Ich wuerd ja wollen, wenn ich nur koennt

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“Ich würd ja wollen, wenn ich nur könnt”. Wir alle haben diesen Satz so oder so ähnlich wohl schon als “Entschuldigung” meist uns selbst gegenüber gebraucht denke ich. Und er enthält meiner Meinung zwei Aspekte, die auch im folgenden Text immer wieder auftauchen werden. Einerseits der Wunsch nach Veränderung: „Ich würd ja wollen“. Zwar im Konjunktiv formuliert, um den Wunsch vielleicht nicht zu drängend und konkret werden zu lassen. Aber doch mit der klaren Kenntnis darüber, was sich für mich ändern sollte, wenn ich mir „etwas wünschen“ dürfte. Und zum anderen die Entschuldigung und Ausrede „wenn ich nur könnt“. Denn wie soll ich beispielsweise die gewünschte Veränderung erreichen, wenn ich letztendlich gar nicht dafür verantwortlich bin, wenn sie nicht in meiner Macht liegt?

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  • 1. Ich wrd ja wollen, wenn ich nur knnt. ber den Wunsch nach Vernderung und Wachstum. Und einen gestalttherapeutischen Weg dorthin. Abschlussarbeit zur Ausbildung zum Gestalttherapeuten am Gestalt-Zentrum Baden 2011 Jochen Grtler, beratung und coaching, Tullastr. 82, 76131 Karlsruhe 1

2. Sagt die Raupe zum Schmetterling: Sie sind aber auch nicht mehr der, der sie einmal waren. 2 3. Einleitung Ich wrd ja wollen, wenn ich nur knnt. Wir alle haben diesen Satz so oder so hnlich wohl schon als Entschuldigung meist uns selbst gegenber gebraucht denke ich. Und er enthlt meiner Meinung zwei Aspekte, die auch im folgenden Text immer wieder auftauchen werden. Einerseits der Wunsch nach Vernderung: Ich wrd ja wollen. Zwar im Konjunktiv formuliert, um den Wunsch vielleicht nicht zu drngend und konkret werden zu lassen. Aber doch mit der klaren Kenntnis darber, was sich fr mich ndern sollte, wenn ich mir etwas wnschen drfte. Und zum anderen die Entschuldigung und Ausrede wenn ich nur knnt. Denn wie soll ich beispielsweise die gewnschte Vernderung erreichen, wenn ich letztendlich gar nicht dafr verantwortlich bin, wenn sie nicht in meiner Macht liegt? Warum gerade dieses Thema? Warum mchte ich ber den Wunsch nach Vernderung schreiben? Und einen Weg dorthin? Zum einen sicherlich weil mich das Thema durch den scheinbaren (?) Widerspruch fasziniert, der sich zeigt, wenn man sich aufmacht sich zu verndern. Denn Vernderung heit auch immer eine Verabschiedung von Vertrautem und Bekannten. Sei es im Inneren oder ueren. Im Inneren ein Abschied von Denkmustern, Rollen und Verhaltensweisen. Die man einerseits wohl durchaus ndern will, die aber andererseits auch bekannt und vertraut sind. Und oft nicht im Traum daran denken, sich einfach so verabschieden zu lassen. Aus den Augen, aus dem Sinn aber nicht mit mir mein Lieber. Oder im ueren. Eine berufliche Neuorientierung, weil man selbst sich verndert hat und neue Aufgaben sucht, die einen ausfllen und zu denen man sich mehr berufen fhlt. Die dann aber auch mit einem Abschied vom vertrauten Umfeld einhergeht. Und schlussendlich: Ich mchte ber Vernderung schreiben, weil mein Wunsch nach Vernderung mich letztendlich dazu gebracht hat, mich auf den Weg zu machen, den ich wohl im Jahre 1998 begonnen habe, als ich zum ersten Mal bei 3 4. Hans-Dieter Knecht in dessen (wie er immer mit schelmischen Grinsen betonte untypischen Gestalt-) Praxis sa, und der mich vor gut 6 Jahren ins Gestalt-Zentrum Baden gefhrt hat. Ein Weg, auf dem ich mich sicherlich verndert habe. Aber auch ein Weg, auf dem ich die oben angesprochenen Widersprche am eigenen Leib erfahren habe. Ein Weg, der fr mich mit dieser Arbeit sicherlich nicht zu Ende geht (Gott sei Dank!), aber sicherlich eine Zwischenetappe findet. Weil der Wunsch nach Vernderung auch in Zukunft immer wichtig sein wird fr mich. Weil dieser Wunsch (und die darin liegende Spannung mit dem sich nicht ndern wollen) fr mich, wie wohl fr jeden Menschen, der Antriebsmotor ist, der uns, Stck fr Stck zu dem macht, der wir sind. Herangehensweise Ich werde mich dem Thema dieser Arbeit im Folgenden von verschiedenen Seiten nhern. Zuallererst mit der Frage, woher der Wunsch nach Vernderung aus gestalttherapeutischer Sicht berhaupt kommt. Darauf aufbauend mchte ich die Frage nach Freiheit und Verantwortung diskutieren. Hab ich berhaupt die Freiheit mich zu ndern, und in wessen Verantwortung liegt es letztendlich? Ein Schwerpunkt stellt dann die Beschreibung des Vernderungsprozesses an sich dar, wobei ich dabei verschiedene Modelle verfolge. Und zu guter Letzt natrlich die Frage, wie ein Gestalttherapeut dabei helfen kann. Darberhinaus mchte ich auch eigene Erfahrungen einflieen lassen, die ich in den letzten Jahren bei meinem Vernderungsprozess gemacht habe bzw. die ich im letzten Jahr bei der Arbeit mit mit Coachees und Klienten erlebt habe. 4 5. Der Wunsch nach Vernderung Ein gesunder Mensch ist fr mich jemand, der guten Kontakt zur Realitt hat: zu der groen und der kleinen Welt um ihn herum und in ihm selbst. Bruno-Paul de Roeck Fritz Perls hat es meiner Meinung nach auf den Punkt gebracht: Der Wunsch nach Vernderung ist immer begrndet in nicht befriedigten Bedrfnissen. Und obwohl (oder gerade weil) ich mich in dieser Arbeit vor allem mit diesem Wunsch und den Mglichkeiten des (Gestalt-) Therapeuten den Klienten darin zu untersttzen, beschftige, mchte ich mit dem im Sinne der Gestalttherapie gesunden Menschen beginnen. Einem Menschen also, der kurzum gesagt - seine Bedrfnisse wahrnimmt und sie verantwortungsvoll fr sich und seine Umwelt befriedigt. Im Herbst 2010 wurde ich whrend meiner Annapurna-Umrundung in Nepal stiller Zeuge der folgenden Szene, die fr mich ein sehr schnes Beispiel fr einen gesunden Menschen darstellt. Whrend der mittglichen Rast beobachte ich ein kleines Mdchen, vielleicht 3 oder 4 Jahre alt, das vor einer Htte auf der anderen Seite der Strae in der Sonne sitzt. Ein Tourist hat ihr offensichtlich einen grnen Luftballon geschenkt und in dem Moment, in dem ich sie beobachte, ist das Mdchen voll und ganz damit beschftigt, den Luftballon zu ziehen, zu dehnen und irgendwie Luft hineinzublasen. Mit weit aufgeblasenen Bckchen, hochkonzentriert und ein wenig auer Atem bei all dem Luftballonaufblasen sitzt das Mdchen in der Sonne und hat scheinbar alles andere um sich herum vergessen. All die Wanderer, die in dem kleinen Dorf Rast machen. Die Ziegen, die meckernd ber die Strae springen. Das Geschrei der anderen Kindern, die das eine oder andere Bonbon von den mden Gsten ergattern wollen. Nein, es gibt fr sie in diesem Augenblick nur diesen grnen Luftballon. Dann mit einem Male hlt das Mdchen inne und schaut sich suchend nach der Mutter um, die in vielleicht 5 Meter Entfernung ebenfalls vor der Htte sitzend mit 5 6. dem Schneiden und Waschen von Gemse beschftigt ist. Das Mdchen springt auf, geht zu ihrer Mutter und drckt sich frmlich in ihre Arme. Die Mutter unterbricht bereitwillig ihre Arbeit und spricht und lacht mit dem Mdchen. Nach wenigen Minuten und scheinbar genauso pltzlich wie zuvor lst sich das Mdchen wieder von ihrer Mutter, sucht sich einen neuen Platz am Brunnen und widmete sich wieder ausschlielich dem grnen Luftballon. Doch keine 5 Minuten spter verliert es erneut das Interesse daran und erblickt das Brderchen, das gerade mit den kleinen Ktzchen spielt, die sich am Rand des Brunnen in der Sonne aalen. Das Mdchen packt den grnen Luftballon in ihre Tasche und geht zu ihrem Brderchen und den Ktzchen. Der Mensch als sich selbst regulierender Organismus Nach Fritz Perls ist der Mensch, wie jedes andere lebendige Wesen, ein sich selbst regulierender Organismus, der aus zahlreichen Organen und Funktionen besteht, die alle ihren eigenen Stellenwert als Teil des Ganzen haben. Der Mensch als Organismus ist dabei im wahrsten Sinn des Wortes nicht alleine auf der Welt und auch nicht auf Dauer alleine und autark berlebensfhig. Perls redet hierbei von einer Umwelt, die jeder Organismus braucht, um wesentliche Stoffe auszutauschen. 6 7. Weniger abstrakt formuliert braucht der Mensch bekanntermaen zum Beispiel Luft zum Atmen, Nahrung und Wasser. Er braucht ein soziales Umfeld und zwischenmenschliche Beziehungen. Er braucht den (non-) verbalen Austausch mit anderen und die Mglichkeit Gefhle (mit-) zu teilen, um nur ein paar wesentliche Stoff zu nennen, die der Organismus Mensch mit seiner Umwelt austauschen muss, um berleben zu knnen. Ein gesunder Organismus ist daher im stndigen Austausch mit sich und seiner Umwelt um die Bedrfnisse zu befriedigen, die innerhalb des Organismus auftauchen. Es knnen dabei problemlos viele Bedrfnisse gleichzeitig existieren, im gesunden Organismus wird immer das in einem Augenblick wichtigste Bedrfnis zuoberst auftauchen und befriedigt werden. Das alles passiert automatisch und stellt das gesunde Leben des Organismus sicher. Die organismische Selbstregulation, so Gary M. Yontef, ist ein Prozess, der sich stndig erneuert und auf Feedback und fortdauernd neuer kreativer Anpassung` beruht. Oder wie Bruno-Paul de Roeck formuliert: Der Organismus lsst immer wissen, was jetzt wichtig ist. Er uert seine Vorlieben. Wenn wir offenstehen fr das, was in uns geschieht, tut er es auf offene Weise. Wenn wir die Signale unterdrcken, oder zu zensieren versuchen, tut er es auf versteckte Art. Kontakt, Kontaktgrenze und Kontaktzyklus Der dafr notwenige Austausch, der Kontakt, zwischen Organismus und seiner Umwelt findet an der Kontaktgrenze statt (oder nach Perls der Ich-Grenze). Die Haut ist bestes Beispiel fr die Kontaktgrenze eines Organismus. Denn die Haut trennt den Menschen (den Organismus) einerseits ab von seiner Umwelt, verbindet ihn aber gleichzeitig auch mit ihr, indem der Mensch z.B. ber seiner Haut den Wind oder Berhrungen von anderen Menschen wahrnehmen und aufnehmen kann, oder - um es mit den Perlsschen Worten zu sagen - mit seiner Umwelt interagieren und in Austausch treten kann. 7 8. Der von Fritz Perls, Ralph Hefferline und Paul Goodman entwickelte Kontaktzyklus beschreibt darauf aufbauend, wie ein aufkommendes Bedrfnis, eine Situation oder eine Gestalt an der Kontaktgrenze idealtypisch befriedigt und damit abgeschlossen und integriert wird. Der Kontaktzyklus setzt sich hierbei im Wesentlichen aus vier Phasen zusammen (Vorkontakt, Kontaktnahme, Kontaktvollzug und Nachkontakt). Synonym dazu wird oft der Begriff der Kontaktkurve oder der Gestaltwelle verwendet, die meist eine etwas genauere Unterteilung des Kontaktzyklus beinhaltet. Ich mchte an dieser Stelle nicht abstrakt auf die einzelne Phasen eingehen, sondern zurck zu meinem Beispiel vom Anfang dieses Kapitels kommen. Zu Beginn ist das Mdchen sich selbst genug und voll und ganz mit dem grnen Luftballon beschftigt. Irgendwann bemerkt sie aber eine stetig wachsende Unruhe (Vorkontakt) und danach ihren Hunger auf das Kuscheln mit der Mutter (Kontakt mit dem eigenen Bedrfnis). Sie nimmt (Augen-) Kontakt mit ihrer Umwelt auf, die in diesem Fall vor allem aus ihrer Mutter besteht. (Kontakt mit der Umwelt). Das Mdchen steht auf und begibt sich zu ihrer Mutter und drngt sich in ihre Arme (Aggression). Dort verharrt sich ein paar Minuten und geniet das Geborgensein bei der Mutter (Assimilation und Integration). Danach steht sie wieder auf, begibt sich zu dem Brunnen und widmet sich wieder dem grnen Luftballon (Nachkontakt), bis ein 8 9. neues Bedrfnis auftauchen wird, in unserem Fall, das Brderchen und die kleinen Ktzchen, die sich in der Sonne aalen. Der gesunde Mensch Dieses Beispiel mag zugegebenermaen sehr einfach sein, es zeigt aber meiner Meinung nach sehr gut, was es heit, wenn ein Mensch ein sich ihm zeigendes Bedrfnis im Austausch mit seiner Umwelt befriedigt und integriert. Um sich danach dem nchsten Bedrfnis, der nchsten Situation, der nchsten Gestalt zu widmen. Und dadurch im Fluss des Lebens, des Augenblickes ist. Im Kontakt mit sich und seiner Umwelt. Solange dies geschieht, ist der Mensch im gestalttherapeutischen Sinne gesund und wird kaum den Wunsch nach Vernderung spren oder dafr gar Untersttzung bei einem Therapeuten suchen. Ein vllig gesunder Mensch, so Fritz Perls, fhlt sich und die Wirklichkeit ganz und gar. Unbefriedigte Bedrfnisse. Unvollendete Gestalten Doch was passiert, wenn der Kontaktzyklus nicht in seiner idealtypischen Weise ablaufen kann? Wenn es zu Kontaktstrungen kommt? Wenn das Mdchen beispielsweise ihr Bedrfnis nach krperlicher Nhe mit ihrer Mutter zwar wahrnimmt, sich aber nicht traut, auf die Mutter zuzugehen, weil sie am Gesichtsausdruck der Mutter zu erkennen glaubt, dass diese gerade keine Zeit dafr hat. Oder weil die Mutter in hnlichen Situationen zuvor abweisend reagiert hat. Oder wenn tatschlich niemand da ist, und das Mdchen sich zwangslufig selbst versorgen muss? Oder wenn das Mdchen zwar auf die Mutter zugeht, diese sich aber abwendet, weil sie gerade zu sehr mit der Zubereitung des Essens beschftigt ist? Die Konsequenz fr das Mdchen ist in allen Fllen die gleiche: ihr Bedrfnis, ihr Wunsch nach krperlicher Nhe, nach Geborgenheit, wird nicht in dem Mae befriedigt, wie sie es in diesem Augenblick gebraucht htte. Es bleibt ein unbefriedigtes Bedrfnis, eine im gestalttherapeutischen Sinne ungeschlossene Gestalt zurck. Die in unserem Beispiel natrlich nicht zwangsweise zu einem 9 10. echten und nachhaltigen Problem fr das Mdchen werden muss. Nichtsdestotrotz aber im Organismus des Mdchen stecken bleibt, und hnlich wie ein unverdautes Essen schwer im Magen liegen kann. Wir Neurotiker Wir haben alle hunderte, wenn nicht tausende solcher ungeschlossenen Gestalten in uns. Das ist so, und grundstzlich auch kein Grund zur Besorgnis. Und dennoch knnen sie uns daran hindern, ein Bedrfnis, dass sich jetzt gerade, in diesem Augenblick zeigt, in einer fr uns in diesem Augenblick angemessen Art und Weise befriedigen zu knnen. Weil die ungeschlossenen Gestalten nachwirken und uns von einem gegenwrtigen Erleben abhalten. Indem wir unser Bedrfnis im Extremfall beispielsweise gar nicht mehr wahrnehmen, weil wir vielleicht zu oft erlebt haben, dass wir es im Kontakt mit der Umwelt nicht in einer fr uns befriedigenden Art und Weise auflsen knnen. Oder indem wir Tricks und Kniffe entwickeln, uns Rollen aneignen oder Spielchen spielen, um von unserer Umwelt das zu bekommen, war wir eigentlich bentigen, es aber nicht eigenverantwortlich befriedigen knnen oder wollen. Fr Fritz Perls sind wir dann Neurotiker: "Ich nenne jeden Menschen neurotisch, der seine Kraft darauf verwendet, andere zu manipulieren und sich weigert, selbst zu wachsen. Konsequenzen Das kleine Mdchen, dass ihr Bedrfnis nach krperlichen Nhe und Geborgenheit mit der Mutter oder ihrem (familiren) Umfeld nie oder viel zu selten gem der obigen Gestaltwelle befriedigen konnte, kann unter Umstnden auch als erwachsene Frau Probleme haben, dieses Bedrfnis in einer Beziehung oder Freundschaft zu zeigen und auf eine fr sie gute Art und Weise zu befriedigen. Weil sie als Kind vielleicht gelernt hat, genau dieses Bedrfnis zu verdrngen. Gelernt hat, sich in diesem Punkt lieber selbst zu versorgen, anstelle das im Kontakt mit ihrer Umwelt und anderen Menschen zu tun. Gelernt hat ohne Nhe und Geborgenheit 10 11. auszukommen. Und als erwachsene Frau dann vielleicht zurckhaltend, introvertiert, verkopft oder emotionslos auf andere wirkt. Und sich selbst wohl so einschtzt. Oder weil sie als Kind gelernt hat, dass ihr Bedrfnis nur dann von der Mutter oder ihrem (familiren) Umfeld gestillt wird, wenn sie brav und fleiig war. Oder sich besonders hbsch gemacht hat. Oder anderweitig Leistung erbracht hat dafr. Und als erwachsene Frau dann vielleicht von einem nie zu erfllenden Leistungsanspruch sich selbst gegenber getrieben ist. Der Wunsch nach Vernderung An diesem Punkt sind wir wieder am Beginn des Kapitels angekommen. Bei dem Wunsch nach Vernderung auf Grund unbefriedigter Bedrfnisse. Und dieser Wunsch lsst die Frau vielleicht zu guter Letzt an der Tr eines Gestalttherapeuten klingeln. Weil sie unzufrieden mit sich ist. Weil sie eben nicht mehr introvertiert und emotionslos sein mchte. Weil sie sprt, dass ihr eigener Leistungsanspruch sie frher oder spter in den Burn-Out treiben wird oder sie schon genau dort ist. Weil sie wegkommen mchte von den Rollen und Spielchen, auf die sie keine Lust mehr hat, aber dennoch immer weiter spielt. 11 12. Freiheit und Verantwortung Schicksal und was daraus entstehen kann Arnold Beisser ist 25 Jahre alt und auf dem Weg nach Europa, in dem gerade der 2. Weltkriegt wtet, um dort als Kriegsberichterstatter zu arbeiten, als er vllig berraschend an Polio (Kinderlhmung) erkrankt, einer zu dieser Zeit noch unheilbaren Krankheit. Bis dahin lebte er den amerikanischen Traum vom Alles ist mglich, wenn man es nur versucht. Er ist nationaler Tennis-Champion und einer der jngsten Professoren der amerikanischen Universitts-Geschichte. Von heute auf morgen ist Beisser fast komplett gelhmt und fr viele Monate an die eiserne Lunge gefesselt, die ihn zu Beginn seiner Krankheit am Leben erhlt. Mit einem Mal ist sein bisher so geradlinig und zielstrebig geplantes Leben dahin, ein Schicksalsschlag, der sein Leben auf nachhaltigste Weise verndert. Er trifft irgendwann auf Fritz Perls und wird ihm Freund und Schler. Seine paradoxe Theorie der Vernderung (auf die ich an spterer Stelle noch eingehen werde), wonach Vernderung nicht dadurch geschieht, indem man sich darauf konzentriert, etwas unbedingt ndern zu wollen, sondern indem man zuallererst akzeptiert was ist, wird ein zentraler Bestandteil der modernen Gestalttherapie. Er leitet, an den Rollstuhl gefesselt, fr viele Jahre eine psychiatrische Klinik, hat Frau und Familie und stirbt 1990 nach einem erfllten und reichen Leben. Bucky Kantor ist ungefhr im gleichen Alter wie Beisser, als er im Jahr 1944 ebenfalls an Polio erkrankt. Er ist Sportlehrer und begnadeter Turmspringer und betreut zu diesem Zeitpunkt in Newark Schlerinnen und Schler whrend deren Sommerferien. Viel lieber wre er aber wie alle seine Freunde an der Front in Europa. Aufgrund seiner extremen Kurzsichtigkeit aber wurde er als untauglich eingestuft. Eine Schmach, die ihm schwer zu schaffen macht, und die er mit einem beinahe krankhaften (neurotischen?) Verantwortungsbewusstsein fr seine Schlerinnen und Schler auszugleichen versucht. 12 13. Auch Kantor muss fr viele Monate in die eiserne Lunge, und ist danach fr immer ein Krppel, wie er selbst sagt. Er ist zwar an keinen Rollstuhl gebunden, kann sich aber nur noch mit Krcken und unter grten Kraftanstrengungen bewegen. Obwohl ihm seine Verlobte ihre Liebe mehrfach beteuert und ihn ohne Zgern auch mit seiner Behinderung heiraten will, vertreibt er sie aus seinem Leben und wird ein eigenbrtlerischer und frustrierter Mann, der alleine Gott fr sein Schicksal verantwortlich macht. Er stirbt nach vielen Jahren einsam und verbittert mit der tiefen berzeugung, dass Gott und die Welt gegen ihn waren. Bucky Cantor ist im Gegensatz zu Arnold Beisser keine reale Person, sondern die Erfindung von Philip Roth, der Buckys Geschichte in seinem Roman Nemesis erzhlt (dessen Lektre ich nur empfehlen kann, auf den ich aber an dieser Stelle nicht weiter eingehen werde). Mehr oder weniger zufllig habe ich Arnold Beissers Autobiografie Wozu brauche ich Flgel und Bucky Cantors Nemesis parallel gelesen. Zwei mehr oder weniger identische Schicksale mit so unterschiedlichen Auswirkungen fr das weitere Leben der beiden Betroffenen. Hineingeworfen ins Leben Sowohl der reale Lebenslauf Beissers als auch der fiktive Cantors zeigen, dass ein Mensch natrlich ueren Einflssen unterworfen ist. Eine pltzliche, schwere Krankheit, der berraschende Verlust des Arbeitsplatzes, der unerwartete Tod eines mir wichtigen Menschen. Das alles sind Ereignisse, die letztendlich nicht in unserer Macht stehen. Genauso wenig wie wir uns unsere Eltern (und deren Erziehungsmethoden) aussuchen konnten, oder die Zeit, das Land und die gerade herrschenden Umstnde, in die wir durch unsere Geburt hineingeworfen wurden. Wir alle sind stndig materiellen, politischen und sozialen Umstnden unterworfen, die wir hufig auch nicht ndern knnen (zumal nicht in jedem von uns ein Mahatma Ghandi oder Martin Luther King steckt). Dieses scheinbare Ausgeliefertsein steht nun im auf den ersten Blick krassen Gegensatz zu der Aussage von Fritz Perls, fr den die volle Verantwortung fr sein 13 14. Leben zu bernehmen die Grundvoraussetzung fr Vernderung und persnlichem Wachstum ist. Existenzialismus In dieser Aussage wird der Einfluss des Existenzialismus auf die Gestalttherapie deutlich. Der Mensch hat dabei zwar grundstzlich immer die Freiheit zu entscheiden, nur meist in einem mehr oder weniger eng gesteckten Rahmen. Er ist, wie es Jean-Paul Sartre etwas berspitzt formuliert, verurteilt frei zu sein. Verurteilt, weil er sich nicht selbst erschaffen hat, andererseits aber dennoch frei, da er, einmal in die Welt geworfen, fr alles verantwortlich ist, was er tut." Das Sartre-Zitat lsst ahnen, warum das Bewusstsein von Verantwortung so oft eher als belastend, denn als befreiend empfunden wird. Denn die Welt, in der ich Verantwortung bernehmen soll, kann ich mir nicht oder nur in sehr eingeschrnktem Masse selbst whlen. Und oft sind die verbleibenden Mglichkeiten so, dass man sich der Verantwortung lieber entziehen mchte, statt sie mit allen Konsequenzen zu tragen. Bucky Cantor hat sich dieser Verantwortung entzogen, indem er alleine Gott verantwortlich macht. Arnold Beisser stellt sich irgendwann dieser Verantwortung. Wer wei was passiert wre, wenn auch Bucky Cantor zur richtigen Zeit auf Fritz Perls getroffen wre? Freiheit und Verantwortung Wir haben als Mensch offensichtlich oft nicht die Freiheit, die Umstnde, in denen wir leben, zu whlen, und wir tragen oft auch nicht die Verantwortung dafr. Wir haben aber als Mensch immer die Freiheit und die Verantwortung uns zu entscheiden, wie wir auf diese Umstnde antworten oder reagieren, welche Bedeutung wir ihnen geben. Diese Freiheit und Verantwortung kann man einem Menschen nicht abnehmen. Man kann sie ihm aber auch nicht wegnehmen, es sei denn man bringt ihn um den Verstand oder um sein Leben. 14 15. Der Klient, der mit dem Wunsch nach Vernderung zu einem Gestalttherapeuten kommt, wird oft genau diese Verantwortung nicht bernehmen wollen, aber wohl auch die damit verbundene Freiheit nicht sehen. Auf dem Weg zu einer nachhaltigen und ganzheitlichen Vernderung kann es dann ein wichtiger Schritt sein, ihm diese Verantwortung aufzubrden, zuzumuten aber auch zuzutrauen. Ihm aber gleichzeitig immer und immer wieder auch seine Freiheit und die damit verbundenen Wahlmglichkeiten im Hier und Jetzt bewusst zu machen. Denn ohne Bewusstheit, so Fritz Perls, gibt es keine Kenntnis einer Wahlmglichkeit. Ich habe dafr immer das Bild einer Weggabelung vor mir. Und vielleicht ist der Weg vom Wunsch nach Vernderung hin zu Vernderung und Wachstum auch ein kontinuierliches Bewusstmachen von genau dieser Entscheidungsfreiheit, ob es links oder rechts weitergeht. Oder um es mit den Worte von Fritz Perls zu sagen: Solange man ein Symptom bekmpft wird es schlimmer. Wenn man Verantwortung bernimmt fr das, was man sich selber antut, wie man seine Symptome hervorbringt, wie man seine Krankheit hervorbringt, wie man sein ganzes Dasein hervorbringt in dem 15 16. Augenblick, in dem man mit sich selbst in Berhrung kommt beginnt Wachstum, beginnt die Integration, die Sammlung. 16 17. Vernderung und Wachstum Und nun stand er wie so oft in den letzten Jahren vor den riesigen zwei Felsen, die den Geschichten nach, den Held und den Dmon in ewiger Zweisamkeit verbinden. Die seit Menschengedenken Sinnbild fr die Verschmelzung von Gut und Bse waren und die, wenn man den Legenden glauben darf, Basis und Wurzel ihrer so wunderbaren Welt waren. Die nur existierten, weil es beide gab, den Held und den Dmon. Und die nicht existieren knnten, wenn der eine den anderen vernichtet htte. Und in der Tat: es bedarf nicht allzu viel Phantasie, um in den zwei Felsen, die mindestens zehn Meter in den Himmel ragten, den Held und den Dmon zu erkennen. Der Held, aufrecht und mit stolz erhobenem Haupt. Der mit klaren Gesichtszgen, stolz und furchtlos, mit Schwert und Schild an seiner Seite, dem Dmon entgegentritt. Dem Dmon, der weitaus diffuser wirkte, weniger greifbar, doch gleichzeitig auch mit einer immensen Anziehungskraft. Der Dmon berragte den Helden noch um etliche Meter, der Fels war wesentlich zerklfteter, weniger konkret. Viel schwrzer als der Held und mit einem Gesicht, in dem jeder den groen, weit aufgerissenen Mund entdecken konnte, mit dem der Dmon in den alten Geschichten den Helden so furchterregend und angsteinflend, aber gleichsam auch so verzweifelt anschrie und anflehte. Ihn gleichzeitig bedrohte und um Anerkennung flehte. Die zwei Felsen standen ca. zwei Meter auseinander, doch ob aus einer Laune der Natur heraus oder aufgrund der Vereinigung von Held und Dmon, wie sie in den Geschichten erzhlt wird, verband ein Bogen aus Fels die beiden lange Zeit so gegenstzlichen und unvershnlichen Seiten. Der Held und der Dmon reichen sich die Hand; sie akzeptieren sich so wie sie sind, geben dem anderen den ihm zustehenden Platz in unserer Welt und ermglichen so ein neues, gutes Ganzes, dachte er und wie immer fhlte sich diese Vorstellung fr ihn befreiend und kraftvoll an. 17 18. Heldenreise Es mag auf den ersten Blick vielleicht berraschen, dass ich an dieser Stelle eine Passage aus meiner Abschlussarbeit zum Ende der Basisstufe zitiere, in der ich eine der Phantasiereisen whrend meiner Heldenreise im Sommer 2008 in Weigenheim beschreibe. Wo es mir doch in dieser Arbeit um den Wunsch nach Vernderung und einem mglichen gestalttherapeutischen Weg dorthin geht. Aber gerade deswegen mchte ich in diesem Kapitel auch auf die Heldenreise eingehen, die ich heute abseits von meinen sehr eindrcklichen, persnlichen Erfahrungen auch im Rahmen eines gestalttherapeutischen Prozesses zu nachhaltiger Vernderung und persnlichem Wachstum einordnen kann. Die fnf Schichten der Neurose Anfangen mchte ich aber mit - wie knnte es anders sein - Fritz Perls, der schon in den 1960er Jahren ein erstes Model fr einen Vernderungsprozess beschrieben hat. Er spricht dabei (je nach Quelle) von vier bis fnf Schichten der Neurose (ich werde mich im Folgenden auf das fnf-phasige Model beschrnken). Es liese sich an dieser Stelle trefflich darber diskutieren, ob es sich dabei um (rumlich orientierte) Schichten oder Ebenen oder doch mehr um (zeitlich orientierte) Phasen handelt. Ich mchte sein Model aber vor allem aus Sicht der dabei stattfindenden Vernderungen beschreiben. Die erste Phase nennt Perls die Klischee-Phase, in der der Mensch nach vorgegebenen Mustern und Ritualen lebt. Kontakt mit anderen Menschen stellt sich meist als klischeehaftes Hndeschtteln oder mechanisches Guten Morgen, wie geht es Dir? dar. Das Vorhandensein des Anderen wird bemerkt, mehr aber auch nicht. Spontan fllt mir dazu eine bung ein, die wir whrend einer unserer ersten Wochenenden in der Basisstufe gemacht haben. Manfred hatte uns aufgefordert, durch den Raum zu gehen und die, die uns dabei begegnen, zu begren. Wir taten dies im Rckblick sicherlich sehr klischeehaft mit Hndedruck, Umarmung oder gar 18 19. Ksschen. Nachdem uns Manfred dazu eingeladen hatte, in dem Moment der Begrung wirklich sehr bewusst zu entscheiden, wie wir den Gegenber jetzt gerade in diesem Augenblick begren wollen, waren die Begrungen fast durchweg zurckhaltender aber auch, zumindest in meiner Erinnerung, ehrlicher und nachhaltiger. Nach der Klischee-Phase folgt das Stadium des Als-ob-Verhaltens, des Rollenspiels. Die Schicht, so Perls, wo wir Spielchen machen und in Rollen schlpfen. Bruno-Paul de Roeck fhrt eine sehr treffende Spielchen-Sammlung auf: Das Mitleid-Spielchen, indem man sich bertrieben bedauernswert stellt, um das Mitleid der anderen zu wecken. Das Erpresser-Spielchen (Du bist der einzige, der mir helfen kann.). Das bertragungsspielchen (Du bist genau wie meine Mutter.), das Vergleichsspielchen (Du hast es leichter. Du kannst Dich immer leicht ber etwas hinwegsetzen.) oder das Vorwurfsspielchen (Warum bist Du nicht etwas tchtiger?) um nur ein paar Beispiele zu nennen. All diese Spielchen (und es gibt sicherlich Hunderte davon) dienen nur dem einen Zweck - nmlich den anderen zu manipulieren. Doch in diesem Stadium betrgen wir letztendlich vor allem uns selbst, weil wir jemanden darstellen wollen, der wir nicht sind. Wir identifizieren uns selbst und andere, so Bruno-Paul de Roeck, mit einem Idealbild, das uns mit seinen Anforderungen nur terrorisiert und uns schmerzlich verfremdet und machtlos macht. Wir sind dann der Frosch, der sich, wie in der Fabel von Aesop, zur Kuh machen will. Mit bekanntermaen dramatischen Folgen fr den Frosch. Wer diese Schicht hinter sich lsst, wer aufhrt Spielchen zu spielen, wer aus seiner Rolle heraustritt, der kommt in die Phase der Impasse, in die Ausweglosigkeit. Die (scheinbare) Sicherheit des Klischees oder der Rollen sind dahin, der Mensch muss mit einem Male auf eigenen Beinen stehen. Die bisherige Wirklichkeit erweist sich als bloe Phantasie, die bisherigen Vorstellungen und Bilder von sich selbst und der Welt sind nichtig. Ein Zurck in das Altbekannte wrde das gerade begonnene Wachstum abwrgen, doch noch fehlt der feste Boden unter den Fssen 19 20. fr ein Leben abseits von Klischees und Rollen. Nicht zurckziehen ist hier die Parole, so de Roeck. Der Schmerz des Wachsens lohnt sich. Sterben, um zu leben. Wer nicht zurckzieht, betritt die Implosionsphase oder so Perls, die Schicht des Todes. Der Mensch steht kurz davor, sich zu erneuern, der zu werden, der er ist. Doch werde ich dann noch angenommen? Werde ich dann noch geliebt? Bedeutet es nicht meinen Tod, wenn ich nicht mehr der bin, der ich war? Das letzte Aufbumen findet statt, um Vernderung und Wachstum doch noch zu verhindern. Der Mensch versucht krampfhaft, die gegenstzlichen Krfte, die in ihm wirken, zusammenzuhalten. Zieht sich zusammen. Implodiert. Stirbt. Stirbt, um in der letzten Phase, der Phase der Explosion, neugeboren zu werden. Die vielzitierte Katharsis. Die Explosion hat dabei nichts von einer Katastrophe, sondern ist vielmehr Ausdruck von echten Gefhlen auf den verschiedensten Gebieten. Echte Trauer und Trnen werden zugelassen, Wut und Aggression drfen sein, Freunde und Ausgelassenheit werden intensiv gelebt. Der Mensch entdeckt seine authentische Persnlichkeit, er sprt so viel Energie in sich wie nie zuvor. Der furchterregende Berg, so de Roeck, der dir vorher den Weg zum Leben versperrte und dich hinderte, Risiko auf dich zu nehmen, wird zu einem lcherlichen Maulwurfshgel, der nur durch deine Einbildung so riesenhaft aufgeblht wurde. WESENtliches Oder um es mit den Worten meines Wesens zu sagen, das mir nach meinem ersten Sommer-Intensiv in Weigenheim die folgenden Zeilen geschrieben hat: Ich durfte gestern viele Trnen weinen und Schmerz loslassen, Fr den Mut dafr danke ich Dir. Ich fhle mich am Ende einer Etappe, die vielleicht 1998 angefangen hat und die gestern ein so befreiendes Ende fand. Es war sehr schn, diese Etappe dann so ausgiebig zu feiern. Im Kontakt mit Dir, mit Frauen, mit Mnnern. Dieser Kontakt war sehr schn fr mich und ich kann Dich nur ermutigen, diesen Weg weiterzugehen. Ich werde Dich immer untersttzen und Dir helfen wo ich kann. 20 21. Die Struktur des Vernderungsprozesses Angelehnt an Perls Schichten der Neurose haben Frank M. Staemmler und Werner Bock ebenfalls eine Strukturierung des Vernderungsprozesses vorgeschlagen, auf die ich nun eingehen mchte. Die erste Phase, die Staemmler und Bock als Stagnation bezeichnen, zeichnet sich dadurch aus, dass sich ein Mensch, der sich darin befindet, nicht mehr selbst als Urheber der Vernderung seiner Situation begreift. Alle Macht, alle Verantwortung dafr liegt ausschlielich bei ueren Krften. Bei dem Partner oder der Partnerin, dem Arbeitgeber, der Gesellschaft, dem Staat, der Kirche, bei Gott. Wenig berraschend wird dies meist als belastende Abhngigkeit empfunden, die trotzdem letztendlich nicht in Frage gestellt wird, weil sie natrlich auch einen echten Vorteil bietet, da der Mensch scheinbar nicht fr seine Situation verantwortlich ist. Ein Mensch in der Stagnation kann durchaus aktiv an seiner Vernderung arbeiten. Den Partner oder den Arbeitsgeber wechseln. Gegen Gesellschaft, Staat und Kirche demonstrieren. Von einem Therapeuten zum nchsten rennen. Seminare und Workshops besuchen. Und doch wird er sich nicht persnlich verndern und wachsen, solange er in der Stagnation bleibt. In meiner Arbeit als interner Coach bei SAP habe ich einige Coachees kennengelernt, die sich genau in der Phase der Stagnation befanden, als sie mit dem Coaching angefangen haben. Beispielsweise Petra, 32 Jahre, die sich nach einem gerade berstandenen Burn-Out neu orientieren will bei SAP, sich zu Beginn des Coachings aber vor allem als Opfer einer unmenschlichen SAP sieht, die nicht nur sie, sondern auch viele Kollegen vorstzlich frustriert. Oder Peter, 35 Jahre, der endlich mehr Einfluss auf die Arbeitsweise innerhalb seines Teams nehmen will, aber vom uneinsichtigen Team und seinem Manager, der ihm nie zuhrt und sowieso noch nie Interesse fr neue Themen gezeigt hat ausgebremst und demotiviert wird. Oder Mia, 22 Jahre, die davon trumt, in die Medienbranche zu wechseln, dafr aber nur Kopfschtteln von Freunden und Eltern erntet, die sie nicht untersttzen und ihr ihre Flausen ausreden wollen. 21 22. Nach der Stagnation folgt die Phase der Polarisation, die im Vergleich zur Stagnation einen bemerkenswerten Fortschritt fr einen Menschen darstellen kann. Der Mensch entdeckt (wiederentdeckt?) nmlich sich selbst als Handelnden, entdeckt vielleicht bislang ungeahnte Wahlmglichkeiten. Realisiert, dass die ueren Krfte, denen er in der Stagnation scheinbar hoffnungslos ausgeliefert war, oft nur Phantasiegebilde sind. Doch fr echte Vernderung und Wachstum ist es noch zu frh. Denn der neu entdeckten Handlungsfreiheit steht der gleichzeitige Versuch diese zu unterdrcken gegenber. Ich wrd ja wollen, wenn ich nur knnt beschreibt wie schon zu Beginn dieser Arbeit angedeutet, die fr die Polarisation typische Zerrissenheit, die einem Menschen im wahrsten Sinne des Wortes Angst machen kann. Denn, so Staemmler und Bock, ist Angst das subjektive Empfinden, das entsteht, wenn ein Mensch zwei widersprchliche Handlungen ausfhrt. Denn die neu gewonnenen Wahlmglichkeiten liegen meist klar auf dem Tisch, die Aussichtslosigkeit des Opfer-Daseins ist dahin. Andererseits aber nehmen genau diese neu gewonnenen Wahlmglichkeiten dem Menschen, so Staemmler und Bock weiter, die Mglichkeit, uere Bedingungen und andere Menschen fr seine persnliche Misere alleine verantwortlich zu machen. Oder wie Franz Mittermair schreibt: Am Ende der Polarisationsphase sind Bedrfnis und Widerstand bewusst, stehen im Dialog und wir haben keinerlei Lsung. Dieses Nichtvorhandensein einer Lsung bringt den Menschen in die dritte Phase, die Phase der Diffusion. hnlich der Impasse beim Perlsschen Fnf-Schichten-Model erlebt ein Mensch diese Phase mitunter als hochgradig verwirrend und beunruhigend. Denn er realisiert, dass es fr sein Problem der ihm jetzt sehr bewussten Polaritten keine inhaltliche Lsung, keine Lsung auf Ebene des Verstandes gibt. Der Mensch fhlt sich orientierungslos, ist verwirrt. Es zeigt sich oft ein Nichts, das aber da vom Menschen erlebbar, nicht Nichts ist, sondern oft nur wegen einer fehlenden besseren Terminologie so bezeichnet wird. Doch das Nichts, die 22 23. Verwirrung hat sein Gutes, denn, so Fritz Perls wenn du ... bei dieser Verwirrung bleibst, wird sich die Verwirrung selbst entwirren. Die sich anschlieende vierte Phase der Kontraktion erinnert stark an Perls Implosionsphase und wird meist als schmerzhaft und bedrohlich empfunden. Denn auch in der Kontraktion erkennt der Mensch, dass er sich nur dann weiter verndern und wachsen kann, wenn er vorher stirbt. Steve Jobs hat dies in seiner mittlerweile vielzitierten Rede vor Stanford-Absolventen sehr treffend formuliert: Niemand will sterben. Sogar die Menschen, die in den Himmel kommen wollen, wollen dafr nicht sterben. Und doch ist der Tod das Schicksal, das wir alle teilen. Niemand ist ihm jemals entronnen. Und so soll es auch sein: Denn der Tod ist wohl die mit Abstand beste Erfindung des Lebens. Er ist der Katalysator des Wandels. Er rumt das Alte weg, damit Platz fr Neues geschaffen wird. Und wie bei Perls mit der Phase der Explosion kommt nach der Kontraktion mit der Phase der Expansion die Neugeburt des Menschen. Wo vorher Zerrissenheit war ist nun Eins-Sein. Aus Schwierigkeiten wird Freude. Aus Verlust wird heilende Trauer. Aus (innerem) Kampf wird Frieden und tiefe Gelassenheit. Aus Bedrcktheit wird Erleichterung. Aus scheinbar unlsbaren Problemen wird Stolz, es geschafft zu haben. Theorie und Praxis An dieser Stelle mchte ich darauf hinweisen, dass sowohl das Perlssche Schichtenmodel als auch der Vernderungsprozess wie ihn Staemmler und Bock vorschlagen, letztendlich nur Modelle sind, die in der (therapeutischen) Realitt oft nicht exakt so wie beschrieben oder nur in Teilen davon ablaufen. Nicht jeder Vernderungsprozess wird die beschriebenen Schritte am Stck durchlaufen, gleichwohl zum Beispiel Staemmler und Bock darauf hinweisen, dass es im Interesse einer vollstndigen Bearbeitung eines jeweiligen Themas notwendig ist, alle fnf Phasen zu durchleben, dass keine Phase bersprungen oder umgangen werden kann. 23 24. Im Sinne der Eigenverantwortung, die dem Klienten in der Gestalttherapie bedingungslos zugestanden und auferlegt wird, kann er jederzeit entscheiden, ob er einen begonnenen Prozess fortfhren oder unterbrechen mchte, oder gar (zumindest fr den Augenblick) einen Schritt zurck macht. Die (gestalt-) therapeutische Untersttzung des Klienten kann dabei darin bestehen, ihn auf (vielleicht unbewusste) Selbstunterbrechungen seines Vernderungsprozesses aufmerksam zu machen. Manche Prozesse knnen Jahre dauern, und wohl nur in seltenen Fllen wird der beschriebene Prozess beispielsweise komplett in einer Sitzung erlebt. Ganzheitliche Vernderung und persnliches Wachstum setzt sich darberhinaus aus einer nicht endenden, lebenslangen Kette von Vernderungsprozessen dar. Oder wie Staemmler und Bock treffend formulieren: Dieses Wachstum hrt ein Leben lang nie auf, es ist das Leben. Zurck zur Heldenreise Wie schon zu Beginn dieses Kapitels erwhnt, mchte ich neben den eben vorgestellten Vernderungsmodellen von Perls bzw. Staemmler und Bock im Rahmen dieser Arbeit nun auf die Heldenreise eingehen, da diese fr mich ein weiteres (sehr wohl gestalttherapeutisch orientiertes) Model fr persnliche Vernderung und Wachstum darstellt. Der Monomythos von Joseph Campell Der Mythologe Joseph Campell hat dafr die Grundlagen geliefert, in dem er unzhlige Mythen, Legenden und Geschichten aus unterschiedlichsten Zeitaltern, Kulturen und Religionen zusammengetragen hat und dabei erstaunliche bereinstimmungen gefunden hat. Diese bereinstimmungen hat er in einem Monomythos vereint, der universellen Geschichte des Helden, der auszieht den Drachen zu tten, die Prinzessin zu retten oder den heiligen Gral zu finden. Der unzhlige Abenteuer bestehen muss, sich dabei aber auf Gefhrten verlassen kann. Der Tore in fr ihn bis dahin unbekannten Welten durchschreiten muss. Der sich dem Drachen, dem Bsen, der dunkeln Seite 24 25. der Macht stellen muss. Um am Ende zurckzukehren. Mit Prinzessin oder Schatz. Aber auch der Erkenntnis, nicht mehr der zu sein, der er zu Beginn der Geschichte war. Und damit auch nicht sein bis dahin gekanntes Leben weiterleben kann. Diese Geschichten kennen wir natrlich alle, sie sind der Stoff, aus dem im wahrsten Sinne des Wortes die Helden sind. Der Stoff, der uns Menschen fasziniert, fesselt und anspricht. Wohl auch, weil wir in diesen Geschichten uns und unseren (vielleicht nur unbewussten) Wunsch nach Vernderung und persnlichem Wachstum wiederfinden. Paul Rebillots Heldenreise Diesen Zusammenhang hat Paul Rebillot erkannt und darauf aufbauend die Heldenreise konzipiert, die einen Menschen in dem Wunsch nach persnlicher Vernderung und Wachstum untersttzt. Er hat dazu eine Reihe von Phantasiereisen, Ritualen und (Gruppen-) bungen entwickelt, mit denen der Held seine Heldenreise durchlebt. Dies geschieht beim ihm oft in szenischer und theatralischer Form (wohl nicht zuletzt durch seine Theatervergangenheit). Rebillot gliedert die Heldenreise in die folgenden Schritte, von denen ich einige im nchsten Abschnitt nher beschreiben mchte. 25 26. Der Held Rebillots Held ist dabei nicht der Ritter, der sich dem Kampf gegen den Drachen stellen muss. Und er ist auch kein Hobbit im schier ausweglosen Kampf gegen das Bse. Der Held, der sich bei Paul Rebillot zur Heldenreise aufmacht, ist der Teil in einem Menschen, der , so Franz Mittermair, einen Ruf erhlt und ihm folgt. Der Held ist der Teil in einem Menschen, der sich weiterentwickeln will, sich ein lebendigeres und erfllteres Leben wnscht. Oder um es ungleich lyrischer mit den Worten von Nadya Catalfano zu sagen: Etwas Weiches, Sanftes gleitet durch deine Finger. Und es scheint nach deiner Hand zu greifen, dich zu fhren hin zu etwas Grerem. Wenn du nur den Drang sprest, ihm zu folgen. Der Held macht sich trotz meist heftiger innerlicher und auch uerlicher Widerstnden auf dem Ruf zu folgen. In den Geschichten sind das in der Tat meist lange und gefahrvolle Reisen in unbekannte Lnder oder Welten. Fr den Helden der Heldenreise kann dies weit unspektakulrer aber genauso unwegsam der Weg aus den bekannten Rollen und Klischees sein, die er bisher gelebt hat. Whrend Frodo Beutlin sein geliebtes und beschauliches Auenland verlassen muss, wird sich der Held von seinem wenn nicht geliebten aber zumindest vertrauten Leben und seinen Rollen darin verabschieden mssen. 26 27. Der Dmon Und wie im echten Abenteuer, das wir aus Bchern oder von der Leinwand kennen und lieben, hat der Held auch in der Heldenreise einen Gegenspieler, dem er sich im Laufe seiner Heldenreise stellen muss: den Dmon. Der Dmon ist der Teil in einem Menschen, der eben keine Vernderung will. Der im altbekannten Fahrwasser bleiben will. Der sich lieber mit den gegebenen Umstnden arrangiert, als sie aktiv zu verndern und zu gestalten. Also kein Drache, kein dreikpfiger Hllenhund, kein Sauron auf der Jagd nach dem einen Ring. Sondern der Teil in einem Menschen, mit dem man sich gewhnlich weit weniger gerne identifiziert als mit dem Helden. Die dunkeln Seiten in uns. Die Seiten, die man gerne loswerden wrde. Die vielzitierten Leichen im Keller. Aber auch die Seiten, die einem Menschen oft nicht bewusst sind, und daher oft ungleich strken wirken als die Seite des Helden. 27 28. Die der Mensch sich zwar oft wnscht und herbeisehnt, aber dennoch genauso oft nicht wirklich mit Leben fllen kann. Den Helden finden Vor dem Aufbruch des Helden in der Heldenreise geht es daher auch um die Beschftigung mit dem Helden in uns. Wer waren unsere Helden der Kindheit? Welcher Filmheld ist der unsrige? Was sieht mein Held aus? In meiner Heldenreise habe ich dabei das Haus meines Helden gesucht und die Halle meiner Ahnen, meiner Vter gefunden. Ich habe meinem Helden den Namen Johann gegeben, den Namen meines Vaters. Mein Vater ein Held. Gefhrten Whrend Frodo Beutlin u.a. Gandalf und Sam an seiner Seite hat, bekommt auch der Held der Heldenreise seinen Gefhrten, den er sich erwhlt und der ihn auf seiner Reise untersttzt. Beim Schreiben dieser Zeilen kann ich mich aber beim besten 28 29. Willen nicht mehr an meinen Gefhrten erinnern, den ich mir whrend meiner Heldenreise ausgesucht habe? Ist selbst mein Held der perfekter Selbstversorgern? Die Konfrontation Die Heldenreise gipfelt in der Begegnung von Held und Dmon. Eine Begegnung, in der es nicht um Sieger und Besiegten geht, sondern um die Integration beider Seiten. Fr mich war diese Begegnung und Integration ein sehr bewegender Moment meiner Heldenreise, die sich ein paar Tage spter in dem zu Beginn des Kapitels beschriebenen Bild manifestiert hat: Der Held und der Dmon reichen sich die Hand; sie akzeptieren sich so wie sie sind, geben dem anderen den ihm zustehenden Platz in unserer Welt und ermglichen so ein neues, gutes Ganzes. Heldenreise und gestalttherapeutischer Vernderungsprozess Warum fhre ich nun die Heldenreise in Zusammenhang mit einem mglichen (gestalttherapeutischen) Vernderungsprozess auf? Zum einen sicherlich auf Grund meiner persnlichen, sehr intensiven Erfahrungen whrend meiner Heldenreise in Weigenheim, die sich nahtlos in meinen Vernderungsprozess whrend meiner Ausbildung eingefgt hat. Die Dominanz dieser Erfahrungen bzw. die Beschreibung davon in meiner Abschlussarbeit nach der Basisstufe zeigen dies deutlich. Zum anderen aber auch, weil ich etliche Aspekte der Heldenreise in den vorgestellten Vernderungsmodellen wiederfinde. Wenn der Held dem Ruf folgt, ist dies sicherlich auch der hier schon beschriebene Wunsch nach Vernderung auf Grund unbefriedigter Bedrfnisse. Und wenn der Held um dem Ruf zu folgen sein bisheriges Leben und seine bisherigen Rollen verlassen muss und damit nicht selten gleich zu Beginn seiner Reise in groe (Selbst-) Zweifel und Hilflosigkeit strzt, ist das fr mich die von Perls beschriebene Phase der Impasse, in dem der Mensch seine bisherige Wirklichkeit verlsst und dabei auch meist zuerst einmal jeden Halt verliert. Die Erforschung des Helden als notwendigen Schritt vor dem Aufbruch deckt sich fr mich mit Arnold Beissers paradoxen Theorie der Vernderung. So wie der Held dem Ruf erst dann folgen kann, wenn er sich selbst und seine Herkunft kennt, so wird 29 30. Vernderung bei einem Menschen erst dann entstehen, wenn sich der Mensch wirklich bewusst macht, wer er ist, und nicht darauf konzentriert, wer er sein mchte. Die Konfrontation von Held und Dmon findet sich meiner Meinung nach in der Phase der Polarisation wieder. Stehen sich doch dort Bedrfnis und Widerstand genauso gegenber wie Held und Dmon, die sich beispielsweise bei meiner Heldenreise lange Zeit so unvershnlich auf dem Schlachtfeld gegenberstanden. Unvershnlich und damit ohne Lsung fr den Konflikt zwischen Bedrfnis und Vermeidung. Erst die Phasen der Diffusion und Kontraktion ermglichen die Geburt des Neuen in der Phase der Expansion. Genauso wie sich der Held nach der Integration des Dmons der hchsten Prfung stellen muss, die er nur bestehen kann, in dem er sich seinen grten ngsten stellt. Um danach neugeboren zurckzukehren. Fr Staemmler und Bock kommt vom Schritt der Polarisation zur Diffusion dabei dem Vermeidungspol, also dem Dmon, eine zentrale Bedeutung fr den weiteren Verlauf des therapeutischen Prozesses zu. Denn die Vermeidungsstrategien des Klienten sind es letztlich, die ihn verlassen, sich in eine Therapie zu begeben (denn ohne sie wrde er sein Bedrfnis einfach befriedigen) und daher kann der Therapeut sich mit seinem ganzen Interesse, seiner Neugierde und Entdeckungsfreude der Frage widmen, wie der Klient sich selbst im Wege steht. Wie passend, dass am Ende nicht Frodo Beutlin, dessen Mission es ist den einen Ring zu vernichten, sondern Gollum, der genau dies verhindern will, den Ring in die ewigen Feuer des Schicksalsbergs wirft und damit das Bse besiegt. 30 31. Coachender Gestalttherapeut Ich akzeptiere niemand als kompetenten Gestalttherapeuten, solange er noch Techniken bentzt. Wenn er nicht seinen eigenen Stil gefunden hat, wenn er sich nicht selbst ins Spiel bringen kann und den Modus (oder die Technik), die die Situation verlangt, nicht der Eingebung des Augenblick folgend erfindet, ist er kein Gestalttherapeut. - Fritz Perls Ich habe in den letzten Kapiteln beschrieben, woher der Wunsch nach Vernderung im gestalttherapeutischen Sinne kommt. Welche groe (Wahl-) Freiheit und auch Verantwortung dabei bei jedem Einzelnen liegt. Und wie sich der Vernderungsprozess beschreiben lassen kann. Doch welche Rolle spielt dabei der Gestalttherapeut, zu dem der Klient mit seinem Wunsch nach Vernderung kommt? Die Katalysatoren des ganzheitlichen Vernderungsprozess Aufbauend auf der im letzten Kapitel vorgestellten Struktur des Vernderungsprozesses haben Frank M. Staemmler und Werner Bock bestimmte Katalysatoren beschrieben, die dem Klienten den bergang von einer Phase des Vernderungsprozesses in die nchste ermglichen bzw. erleichtern knnen. Das folgende Schaubild fasst die verschiedenen Phasen und die Katalysatoren fr einen bergang von der einen in die nchste Phase zusammen. 31 32. Coaching-Beispiel Ich mchte an dieser Stelle nicht im Detail und theoretisch auf die einzelnen Katalysatoren eingehen. Stattdessen mchte in anhand einer Arbeit im Rahmen meines Coachings bei SAP beispielhaft einige der Phasen des Vernderungsprozesses und den bergngen dazwischen erlutern. Die Arbeit fand (fr mich!) bemerkenswerterweise auf Englisch und per Videokonferenz statt. Ich habe mit Peter, 35 Jahre, gearbeitet, der sich wie schon weiter oben erwhnt mehr in sein Team einbringen mchte, dort aber wie er sagt wenig Zuspruch erhlt. Wir hatten uns zu diesem Zeitpunkt schon drei Mal getroffen (ausschlielich per Videokonferenz vor dem Rechner, da Peter in der Nhe von Montreal lebt und arbeitet). Zu Beginn der Stunde wirkte Peter sehr frustriert. Bleich und fast bewegungslos sehe ich ihn vor seinem Rechner sitzen und mit lebloser und leiser Stimme erzhlt er mir, dass er aufgegeben haben, weil sein Manager ihn nicht untersttzt. Peter sieht sich als Opfer, und wrde doch so gerne seine Erfahrung und sein Wissen ber Arbeitsablufe ins Team einbringen. Wir befinden uns offensichtlich in der Phase der Stagnation. Da ich die Problematik aus anderen Teams sehr wohl kenne, frage ich ihn, warum ihm das Thema so am Herzen liegt. Er erzhlt mir davon, dass er mithelfen will, die SAP besser zu machen, dass er einen Beitrag leisten will. Diese Punkte scheinen ihm aber nicht wirklich wichtig zu sein, und klingen fr mich doch sehr nach den Botschaften unseres Managements. Seine Mimik und Stimme bleiben dementsprechend weiterhin sehr reduziert. Ich zeige aber Interesse an seinen Ausfhrungen, halte Blickkontakt und bin im Dialog. Dann kommt mit einem Male Farbe in sein Gesicht, seine Stimme wird lebhafter, ich sehe ihn sich zu ersten Mal whrend dieser Stunde bewegen. Er erzhlt, dass er sich auerhalb der SAP sehr intensiv mit der Frage beschftigt, wie Entwicklungsteams in der Softwarebranche effektiver zusammenarbeiten knnen. In diesem 32 33. Zusammenhang besucht er Konferenzen (teilweise auf eigenen Kosten) und hat sogar eine Community in Montreal gegrndet, in der er in regem Austausch mit Gleichgesinnten ist, die sein Fachwissen und seine Begeisterung fr das Thema gerne annehmen. Ich teile ihm meine Wahrnehmung mit. Beschreibe, dass ich gerade einen ganz anderen Peter erlebe. Und stelle ein wenig (gespielt) berrascht fest, dass er offensichtlich in der Lage ist, andere zu begeistern und Dinge mitzugestalten. Dieses Feedback von mir freut ihn ganz offensichtlich (er strahlt ber das ganze Gesicht), macht ihn aber auch offensichtlich stutzig. Meine nchste Frage liegt nun auf der Hand. Wie er es denn schaffe, innerhalb seines Teams eben nicht mitzugestalten? Und was er in der Community auerhalb der SAP anders mache? frage ich ihn, worauf ich ein erstauntes This is a good question! erhalte. Mit einem Mal wird Peter klar, dass er selbst zu der Situation beitrgt. Wir sind in der Phase der Polarisation angekommen. In den nchsten Minuten kristallisieren sich mehr und mehr zwei Pole heraus, die Peter beide sehr gut kennt aber wohl noch nie zusammen betrachtet hat. Denn Peter kennt sich sowohl als Driver und auch als to be driven (um die englischen Begriffe zu verwenden, die ihm sehr gefallen). Er fngt an, sich mir (!) gegenber zu rechtfertigen, warum er nicht immer der Driver sein kann und will, doch da habe ich eine bessere Idee: ich lade ihn ein, sich zwei Sthle vor seinen Rechner zu stellen: den Driver-Stuhl und den Stuhl, auf dem er der Beifahrer ist. Peter ist zuerst berrascht, dann lsst er sich aber auf das Experiment ein. Da er sich nun nacheinander auf die zwei Sthle setzt, kann ich ihn nicht immer komplett sehen (da eine Kamera dazu nicht ausreicht). Ich lade ihn aber ein, mir zu erzhlen, wie es im geht und was gerade passiert. Es entsteht eine lebhafte Diskussion zwischen den Sthlen, den beiden Polaritten. Peter wechselt mehrmals die Sthle. Ist sichtbar gerhrt, vor alle auf dem Stuhl, auf dem er nicht der Driver ist. Mit Trnen in den Augen sagt er I feel so guilty. Ich frage nach, doch an dieser Stelle mchte er nicht mehr erzhlen und da ich nur sein Coach und nicht sein Therapeut bin, akzeptiere ich dies in dem Moment. 33 34. Fr mich bemerkenswert ist aber nichtsdestotrotz die Verwandlung, die Peter im Laufe dieser Arbeit durchmacht, die fr mich ganz offensichtlich mit der Phase der Expansion endet. Denn als Peter sich wieder auf seinen Stuhl vor den Rechner setzt, sehe ich ihn sehr aufrecht, sichtlich gelst und lchelnd vor mir. Er bewegt seinen Krper beim Reden und seine Hnde sprechen auf einem Male mit. Ich teile ihm meine Wahrnehmung mit und er besttigt mich darin. In die Folgestunden erlebe ich ihn in der Tat verndert: nicht lnger als Opfer, sondern als einen sehr engagierten Mitarbeiter, der sich bewusst entscheidet, in welchen Situationen er Driver sein will und in welchen nur Beifahrer. Und der seine Angebote an das Team als Einladung versteht und eine Ablehnung nicht als persnliche Krnkung. Nachbetrachtung Fritz Perls htte sicherlich nicht im Traum daran gedacht, dass Stuhlarbeiten im Jahr 2011 per Videokonferenz zwischen Therapeut und Klient bertragen werden. Und ich bin in der Tat auch nach wie vor hin- und hergerissen, ob echte Gestaltarbeit berhaupt am Rechner mit Videobild passieren kann. Das obige Beispiel zeigt meiner Meinung nach zumindest, dass es grundstzlich funktionieren kann. Im Augenblick sehe ich diese Art von Arbeiten, die (noch?) die absolute Ausnahme auch im Coaching bei SAP darstellen, als Experiment und Mglichkeit des Lernens. Ich bin gespannt, was die Zukunft bringen wird. Spannend fr mich in diesem Zusammenhang ist auch die Frage, wie ich (klar zielorientiertes) Coaching und (rein prozessorientierte) Gestalttherapie zusammenbringen kann und will. Da sehe ich mich noch ganz am Anfang und nutze jeder Stunde auch fr mich zum Lernen und Ausprobieren. Was ich jedoch heute schon uneingeschrnkt in meine Coachings einbringe, ist die gestalttherapeutische Haltung, mit der ich dem Coachee gegenbersitze. Ich mchte daher dieses Kapitel mit einigen Gedanken dazu abschlieen. 34 35. Dialogische Haltung Arnold Beisser beschreibt sein erstes Treffen mit Fritz Perls mit den folgenden Worten: Was ist denn mit Ihnen passiert? Er sagte das mit solch kindlicher Unschuld und Verwunderung, dass ich es ihm nicht bel nahm. Er schien ganz einfach an dem Offensichtlichen, das einen starken Gegensatz zu dem blichen darstellt, interessiert zu sein. (...) Seine erfrischend freimtige Reaktion zeigte wirklich echtes Interesse. Das war erleichternd () Aber seine wirkliche Kraft bestand in seiner Fhigkeit, direkten Kontakt mit dem Wesentlichen der Menschen und ihrer Situation herstellen zu knnen. Beisser schreibt von echtem Interesse auf Seiten Perls und von Kontakt, den Perls hergestellt hat. Und nennt damit zwei wie ich finde zentrale Aspekte fr die Arbeit eines Gestalttherapeuten bzw. die Haltung, mit der er seinem Klienten im wahrsten Sinne des Wortes gegenbersitzt. Miriam und Erving Polster sprechen dabei sogar von der Faszination des Therapeuten fr seinen Klienten. Interesse, Kontakt, Faszination: Sie alle meinen aus meiner Sicht die dialogische Haltung, die der Gestalttherapie zugrunde liegt und so grundstzliche Folgen fr die Arbeit eines Gestalttherapeuten hat. Denn der Gestalttherapeut ist fr seinen Klienten nicht vor allem interpretierender Analytiker oder scheinbar allwissender Experte. Sondern ein Mensch, der sich mit seinem ganzen Wesen, seinen Gefhlen und Meinungen zeigt. Er ist dem Klienten ein aufmerksamer und wohlwollender Begleiter auf dessen Weg zu Vernderung und Wachstum. Er ist das Du, an dem so Martin Buber der Mensch zum Ich wird. Helfen ohne Helfer zu sein Schlieen mchte ich mit Worten von Frank-M. Staemmler und Werner Bock, die das Gestalttherapeutensein sehr treffend beschreiben wie ich finde: Ein Therapeut, der so arbeitet, braucht keine Regeln, Techniken oder gar Tricks. Er ist, der er ist, und folgt dem, was von Moment zu Moment geschieht, ohne sich zu verzetteln. Er hilft, ohne Helfer zu sein; er ist sich seiner selbst sicher ohne Arroganz; er konfrontiert, ohne hart zu werden; er ist frsorglich, ohne Sorgen seines Klienten zu bernehmen; er ist prsent ohne Aufdringlichkeit; er ist ernsthaft, ohne seinen 35 36. Humor zu verlieren; er ist liebevoll, ohne sich persnlich zu verwickeln; er lacht, ohne seinen Klienten auszulachen; er ist berhrbar, ohne seine Grenzen aufzugeben. 36 37. Die paradoxe Theorie der Vernderung Ich habe auf den letzten knapp 40 Seiten versucht, einiges von dem, was mir in den letzten vier Ausbildungsjahren wichtig geworden ist, was hngen geblieben ist, was mich beschftigt hat, aufzuschreiben, zusammenzufassen und in Verbindung zu bringen. Ganz offensichtlich ging und geht es mir dabei meist um Vernderung. Die aber bekanntermaen und paradoxerweise eben nur dann geschieht, wenn man sich zuallererst auf das einlsst was sich zeigt, was ist. Jetzt. In diesem Augenblick. Diese Erkenntnis war und ist fr mich hilfreicher Ratschlag und echte Herausforderung zugleich. Daher kann ich keinen besseren Schlussredner als Arnold Beisser selbst finden, der die paradoxe Theorie der Vernderung mit den bekannten und vielzitierten Worten formuliert hat: Vernderung geschieht, wenn jemand wird, was er ist, nicht, wenn er versucht, etwas zu werden, das er nicht ist. Vernderung ergibt sich nicht aus dem Versuch des Individuums oder anderer Personen, seine Vernderung zu erzwingen, aber sie findet statt, wenn man sich die Zeit nimmt und die Mhe macht, zu sein, was man ist; und das heit, sich voll und ganz auf sein gegenwrtiges Sein einzulassen. 37 38. Gras unter meinen Fssen Ich durfte mich in den letzten 6 Jahren am Gestalt-Zentrum Baden oft erfahren und spren. Ich durfte vieles lernen. ber mich und ber andere. Ich durfte lachen und weinen, laut toben und still sein. Ich durfte geben und nehmen. Ich durfte mutig und hilflos sein. Ich durfte ich sein. Ich habe mit anderen getanzt und alleine auf dem Berg gesessen. Ich bin meinem Helden und meinem Dmon begegnet. Hab (meine) Grenzen erfahren und vertreten. Bin daran gewachsen. Und wohl auch ein Stckchen erwachsener geworden. In diesem Sinne habe ich in diesen sechs Jahren sicherlich oft und viel Gras unter meinen Fssen gesprt, wofr ich Hanna, Manfred, Felicitas und Ute sehr, sehr dankbar bin. Ich mchte schlieen mit Worten von Bruno-Paul de Roeck, die wie ich finde sehr gut beschreiben, wer ich nach 4 Jahren gestalttherapeutischer Weiterbildung bin: Ich habe einen langen Weg zurckgelegt. Ich wei nicht, ob ich einen Schritt weiter bin als damals. Manchmal scheint es mir, als liefe ich einen jahrelangen Weg, der sich zu einem Kreis umbiegt und der mich immer wieder zum Ausgangspunkt bringt, der jedesmal tiefer liegt. Dennoch hat sich etwas verndert: ich bin nicht lnger mein Feind. Es wachsen mir freundliche Blmchen hinter den Ohren. Manchmal luft das Fass ber, die Trnen ber meine Wangen, uns sie verbrennen mir nicht mehr Kehle und Magen. Oft wage ich es, dir in die Augen zu sehen, um dich zu sehen anstelle meiner Phantasie ber dich. Manchmal verkrampfen sich meine Hnde nicht. Manchmal wage ich es, mich der Zrtlichkeit anzuvertrauen. Mehr und mehr wird die Peitsche des Vollkommenheitsideals ersetzt durch den kecken Humor eines lumpigen Neurotikers, der sich sehenlassen kann. 38 39. Ich schliee die Augen, breite meine Arme aus und lasse meine Beine frmlich ber die Wiese fliegen. Immer schneller und schneller laufe ich auf den Abgrund zu, ich spre keine Wiese mehr unter meinen Fen, das Klatschen ist wie weggeblasen, alles scheint still zu sein, und mit einem langgezogenen Schrei springe ich in den Abgrund in das Abenteuer, dass sich Leben nennt. 39 40. Literaturverzeichnis Beisser Arnold R.: Wozu brauche ich Flgel. Peter Hammer Verlag, 2009. Blankertz, Stefan / Doubrawa Erhard: Lexikon der Gestalttherapie, Peter Hammer Verlag, 2005. Campbell Joseph: Der Heros in tausend Gestalten. Insel Taschenbuch,1999. De Roeck, Bruno-Paul: Gras unter meinen Fssen. Rowohlt Taschenbuch, 2002. Frstel Andreas: Verantwortung und Vernderung. Abschlussarbeit am Gestalt-Zentrum Baden, 2010. Ginger Anne / Ginger Serge: Gestalttherapie. Beltz Verlag, Mittermair, Franz: Neue Helden braucht das Land. Eagle Books, 2009. Perls, Frederik: Gestalt-Therapie in Aktion. Klett-Cotta Verlag, 1969. Polster, Miriam / Polster, Erving: Die dialogische Dimension der Gestalttherapie. Aus: Gestaltkritik. www.xyz.de. Polster, Miriam / Polster, Erving: Theorie und Praxis der integrativen Gestalttherapie. Peter Hammer Verlag, 2003. Rebillot, Paul: Die Heldenreise. Das Abenteuer der kreativen Selbsterfahrung. berarbeitete Auflage. Eagle Books, 2011. Roth, Philip: Nemesis. Carl Hansen Verlag, 2010. Russel, J. Michael: In Ketten frei? ber Sartre, Gestalttherapie und Verantwortung. Zentrum fr Gestalttherapie Wrzburg, 1989. Staemmler Frank-M. / Bock, Werner: Ganzheitliche Vernderung in der Gestalttherapie. Peter Hammer Verlag, 2007. Staemmler Frank-M.: Der leere Stuhl. Pfeiffer Verlag, 1995. Staemmler Frank-M.: Der Geist der Gestalttherapie in Aktion: Methoden und Techniken. Zentrum fr Gestalttherapie Wrzburg, 1998. Staemmler Frank-M.: Entdeckungen was es in einer Gestalttherapie zu entdecken gibt. Zentrum fr Gestalttherapie Wrzburg, 1998. 40 41. Staemmler Frank-M.: Der eine braucht die andere. Dialog und Interpretation in der Gestalttherapie. Zentrum fr Gestalttherapie Wrzburg, 1998. Staemmler Frank-M.: Was ist eigentlich Gestalttherapie? EHP Verlag, 2009. Staemmler Frank-M.: Die Kraft der Beziehung. Was eine Gestalttherapie in Bewegung hlt. Aus: Erhard Doubrawa, Frank-M. Staemmler: Heilende Beziehung, Peter Hammer Verlag 2003. Yontef, Gary M.: Gestalttherapie als dialogische Methode. Aus: Erhard Doubrawa, Frank-M. Staemmler: Heilende Beziehung, Peter Hammer Verlag 2003. 41