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50 % organisationales Wissen gehen mit durch die Tür Wissensverlust bei Generationenwechsel verhindern Susan Herion con.win Consulting www.conwin.ch In den nächsten Jahren verlieren viele Firmen und Verwaltungsstellen bis zur Hälfte ihrer Mitarbeitenden durch Pensionierung und die normale Fluktuation. Die „Babyboomer“-Generation (Jahrgänge 1950 bis 1965) erreicht das Pensionsalter. Die langjährigen Mitarbeitenden nehmen ihr Wissen, ihre Erfahrung und ihr Beziehungsnetzwerk bei Austritt mit durch die Tür. Das kantonalbernische Amt für Gemeinden und Raumordnung (AGR) will der Falle des „brain-drain“ entgehen. Es baut, mit Unterstützung von con.win Consulting GmbH ein Wissenstransfer-System auf. Amtsvorsteher Daniel Wachter und Iris Grützner, Abteilungsleiterin Zentrale Dienste, berichten im nachfolgenden Interview mit Susan Herion, con.win über erfolgreiche Methoden und die nächsten Schritte.

50 % wertvolles Wissen gehen mit durch die Tür

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50 % organisationales Wissen gehen mit durch die TürWissensverlust bei Generationenwechsel verhindern

Susan Herion con.win Consulting www.conwin.ch

In den nächsten Jahren verlieren viele Firmen und Verwaltungsstellen bis zur Hälfte ihrer Mitarbeitenden durch Pensionierung und die normale Fluktuation. Die „Babyboomer“-Generation (Jahrgänge 1950 bis 1965) erreicht das Pensionsalter. Die langjährigen Mitarbeitenden nehmen ihr Wissen, ihre Erfahrung und ihr Beziehungsnetzwerk bei Austritt mit durch die Tür.

Das kantonalbernische Amt für Gemeinden und Raumordnung (AGR) will der Falle des „brain-drain“ entgehen. Es baut, mit Unterstützung von con.win Consulting GmbH ein Wissenstransfer-System auf. Amtsvorsteher Daniel Wachter und Iris Grützner, Abteilungsleiterin Zentrale Dienste, berichten im nachfolgenden Interview mit Susan Herion, con.win über erfolgreiche Methoden und die nächsten Schritte.

Herr Dr. Wachter und Frau Grützner, warum haben Sie Ihrer Geschäftsleitung vorgeschlagen sich mit dem Wissensmanagement in Ihrem Amt zu beschäftigen?

Wachter: Es gibt zwei konkrete Auslöser für die Notwendigkeit eines Wissenstransfers bei uns im Amt. Einmal die anstehenden Altersrücktritte von zentralen Schlüsselpersonen in den nächsten fünf Jahren. Zum anderen die Einführung der elektronischen Aktenführung in der Kantonsverwaltung (GEVER) und der damit einhergehenden Frage, was kann eine GEVER leisten für den Wissenserhalt und was nicht? Der Wissenserhalt ist ja bekanntlich wesentlich wertvoller für eine Organisation, jedoch auch komplexer zu bewerkstelligen, als die reine Informationsablage. Wir werden jetzt hochwertiges personalisiertes Wissen von Schlüsselpersonen orten, erfassen, sichern und visualisieren, um es im zweiten Schritt gezielt an weitere Personen im Amt zu transferieren.

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Grützner: Als Teil der regulären Führungsarbeit initiieren und begleiten unsere Abteilungsleitenden in Zukunft Wissens-Tandem und –Tridems. Diese setzen sich aus einer Schlüsselperson zusammen, die aufgrund Pensionierung oder Stellenwechsel unser Amt in absehbarer Zeit verlässt und aus ein bis zwei Personen, die die Aufgaben Schritt für Schritt übernehmen. Die Führungspersonen stellen, zusammen mit den HR-Fachpersonen, rechtzeitig die Tandems und Tridems zusammen und begleiten bzw. coachen diese. Als weitere Transfermassnahme führen Projektverantwortliche kurz vor dem Abschluss von grösseren Projekten standardmässig Lessons-Learned-Zirkel durch, bereiten deren Ergebnisse auf und stellen diese hausintern zur Diskussion. In den nächsten Monaten werden wir mit Piloten von Tandems und Lessons-Learned Zirkeln den systematischen Wissenstransfer im Amt in Bewegung setzen. Die Erfahrungen werten wir sorgfältig aus und informieren breit im Amt darüber. Somit fördern und fordern wir den kontinuierlichen Wissenstransfer in allen Abteilungen.

Natürlich fangen wir nicht auf der grünen Wiese an. Im Amt läuft bereits viel an Wissenstransfer: Unsere regelmässig stattfindenden Qualitätszirkel bewähren sich für den Wissensaustausch unter Kollege/innen, wie auch weitere Sitzungsgefässe. Jedoch müssen wir diese im Hinblick auf das Wissensmanagement so optimieren, dass persönliches Erfahrungswissen noch stärker aus einzelnen Köpfen heraus und in andere Köpfe hinein „geht“. Das hat weniger mit noch besserer Protokolltechnik, sondern viel mehr mit der Verstärkung der „soft factors“ wie Aufbau einer Vertrauenskultur, generationenübergreifende

Wertschätzung, gelebte Fehler- und damit Lernkultur zu tun. Zusätzlich herausfordernd für alle Beteiligte ist zu erkennen, welches Wissen wesentlich ist für unser Amt und welches nicht. Das wesentliche Wissen wird idealerweise „person to person“ weitergegeben und nur wenig davon klar und knapp verschriftlicht und an einen für viele wiederauffindbaren Ort abgelegt. Diese drei Aufgaben; persönlicher Wissenstransfer des Wesentlichen, knappe Verschriftlichung und nützliche Ablage; sind alle sehr anspruchsvoll. Wir trainieren uns darin, um immer besser zu werden.

Wie beurteilen Sie die Personalfluktuation, bedingt durch Pensionierungen und Stellenwechsel, in den nächsten 5-10 Jahren in Ihrem Amt?

Grützner: Unser Amt hat, wie die meisten Verwaltungsstellen, sehr viele langjährige Mitarbeitende, die über ein reiches Wissen verfügen, das nicht in Handbüchern abgelegt, sondern in ihren Köpfen gespeichert ist. Wenn diese Mitarbeitende austreten, dann spaziert ihr Wissen ebenfalls mit aus der Tür und ist für das Unternehmen verloren, wenn nicht vorher systematisch Gegenmassnahmen getroffen werden. In den nächsten 10 Jahren erreicht bis zu 40% der heutigen Mitarbeitenden in einigen unserer Abteilungen das Pensionsalter. Addiert man die 10% regulären Stellenwechsel dazu, kann es zu einer Personalfluktuation von bis zu 50% in wenigen Jahren in einzelnen Abteilungen kommen. Das ist dramatisch.

Wachter: Der drohende Wissensverlust betrifft weniger das Tagesgeschäft, sondern mehr das Spezialwissen. Das Wissen unserer Mitarbeitenden rund um all die „Spezialgeschäfte“, die unser Amt, wie alle anderen Verwaltungsstellen, betreut, ist unzulänglich gesichert. Unsere Schlüsselpersonen haben alle neben ihrem Alltagsgeschäft noch Spezialaufgaben gefasst. Für diese sind sie meist alleine verantwortlich und somit alleinige Wissenstragende. Dort müssen wir sie abholen, ihr Wissen erkennen, visualisieren und im Amt an weitere Personen transferieren.

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Der Kadertag, den wir mit con.win zusammen vorbereitet und durchgeführt haben, hat meine Geschäftsleitungsmitglieder für die Notwendigkeit eines systematischen Wissenstransfers sensibilisiert. Wir haben uns mit den Fragen beschäftigt, wo in unserer Organisation bei welchen Personen implizites Wissen liegt und wie wir diese Schätze heben wollen? Oder welche Wissenstransferkanäle wir bereits etabliert haben,

wie wir diese besser nützen und miteinander in Dialog bringen können?

Grützner: Der Wissenstransfer ist das Eine. Das Andere, genauso Anspruchsvolle, ist die Wissenssicherung: Wo legen wir das Wissen ab, wie sichern wir es? In unserem Amt erstellen dafür alle Schlüsselpersonen für sich eine Wissenslandkarten in Form einer grossen Mindmap. Schritt für Schritt visualisieren sie darauf ihr breites berufliches Wissen, von momentan laufenden Projektarbeiten bis hin zum beruflichen Netzwerk mit den wesentlichen Kontaktstellen. Wissenslandkarten bilden all das ab, was ich mache, weiss und kann. Die Wissenslandkarten werden mit einer Standardsoftware erstellt, können laufend erweitert und miteinander verknüpft werden. Sie bilden in einfach lesbarer Form das bis anhin unbewusste, d.h. implizite, Wissen einer Einzelperson sichtbar, d.h. explizit ab. Diese systematische Wissenssichtung ist der erste Schritt, der genauso wie der anschliessende Wissenstransfer, organisationsweit geregelt und eingefordert wird. Wir Menschen sind bessere Wissensträger als jedes Handbuch. Wenn, wie in unseren Qualitätszirkeln, eine Gruppe von Menschen ihr Wissen untereinander teilt und weiter gibt, vermehrt sich das Wissen kontinuierlich und bleibt immer aktuell. Einmal Aufgeschriebenes veraltet hingegen rasant und birgt das Risiko des Missverständnis, da kein persönliches Nachfragen möglich ist.

Was versprechen Sie sich von einem systematischen Wissenstransfer für Ihre Organisation?

Wachter: Er stellt unsere Aufgabenerfüllung auf konstant hohem Qualitätsniveau sicher und Effizienzverluste werden vermieden. Trotz Personalwechsel entsteht kein Wissens“loch“ mit dem anschliessenden mühsamem Wiederaufbau des Wissens. Der systematische Wissenstransfer entlastet zusätzlich unsere Mitarbeitenden. Wissen zu teilen schafft bewusst Redundanzen und diese Wissens-Doppelspurigkeiten wirken stressmindernd. Fällt eine Person mal aus, fällt der Laden nicht zusammen. Dies ist besonders wichtig bei Führungspersonen.

Um die positiven Effekte des Wissenstransfers in Organisationen voll auszunützen, müssen die Mitarbeitenden jedoch auch bereit sein ihr Wissen zu teilen. Das Management muss dafür eine Führungskultur vorleben, in der es geschätzt und gefördert wird, Wissen zu teilen und keine Person Nachteile fürchten muss, wenn sie ihr Wissen weitergibt.

Grützner: Der Kunde darf nicht merken, wenn es in unserem Amt Personalwechsel gibt. Unsere Dienstleistungen und „Produkte“ sind auch bei gleichzeitigem Personalwechsel fristgerecht und in gleicher Qualität abzuliefern. Kann der/die Nachfolger/in selber noch nicht die Arbeit, z.B. einen Mitbericht zu einem komplexen Regierungsratsgeschäft schreiben, steht dank des systematischen Wissenstransfer ein Kollege zur Seite, der in die Lücke springt und über das spezifische Wissen verfügt, um diese

Arbeit fertigzustellen. Auch bei Ferienabwesenheiten ermöglicht der systematische Wissenstransfer den Aufbau einer echten Stellvertretung, die kompetent die Arbeiten fortführt, statt lediglich eines „Platzhalters“, der nur eine Pendenzenliste führt und das Telefon abnimmt.

Wie verankern Sie den systematischen Wissenstransfer in Ihrer Amts- und Personalstrategie?

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Wachter: Zusammen mit der Geschäftsleitung definiere ich, was wir an Zielen amtsweit in diesem und den nächsten Jahren für den Wissenstransfer setzen und in unseren Amtszielen verankern wollen. In unserem Personalentwicklungskonzept brechen wir anschliessend die Amtsziele bis zu einzelnen Massnahmen für den Wissenstransfer hinunter. Die Führungskräfte definieren zusammen mit ihren Mitarbeitende aus den Massnahmen daraufhin individuelle Jahresziele und vereinbaren diese in den Mitarbeitergespräch (MAG). Zum Beispiel könnte ein Jahresziel für einzelne Mitarbeitende die Bildung von Wissenstandems sein, mit dem Ziel sich bestimmte Kenntnisse anzueignen.

Welche konkreten Schritte geht Ihre Geschäftsleitung in den nächsten 12 Monaten an für die Stärkung des Wissenstransfers?

Wachter: Wir werden in drei Bereichen arbeiten: Zuerst wird es in allen Abteilungen eine IST-Erhebung geben von den heute bereits laufenden Wissenstransferaktivitäten. Es geht dabei darum

das Bestehende, z.B. unsere Qualitätszirkel, Teamarbeit etc., zu würdigen und in den Kontext des Wissensmanagement zu setzen. Als zweites sind die Abteilungen beauftragt alles was heute an Wissenssicherung besteht, z.B. Merkblätter, Arbeitshilfen, etc., zu sichten, zu aktualisieren und nützlich abzulegen. Als Drittes erproben wir gezielt neue Methoden des Wissenstransfers. Bei der Methodenwahl stehen Wissenslandkarten zum Visualisieren,

Wissenstandems zur Weitergabe und

Lessons learned-Zirkel zur Verbesserung im Vordergrund. Wir wollen keine Datenfriedhöfe produzieren, sondern unsere Qualität und Effizienz mit dem Wissenstransfer steigern.

Grützner: Daneben planen wir Erfahrungs-Workshops zu bestimmten Themen, z.B. Was ist bei Gesetzesrevisionen zu beachten? Im Workshop geben Projektleitende ihre Erfahrungen weiter und bieten Coachings für Kolleginnen und Kollegen an. Der Workshop ist keine Geschichtsschreibung, sondern blickt in die Zukunft: Auf was muss organisatorisch geachtet werden? Welches sind die zentralen Schlüsselstellen in der Verwaltung? Wo liegen Risiken, wo die Chancen bei einem solchen Projekt? Auf welches Netzwerk kann zurückgegriffen werden?

Verfolgen Sie ein ganz persönliches Ziel mit dem Wissenstransfer?

Wachter: In meinem Führungsverständnis nimmt das Teilen von Wissen eine zentrale Rolle ein. Auch ich darf mein Wissen nicht monopolisieren, sondern es muss bei meinen Leuten sein. Schlussendlich sollte ich, wie auch andere Führungspersonen, entbehrlich werden, da das Wissen gut auf verschiedene Personen verteilt ist, die darüber hinaus kontinuierlich miteinander kommunizieren.

Grützner: Ich habe den Wissenstransfer für mich schon lange auf dem Radar, da ich altershalber bald hier aus der Türe laufen werde. Ich will vorher mein Wissen an meine Mitarbeitende weitergeben. Zu wissen, dass ich nicht die Einzige bin, die über ein bestimmtes Wissen verfügt, sondern ich mich verlassen kann auf weitere Personen, gibt mir Freiheit. Mein Wissen ist verteilt und ich kann durchatmen. Auch wenn ich mal ausfallen sollte, können meine Mitarbeitende kompetent meine Aufgaben weiterführen. Das ist sehr befriedigend und beruhigend zu wissen. Darüber hinaus wachsen wir alle, wenn wir Wissen nehmen und wenn wir Wissen geben.

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Wachter: Es ist auch das positive Kosten-Nutzen Verhältnis des Wissenstransfers zu beachten. Nach dem Initialaufwand den es braucht, um in Tandems oder anderer Form Wissen weiterzugeben, bringt der Wissenstransfer eine effizienter arbeitende Unternehmung, da Flaschenhälse in der Ablauforganisation beseitigt und Schlüsselpersonen entlastet und unterstützt sind. Der Wissenstransfer ist mit verhältnismässigem Aufwand gut lösbar, wenn er früh genug und systematisch angegangen wird.

Vielen Dank für das Interview! Das Interview führte Susan Herion, con.win, August 2016

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