhaft bleibt doch, ob hierfür tatsächlich vor allem eine jahrhundertealte religiöse Spannung verantwortlich ist oder ob es dabei nicht doch entscheidend bis heute ganz simpel um Einflusssphären und wirtschaftliche Ressourcen geht. Buchta will diese Faktoren zwar nicht negieren, aber er verteidigt zugleich entschieden seinen religiösen Fokus.
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O-Ton 4 Aus meinem bisherigen Erleben sehe ich, dass gerade im Zuge des verschärften Konfessionskonfliktes zwischen Sunniten und Schiiten im Nahen Osten das Bewusstsein für eine religiöse Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft immer mehr wächst. Dieser Faktor, der eine enorme Rolle spielt, wird seit Jahrzehnten immer wieder negiert beziehungsweise in seiner Bedeutung unterschätzt. Ich glaube, dass wir in den nächsten Jahren möglicherweise sogar Jahrzehnten einen anhaltenden Konflikt haben werden zwischen Sunniten und Schiiten im Nahen Osten, vertreten durch Iran und Saudi-Arabien, und dass dieser Konflikt unzählige Schauplätze einschließt und uns in verschiedenen Varianten immer wieder zu schaffen machen wird. Kaum von der Hand weisen lässt sich Buchtas Beobachtung, dass in den Bürgerkriegsstaaten Irak und Syrien für die große Mehrheit der Bevölkerung Kategorien wie nationale Identität und Solidarität kaum noch zählen. In den Kämpfen geht es nicht um liberale bürgerliche Werte, vielmehr stehen sich konfessionell und ethnisch geprägte Gemeinschaften gegenüber, die sich immer weiter radikalisieren. Es ist eine Dynamik, die Buchta schließlich fragen lässt: Zitat 2 Könnte es sein, dass der Islam weder mit der Moderne noch mit Demokratie oder Säkularisierung kompatibel ist? Der Weg zur Säkularisierung, zumindest so wie sie im Westen verstanden wird, verläuft über die Zwischenschritte von Reformation und Aufklärung, weil sich ansonsten die Religion nicht zur Privatsache erklären lässt. Angesichts der unheilvollen Entwicklungen in der islamisch-arabischen Welt gibt es zwar einerseits wenig Anlass Wilfried Buchtas Einschätzung als allzu pessimistisch zurückzuweisen. Andererseits besteht Buchta selbst in seinem Essay zurecht immer wieder darauf, dass es DEN Islam nicht gibt. Zwar haben fundamentalistische Strömungen andere, reformerische Richtungen des Islam zurückgedrängt. Das heißt aber nicht, dass sich an diese nicht dennoch in einer besseren Zukunft anknüpfen ließe. Trotz solcher Einwände ist „Die Strenggläubigen“ ein packender und erhellender Essay. Wilfried Buchta seziert darin wechselnde Kräfteverhältnisse und Dynamiken in unmittelbarer Nachbarschaft zum südlichen Europa, die nicht gerade beruhigend wirken.
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Michael Hudson: Der Sektor. Warum die globale Finanzwirtschaft uns zerstört. Aus dem Amerikanischen von Dorothee Merkel und Thorsten Schmidt Rezension: Barbara Eisenmann
AUTORIN
Michael Hudson wird bei öffentlichen Veranstaltungen gerne vorgestellt als derjenige, der
die Finanzkrise von 2008 bereits 2006 in einer Titelgeschichte im Harper´s Magazine
hellsichtig vorausgesagt habe. Er selber spielt diese Geschichte herunter, denn alle an der
Wall Street hätten gewusst, was los sei, haben sie doch mit einer unhaltbaren,
schneeballprinzipartigen Schuldenausdehnung ihre Profite gemacht. Hudson, 1939 in
Minneapolis, dem Zentrum der amerikanischen Arbeiterbewegung geboren und
aufgewachsen, ist eine vielschichtige schillernde Person. Er ist Wirtschaftsprofessor,
Finanzberater an der Wall Street, einer der Vordenker der Occupy Wallstreet Bewegung
und nicht zuletzt Patensohn von Leo Trotzki. Sein Vater war einer der Führer der
amerikanischen Trotzkisten und als Kind saß er mit Exilanten aus Europa und Russland in
seinem Elternhaus gewissermaßen mit am Tisch. Im Winter 2011 waren bereits 2 lange
Artikel von Hudson in der FAZ zu lesen: „Was sind Schulden?“ der eine, und „Der Krieg
der Banken gegen das Volk“ der andere. Seit 2 Jahren war sein erstes deutsches Buch
nun angekündigt, das auf Hudsons jahrzehntelangen Untersuchungen, aber auch
praktischen Erfahrungen in der Bankenbranche zum Themenkomplex der Schulden fußt.
Jetzt ist das 670-seitige Werk im Klett-Cotta Verlag erschienen. „Der Sektor“ heißt es auf
Deutsch, gemeint ist der Finanzsektor, zu dem die Versicherungs- und Immobilienindustrie
dazugehört.
In diesem buchstäblich doppelt gewichtigen Buch geht der Autor in teils historisch bis in
die Antike ausholenden Bögen, in teils akribischen, beeindruckenden Fallstudien zur
Gegenwart dem weltweiten Aufstieg des Finanzsektors nach. In 3 große Themenblöcke
sind die vielen Seiten gegliedert, die, da muss allerdings gemeckert werden, auch von
vielen Redundanzen durchzogen sind. Ein sorgfältiges Lektorat hätte ruhig einige
Wiederholungen streichen können. Teil 1 nun ist ein geschichtlicher Abriss, vom
ökonomischen Denken der europäischen Aufklärung hin zur neoliberalen
Gegenaufklärung heute. Teil 2 erzählt, wie die Wallstreet nicht nur die wirtschaftliche,
sondern auch die politische Macht übernommen hat und dabei den Schock der Krise 2008
geschickt für sich zu nutzen wusste. Teil 3 untersucht die desaströse Entwicklung Europas
ab 2008.
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ZITATOR
Es hat eine kulturelle Gegenrevolution stattgefunden. Und das ist nur deshalb so wenigen
Leuten aufgefallen, weil der Finanzsektor die Geschichte umgeschrieben und die
öffentliche Meinung darüber, was unter ökonomischen Prozessen und einer fairen
Gesellschaft zu verstehen ist, neu definiert hat.
AUTORIN
Hudson arbeitet heraus, warum der Neoliberalismus das genaue Gegenteil dessen ist,
was die klassischen Ökonomen und liberalen Reformer von Adam Smith, David Ricardo,
John Stuart Mill, aber auch die französischen Physiokraten unter „liberal“ verstanden
haben. Sie alle haben in der ein oder anderen Form daran gearbeitet, die so genannten
ökonomischen Renten der Grundherren, also deren leistungslose Einnahmen aus einem
Grundbesitz oder Ressourcenmonopol, das sie nur geerbt hatten bzw. das irgendwann
durch räuberische Methoden überhaupt erst in ihren Besitz übergegangen war, entweder
ordentlich zu besteuern oder in öffentliches Eigentum zu überführen. In den Einnahmen
der Rentiers sahen die klassischen Ökonomen Feudalprivilegien, die der Entwicklung des
Industriekapitalismus im Weg standen. Und so entwickelten sie Konzepte, die es
erlaubten, zwischen verdientem und nicht verdientem Einkommen zu unterscheiden, diese
zu definieren und zu messen, auch um die Hauptsteuerlast von den Arbeitern und der
Industrie auf den Landadel zu übertragen.
Hudson spricht in diesem Zusammenhang vom „Prinzip der Rentenextraktion“ - also zu
nehmen, ohne etwas zu produzieren. Dass es in den heutigen volkswirtschaftlichen
Gesamtrechnungen gar keine Kategorie mehr für leistungslose, unverdiente Einkommen,
die ökonomischen Renten also, gibt, diese vielmehr als Einkünfte auftauchen, die auf
produktivem Weg erzielt wurden, spricht Bände und Hudson kommentiert das mit einem
Zitat von Baudelaire:
ZITATOR
Die schönste List des Teufels ist es, uns zu überzeugen, dass es ihn nicht gibt.
AUTORIN
Der Finanzkrise, die inzwischen eine globale Weltwirtschaftskrise und in Europa eine
Staatsschuldenkrise ist, liegt also auch eine Krise des Denkens zugrunde;
interessegeleitet wurde und wird mit falschen Parametern gearbeitet. Das
Bruttoinlandsprodukt, das ökonomische Renten schlicht und einfach als Einnahmen
behandelt, sollte, so Hudson, deshalb eigentlich besser Bruttoinlandskosten heißen. Denn,
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und das ist ein zentraler Punkt seiner Argumentation, diese ökonomischen Renten,
Einnahmen, die im Finanz,- Versicherungs- und Immobiliensektor generiert werden,
werden produktiven Investitionen in neue Produktionsanlagen, in Forschung und
Entwicklung usw. entzogen, tragen also folglich nichts zum Wirtschaftswachstum bei.
Hudson sieht darin auch den Grund für den Niedergang der USA als Industrienation.
ZITATOR
Die meisten Bankkredite dienen nicht der Schaffung neuer Produktionsmittel, sondern
drehen sich um Immobilien, Wertpapiere oder andere Vermögenswerte, die bereits
vorhanden sind.
AUTORIN
Das nennt Hudson unproduktive Kreditschöpfung, denn es wird nichts hergestellt.
Im zweiten Teil des Buches finden sich u.a. diverse Fallstudien zur Frage, mit welchen
Methoden die Finanzindustrie Unternehmen ruiniert, weil es nur um kurzfristigen Gewinn
geht. Auf der Strecke bleibt dabei freilich die Wirtschaft. Bill Clintons und Barack Obamas
extrem Wall-Street-freundliche Politik – von den republikanischen Präsidenten war nichts
anderes zu erwarten gewesen – sollte zu denken geben, auch hinsichtlich des Erfolgs
eines Donald Trump.
ZITATOR
Die heutige finanzökonomische Methode der „Vermögensbildung“ durch Arbitrage,
Glücksspiel mit Finanzderivaten und Kreditpyramiden – gekrönt durch
Zwangsversteigerung und Privatisierung – verdrängt den industriellen Produktionsmodus
und ermöglicht weitaus höhere Profite, als man sie durch Nutzung von industriellem
Kapital erzielen kann.
AUTORIN
Was Hudsons Buch, neben den vielen höchst detaillierten Fallstudien, die als empirische
Belege dienen für seine großen Thesen, vor allem der von einem weltweit geführten Krieg
der Gläubiger gegen die Schuldner, so interessant macht, ist, dass es ihm gelingt, die
wichtigsten Zusammenhänge eines Kapitalismus schlüssig zu erklären, dessen Motor
einzig und allein die immer weitere Ausdehnung von unproduktiven Krediten ist. Wenn ein
System den Schuldnern, seien es Einzelpersonen oder Unternehmen, keine Möglichkeit
bietet, das Geld zum Zurückzahlen ihrer Kredite durch Löhne oder Profite zu
erwirtschaften, kann man ihnen nur weiteren Kredit geben. Die Politik lockerte
entsprechend auch die Kreditvergaberichtlinien, so dass durch eine exzessive,
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unverantwortliche Kreditausdehnung Immobilien- und Aktienpreise künstlich aufgebläht
werden können. Schuldnern erlaubt das, ihre überbewerteten Immobilien zu beleihen, um
Geld für Zinszahlungen aufzutreiben, und Aktionären den Marktpreis von Unternehmen,
unabhängig von deren realer Wirtschaftsleistung, durch kreditfinanzierten Aktienrückkauf
z.B. künstlich hochzutreiben, um die Aktien dann schleunigst weiterzuverkaufen und sich
aus dem Staub zu machen. Das ist allerdings die Logik eines Schneeballsystems, in dem
irgendwann der Punkt erreicht ist, an dem die Spekulationsblase platzen muss.
ZITATOR
Eine solche Art von Kreditvergabe wird als „räuberisch“ oder „ausbeuterisch“ bezeichnet.
In weiten Teilen der Welt ist das Ziel der räuberischen Kreditvergabe die Erlangung von
Arbeitskraft zum Abbezahlen von Schulden oder die Zwangsenteignung der Schuldner.
Heute dient sie immer häufiger dazu, verschuldete Regierungen zu einer Privatisierung
ihrer natürlichen Ressourcen und ihrer Infrastruktur zu zwingen.
AUTORIN
Irland, Lettland und Griechenland dienen Hudson dabei als Fallbeispiele, an denen er
diesen Mechanismus einer gigantische Ausmaße annehmenden zeitgenössischen Form
der Rentenextraktion ausbuchstabiert. Als die Blasen dann geplatzt waren, haben die
Staaten für ausländische Großgläubiger gezahlt, in Form von euphemistisch „Rettung“
genannten Programmen, während verschuldete Familien ihre Eigenheime verloren und je
nach nationaler Gesetzeslage auch noch auf den Schulden für überbewertete Häuser und
Wohnungen sitzen geblieben sind.
ZITATOR
Irgendjemand muss verlieren, wenn die Schulden so stark anwachsen, dass sie nicht
mehr zurückgezahlt werden können. Also versuchen Banken und Anleihegläubiger den
Staat für ihre Interessen einzuspannen, damit er sie vor Verlusten schützt.
AUTORIN
Dazu mussten Zentralbanken und Finanzministerien vom Finanzsektor erst einmal erobert
werden. Das beschreibt Hudson an Beispielen, die sich wie Krimis lesen, ganz genau.
Auch supranationale Finanzinstitute wie IWF und Weltbank oder die Europäische
Kommission sind zu Vertretern der Interessen der Großgläubiger geworden, für die sie
gesamtwirtschaftlich gesehen fatale Spar- und Privatisierungsprogramme durchsetzen.
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Seit 2014 stoßen nun rechte Parteien in ein politisches Vakuum, denn sie sind, außer in
Portugal, Spanien und Griechenland, wo es neue linke Kräfte gibt, die einzigen, die gegen
eine Politik im Interesse der Finanzbranche protestieren, auch wenn sie deren Vorgaben,
einmal gewählt, vermutlich ebenso folgen werden wie die traditionellen Parteien es vor
ihnen getan haben. Die Reaktion der Finanzmärkte auf die Wahl Trumps, der ein innerhalb
seiner eigenen Partei nicht unumstrittenes extrem rechtes Programm vertritt, ist
unmissverständlich: die Bankaktien steigen, erwartet die Branche doch weitere
Deregulierungen. Und so lautet die große Frage heute:
ZITATOR
Welche Form wird der politische Widerstand gegen den Griff des Finanzkapitals nach der
Macht annehmen? Wird sich der Volkszorn in einem ziellosen regierungsfeindlichen
Protest äußern, der vom Finanzkapital manipuliert ist? Oder wird sich die klassische
progressive Reformbewegung wieder durchsetzen?
AUTORIN
Nach Hudsons Analyse ist klar, dass man um Schuldenerlasse nicht herumkommen wird.
Auch dass es einer grundlegenden Steuerreform bedarf, die die ökonomischen Renten
des Finanz-, Versicherungs- und Immobiliensektors angemessen besteuern muss. Und
nicht zuletzt müssen Banken zu öffentlichen Einrichtungen werden und natürliche
Monopole wie die Energieversorgung oder das Transportwesen in öffentlichem Eigentum
bleiben bzw. wieder verstaatlicht werden. Das alles mag sich in heutigen, Jahrzehnte
neoliberaler Rhetorik ausgesetzten Ohren vielleicht radikal anhören, hatten aber bereits
die klassischen Ökonomen des 18.Jahrhunderts ins Auge gefasst.