Udo J. Becker
Grundlagen, Handlungsfelder und Maßnahmen für die Verkehrswende
Grundwissen Verkehrsökologie
Dieses Buch wurde klimaneutral hergestellt. CO2-Emissionen vermeiden,
reduzieren, kompensieren – nach diesem Grundsatz handelt der oekom verlag.
Unvermeidbare Emissionen kompensiert der Verlag durch Investitionen in ein
Gold-Standard-Projekt. Mehr Informationen finden Sie unter www.oekom.de.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der
Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind
im Internet unter http://dnb.d-nb.de abrufbar.
© 2016 oekom, München
oekom verlag, Gesellschaft für ökologische Kommunikation mbH,
Waltherstraße 29, 80337 München
Satz und Layout: Reihs Satzstudio, Lohmar
Korrektorat: Silvia Stammen
Umschlagentwurf: Elisabeth Fürnstein, oekom verlag
Umschlagabbildung: © nnnnae – Fotolia.com
Druck: AZ Druck und Datentechnik GmbH, Kempten
Dieses Buch wurde auf 100%igem Recyclingpapier gedruckt.
Alle Rechte vorbehalten
ISBN 978-3-86581-775-4
Diese Publikation wurde gefördert durch die
Dr. Joachim und Hanna Schmidt Stiftung für Umwelt und Verkehr.
E-ISBN 978-3-86581-993-2
Grundwissen Verkehrsökologie
Dresdner Institut für Umwelt und Verkehr e. V. (DIVU)
(Herausgeber)
Udo J. Becker
Grundlagen, Handlungsfelder
und Maßnahmen für die Verkehrswende
An der Bearbeitung und an der Erstellung dieses Bandes hat eine Vielzahl von Perso-
nen mitgearbeitet, denen ich zu großem Dank verpflichtet bin. An erster Stelle sind hier
Regine Gerike und Matthias Winter zu nennen, die den Anstoß zu diesem Buch gaben
sowie Grundkonzeption und Textbeiträge erarbeiteten, sowie Roswita Rußig, in deren
Händen die gesamte Redaktionsarbeit lag. Bei der Erstellung der verschiedenen Texte
haben mich weitere Expertinnen und Experten durch Hinweise, Textbeiträge, Kom-
mentare oder Recherchen unterstützt; ihnen allen möchte ich an dieser Stelle herzlich
für die jahrelange, geduldige Zusammenarbeit danken:
Rosemarie Baldauf, Dresden
Thilo Becker, Dresden
Juliane Böhmer, Dresden
Thomas Böhmer, Dresden
Hana Brůhová-Foltýnová, Kolin (CZ)
Elke Clarus, Dresden
Thomas Czeh, Dresden
Julia Gerlach, Dresden
Miroslav Havránek, Brno (CZ)
Susan Hübner, Dresden
Carola Lißner, Dresden
Sven Lißner, Dresden
Simon Preis, Dresden
Falk Richter, Dresden
Wolfram Schmidt, Dresden
Michaela Valentová, Praha (CZ)
Danken möchte ich weiterhin den Ämtern der Landeshauptstadt Dresden, dem Säch-
sischen Landesamt für Umwelt, Landwirtschaft und Geologie sowie dem Umweltbun-
desamt in Dessau-Roßlau für jahrelange, vertrauensvolle Kooperation und Datenbe-
reitstellung.
Die Zusammenstellung der Befunde und die Überarbeitung des Textes wurden maß-
geblich durch die Dr. Joachim und Hanna Schmidt Stiftung für Umwelt und Verkehr
unterstützt: Ohne Unterstützung durch diese Stiftung wäre das Buch niemals entstan-
den. Hierfür danke ich in ganz besonderem Maße.
Dresden, Januar 2016
Inhaltsverzeichnis
Inhaltsverzeichnis
Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9
0 Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11
1 Grundlagen, Begriffe und Zusammenhänge . . . . . . . . . 15
1.1 Verkehrliche Grundbegriffe: Verkehr, Mobilität, Erreichbarkeit . . . . 17
1.2 Aktivitäten und Bedürfnisse, Ziel gesellschaftlichen Handelns . . . . 19
1.3 Social Inclusion/ Verkehrsteilhabe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21
1.4 Verkehrssozialisation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23
1.5 Umwelt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25
1.6 Ökologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25
1.7 Ökonomie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26
1.8 Nachhaltige Entwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27
1.9 Indikatoren nachhaltiger Entwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29
1.10 Effizienz, Transporteffizienz τη . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31
1.11 Verkehrsmittelwahl / Modal Split . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33
1.12 Externe Effekte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35
1.13 Kostenwahrheit, Internalisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39
1.14 Subventionen, Steuern, Abgaben und Gebühren . . . . . . . . . . . . . 42
1.15 Umweltgerechtigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 44
1.16 Wechselwirkungen und Systemeffekte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47
1.17 Induzierter Verkehr nach der Attraktivierung
von Verkehrsinfrastrukturen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49
1.18 Verkehrsinfrastrukturen und wirtschaftliche Entwicklung . . . . . . . 51
1.19 Emission, Transmission, Immission, Deposition . . . . . . . . . . . . . . 54
1.20 Emissionsfaktoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 56
1.21 Einfluss des Ortes auf Emissionen bzw. Immissionen . . . . . . . . . . 58
1.22 Grenzwerte für Umweltbelastungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 60
1.23 Bedeutung von Systemgrenzen und Abgrenzung . . . . . . . . . . . . 62
Inhaltsverzeichnis
2 Wirkungen des Verkehrs auf Umwelt und Gesellschaft . 67
2.1 Verbrauch erneuerbarer und nicht erneuerbarer Energien . . . . . . 70
2.2 Ressourcenverzehr . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 76
2.3 Flächeninanspruchnahme durch Verkehr . . . . . . . . . . . . . . . . . . 80
2.4 Versiegelung von Bodenflächen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 84
2.5 Zerschneidung von Lebensräumen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87
2.6 Trennwirkungen durch Verkehr . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 88
2.7 Lärm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91
2.8 Lichtverschmutzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 98
2.9 Unfälle – Vision Zero . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101
2.10 Emissionen von Kohlenmonoxid (CO) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105
2.11 Emissionen von Kohlenwasserstoffen (HC) . . . . . . . . . . . . . . . . 107
2.12 Emissionen von Stickoxiden (NOx) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109
2.13 Emissionen von Partikelmasse (PM) und Partikelanzahl (PA) . . . . . 113
2.14 Emissionen Polyzyklischer Aromatischer
Kohlenwasserstoffe (PAK) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118
2.15 Emissionen von Benzol . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121
2.16 Schwefeldioxid-Emissionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 124
2.17 Photochemische Oxidantienbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129
2.18 Troposphärische Ozonbelastung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 130
2.19 Stratosphärischer Ozonabbau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135
2.20 Versauerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139
2.21 Eutrophierung (Nährstoffanreicherung) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141
2.22 Klimaveränderungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 142
2.23 Humantoxizität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 152
2.24 Kanzerogenität (krebsauslösende Wirkung) . . . . . . . . . . . . . . . . 154
3 Strategien und Maßnahmen zur Reduktion verkehrlicher Umweltbelastungen . . . . . . . . . . . . . . . . 157
3.1 Strategien zur Verminderung verkehrlicher Umweltwirkungen . . 164
3.2 Verkehrsentwicklungsplanung (VEP),
Sustainable Urban Mobility Planning (SUMP) . . . . . . . . . . . . . . . 168
3.3 Verkehrsplanung mit Push & Pull-Maßnahmenpaketen . . . . . . . . 174
3.4 Partizipation und Partizipationsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . 176
3.5 Bewertung von Maßnahmen im Verkehr . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179
3.6 Verkehrsökologische Tautologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 184
3.7 Lärmminderungsplanung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187
3.8 Luftreinhalteplanung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 190
Inhaltsverzeichnis
3.9 Umweltzonen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 196
3.10 Förderung des Fußgängerverkehrs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 198
3.11 Förderung des Fahrradverkehrs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201
3.12 Förderung des Öffentlichen Personennahverkehrs (ÖPNV) . . . . . 204
3.13 Mobilitätsmanagement . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207
3.14 Maßnahmen zur Bewusstseinsbildung und Öffentlichkeitsarbeit . 212
3.15 Fahrausbildung und Fahrverhaltensschulung . . . . . . . . . . . . . . 217
3.16 Fahrgemeinschaften und Carsharing (CS) . . . . . . . . . . . . . . . . . 219
3.17 Park & Ride-Konzepte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 223
3.18 Parkraummanagement . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225
3.19 Verstetigung des Verkehrsflusses, Abbau von
Geschwindigkeitsspitzen, Verkehrsberuhigung . . . . . . . . . . . . . 229
3.20 Veränderte Straßenraumgestaltung:
Tempo-30-Zonen, Fußgängerzonen, Begegnungszonen,
Langsamverkehrszonen, Shared-space-Bereiche . . . . . . . . . . . . 233
3.21 Barrierefreie Mobilität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 235
3.22 Güterlogistik, Stadtlogistik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 238
3.23 Preisliche Maßnahmen im Verkehr . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 240
3.24 Road Pricing, City Maut und ähnliche Ansätze . . . . . . . . . . . . . . 243
3.25 Verkehrstelematikkonzepte, Intelligente Verkehrssteuerung . . . . 247
3.26 Umweltstandards bei Ausschreibungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 251
3.27 Alternative Kraftstoffe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 255
3.28 Alternative Antriebe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 261
3.29 Abgasnachbehandlungskonzepte für Benzinmotoren
(geregelte Katalysatoren) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 274
3.30 Abgasnachbehandlungskonzepte für Dieselmotoren
(Partikelfilter und Stickoxidreduktionssysteme) . . . . . . . . . . . . . 278
3.31 Vorbildwirkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 285
Anhang
Abkürzungen und Symbole . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 294
Abbildungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 298
Tabellenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 300
Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 302
Einheiten und Formeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 316
Zum Autor . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 319
Grafiken und Tabellen dieser Publikation ohne expliziten Quellennachweis
wurden vom Autor erstellt.
Vorwort
Vorwort
Im »Grundwissen Verkehrsökologie« werden die zentralen Zusammenhänge, die
relevanten Umweltwirkungen des Verkehrs sowie die Maßnahmen zur Reduk-
tion der verkehrlichen Umweltbelastungen beschrieben. Die Beiträge beruhen
auf vielen verschiedenen Untersuchungen, Forschungsarbeiten und Berichten.
Die Texte der ersten Auflage aus dem Jahr 2009 wurden vollständig überarbei-
tet und ergänzt. Damit soll ein umfassender Überblick über den Wissensstand im
Bereich Verkehrsökologie vorgelegt werden.
Verkehrsökologie wird dabei als die Wissenschaftsdisziplin definiert, die sich
mit den vielfältigen dynamischen Wechselwirkungen und Rückkopplungen
im Bereich Mensch – Verkehr – Umwelt beschäftigt. Große Teile der dargestell-
ten Ergebnisse stammen aus Projekten des Lehrstuhls für Verkehrsökologie der
TU Dresden, die aus Mitteln der Europäischen Kommission, verschiedener Minis-
terien des Bundes und der Länder, von Stiftungen, Firmen oder Städten finan-
ziert wurden.
Das Buch fußt auf dem deutsch-russischen Wörterbuch »Verkehrsökologie«
[DIVU, 2004], das gemeinsam von Studenten und Wissenschaftlern des Lehr-
stuhls für Verkehrsökologie der TU Dresden sowie Forschern und Studenten aus
Universitäten in Omsk (Russische Föderation) erstellt wurde. Andere Texte wur-
den in deutsch-tschechischer Kooperation erarbeitet.
Dieses Handbuch, dessen einzelne Beiträge auch unabhängig voneinander
gelesen werden können, wendet sich an alle Personen, die sich beruflich oder
privat der Reduzierung der Umweltfolgen des Verkehrs widmen. Ihnen soll das
Handbuch Hilfestellungen und Anregungen bieten.
Dresden, Dezember 2015 Udo J. Becker
0. Einführung
. Einführung
Verkehrspolitiker und Verkehrsplaner sahen in der Vergangenheit ihre Aufgabe
häufig vor allem darin, die über Jahrzehnte steigenden Verkehrsmengen leicht
und flüssig abzuwickeln bzw. die Voraussetzungen für das Wachstum der Ver-
kehrsleistungen zu schaffen. Politisch wurde das Wachstum der Verkehrsleistun-
gen (üblicherweise gemessen in Personenkilometern [Pkm] oder Tonnenkilo-
metern [tkm]) als unabdingbare Voraussetzung für Wohlstand und Wachstum
betrachtet.
Auswirkungen des Verkehrs und damit auch der Verkehrsplanungen auf die
Umwelt konnten in dieser Perspektive zunächst vernachlässigt werden. Solange
die Verkehrsmengen klein waren, ergaben sich daraus auch kaum größere Um-
weltprobleme. Im 20. Jahrhundert nahmen die Verkehrsmengen überall auf der
Welt jedoch deutlich zu und folglich stiegen die Umweltbelastungen aus dem Ver-
kehr in einem Maße an, dass sie nicht länger unberücksichtigt bleiben konnten:
Lebensqualität und Gesundheit der Menschen wurden spürbar beeinträch-
tigt und Schädigungen der Ökosysteme durch verkehrliche Aktivitäten wur-
den deutlich.
Erst seit etwa den 80er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts werden die viel-
fältigen Effekte und Rückkopplungen zwischen Verkehr und Umwelt grundle-
gender untersucht: Entweder als Ergänzung traditioneller Disziplinen oder als
eigenständiges Fachgebiet etablierte sich das Feld der Verkehrsökologie. Damit
stellt die Verkehrsökologie ein relativ junges Arbeitsgebiet dar, das zumeist mit
ökologischen Fragestellungen beginnt, im Sinne eines umfassenden Ansatzes
selbstverständlich jedoch auch ökonomische und soziale Aspekte einbezieht.
Die Bedeutung dieses Forschungsfeldes lässt sich an den zu behandelnden
Folgen des Verkehrs wie bspw. Lärm, Abgase, Unfälle, Klimagasemissionen, Flä-
cheninanspruchnahmen, Trennwirkungen, Wasser- und Bodenverschmutzun-
gen sowie aus den resultierenden ökonomischen und sozialen Folgen abschät-
zen. In der einen oder anderen Form beschäftigt sich jede Gesellschaft und jede
Kommune mit diesen Fragen. Eine systematische Übersicht über die Lösungs-
ansätze und Erkenntnisse der Verkehrsökologie fehlt aber bisher noch.
0. Einführung
Diesem Mangel soll der vorliegende Band »Grundwissen Verkehrsökologie«
abhelfen. Das Autorenkollektiv trug dafür die Ergebnisse vielfältiger fremder
und eigener Forschungen zusammen. Wir wollen damit zum einen den erreich-
ten Kenntnisstand der Verkehrsökologie zusammenfassen, zum anderen sollen
aber insbesondere konkrete Möglichkeiten zum Handeln vor Ort beschrieben
werden. Dabei lässt sich die derzeitige Situation etwa wie folgt zusammen-
fassen:
1. Zunächst einmal gilt grundsätzlich, dass die Mobilität der Menschen erhalten
und gesichert werden muss. Mobilität ist ein Menschenrecht; seine Ausübung
ist allen Menschen, auch Älteren, Jüngeren, Schwächeren und Kranken, in
allen Ländern, in bestimmtem Umfang und jederzeit zu garantieren. Insbe-
sondere für Personen mit eingeschränkten Mobilitätsmöglichkeiten sind hier
geeignetere Lösungen zu entwickeln und umzusetzen.
2. Diese Sicherung der Mobilität muss mit weniger Energieeinsatz erfolgen. Die
fossilen Energievorräte der Erde, auf denen Verkehr überwiegend basiert,
können in Zukunft nur noch aufwendiger und damit teurer gewonnen wer-
den. Deshalb sind Lösungen zu entwickeln, die Mobilität mit wesentlich ge-
ringerem Energiebedarf bzw. ohne fossile Energie ermöglichen.
3. Die Abgas- und Lärmemissionen des derzeitigen Verkehrs übersteigen in
allen größeren Städten weltweit die von der Weltgesundheitsorganisation
WHO bzw. von der EU als akzeptabel betrachteten Grenzwerte. Technische
Ansätze sind hier wichtig und hilfreich, sie haben in der Vergangenheit sig-
nifikante Umweltentlastungen erbracht, aber sie können alleine die genann-
ten Probleme nicht lösen. Deshalb sind zunehmend Lösungen zu entwickeln
und umzusetzen, die Mobilität durch geänderte Raumstrukturen und andere
Verhaltensweisen sichern (Naherschließung, Fahrrad- oder Fußgängerver-
kehr …).
4. Die heutigen Verkehrsstrukturen stehen jedoch nicht nur von der Quellen-
bzw. Ressourcenseite her unter Druck, sondern sie sind auch von der Sen-
kenseite her nicht länger durchhaltbar: Auch die Senken für die Abfallstoffe
unserer Verkehrswelt sind begrenzt. So machen die Emissionen von Treib-
hausgasen (THG) aus dem weltweiten Verkehr (inklusive aller Vorketten und
Infrastrukturen) derzeit etwa ein Drittel der weltweiten THG-Gesamtemissio-
nen aus. Soll der Klimawandel begrenzt werden, dann müssen auch deshalb
unsere Verkehrssysteme grundsätzlich umgebaut werden.
0. Einführung
5. Damit stellt sich auch die Frage nach dem zu verfolgenden Wirtschafts modell
für die Menschheit: Der Prozess der Globalisierung etwa funktioniert indivi-
duell vorteilhaft nur, solange Verkehr große Teile der dabei entstehenden
Kosten auf Dritte abwälzen kann. Damit aber fördern die derzeitigen Struktu-
ren über die Möglichkeit, Kosten des weltweiten Verkehrs nicht von den Nutz-
nießern bezahlen lassen zu müssen, die Ineffizienz: Würde Verkehr effi zienter
bzw. kostenwahrer, dann müssten sich bspw. auch alle Globalisierungskon-
zepte neu orientieren.
6. Die heute aufgebauten Verkehrsinfrastrukturen sind zudem vielerorts so
komplex und aufwendig geworden, dass sie sich längerfristig nicht mehr auf
die gewohnte Weise finanzieren und unterhalten lassen. Allein in Deutsch-
land müsste für den angemessenen Unterhalt der Infrastrukturen zukünftig
pro Erwerbstätigem mehr Geld aufgebracht werden, als dafür zur Verfügung
steht. Hohe Staatsverschuldungen und die demografische Entwicklung ver-
schärfen diese Problematik weiter.
7. Grundsätzlich andere Lösungen sind auch notwendig, um eine langfristig an-
gemessene und faire Verteilung aller Mobilitätschancen innerhalb der Bevöl-
kerung zu gewährleisten. Die derzeitige Polarisierung zwischen »Habenden
und Nichthabenden« im Verkehrswesen unserer Gesellschaften (sowie zwi-
schen allen ärmeren und reicheren Gesellschaften weltweit) ist zu reduzie-
ren. Auch deshalb verbietet sich eine Weiter-so-Strategie, denn sie wird dann,
wenn die Nichthabenden ihre Zustimmung verweigern, nicht einmal mehr
den Habenden Mobilität erlauben.
Ziel allen Handelns im Verkehrswesen muss es demnach sein, Mobilität zu er-
halten und Ortsveränderungsbedürfnisse zu befriedigen – aber mit geringeren
Umweltbelastungen, Energieverbräuchen, Flächeninanspruchnahmen, Unfällen
und anderen sozialen und ökologischen Kosten. Wie kann man die traditionel-
len Ziele und Verfahren so ergänzen bzw. verändern, dass sie diesen Herausfor-
derungen gerecht werden? Hier soll das »Grundwissen Verkehrsökologie« helfen.
Dabei haben wir einen lexikonähnlichen Ansatz verfolgt. Die einzelnen Kapi-
tel bieten einen in sich geschlossenen Überblick über jeweils ein abgegrenztes
Thema. Je nach Interesse und Anliegen können deshalb die einzelnen Kapitel
unabhängig voneinander gelesen werden. Eine Lektüre vorangegangener Teile
des Handbuchs ist für das Verständnis der folgenden Teile nicht zwingend not-
wendig.
0. Einführung
Thematisch ist das Handbuch in vier Abschnitte gegliedert:
◆ Im ersten Teil »Grundlagen, Begriffe und Zusammenhänge« werden wichtige
Konzepte und Begriffe vorgestellt.
◆ Der zweite Teil »Wirkungen des Verkehrs auf Umwelt und Gesellschaft« stellt
wesentliche (Umwelt-) Wirkungen des Verkehrs in jeweils eigenständigen kur-
zen Unterkapiteln zusammen.
◆ Der dritte Teil »Strategien und Maßnahmen zur Reduktion verkehrlicher Um-
weltbelastungen« ist ausgewählten Maßnahmen zur Minderung verkehrli-
cher Umweltwirkungen gewidmet.
Der Schwerpunkt des Bandes liegt dabei nicht auf einer Zusammenstellung der
vielen in Kapitel 2 beschriebenen Problemfelder, sondern vor allem auf der Dar-
stellung ausgewählter Lösungsansätze in Kapitel 3: Dort wird versucht, die An-
sätze zur Verringerung der Umweltbelastungen nachvollziehbar und problem-
angemessen einzuordnen. Weiterführende Literaturquellen werden immer
angegeben, um eine eigene Beschäftigung mit den Themenkomplexen zu er-
möglichen.
Wir wünschen allen Nutzern des vorliegenden Buches viel Freude und wir
hoffen, dass die aufgezeigten Möglichkeiten optimistisch stimmen. Jeder, der
die aktuellen Fahrzeuge, Trends und Emissionen im Verkehr nüchtern bewertet,
weiß, dass die derzeitige Situation nicht zukunftsfähig ist; aber für Pessimismus
oder Defätismus besteht aus unserer Sicht keinerlei Anlass. Wir wissen, was zu
tun wäre und wie man es tun könnte, und das allein ist für uns Grund für Opti-
mismus.
1 Grundlagen, Begriffe und
Zusammenhänge
1.1 Verkehrliche Grundbegrif fe: Verkehr, Mobilität, Erreichbarkeit
Verkehrliche Grundbegriffe:
Verkehr, Mobilität, Erreichbarkeit
Der Ursprung des Mobilitätsbegriffs liegt im Lateinischen: mobilitas bedeutet Be-
weglichkeit, Schnelligkeit, Gewandtheit und Biegsamkeit. In Diskussionen und
Publikationen werden die Begriffe Mobilität und Verkehr oft synonym genutzt,
da beide Begriffe für Ortsveränderung und Bewegung stehen. Dieses Verständ-
nis von Mobilität bzw. Verkehr ist aber nicht zielführend, denn beide Begriffe be-
zeichnen grundsätzlich verschiedene Sachverhalte.
Ausgangspunkt jeglicher (Verkehrs-)Aktivität sind zunächst menschliche Be-
dürfnisse. Manche Bedürfnisse können an Ort und Stelle (etwa zu Hause) befrie-
digt werden, andere verlangen nach Ortsveränderung. So werden bspw. viele
physiologische Grundbedürfnisse wie Schlafen, Essen und Trinken meist vor Ort
bzw. zu Hause befriedigt, doch schon der Erwerb der Nahrung macht in den
meisten Fällen eine Ortsveränderung nötig und bei anderen Aktivitäten gilt das
noch stärker. Ist eine Bedürfnisbefriedigung am aktuellen Ort unmöglich, ent-
stehen Mobilitätsbedürfnisse, weil ein Bedürfnis Ortsveränderungen erfordert,
entsteht das abgeleitete Bedürfnis nach Mobilität. Ab jetzt treten Schwierigkei-
ten auf, denn viele nutzen das Wort Mobilität für die Beschreibung von Optio-
nen, von Möglichkeiten. Dann wird darunter verstanden, dass jemand ein Ziel
erreichen kann – unabhängig davon, ob er es auch erreicht. Im Folgenden steht
Mobilität ausschließlich für tatsächlich realisierte Möglichkeiten. Ein Entschei-
der oder eine Entscheiderin hat sich in Kenntnis der notwendigen Aufwände
für die Realisierung entschieden. Mobilität wird dann zum Maß für die Anzahl der
verschiedenen abgedeckten Bedürfnisse, für die Ortsveränderungen erforderlich
waren. Mobilität beschreibt dann nicht, wo und mit welchem Aufwand ein Be-
dürfnis befriedigt wird. Das bedeutet insbesondere, dass Mobilität per se nichts
mit etwaigen zurückgelegten Kilometern zu tun hat. Als Indikatoren werden die
Zahl der abgedeckten Bedürfnisse, die Anzahl der Aktivitäten oder die Zahl der
Wege pro Person und Tag verwendet [Gerike, 2005].
Um mobil sein zu können, sind immer Fahrzeuge, Wege, Strukturen und Ins-
tru mente notwendig: entweder Personenverkehr (zu Fuß, im Auto etc.) oder
Güterverkehr. Verkehr wird damit zum Instrument, mit dessen Einsatz Bedürfnisse
befriedigt werden können. Daraus ergibt sich: Verkehr bezeichnet die Gesamt-
heit aller Instrumente zur Verwirklichung von Bedürfnissen, die nicht vor Ort be-
friedigt werden können. Dieses Instrument umfasst zunächst einmal selbstver-
ständlich die Fahrzeuge, die Verkehrsmittel. Verkehrsmittel benötigen aber auch
Energie und verursachen Emissionen, sie benötigen Verkehrswege und Infra-
strukturen verschiedener Arten. Deshalb werden diese benötigten Strukturen,
1.1
1.1 Verkehrliche Grundbegrif fe: Verkehr, Mobilität, Erreichbarkeit
Ressourcen, Aufwände und Systeme zusammen betrachtet. Unter Verkehr wer-
den in diesem Text deshalb die Fahrzeuge sowie alle dazu benötigten Aufwände
subsumiert.
Zur Messung der verschiedenen Aspekte von Verkehr können die verschiede-
nen Parameter der einzelnen Systemteile herangezogen werden. Der Umfang
des Verkehrs wird üblicherweise in Personenkilometern (Pkm) oder in Tonnen-
kilometern (tkm) angegeben; diese Verkehrsleistung repräsentiert damit den
Umfang des Verkehrs bzw. die für die Befriedigung von Bedürfnissen notwen-
digen Aufwände.
Der Unterschied zwischen Mobilität und Verkehr wird in der öffentlichen De-
batte oft verwischt. Berichten etwa die Medien von »gestiegener Mobilität« im
letzten Jahr, so meinen sie damit oft Personen- oder Tonnenkilometer. Sind aber
nur die Pkm oder tkm gestiegen, dann besagt das, dass vor allem mehr und/oder
weiter gefahren oder transportiert wurde. Über die Anzahl der abgedeckten Be-
dürfnisse und damit über die Mobilität ist damit aber nichts ausgesagt.
Aus Befragungen zum Verkehrsverhalten weltweit ist bekannt, dass die Zahl
der Wege sowie die dafür benötigte Zeit seit vielen Jahren und über alle Gesell-
schaften hinweg etwa konstant sind. Im Rahmen des Systems repräsentativer
Verkehrsbefragungen (SrV) bspw. werden durch die TU Dresden seit 1972 regel-
mäßig Verkehrsbefragungen in deutschen Städten durchgeführt [TUD, a]. Auch
diese zeigen, dass die Menschen an einem mittleren Werktag im Durchschnitt
drei Wege pro Tag durchführen und dafür ca. eine Stunde benötigen. Dieser Zu-
sammenhang wird auch als Gesetz vom konstanten Reisezeitbudget bezeichnet
(siehe Kapitel 1.17).
Drastische Änderungen gab es hingegen bei den in dieser Zeit und mit diesen
Wegen zurückgelegten Distanzen und damit beim Verkehrsaufwand. Im Jahr 1972
legte eine Person in den SrV-Städten an einem mittleren Werktag ca. 5 Kilo meter
zurück. Im Jahr 1987 betrug diese Zahl 15 Kilometer, im Jahr 1991 20 Kilo meter
und im Jahr 2003 ca. 29 Kilometer [Ahrens, 2006]. Das bedeutet auch: Wird Ver-
kehr schneller, bspw. durch den Bau von Autobahnen oder Eisenbahnstrecken,
dann reagieren Mensch und Gesellschaft mit einer dynamischen Erhöhung der
Entfernungen (siehe Kapitel 4.6). Mobilität und Wegeanzahl bleiben dann aber
ungefähr gleich. Für eine unveränderte Mobilität wird mehr Verkehr benötigt.
Eng verbunden mit Mobilität und Verkehr ist der Begriff der Erreichbarkeit
(engl. Accessibility). Erreichbarkeit umfasst zumeist die folgenden Komponenten:
◆ die räumliche Verteilung potenzieller Ziele (quantitative Raumstruktur);
◆ die Leichtigkeit, diese Ziele zu erreichen (Verkehrssystem), sowie
◆ Ausmaß, Qualität und Charakter der Gelegenheiten zur Bedürfnisabdeckung
an den jeweiligen Zielen (qualitative Raumstruktur).
1.2 Aktivitäten und Bedürfnisse, Ziel gesellschaftlichen Handelns
Der Begriff der Erreichbarkeit verbindet damit Raum- und Verkehrssystem; Er-
reichbarkeit bezeichnet die Menge der Möglichkeiten zur Befriedigung von an
Ortsveränderungen geknüpften Bedürfnissen. Über die tatsächliche, konkrete
Realisierung dieser Möglichkeiten ist damit noch nichts ausgesagt. Meint man
die tatsächliche realisierte Mobilität, so ist im englischen Sprachraum der Be-
griff Access vorzuziehen, für den deutschsprachigen Raum wird Erreichung vor-
geschlagen.
Damit lässt sich zusammenfassen:
◆ Das eigentliche Ziel aller Ortsveränderungen liegt in der Befriedigung von
Bedürfnissen oder Durchführung von Aktivitäten, die vor Ort nicht realisiert
werden können.
◆ Mobilität ermöglicht uns, die Dinge zu tun, die wir tun möchten: Teilnahme
am Arbeitsleben, an kulturellen Aktivitäten, Pflegen sozialer Kontakte etc.
◆ Zur Umsetzung von Mobilität braucht man Verkehr: Verkehr stellt das Instru-
ment dar und hat eine dienende Funktion.
◆ Im Sinne effizienten Handelns sind dabei Verkehr bzw. die Verkehrsaufwände
zu minimieren.
Aktivitäten und Bedürfnisse, Ziel gesellschaftlichen
Handelns
Verkehrliche Aktivitäten beschreiben zielgerichtete menschliche Handlungen,
die mit Ortsveränderungen verbunden sind. In der Regel erfolgt die Beschrei-
bung über Anzahl (Quantität) und Typ (Qualität) dieser Aktivitäten. Als Bedürf-
nisse bezeichnet man grundlegende menschliche Antriebe, die im Fall empfunde-
nen Mangels und gegebener Möglichkeit zu Aktivitäten führen, diesen Mangel
(etwa Hunger) zu beseitigen.
Im Verkehrswesen bedeutet das: Ein und dieselbe Ortsveränderung, wie
bspw. ein mit dem Fahrrad zurückgelegter Weg, kann ganz unterschiedlichen
Zwecken (Aktivitäten) dienen: etwa zum Arbeiten, Lernen, Einkaufen. Jede dieser
Aktivitäten kann wiederum darauf abzielen, unterschiedliche Bedürfnisse zu be-
friedigen. Man mag einkaufen gehen, um bspw. Bekleidung zu erwerben. Man-
che Menschen gehen jedoch auch einkaufen, um sich zu erholen, um zu kom-
munizieren oder auch, um soziale Anerkennung zu erfahren.
Allerdings kann auch ein und dasselbe Bedürfnis (bspw. nach Erholung) durch
ganz verschiedene Aktivitäten befriedigt werden: Einer mag vielleicht einkaufen
gehen, um sich zu erholen, jemand anders bevorzugt es dagegen, joggen zu
1.2
1.2 Aktivitäten und Bedürfnisse, Ziel gesellschaftlichen Handelns
gehen, ein Dritter möchte fernsehen etc. Jede dieser Aktivitäten kann wiederum
mit oder ohne Ortsveränderung und unter Nutzung von mehr oder weniger Ins-
trumenten und Ressourcen durchgeführt werden.
Gesellschaften können die Aktivitäten bzw. Bedürfnisse ihrer Mitglieder ganz
unterschiedlich ermöglichen: Aber bei Art und Anzahl der Bedürfnisse, die Men-
schen haben, sind die Spielräume klein, denn alle Menschen haben ähnliche
Grundbedürfnisse. Im Verkehrswesen wird das Gesetz vom konstanten Reisezeit-
buget kolportiert (eigentlich eher eine Erfahrungsregel, das besagt, dass im
Durchschnitt der Gesellschaft jede Person drei Wege innerhalb eines Reisezeit-
budgets von etwa einer Stunde täglich zurücklegt. Große Unterschiede sind aber
bei den zurückgelegten Distanzen, bei den benötigten Ressourcen wie Kraftstoff
etc. möglich. Die Abbildung 1 fasst das resultierende Gedankenschema der Be-
griffe, Ziele und Instrumenten zusammen.
Links oben in Abbildung 1 stehen menschliche Bedürfnisse: Können diese
nicht vor Ort befriedigt werden, so entsteht der Wunsch nach individueller Orts-
veränderung. Diese latente Nachfrage sieht sich einem Angebot von Raum- und
Verkehrssystem gegenüber (rechts oben). Durch die Gegenüberstellung der
Wünsche nach Ortsveränderung mit den verfügbaren Möglichkeiten wird eine
persönliche Entscheidung (zentrale Ellipse) getroffen: Nun entscheiden Perso-
nen über ihr Handeln und über die Frage, welche Bedürfnisse mithilfe welcher
Aktivitäten tatsächlich befriedigt werden und welche Verkehrsmittel dafür wie
Bedürfnisse
Nichtzu Hausemöglich:
Nachfrage
Infra-struktur:
das Angebot
(Um-)Welt
Persönliche Entscheidung
WOFÜR?Aktivitäten, Bedürfnisse
WIE?Verkehr, Instrumente
Abbildung 1: Angebot und Nachfrage im Verkehr: Grundstruktur der Abläufe.
1.3 Social Inclusion / Verkehrsteilhabe
genutzt werden. Erst dann fällt eine individuelle Entscheidung, und erst dann
entstehen konkrete Ortsveränderungen bzw. realer Verkehr: Jemand (oder
etwas) reist von A nach B.
Jede zurückgelegte Ortsveränderung enthält damit immer zwei grundsätz-
lich zu trennende Aspekte:
◆ Wofür? Zu welchem Zweck wurde der Weg zurückgelegt? Der wesentliche
Zweck von Wegen liegt in den meisten Fällen darin, Aktivitäten durchzufüh-
ren und mit deren Hilfe Bedürfnisse zu befriedigen; darin liegt die Aufgabe
von Mobilität.
◆ Wie? Welche Hilfsmittel und Instrumente wurden genutzt, um den Weg zu-
rückzulegen? Hier sind vor allem die genutzten Verkehrsmittel, die aufge-
brachte Zeit, Kosten etc. angesprochen. Hier geht es um das dienende Instru-
ment Verkehr und um Aufwände und Ressourcen.
Der erste Punkt beschreibt die Nutzen, Vorteile, den Output: Was soll erreicht
werden? Der zweite Punkt beschreibt die dazu eingesetzten Kosten, Aufwände,
Ressourcen, Inputs: Hier geht es um Instrumente. Effizient wäre es, das ange-
strebte Ziel immer mit kleinstmöglichen Aufwänden zu erreichen. Deshalb lässt
sich als gesellschaftliches Ziel daraus ableiten: Man kann in einer Gesellschaft viel
Mobilität mit wenig Verkehr haben, und man kann eine Gesellschaft so einrichten,
dass für wenig Mobilität viel Verkehr notwendig ist.
Aufgabe staatlichen Handelns ist die Sicherung von Mobilität der jetzigen Ein-
wohner und künftiger Generationen mit minimalen privaten bzw. gesellschaftli-
chen Ressourcen und Aufwänden, also mit minimalem Verkehr. Erst dann ergibt
sich »bedürfnisgerechte Mobilität mit wenig Verkehr«. Dies gilt für Personen- wie
für Güterverkehr gleichermaßen, denn auch Güterverkehr findet nur statt, weil
damit letztlich menschliche Bedürfnisse befriedigt werden [Becker, 2004].
Social Inclusion / Verkehrsteilhabe
In den Kapiteln 1.1 und 1.2 ist als Aufgabe des gesellschaftlichen Handelns die
Abdeckung von (Grund-)Mobilitätsbedürfnissen definiert worden. Auch aus
Sicht einer nachhaltigen Entwicklung hat es sich immer um die Sicherung von
Bedürfnissen und der dazu nötigen Mobilität für heutige und künftige Generatio-
nen zu handeln, und zwar für alle Bevölkerungsgruppen gleichermaßen. Social
Inclusion bezeichnet u. a. die Sicherung der Mobilitätsteilhabe für alle Bevölkerungs-
schichten. Mögliche benachteiligte Gruppen können Bewohner ländlicher Ge-
biete, Anwohner hoch belasteter Straßen, Erwerbslose, Alleinerziehende und
1.3
1.3 Social Inclusion / Verkehrsteilhabe
Kinder sein. Grundlegende Arbeiten hierzu wurden von der britischen Social
Exclusion Unit [SEU, 2003], einer damals direkt der Regierung zugeordneten Be-
hörde, erstellt.
Nun bedeutet das keinesfalls, dass alle Menschen Anspruch auf unbegrenzte
und kostenlose Verkehrsteilnahme haben können oder sollen. Die Forderung
nach der Sicherung bestimmter – politisch auszuhandelnder – Grundbedürf-
nisse und Grundmobilitäten dürfte aber gesellschaftlicher Konsens sein. In Zei-
ten, in denen die Kraftstoffpreise, die Fahrpreise im öffentlichen Verkehr und
sonstige Ausgaben deutlich stärker steigen als die in schwächeren Einkommens-
schichten verfügbaren Mittel, kann es deshalb zu Einschränkungen der Mobi-
litätsteilhabe kommen: Bestimmte Personengruppen sind (mehr oder weniger
stark) von Teilhabeoptionen ausgeschlossen. Dass dies sowohl individuell tra-
gisch als auch gesellschaftlich gefährlich ist (Isolation, keine Teilhabe am Arbeits-
prozess oder an sozialen Kontakten etc.), liegt auf der Hand. Zunehmend wird es
also gelten, Bedingungen zu schaffen und bereitzustellen, die ein politisch aus-
gehandeltes Mindestmaß an Teilhabe und Mobilität für alle, auch für benach-
teiligte Bevölkerungsgruppen, aufrechterhalten. Dies können Bewohner ländli-
cher Regionen ohne ÖV-Anbindung, ältere Menschen ohne Führerschein und
ÖV-Angebote, Erwerbslose, Alleinerziehende, vor allem aber auch Kinder sein.
Gerade Kindern aus Stadtteilen entlang hoch befahrener Anfahrtsstraßen wird –
u. a. aus Sicherheitsgründen – die Möglichkeit verwehrt, im Umfeld der Woh-
nung zu spielen oder die eigene Umgebung erleben zu können. Dies ist gesell-
schaftlich nicht tragbar.
Aus verkehrsökologischer Sicht ist dabei ein Trend zu beobachten, der zu
Sorge Anlass gibt: Die Verkehrsleistung und das Verkehrsverhalten stärkerer, fi-
nanziell leistungsfähiger Bevölkerungsgruppen beruht auf hohen Fahrleistungen,
oftmals im motorisierten Individualverkehr (MIV ). Dabei entstehen Lärm, Abgase
und Umweltschäden insbesondere entlang der befahrenen Straßen. Die Wohn-
orte dieses eher privilegierten Personenkreises liegen häufig in ruhigeren, ländli-
chen oder verkehrsberuhigten Bereichen. Entlang der stark befahrenen Straßen
wohnen dagegen sozial weniger privilegierte Personenkreise. Diese aber be-
wegen sich weniger weit und verfügen i. Allg. über keinen eigenen Pkw (mehr).
Damit aber öffnet sich eine gesellschaftliche Schere:
Während stärkere Bevölkerungsgruppen hohe verkehrliche Umweltbelas-
tungen verursachen, leiden sie weniger unter den daraus entstehenden Um-
weltbedingungen. Schwächere Bevölkerungsgruppen verursachen dagegen
deutlich geringere oder keine verkehrlichen Umweltbelastungen, erleiden
aber Reduktionen der Umfeld- und Lebensqualität bis hin zu daraus entste-
henden Krankheiten.
1.4 Verkehrssozialisation
Wie groß der Unterschied zwischen Schadensverursachung und eigener Scha-
denserleidung ist und was man zur Reduktion der Divergenz beitragen kann,
untersucht zwischen 2010 und 2014 das Dresdener Graduiertenkolleg DIKE, das
sich mit den Verteilungswirkungen externer Effekte (siehe Kapitel 1.12) beschäf-
tigt. Die dort erarbeiteten Befunde werden ebenso wie die Arbeiten im AK 1.1.8
der deutschen Forschungsgesellschaft für Straßen- und Verkehrswesen FGSV
[FGSV, 2014] zur künftigen Diskussion über Social Inclusion und Verkehrsteilhabe
beitragen. Der Begriff Neue Mobilitätsarmut wird für diesen Themenkomplex
geprägt [Runge, 2005].
Verkehrssozialisation
Unter Sozialisation versteht man einen lebenslangen Prozess, in dessen Verlauf
ein Individuum sich mit dem gesellschaftlichen Verhalten, mit seiner materiellen
Umwelt, mit entsprechenden Denk- und Gefühlsmustern und mit gesellschaftli-
chen Normen auseinandersetzt.
Sozialisationsprozesse sind individuell, finden in allen Lebensbereichen (Fa-
milie, Peer Group bzw. Freundeskreis, Arbeit, Schule, Freizeit etc.) statt und füh-
ren zu einer Verinnerlichung sozialer Normen mit dem Resultat mehr oder min-
der ausgeprägter Konformität persönlichen Verhaltens zu äußeren Erwartungen
(Normen, Rollen, Werten etc.). Gelungene Sozialisation macht das Individuum zu
einer sozial handlungsfähigen Persönlichkeit [Hurrelmann, 1993].
Verkehrssozialisation fasst die Sozialisationsprozesse der Verkehrsmittelwahl
und des Mobilitätsverhaltens zusammen.
»… das Individuum erwirbt – bspw. in der Interaktion mit seinen Bezugsgrup-
pen, in Schule und Beruf – Normen, Werte, Erlebens- und Verhaltensweisen,
die seine Verkehrsmittelwahl und Verkehrsteilnahme, sein Verhältnis zu den
einzelnen Verkehrsarten prägen.« [Kalwitzki, 1994]
Prägend für diesen Prozess sind das erlebte Verkehrsverhalten im familiären Be-
reich und in der Peer Group der Gleichaltrigen, genauso wie Einflüsse und Rah-
menbedingungen, die von Medien, gesellschaftlichen Institutionen, Verkehrs-
planung und Verkehrspolitik gesetzt werden.
Auch die Verkehrssicherheit beeinflusst unser Verhalten im Verkehr sowie un-
sere Ziel- und Verkehrsmittelwahl stark. Wird die eigene Sicherheit oder bspw.
die der eigenen Kinder subjektiv als nicht ausreichend empfunden, so entstehen
Ängste. Im Resultat werden die eigenen bzw. die Bewegungsmöglichkeiten der
Kinder eingeschränkt oder die Wege werden mithilfe anderer, vermeintlich si-
1.4
1.4 Verkehrssozialisation
cherer Verkehrsmittel zurückgelegt. Viele Kinder werden deshalb zur Schule oder
zu Freizeiteinrichtungen gebracht und auch wieder dort abgeholt, oftmals mit
dem privaten Pkw. Es entstehen Abhängigkeiten und die Kinder müssen auf ei-
gene Erfahrungen und Aktivitäten verzichten. Alte, kranke und unsichere Men-
schen nehmen ähnliche Einschränkungen hin. Angstgefühle durch zu große
Gefahren im Verkehr wirken, selbst ohne direkt erlebtes Unfallereignis, auf das
Verhalten der Menschen. Im Ergebnis entsteht damit ein Verhalten, das auf un-
geschützte eigene Bewegung verzichtet und stattdessen eher passiv im privaten
Pkw erfolgt. Dadurch aber steigt der Druck auch für die restlichen Fußgänger und
Radfahrer, für die es ja noch attraktiver wird, ebenfalls auf den Pkw umzustei-
gen, weil der Verkehr so gefährlich ist. Am Ende steigen das MIV-Verkehrsaufkom-
men, die Energieverbräuche, die Abhängigkeiten und die passiven Verkehrsfor-
men; praktische Erfahrungen mit aktiver, eigener Bewegung und das Erleben
der Nahräume werden ständig erschwert. Diesem Teufelskreis gilt es aus vielen
Gründen entgegenzuwirken.
Will man das Verkehrs- und Mobilitätsverhalten ändern, so muss man bereits
in den ersten Lebensjahren beginnen. Dabei erweist sich das familiäre Umfeld als
bedeutender Einflussfaktor. Erleben Kinder und Jugendliche ihre Eltern zumeist
als Autofahrer, dann entsteht eine Norm [Flade, 2003]. »Am bemerkenswertes-
ten ist dabei die bereits durch das Auto geprägte Erfahrung der jüngsten Ver-
kehrsteilnehmer: Vorschulkinder legen sechs von zehn Wegen im Auto zurück«
[infas, 2002]. In Familien, in denen viel Rad gefahren wird, entsteht dagegen eine
Mobilitätsnorm, in der Radfahren als normal angesehen wird [Flade, 2002]. Ge-
genwärtiges Verkehrsverhalten, das mit diesem verknüpfte Erleben sowie die
dabei erworbenen Kompetenzen beeinflussen die zukünftige Verkehrsmittel-
wahl [Uranitsch, 2006] und damit auch die Umweltbelastung aus dem Verkehr.
Ergebnisse von »Mobilität in Deutschland 2008« reflektieren die Verkehrs-
sozialisation der vergangenen Jahre und Jahrzehnte bspw. in folgenden Kern-
aussagen:
»Das bei etwa gleichbleibender Bevölkerung etwas wachsende Verkehrsauf-
kommen ist wesentlich auf eine ausgeprägtere Mobilität der heutigen Senio-
ren zurückzuführen. Sie sind aktiver als frühere Generationen in diesem Alter
und nutzen, nicht zuletzt aufgrund ihrer bisherigen Verkehrssozialisation,
häufiger das Auto. Anders die junge Bevölkerung, insbesondere im urbanen
Raum: Ihre Vertreter verlassen sich noch mehr als früher auf den Öffentlichen
Verkehr oder das eigene Fahrrad. Dies geht mit erstmalig sinkenden Führer-
scheinquoten in dieser Gruppe einher. Die Ergebnisse lassen also auch eine
Trendwende vermuten, deren Fortgang sich aber in den kommenden Jahren
erst noch erweisen muss.« [infas, 2008]
1.5 Umwelt / 1.6. Ökologie
Langfristig muss es sowohl aus Sicherheits-, aus Gesundheits-, aus Umwelt-
schutz- und vor allem aus sozialen Gründen dazu kommen, dass aktive und nah-
räumliche Mobilität gefördert und frühzeitig verankert wird. Interventionen mit
dem Ziel, individuelles Verkehrsverhalten in eine gewünschte Richtung zu be-
einflussen, sind vor allem in Umbruchsituationen Erfolg versprechend, also dann,
wenn Rahmenbedingungen im Leben (Wohnort, Arbeitsplatz, Familiensitua-
tion …) ohnehin neu gestaltet und damit tradierte Verhaltensweisen hinterfragt
und in Interaktion mit der Gestaltung der Lebensumstände neu ausgerichtet
werden. Von daher kann es z. B. sinnvoll sein, sogenannte Umzugspakete, Neu-
bürgerpakete, Seniorenpatenschaften oder weitere Maßnahmen umzusetzen.
Umwelt
Umwelt kann anschaulich verstanden werden als die Welt, die um uns ist und
bezieht sich vor allem auf die Biosphäre, in der (fast) alles Leben stattfindet. Ein
wichtiger Teil der Biosphäre ist die Atmosphäre, die aus einer Mischung von
Stickstoff, Sauerstoff, Wasserstoff, Kohlenstoffdioxid, Wasser, Staubpartikeln
sowie anderen Elementen besteht. Die Atmosphäre schützt die Erde u. a. vor
ultravioletter Strahlung und gleicht Temperaturschwankungen aus. Andere
wichtige Bestandteile der Biosphäre sind der Boden, die Gewässer sowie Fauna
und Flora.
Solange es nur wenige Menschen gab und deren technische Möglichkei-
ten bescheiden blieben, waren die Wirkungen des Menschen auf seine Um-
welt gering und lokal begrenzt. Durch technische Errungenschaften und schnell
wachsende Bevölkerungszahlen verändert die Menschheit die Erde heute je-
doch grundsätzlich und mit hoher Dynamik. De facto gibt es heute keine »von
Menschen unveränderte Natur« mehr. Vor allem die in historisch äußerst kur-
zen Zeiträumen erfolgende Verbrennung fossiler Kohlenstoffvorräte (Stein- und
Braunkohle, Erdöl, Erdgas …), die sich über Hunderte von Millionen Jahren in
der Erdrinde gebildet haben, verändert die Zusammensetzung von Atmosphäre,
Boden und Gewässern gravierend. Die Entwicklung im Verkehrsbereich trägt zu
diesen Problemen maßgeblich bei.
Ökologie
Dem Begriff Ökologie liegen die griechischen Worte oikos (Haus, Haushalt) und
logos (die Lehre von …) zugrunde. Es handelt sich also hier um die Lehre vom
Haushalt(en) der Natur, also mit der Flora und Fauna inklusive der Menschen.
1.5
1.6
1.7 Ökonomie
In Anlehnung an Ernst H. P. A. Häckel (1834 –1919) kann konkreter definiert wer-
den:
»Ökologie ist die ›Lehre von den Wechselbeziehungen zwischen Organismen
und ihrer belebten und unbelebten Umgebung sowie zwischen den Organis-
men untereinander‹.« [Häckel, 1919]
Zur unbelebten oder auch physikalisch-chemischen Umgebung zählen Licht
und Wärme, Sonneneinstrahlung, Feuchtigkeit, Wind, die Zusammensetzung der
Luft, die Nährstoffe im Boden, im Wasser und in der Atmosphäre. Die belebte
oder biologische Umgebung umfasst alle Lebewesen wie Pflanzen und Tiere,
Pilze, Bakterien, Viren und andere Einzeller.
Da die Beziehungen zwischen den Organismen und ihrer Umwelt äußerst
vielfältig sind, arbeiten Ökologen eng mit Wissenschaftlern anderer Fachgebiete
(bspw. Klimatologen, Hydrologen, Ozeanografen, Physikern, Chemikern, Geolo-
gen) zusammen. Um die Wechselwirkungen zwischen Organismen zu studieren
und zu verstehen, wird in der Ökologie auch auf Erkenntnisse der Verhaltensfor-
schung, der Soziologie, der Psychologie, der Biochemie oder der Physiologie zu-
rückgegriffen.
Der Begriff Ökologie ist zwar allgemein bekannt, sollte aber nicht mit dem
Bereich Umwelt- oder Naturschutz verwechselt werden. Die politischen und ge-
sellschaftlichen Zielfelder Umweltschutz bzw. Naturschutz sind eng mit Ökolo-
gie verbunden, aber die Ökologie versteht sich als eine eigene wissenschaftliche
Disziplin, deren Erkenntnisse die Grundlagen für das Verständnis von Umwelt-
problemen und deren Lösung liefern.
Ökonomie
Wie auch für die Ökologie liegen die Wurzeln des Wortes Ökonomie im griechi-
schen Wort oikos, dem Haus oder auch Haushalt. Der zweite Wortteil geht auf
das griechische Wort nemein zurück (einteilen, zuweisen, verwalten). Anders als
in der Ökologie geht es in der Ökonomie vor allem um Wechselwirkungen bzw.
Beziehungen zwischen handelnden, wirtschaftenden Menschen: um sämtliche
Einrichtungen (Unternehmen, private und öffentliche Haushalte) und Hand-
lungen, die der Befriedigung menschlicher Bedürfnisse dienen. Ziel ökonomi-
scher Betrachtungen ist damit die effiziente Herstellung, Verteilung und Verwen-
dung knapper Ressourcen und Güter. Im allgemeinen Sprachgebrauch werden
dafür auch die Bezeichnungen Volkswirtschaftslehre oder allgemein Wirtschaft
verwendet.
1.7
1.8 Nachhaltige Entwicklung
Kerngebiete der Ökonomie waren früher vor allem die knappen Produktions-
faktoren Arbeit (die Arbeitskräfte), Boden (zur Ernährung) und Kapital (als Finan-
zierungsgrundlage, Geld). Unter heutigen Bedingungen wären knappe Faktoren
eher Energie, Arbeitsplätze und Ressourcen aller Art (etwa Rohstoffe, Wasser, ein
stabiles Klima o. Ä.). Diesen Übergang versucht etwa auch das Feld der ökologi-
schen Ökonomie zu gestalten.
In der öffentlichen Diskussion ist die Meinung verbreitet, es handele sich bei
Ökonomie und Ökologie um zwei im Kern widersprüchliche Felder: Was ökono-
misch sei und das Wirtschaften fördere, müsse die Umwelt schädigen und des-
halb unökologisch sein. Dieser Widerspruch ist aber nur kurzfristig bzw. schein-
bar gegeben. Langfristig bilden beide Felder eine Einheit. Man kann nur beides
gemeinsam haben oder keines von beiden. Entweder erfasst alles wirtschaftli-
che Handeln auch die ökologischen Bedingungen und respektiert sie oder es
gefährdet sich selbst und wird unökonomisch, zumindest längerfristig.
Nachhaltige Entwicklung
Der Begriff der nachhaltigen Nutzung stammt ursprünglich aus der Forstwirt-
schaft. Bereits 1713 beschrieb der sächsische Oberberghauptmann Hannß Carl
von Carlowitz in seiner Abhandlung »Sylvicultura Oeconomica oder Haußwirt-
schaftliche Nachricht und naturmäßige Anwendung zur wilden Baum-Zucht«
[Carlowitz, 1713] eine auf langfristigen Erfolg ausgerichtete Waldbewirtschaftung.
Ausgangspunkt der gegenwärtigen Diskussion über nachhaltige Entwick-
lung ist vor allem die Arbeit der World Commission on Environment and De-
velopment ( WCED) der United Nations (UN). Diese veröffentlichte im Jahr 1987
den Bericht »Our Common Future«, der nach der Vorsitzenden der WCED, der
damaligen norwegischen Ministerpräsidentin Gro Harlem Brundtland, auch als
»Brundtland-Bericht« bezeichnet wird [WCED, 1987]. Der englische Begriff sus-
tainable wird dort mit dauerhaft übersetzt und folgendermaßen definiert:
»Dauerhafte Entwicklung ist Entwicklung, die die Bedürfnisse der Gegenwart
befriedigt, ohne zu riskieren, dass künftige Generationen ihre eigenen Be-
dürfnisse nicht befriedigen können.« [WCED, 1987, S. 46]
Diese Übersetzung verdeutlicht den anthropozentrischen Charakter der Brundt-
land-Definition, in deren Mittelpunkt der Mensch und seine Bedürfnisse gestellt
werden. Ein weiteres wichtiges Kennzeichen der Definition ist die Grundorientie-
rung auf Gerechtigkeit zwischen den heute lebenden Menschen und allen künf-
tigen Generationen (= intra- und intergenerative Gerechtigkeit ).
1.8
1.8 Nachhaltige Entwicklung
Nachhaltige Entwicklung hat im Sinne der Brundtland-Definition die Befriedi-
gung der Bedürfnisse aller heute und künftig lebenden Menschen in allen Regio-
nen zu verfolgen: »Die Befriedigung menschlicher Bedürfnisse« ist das Hauptziel
von Entwicklung. Der Schwerpunkt liegt dabei auf Basis- oder Grundbedürfnis-
sen. Die Grundbedürfnisse weiter Teile der Bevölkerung in den Entwicklungs-
ländern – nach Nahrung, Kleidung, Wohnung, Arbeit – werden nicht ange-
messen befriedigt, und auch über diese Grundbedürfnisse hinaus haben diese
Menschen Wünsche nach besserer Lebensqualität. Eine Welt, in der Armut und
Un gerechtigkeit herrschen, wird immer ökologischen und anderen Krisen aus-
gesetzt sein. Dauerhafte Entwicklung erfordert, die Grundbedürfnisse aller zu
befriedigen und für alle die Möglichkeit zu schaffen, ihren Wunsch nach einem
besseren Leben zu befriedigen« [WCED, 1987, S. 46 f.].
Der »Brundtland-Bericht« ist die Grundlage der Agenda 21 [UN, 1992], die ein
Aktionsprogramm für eine umweltverträgliche, nachhaltige Entwicklung dar-
stellt. Dieses Programm wurde auf der Konferenz für Umwelt und Entwicklung
der Vereinten Nationen (UNCED) 1992 in Rio de Janeiro verabschiedet und auf
den Nachfolgekonferenzen weiterentwickelt. Nachhaltige Entwicklung im Sinne
der Agenda 21 steht auf drei gleichberechtigten, die Gesellschaft tragenden
Säulen:
◆ Die soziale Säule greift die Forderungen nach intra- und intergenerativer Ge-
rechtigkeit auf. Gleiche Chancen sollen sowohl zwischen den Menschen ver-
schiedener Regionen zu einem bestimmten Zeitpunkt als auch zwischen den
Menschen verschiedener Generationen bestehen.
◆ Die ökologische Säule fordert den Erhalt lebensermöglichender Umweltsys-
teme. Ohne den Erhalt der Tragekapazität von Umwelt ist keine Befriedigung
der sozialen und ökonomischen Bedürfnisse der Menschen mehr möglich.
◆ Die ökonomische Säule zielt auf den Wohlstand der Menschen ab und damit
auf die Frage, wie gut ihre Bedürfnisse über Waren und Dienstleistungen ab-
gedeckt werden können: Zentral ist dabei die effiziente Herstellung, Vertei-
lung und Verwendung knapper Ressourcen.
Eine langfristig stabile, prosperierende und an den Bedürfnissen der Menschen
ausgerichtete Gesellschaft kann auf keine dieser drei Säulen verzichten. Zweifel-
los stellt die ökologische Säule aber eine unverzichtbare Grundvoraussetzung
für die anderen Säulen dar; deshalb sind alle Versuche, die ökonomische Säule
gegen die ökologische Säule auszuspielen, wenig zielführend.
Entscheidend ist, dass nachhaltige Entwicklung immer eine Entwicklung,
einen Prozess beschreibt. Es geht immer um (kleine) Schritte in Richtung we-
niger Un-Nachhaltigkeit. Welche Schritte hier konkret vor Ort (Lokale Agenda)
1.9 Indikatoren nachhaltiger Entwicklung
jeweils zielführend sind, kann sich von Stadt zu Stadt, aber auch von Jahr zu Jahr
ändern: Auf den Prozess kommt es an. Sollen mittel- und langfristig gravierende
Umweltschäden und großes menschliches Leid vermieden werden, gibt es zur
nachhaltigen Entwicklung keine Alternative.
Indikatoren nachhaltiger Entwicklung
Um feststellen zu können, ob eine Maßnahme eine nachhaltige Entwicklung
eher fördert oder behindert, ob gesellschaftliche Trends eher hin, zum oder weg
vom Ziel nachhaltiger Entwicklung führen, benötigt man Messinstrumente (In-
dikatoren). Indikatoren für den Pfad der nachhaltigen Entwicklung beschreiben
den Zustand der jeweils relevanten Kenngrößen [SDC, a]. Deshalb wurden zahl-
reiche Systeme von Nachhaltigkeitsindikatoren entwickelt: für die internationale
bis hin zur lokalen Ebene, für die gesamte Gesellschaft oder auch nur für ein-
zelne Sektoren, unter Berücksichtigung aller drei oder auch nur einzelner Säu-
len (siehe Kapitel 1.8).
Eine abschließende Festlegung von Nachhaltigkeitszielen durch konkrete In-
dikatoren wird aufgrund des Prozesscharakters der nachhaltigen Entwicklung
grundsätzlich niemals endgültig und eindeutig möglich sein. Man kann mensch-
liche Bedürfnisse nicht in konkrete Indikatoren pressen; sie sind veränderlich
und widersprüchlich, und auch die ökologischen Notwendigkeiten sind von Ort
zu Ort bzw. im Zeitverlauf unterschiedlich. Was heute irgendwo noch nachhaltig-
keitsfördernd sein mag, kann morgen oder andernorts durchaus nachhaltigkeits-
hemmend wirken. Damit wird nachhaltige Entwicklung zum Synonym für einen
Weg, den die Menschen auf der Erde von nun an und in allen künftigen Genera-
tionen ständig neu diskutieren und gestalten müssen.
Möglich und notwendig ist dabei die Definition eines Rahmens, der eine Ent-
wicklung hin zu weniger Unnachhaltigkeit gewährleistet und innerhalb seiner
Grenzen Spielräume für die freie Entfaltung der vielfältigen und veränderlichen
menschlichen Bedürfnisse lässt: Grenzen für den maximalen Konsum von Um-
weltgütern können dabei ebenso vorgegeben werden wie Kriterien für eine
minimale, für alle zu gewährleistende (verkehrliche) Grundversorgung. In dem
innerhalb dieser Grenzen entstehenden Spielraum können sich die Menschen
frei entfalten und entwickeln, ohne dass sie das Ziel nachhaltiger Entwicklung
und damit die Stabilität der Gesellschaft gefährden.
In der Bundesrepublik Deutschland dient die Nationale Nachhaltigkeitsstra-
tegie seit 2002 als strukturierendes Dokument für alle Schritte auf dem Weg zur
weniger unnachhaltigen Entwicklung. Dort sind Leitbilder (etwa: Generationen-
1.9
1.9 Indikatoren nachhaltiger Entwicklung
gerechtigkeit, Lebensqualität, sozialer Zusammenhalt, internationale Verant-
wortung) verankert. Für die Positionsbestimmung auf diesem Entwicklungspfad
wurden 21 Indikatoren entwickelt, die kontinuierlich erfasst werden und die an-
zeigen, ob die Entwicklung in einer fördernden oder hemmenden Richtung ver-
läuft. Zu den Indikatoren gehören etwa die Emissionen der Treibhausgase, die
Flächeninanspruchnahme durch Siedlungen und Verkehr, der Prozentsatz der
Güterverkehrsleistung auf Schienen oder auf Binnenschiffen und die Schadstoff-
belastung der Luft [BR, a]. Da die den Verkehr betreffenden Indikatoren stark
umstritten waren und nicht zuverlässig anzeigen, ob ein positiver oder negati-
ver Trend vorherscht, wurden die für den Verkehr definierten Indikatoren einer
Evaluation unterzogen [Gerlach, 2015]. Dabei zeigten sich folgende Ergebnisse:
1. Grundsätzlich sollte als Erfolgsindikator für alle Bemühungen im Verkehrs-
wesen ein Mobilitäts- bzw. Erreichbarkeitsmaß eingeführt werden, um die
soziale Dimension von Verkehr abzubilden. Dieser Indikator soll die Mindest-
mobiliätsmöglichkeiten für alle Landesteile und auch für alle Personengrup-
pen (insbesondere auch für benachteiligte Personengruppen) sicherstellen
(siehe Kapitel 1.3).
2. Bisher fehlt ein Indikator für (Verkehrs-)Lärm, ein solcher läst sich etwa aus
den Strategischen Lärmkarten der Städte ableiten.
3. Die bisherigen Personenverkehrs- bzw. Güterverkehrsintensitäten (Pkm/€ BIP
bzw. tkm/€ BIP) sind wenig anschaulich und vermögen es nicht, absolute
Steigerungen der Umweltbelastungen sicher und zuverlässig anzuzeigen.
4. Die nach dem Inlandsprinzip erhobenen Energieverbräuche im Verkehr soll-
ten in absoluter Höhe und auch nach dem Inländerprinzip, also inklusive der
Deutschland berührenden internationalen Schiffs- und Flugverkehre, ausge-
wiesen werden.
5. Angaben für den Modal Split im Schiffs- oder Schienenverkehr sind anschau-
lich, können aber die absolute Veränderung der Umweltbelastungen nicht
zuverlässig anzeigen: Sie signalisieren eventuell Veränderungen in der schein-
bar richtigen Richtung, obwohl die absoluten Umweltbelastungen anwach-
sen.
6. Der Indikator für die Umweltbelastung ist zu überarbeiten, da eine Addition
von Emissionsmengen wenig über die Gefährlichkeit aussagt und sich die
Problematik bei der Luftreinhaltung hin zu NO2 und PM10 verschoben hat.
1.10 Effizienz, Transporteffizienz τη
Effizienz, Transporteffizienz τη
Ein Verkehrssystem soll Mobilität ermöglichen, möglichst mit minimalen Auf-
wänden, Ressourcen und Kosten (siehe Kapitel 1.2 und 1.7). Damit wird die Ge-
staltung eines Verkehrssystems zur Optimierungsaufgabe: Es soll möglichst
effizient sozusagen »viel Mobilität mit wenig Verkehr« ermöglichen. Beides zu-
gleich ist unmöglich, aber zwei Arten sind umsetzbar:
◆ Minimumprinzip: Ein vorgegebenes Ziel wird mit minimalem Aufwand er-
reicht.
◆ Maximumprinzip: Mit einem vorgegebenen (etwa finanziellen oder zeitli-
chen) Aufwand wird ein maximaler Nutzen erzielt.
Ziel einer effizienten, an den Bedürfnissen der Menschen orientierten Verkehrs-
planung kann es also sein,
◆ bestimmte, im Rahmen einer gesellschaftlichen Diskussion festzulegende
(Grund-)Bedürfnisse mit geringstmöglichem Aufwand an Ressourcen und
Kosten zu befriedigen (Minimumprinzip), oder ggf. auch
◆ ein maximales Niveau an Bedürfnisbefriedigung mit einem fest vorgegebe-
nen Budget an Ressourcen und finanziellen Mitteln zu erzielen (Maximum-
prinzip).
Menschliche Bedürfnisse sind nun vielschichtig, individuell unterschieden und
können auch von außen geweckt werden. Verkehr hat auch keineswegs die Auf-
gabe, immer alle individuell denkbaren Wünsche abzudecken. Konsens in einer
Gesellschaft dürfte es aber sein, gewisse elementare (Grund-)Bedürfnisse für alle
Menschen, egal ob arm oder reich, jünger oder älter, zu sichern. Diese Festle-
gung der gesellschaftlich abzudeckenden Grundbedürfnisse kann nur politisch
erfolgen. Damit aber bietet sich für Effizienzentscheidungen im Verkehrswesen
vor allem das Minimumprinzip an:
Die politisch definierten (Grund-)Bedürfnisse, die so beschriebene Mobilität, sind
mit minimalem Verkehr abzudecken.
Nun umfasst Verkehr nicht nur Ortsveränderungsbedürfnisse, Fahrzeuge kön-
nen auch zur Selbstverwirklichung oder für die Demonstration des sozialen / fi-
nanziellen Status genutzt werden. Aber auch hier gelten Effizienzaspekte: Die
Anschaffung eines teuren und großen Autos kann unter Umständen ein rela-
tiv ressourcenintensiver Weg sein, um das Bedürfnis nach sozialer Anerkennung
1.10