Übungen im Wirtschaftsrecht, FS 2011
Fall 8: Handicap auf dem Finanzparkett
219./20.04.2011
Grundlagen
Themenschwerpunkte
>Unabhängigkeit der Revisionsstelle (Frage 1)
>Kapitalverlust (Frage 2)
>Überschuldung (Frage 3)
>Verantwortlichkeit des Verwaltungsrates (Frage 4)
2
319./20.04.2011
Grundlagen
Lernziele
> Anforderungen an die Revisionsstelle kennen und anwenden
> Voraussetzungen des Kapitalverlustes und Sanierungsmassnahmen
kennen und anwenden
> Voraussetzungen der Überschuldung kennen und anschliessendes
Vorgehen erläutern
> Tatbestandsvoraussetzungen der Verantwortlichkeitsklage kennen
und anwenden
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419./20.04.2011
Frage 1a
Welche Art von Revision muss die ACI durchführen?
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Frage 1a 1/6
Revisionsarten nach Art. 727 und 727a OR>Ordentliche Revision
Publikumsgesellschaften wirtschaftlich bedeutende Gesellschaften konsolidierungspflichtige Kleingesellschaften gegebenenfalls bei „Opting up“
>Eingeschränkte Revision übrige Gesellschaften
>Gar keine Revision „Opting out“ bzw. selbst gewählte Form der Überprüfung „Opting down“
519./20.04.2011
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Frage 1a 2/6
Publikumsgesellschaft i.S.v. Art. 727 Abs. 1 Ziff. 1 OR
> Gesellschaften mit Kotierung an einer Börse im In- und Ausland
> nicht kotierte Gesellschaften mit Anleihensobligationen
> Tochtergesellschaften, die mindestens 20% der Aktiven oder
des Umsatzes zur Konzernrechnung einer börsenkotierten
Gesellschaft (bzw. einer Gesellschaft mit ausstehenden
Anleihenspapieren) beitragen
619./20.04.2011
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Frage 1a 3/6
Wirtschaftlich bedeutende Gesellschaften i.S.v. Art. 727 Abs. 1 Ziff. 2 OR>Gesellschaften, die zwei der nachfolgenden Grössen in zwei
aufeinanderfolgenden Jahren überschreiten
- Bilanzsumme von 10 Millionen Franken
- Umsatzerlös von 20 Millionen Franken
- 50 Vollzeitstellen im Jahresdurchschnitt
719./20.04.2011
8
Frage 1a 4/6
Arten von natürlichen und juristischen Personen die mit der Revision beauftragt werden können
>Zugelassener Revisionsexperte (Art. 4 RAG)
-> zuständig für die wirtschaftlich bedeutenden Unternehmen
>Zugelassener Revisor (Art. 5 RAG)
-> zuständig für die die eingeschränkte Revision
>Staatlich beaufsichtigte Revisionsunternehmen (Art. 6 RAG)
-> zuständig für die Publikumsgesellschaften
819./20.04.2011
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Frage 1a 5/6
Welche Revisionsart ist für die ACI massgebend?
>Publikumsgesellschaft?
>Wirtschaftlich bedeutende Gesellschaft?
>Hinweise auf Anleihensobligationen?
>Hinweise auf Konsolidierungspflicht (Konzernstruktur)?
>Hinweise auf opting up?
919./20.04.2011
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Frage 1a 6/6
Welche Revisionsart ist für die ACI massgebend?
>Publikumsgesellschaft?
>Wirtschaftlich bedeutende Gesellschaft?
>Hinweise auf Anleihensobligationen?
>Hinweise auf Konsolidierungspflicht (Konzern?)
>Hinweise auf opting up?
>5 x NEIN -> eingeschränkte Revision!
1019./20.04.2011
1119./20.04.2011
Frage 1b
Beurteilen sie den Vorschlag von Eva betreffend der Fiduzia als
Revisionstelle.
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Frage 1b 1/2
Mögliches Problem
> Unabhängigkeit (Objektivität und Neutralität)
> Doppelte Einsitznahme in die Verwaltungsräte nur bei der
ordentlichen Revision explizit verboten -> implizit auch bei der
eingeschränkten Revision
> Modifikation von Art. 728 Abs. 2 Ziff. 4 OR durch Art. 729 Abs. 2 OR
> Fazit: Fiduzia darf auch bei bloss eingeschränkter Revision nicht für
die ACI tätig werden.
1219./20.04.2011
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Frage 1b 2/2
Mögliche Lösung ohne Verzicht von Eva auf eines ihrer VR-Mandate
>Opting out nach Art. 727a Abs. 2 OR
«Pseudo»-Revision resp. keine Revisionsstelle im Sinne des
Gesetzes notwendig
Revision auf beliebige Art und Weise
Keine Gültigkeit der Unabhängigkeitsbestimmungen
Entlastung für Kleinstaktiengesellschaften
1319./20.04.2011
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Frage 2a
Beurteilung der Bilanz aus rechtlicher Sicht?
1419./20.04.2011
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Frage 2a 1/7
Bilanzverlust
1519./20.04.2011
Interne Bilanz Adventure Capital Investment AG 31.12.2005(Beträge in CHF)
Flüssige Mittel 100'000.- Kreditoren 20'000.-
Debitoren 10'000.- Kredit Bank S. 400'000.-
Wertschriften 290'000.- Aktienkapital 300'000.-
Immobilien 100'000.- Allgemeine Reserven 30'000.-
Bilanzverlust 250'000.-
750'000.- 750'000.-
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Frage 2a 2/7
Bilanzverlust
>Passiven übersteigen die bilanzierten Aktiven
>Art. 725 OR
Kapitalverlust
Unterbilanz
Überschuldung
1619./20.04.2011
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Frage 2a 3/7
Kapitalverlust
>Summe Nennkapital und gesetzlichen Reserven kleiner
als bilanzierte Aktiven
>Kapitalverlust ist nach Art. 725 Abs. 1 OR problematisch,
wenn die Hälfte der Summe vom Nennkapital und
gesetzlichen Reserven (Art. 671 ff. OR) nicht mehr voll
durch die bilanzierten Aktiven gedeckt ist („hälftiger
Kapitalverlust“)
1719./20.04.2011
18
Frage 2a 4/7
Unterbilanz
>Art. 735 OR
>Nennkapital für sich allein nicht mehr gedeckt
>Nicht notwendigerweise gleichzeitig ein Kapitalverlust
>Der Begriff „Unterbilanz“ taucht im Zusammenhang mit
der Kapitalherabsetzung auf.
1819./20.04.2011
19
Frage 2a 5/7
Überschuldung
>Art. 725 Abs. 2 OR
>Forderungen der Gläubiger (Fremdkapital) sind durch die
Aktiven nicht mehr zu 100 % gedeckt
>Eigenkapital wurde gänzlich aufgezehrt
1919./20.04.2011
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Frage 2a 6/7
Bilanzsituation im vorliegenden Fall
2019./20.04.2011
Interne Bilanz Adventure Capital Investment AG 31.12.2005(Beträge in CHF)
Flüssige Mittel 100'000.- Kreditoren 20'000.-
Debitoren 10'000.- Kredit Bank S. 400'000.-
Wertschriften 290'000.- Aktienkapital 300'000.-
Immobilien 100'000.- Allgemeine Reserven 30'000.-
Bilanzverlust 250'000.-
750'000.- 750'000.-
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Frage 2a 7/7
Fazit
Aktienkapital + gesetzliche Reserven = 330‘000.-
Aktiven = 500‘000.- - Fremdkapital 420‘000.- = 80‘000.-
80‘000.- < 165‘000.- (=330‘000.-/2)
-> i.c. liegt ein hälftiger Kapitalverlust i.S.v. Art. 725 Abs. 1 OR vor
2119./20.04.2011
2219./20.04.2011
Frage 2b
Wie hätten die Organe der ACI AG Ende 2005 auf diese Bilanz reagieren
müssen?
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Frage 2b 1/2
Tim, Tom und Eva (Verwaltungsräte)
>Einberufung Generalversammlung (Art. 725 Abs. 1 OR)
>VR und GV identisch
entbindet nicht von Einberufungspflicht, ABER
Einberufung Universalversammlung möglich (Art. 701 OR)
2319./20.04.2011
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Frage 2b 2/2
Allfällige Revisionsstelle>Ordentliche Revision (bei opting up)
Eingreifen bei Passivität des VR (Art. 728c Abs. 2 Ziff. 2 OR) Meldung von Gesetzesverstössen der GV (Art. 728c Abs. 1 OR)
>Eingeschränkte Revision Anzeigepflicht bei offensichtlicher Überschuldung (Art. 729c OR)
2419./20.04.2011
2519./20.04.2011
Frage 2c
Wie kann die Bilanz im vorliegenden Fall rasch saniert werden?
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Frage 2c 1/3
Sanierungsmassnahmen
>Verwendung der allgemeinen Reserve zur Deckung des
Verlustes (Art. 671 Abs. 3 OR)
>Aufwertung der Liegenschaft durch Auflösung der stillen
Reserven (Art. 670 OR)
2619./20.04.2011
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Frage 2c 2/3
2719./20.04.2011
Interne Bilanz Adventure Capital Investment AG 31.12.2005(Beträge in CHF)
Flüssige Mittel 100'000.- Kreditoren 20'000.-
Debitoren 10'000.- Kredit Bank S. 400'000.-
Wertschriften 290'000.- Aktienkapital 300'000.-
Immobilien (+150’000.-) 250'000.- Allgemeine Reserven (-30’000.-) 0.-
Bilanzverlust (-30’000.-) 220'000.- Aufwertungsreserve (+150’000.-) 150’000.-
870'000.- 870'000.-
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Frage 2c 3/3
Fazit
Aktiven 650‘000.- – Fremdkapital 420‘000.- = 230‘000.-
Aktienkapital 300‘000.- + gesetzliche Reserve 150‘000.- = 450‘000.- davon die Hälfte = 225‘000.-
230‘000.- > 225‘000.-
Alternative Berechnung: Bilanzverlust 220‘000.- < 225‘000.-
-> hälftiger Kapitalverlust konnte mit Sanierungsmassnahmen beseitigt werden
2819./20.04.2011
2919./20.04.2011
Frage 3a
Wurden die Anteile am US-Kreditinstitut korrekt bilanziert?
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Frage 3a 1/2
Unterscheidung Beteiligungen / Wertschriften
>Beteiligung (Art. 665a OR) =
Anteile am Kapital anderer Unternehmen die mit der
Absicht dauernder Anlage gehalten werden und einen
massgeblichen Einfluss vermitteln
>Wertschriften (Art. 667 OR) =
Merkmale von Art. 665a OR treffen nicht zu
>Unterscheidung relevant, da nur Beteiligungen i.S.v. Art.
670 OR aufgewertet werden dürfen.
3019./20.04.2011
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Frage 3a 2/2
Anpassung Bilanz ACI bezüglich Wert der Beteiligung?
> I.c. Beteiligung, da gemäss SV «grössere Beteiligung»,
welche nicht an der Börse handelbar ist
>Grundsatz der Bilanzvorsicht (Art. 662a Abs. 2 Ziff. 3 und
Art. 960 Abs. 2 OR)
-> sofortige Wertberichtigung, Zuwarten unzulässig
3119./20.04.2011
3219./20.04.2011
Frage 3b
Welche Konsequenzen könnte die Änderung des Bilanzwerts der
Wertschriften nach sich ziehen?
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Frage 3b 1/2
3319./20.04.2011
Interne Bilanz Adventure Capital Investment AG 31.12.2005(Beträge in CHF)
Flüssige Mittel 100'000.- Kreditoren 45'000.-
Debitoren 10'000.- Kredit Bank S. 600'000.-
Wertschriften (-100’000.-) 390'000.- Aktienkapital 300'000.-
Immobilien 50'000.- Allgemeine Reserven 5’000.-
Bilanzverlust (+100’000.-) 400'000.-
950'000.- 950'000.-
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Frage 3b 2/2
Fazit:
>Die Aktiven von 550'000.- decken das Fremdkapital von
645'000.- nicht mehr
>Die ACI AG ist überschuldet.
3419./20.04.2011
3519./20.04.2011
Frage 3c
Was kann Eva gegen die drohende Konkurseröffnung unternehmen?
35
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Frage 3c 1/1
Konkursaufschub nach Art. 725a Abs. 1 OR
>Legitimation beschränkt auf Verwaltungsrat (als Gremium)
sowie die Gläubiger, nicht aber die Aktionäre.
> I.c. unklar, ob Eva Gläubigerin
>Gesuch wird nur bewilligt, wenn Aussicht auf Sanierung
>Nur dann der Fall,
wenn Gläubiger zu einem Rangrücktritt bereit ODER
Kapitalnachschuss durch Aktionäre
3619./20.04.2011
3719./20.04.2011
Frage 4
Haftbarkeitsvoraussetzungen von Eva
37
38
Frage 4 1/8
Aktienrechtliche Verantwortlichkeitsklage (Art. 754 Abs. 1 OR)
>Schaden
>Widerrechtlichkeit
>Kausalzusammenhang
>Verschulden
3819./20.04.2011
39
Frage 4 2/8
Aktivlegitimation von José Rodriquez>Art. 757 OR
Ersatzansprüche stehen in erster Linie
Konkursverwaltung zu
bei Verzicht der Geltendmachung durch diese
(Regel) -> Gläubiger Klage berechtigt
I.c. Rodriguez als Gläubiger berechtigt
Verantwortlichkeitsklage zu erheben
3919./20.04.2011
40
Frage 4 3/8
Passivlegitimation>Art. 754 Abs. 1 OR
Mitglieder des Verwaltungsrats
sämtliche mit der Geschäftsführung und Liquidation
beauftragte Personen
I.c. Eva = VR-Mitglied, dementsprechend einklagbar
4019./20.04.2011
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Frage 4 4/8
Schaden> Unfreiwillige Vermögenseinbusse durch Vermehrung der
Passiven oder entgangenem Gewinn
I.c. Vergrösserung der Verschuldung der Konkursitin,
durch verspätete Konkurseröffnung
-> Vermehrung der Passiven (damnum emergens)
4119./20.04.2011
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Frage 4 5/8
Widerrechtlichkeit>Reiner Vermögensschaden -> objektive Widerrechtlichkeitstheorie (Verstoss gegen Schutzzweck der Norm)>Aktienrecht: VR muss sich einen Verstoss gegen die gesetzlichen oder statutarischen Pflichten vorwerfen lassen>I.c. Verstoss gegen Art. 725 Abs. 2 OR durch Unterlassung der umgehenden Benachrichtigung des Gerichts trotz Überschuldung und fehlender Sanierungsaussichten; keine allgemeinen Rechtfertigungsgründe
4219./20.04.2011
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Frage 4 6/8
Kausalzusammenhang zwischen Sorgfaltswidrigkeit und Schaden
>I.c. kann die frühere Benachrichtigung des Richters nicht
hinzugedacht werden, ohne dass sich die Überschuldung
verringern würde.
>Keine Unterbrechungsgründe ersichtlich
4319./20.04.2011
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Frage 4 7/8
Verschulden
>Leichte Fahrlässigkeit genügt
> I.c. leichtfertiges Vertrauen von Eva auf Besserung der
Marktlage
4419./20.04.2011
45
Frage 4 8/8
Fazit
>Einer Verantwortlichkeitsklage von José gegen Eva wird
demnach höchstwahrscheinlich Erfolg beschieden sein.
4519./20.04.2011
Übungen im Wirtschaftsrecht, FS 2011
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Andreas Lukas HagiUniversität BernInstitut für WirtschaftsrechtSchanzeneckstrasse 1CH-3001 BernTel.: 031 / 631 55 [email protected] www.iwr.unibe.ch