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Warum gibt es in Deutschland keine „Winterfahrkultur“ mehr ? Verkehrssoziologische Anmerkungen über die Winterrisikokultur in der automobilen Gesellschaft Welche Bedeutung hat die richtige Winterausrüstung( dazu gehört das Aufziehen von Winterreifen ) und im allgemeinen Sinne die Prävention vor Winterfolgen in der automobilen Gesellschaft? Gibt es eine Winterfahrkultur in Deutschland? Scheinbar nicht. Die Umrüstungszahlen liegen nach –Angaben der Hersteller - bei nur 43 % und jeder, der sich die Mühe macht, in Großstädten wie Berlin die Fahrzeuge mit Winterreifen zu zählen, kommt zum Schluß, daß wahrscheinlich nur jedes dritte Auto im Flachland mit Winterreifen ausgerüstet ist und die meisten eher an den Räumdienst und die freie Autobahnfahrt glauben, als sie durch die Versicherungsnachteile „ erzogen“ werden könnten. Doch „Winterfahrkultur“ ist mehr als nur Winterreifen fahren bei unter 8 Grad Celsius. Sie ist die mentale Einstellung auf die kalte Jahreszeit und ihre Gefahren, die uns Zivilisationsmenschen mit wegen „Rundum-Komfort-Puffer“ erlöschender Instinkte binnen einen halben Jahrhunderts verloren gegangen ist. Winterfahrkultur schließt sicher die Ausrüstung mit gutem Schuhwerk, warmer Kleidung, 2 Decken pro Fahrzeug, Werkzeugen zum Freischaufeln, aber auch genügend Proviant mit ein. Zunächst bedeutet Winterfahrkultur aber vor allem eine veränderte innere Haltung beim Autofahren. Davon, mein Damen und Herren, sind wir in Deutschland inzwischen sehr weit entfernt. Wenn es genau so einfach wäre, das Verhalten der „Winterreifenmuffel“ zu erklären, wie den Verlauf und Stand der Erforschung der allgemeinen Wahrnehmung von Risiken in der Gesellschaft, könnten wir uns nach diesem Referat der Soziologischen Ergebnisse zur Risikowahrnehmung alle zurücklehnen und auf den Lieblingsspruch von Nina Ruge vertrauen: Alles wird Gut! Kommt

Was ist Winterfahrkultur?

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Vortragstext für die Aktion Winterreifen des Deutschen Verkehrssicherheitsrates 2003

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Page 1: Was ist Winterfahrkultur?

Warum gibt es in Deutschland keine „Winterfahrkultur“ mehr ?

Verkehrssoziologische Anmerkungen über die Winterrisikokultur in der automobilen

Gesellschaft

Welche Bedeutung hat die richtige Winterausrüstung( dazu gehört das Aufziehen von Winterreifen ) und

im allgemeinen Sinne die Prävention vor Winterfolgen in der automobilen Gesellschaft?

Gibt es eine Winterfahrkultur in Deutschland?

Scheinbar nicht. Die Umrüstungszahlen liegen nach –Angaben der Hersteller - bei nur 43 % und jeder,

der sich die Mühe macht, in Großstädten wie Berlin die Fahrzeuge mit Winterreifen zu zählen, kommt

zum Schluß, daß wahrscheinlich nur jedes dritte Auto im Flachland mit Winterreifen ausgerüstet ist und

die meisten eher an den Räumdienst und die freie Autobahnfahrt glauben, als sie durch die

Versicherungsnachteile „ erzogen“ werden könnten. Doch „Winterfahrkultur“ ist mehr als nur Winterreifen

fahren bei unter 8 Grad Celsius.

Sie ist die mentale Einstellung auf die kalte Jahreszeit und ihre Gefahren, die uns Zivilisationsmenschen

mit wegen „Rundum-Komfort-Puffer“ erlöschender Instinkte binnen einen halben Jahrhunderts verloren

gegangen ist.

Winterfahrkultur schließt sicher die Ausrüstung mit gutem Schuhwerk, warmer Kleidung, 2 Decken pro

Fahrzeug, Werkzeugen zum Freischaufeln, aber auch genügend Proviant mit ein. Zunächst bedeutet

Winterfahrkultur aber vor allem eine veränderte innere Haltung beim Autofahren. Davon, mein Damen

und Herren, sind wir in Deutschland inzwischen sehr weit entfernt.

Wenn es genau so einfach wäre, das Verhalten der „Winterreifenmuffel“ zu erklären, wie den Verlauf und

Stand der Erforschung der allgemeinen Wahrnehmung von Risiken in der Gesellschaft, könnten wir uns

nach diesem Referat der Soziologischen Ergebnisse zur Risikowahrnehmung alle zurücklehnen und auf

den Lieblingsspruch von Nina Ruge vertrauen: Alles wird Gut! Kommt Zeit, kommt Rat, kommt die

freiwillige Winterreifenumrüstungsallianz und die Winterfahrkultur in Deutschland.

Doch so einfach ist es nicht. Nicht in der Theorie und auch nicht in der Praxis. Im Gegenteil: Während die

Winter in etwa gleich bleiben oder gar härter werden, entfernt sich der Mensch dank zentralbeheizter

Geborgenheit von der Wahrnehmung der winterlichen Anzeichen.

Leider entzieht sich der Winter „Habitus“ der Autofahrer noch der sozialwissenschaftlichen Erforschung.

Es existieren derzeit nur die Marktforschung zu Winterreifen und Freizeitphänomenen.

Zum Glück liegt in der spannendenden Geschichte des Winterreifens ( nachzulesen im Spiegel) bereits

einiges Erklärungspotential für die Nichtakzeptanz und die fehlende Winterfahrkultur in Deutschland:

„In den wilden Fünfzigern wurden nicht nur Schmalztolle, Hüftschwung und Petticoat erfunden. Auch der

erste Winterreifen rollte damals auf die Straße: ein unkonventioneller Pneu mit besonders markantem

Profil und extrem laut.“

Und man liest über die Erprobung der Wintrreifen: „Es war kalt. Und windig. Und glatt, verdammt glatt.

Links und rechts türmte sich der Schnee in meterhohen Wehen, und die Fahrer umklammerten

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angespannt ihr Lenkrad. Eigentlich war es eine Irrsinnsidee, zu dieser Jahreszeit über den St. Gotthard

zu fahren - im Winter war der 2112 Meter hohe Alpenpass für den normalen Verkehr gesperrt. Nicht

jedoch für die kleine Karawane von Testfahrzeugen, die sich an jenem 17. November 1953 die steile

Bergstraße hinaufquälte. Die Expedition war erfolgreich: Man gelangte unversehrt über den Schweizer

Pass...“

An jenem verschneiten Novembertag ging es um den ersten Test für die Ahnen unserer Heutigen

Winterreifen. Continental hatte mit dem M+S 14 einen der ersten Winterreifen auf den Markt gebracht.

Matsch und Schnee - dafür stand und steht bis heute die Abkürzung M+S - sollte das neue

Gummiprodukt besser meistern als alle Pneus zuvor. Um das zu beweisen, hatte der Hannoveraner

Hersteller seine Reifentester bei extra widrigen Winterbedingungen über den Pass geschickt.

Mit zunehmenden Pferdestärken, schnelleren Autos und steigendem Verkehrsaufkommen war sicheres

Fahren im Winter nicht mehr mit den herkömmlichen Reifen garantiert. Auch packte die Menschen in den

Zeiten des Wirtschaftswunders das Fernweh: Italien lockte, Frankreich und Spanien, im Winter natürlich

besonders die Skiorte in den Alpen. Doch wenn die Familie mit voll gepackten Kleinwagen über schlecht

geräumte Straßen gen Süden zuckelte, endete der Urlaub nicht selten schnell im Graben.

Deswegen bastelten seit den frühen fünfziger Jahren nahezu alle Reifenhersteller auch an neuen Winter-

tauglichen Reifen. Diese ersten M+S-Modelle hatten allerdings einige Nachteile. Wegen ihres besonders

grobstolligen Profils und einer neuen, weicheren Gummimischung stieg wegen des erhöhten Abriebs der

Spritverbrauch enorm. Außerdem waren diese ersten Winterpneus extrem laut und damit zunächst eher

eine Lärmbelästigung als segenbringende Neuerung. Ein Image, mit dem im Übrigen auch so mancher

Rock'n'Roll-Star behaftet war...

Bis sich die Winterreifen endgültig durchsetzen konnten, mussten die Reifeningenieure einige

Rückschläge hinnehmen. So ist zum Beispiel auch eine bahnbrechende Entwicklung von Pirelli längst

wieder in Vergessenheit geraten. 1959 hatte der Hersteller auf dem Turiner Autosalon eine Weltneuheit

vorgestellt, einen Reifen mit austauschbarer Lauffläche: Beim Modell BS3 ließ sich das Sommerprofil

abnehmen und ein entsprechender "Wintermantel" aus grobstolligem Gummi anlegen. Für besonders

eisige Straßenverhältnisse konnten außerdem Spikes in die Lauffläche gedreht werden.

Auch wenn sich die Wechselmode nicht bewährte - die Idee, mit spitzen Metallnägeln mehr Grip auf

Schnee und Eis zu bekommen, wurde erfolgreich weiter verfolgt.

„Bereits 1904“, so kann man der Continental-Reifenchronik anläßlich des 50. Geburtstages des

Winterreifens entnehmen, „ hatte man versucht mit Metallknöpfen und ähnlichen Hilfsmitteln die Traktion

auf Schnee und Eis zu verbessern.“

1961 aber erst rollten die ersten echten Winterpneus mit Spikes über die Straßen. Mit zunehmenden

Straßenverkehr allerdings wurden diese griffigen Reifen zur Plage: Im Frühjahr sah der Asphalt aus wie

ein schlecht versiegelter Parkettboden nach einer Party, auf der die Frauen mit Pfennigabsätzen Twist

getanzt hatten. Wegen der starken Straßenschäden wurden Spikes-Reifen 1975 in Deutschland

verboten. Weiterhin erlaubt sind sie nur noch in Ländern wie Schweden und Norwegen, die fast den

ganzen Winter unter einer geschlossenen Schneedecke liegen.

Hier tritt der erste Bruch ein: Hatten die Autofahrer anfangs das Gefühl extremer Glätte, schoben die

Wintrereifen ab 1953 die Traktionsgrenze weiter hinaus und mit den Spikes gelang sogar bei Eis eine

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Bodenhaftung, die heute kein Winterreifen mehr erreicht. Die Spike-Generation nagelte unbeeindruckt

vom Straßenzustand durch den Winter und segelte prompt ins Abseits, als die Nagelpneus nicht mehr

verfügbar waren.

Die Antwort von Continental etwa war der erste Stahlgürtelwinterreifen Contact TS 729 ( TS war die

Abkürzung für den verwendeten Textil- Stahl, der schon 1972 eingeführt wurde). Versuchsfahrten

„bewiesen“, so der Hersteller, dass seine Fahreigenschaften auf Schnee denen der bespikten Pneus

ebenbürtig waren - sogar sicherer auf Schneematsch sowie nasser oder in Deutschland auch im Winter

meist trockener Straße. Das wiegte die Autofahrer in trügerischer Sicherheit – wann hat man schon mal

Eis und festgefahrenen Schnee...

Mitte der Achtziger Jahre begann dann die Geschwindigkeitssteigerung der Winterreifen Programm zu

werden. Geschwindigkeiten bis 190 Km/ h wurden möglich und ermöglichten auf trockener Fahrbahn

sichere Schnelle Fahrt. Gleichzeitig stieg aber auch die Qualität der Sommerreifen bei schlechten

Strassenverhältnissen, der Kunde konnte mit denen nun fast so fahren, wie früher mit den ersten M+S.

An dieser Stelle liegt der Beginn für die Nichtakzeptanz von Winterreifen und das Versäumnis der

Verantwortlichen, eine eigenständige Winterfahrkultur bei den Verbrauchern zu verankern. Der Winter

geriet aus dem Blickfeld, zumal die norddeutsche Schneekatastrophe nicht durch eisige und winterliche

Wetterbedingungen begünstigt wurde, sondern durch extrem niedrige Temperaturen ohne sichtbare

Winterphänomene.

Alle reden vom Wetter - Wir nicht, textete die Bahn: Der Winter konnte sich als vierte Jahreszeit zwar als

weisse Romantikzeit etablieren, nicht aber als Zeit, die der Vorsorge bedarf.

Trotz vieler Appelle und Aktionen konnte sich so eine Winterfahrkultur in den Köpfen der meisten

Autofahrer nicht verfestigen. Trotz Mahnungen und Abmahnungen. Warum Vorsorge treffen, wenn heute

weder Vorräte angelegt, noch eingekocht, noch Holz gehackt oder Kohle eingelagert werden muß?

Wie sonst ist es zu erklären, daß es keine nennenswerte Steigerung in der Um und Ausrüstungsquote

mehr gibt?

Vielleicht auch, weil die Tendenz zum Ganzjahresreifen ebenfalls zum Imageverlust des Winterreifens in

der automobilen Gesellschaft beigetragen hat. Aber nicht entscheidend.

Obwohl seit den neunziger Jahren besonders mit neuen Gummimischungen beachtliche Erfolge erzielt

werden und durch die Umrüstung von O - wie Oktober bis O - wie Ostern aus dem Winterreifen ein

Frühjahr – Herbst - Winter Reifen wurde.

Spezielle kältetaugliche Mischungen mit hohem Silica- oder Naturkautschukanteil stellten bereits im

Frühjahr und auf herbstlichen Straßen mit nasser Oberfläche einen möglichst griffigen Kontakt zwischen

Gummi und Asphalt her.

Immer schneller und immer differenzierter – analog dem Angebot der Automobile, die sich in immer mehr

Sparten ausdifferenzierten - konnte mit den Winterreifen gefahren werden. Die Realität sieht aber anders

aus:

LKW mit Sommerreifen verursachten z.B 2001/ 2002/ einen kompletten Zusammenbruch des Verkehrs

auf der A9 in Bayern. Die Einsatzberichte der Rettungsorganisationen lesen sich wie ein

Katastrophenbericht nach einem Anschlag oder einem Flugzeugabsturz: Dabei waren lediglich

Unachtsamkeit und Fehlverhalten von zwei LKW- Fahrern für die totale Blockade verantwortlich.

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Jedes Jahr tüfteln die Ingenieure nun für ihre neuen Produkte abgewandelte Rezepte aus, auch um bei

den alljährlichen Winterreifentests der Automobilclubs die Konkurrenz hinter sich zu lassen. Daher

werden die Gummi-Rezepte und Profilschnitte, ähnlich wie bei Coca Cola, wie ein Staatsgeheimnis

gehütet. Leider wird in diesem Konkurrenzkampf oft die gesamtgesellschaftliche Aufgabe der Werbung

für die Winterreifenfahrkultur überhaupt übersehen. Erst mit der Initiative Pro- Winterreifen gibt es eine

solche Möglichkeit. Doch diese Ausnahme bestätigt hier nur die Regel unter den von kurzfristigen

Marketingstrategien dominierten Unternehmensphilosophien.

Deshalb ignoriert der Verbraucher den Leitsatz:

Die Gefahr macht die Natur, das Risiko (Möglichkeit eines Schadens) der Mensch.

Die Winter(reifen) fahrkultur blieb auf der Strecke. Fassen wir die Gründe nochmals zusammen:

Der nackte und in der Kälte nicht überlebensfähige Mensch entkoppelt sich dank guter Bekleidung,

reichlich verfügbarer Energie und zivilisierten Lebenswandels von den Naturphänomenen.

Sein anfangs wild schlitterndes Vehikel verhält sich dank neuer Reifen im Winter zunehmend

sommerlicher.

Das Auto lullt den homo technicus wohlig mit Komfort und Geräuschlosigkeit ein.

Die virtuelle Realität moderner Autowerbung überholt die realen bei Schnee und Eis

nachvollziehbaren Leistungen ...

... bis die Naturphänomene plötzlich stärker sind, die Balance im Schnee versackt.

Vater, es wird mir eng im weiten Land;

Da wohn ich lieber unter den Lawinen.

(Wilhelm Tell 3. Aufzug, 3. Szene)

Dieser Satz führt uns direkt in die soziologische Problematik des Umgangs der automobilen Gesellschaft

mit Naturgefahren wie Schnee und Eis.

Es geht immer um ein gesellschaftliches Abwägen von Gütern und Werten im Vergleich zu Risiken. Bei

Schiller wird das Gut "Freiheit" gegen die Gefahr "Lawinen" gewogen und - wie beim Idealisten Schiller

nicht anders zu erwarten - neigt sich die Waagschale zu Gunsten der Freiheit.

Doch dieses Abwägen findet nicht nur in grossen, theatralisch wirksamen Momenten statt, sondern ist

auch ein Bestandteil des täglichen Lebens. Wenn Sie es eilig haben und noch schnell die Strasse

überqueren, nehmen Sie auch oft Risiken auf sich. Manchmal, aber nicht immer, sind diese unkalkuliert

oder unkontrolliert.

Ein Beispiel: Der Bauer in Bangladesh ist sich der Überschwemmungsgefahr wohl bewusst, baut aber -

mangels Alternativen - dort an, wo er sich zumindest für dieses Jahr eine Ernte erhofft.

Damit sind wir beim Grundproblem des Umganges mit Gefahren, insbesondere deren Akzeptanz. Diese

hängt vor allem von den Alternativen ab über die wir verfügen, um ein bestimmtes Ziel zu erreichen. Beim

Überqueren der Strasse schätzen wir die Situation ein. Wir akzeptieren ein grösseres Risiko, wenn wir

stark unter Druck sind, aber es gibt für uns eine klare Grenze. Diese Grenze - die Akzeptanz - ist variabel,

also abhängig von den Folgen, und zwar sowohl vom Eintreffen des Risikofalles, als auch vom Nicht-

Erreichen des Zieles. Handelt es sich nur um ein einfaches Zuspätkommen, gehen wir keine

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nennenswerten Risiken ein. Geht es aber um ein hohes Gut - zum Beispiel die Freiheit - so sind wir, wie

eingangs gesagt, sogar bereit, unser Leben dafür zu riskieren. Somit gibt es keine allgemein gültige

Regel, welches Risiko tragbar ist. Dies führt zu einem weiteren wichtigen Punkt beim Umgang mit den

Gefahren, nämlich: Der Kenntnis der Gefahr und der Einschätzung der eigenen Fähigkeiten, mit dieser

Gefahr umzugehen. Mit dem Verkehr sind wir vertraut und wir glauben, uns und unsere Fähigkeiten zu

kennen. Doch wir werden getäuscht: Es ist warm und wir rollen, bis plötzlich gelenkt, gebremst oder auch

geklettert werden muß und bei Glätte nichts mehr geht.

Wenn etwas passiert, beruht es oft auf einer Fehleinschätzung eigener Fähigkeiten und weniger auf der

Bereitschaft, ein Risiko einzugehen, bei dem man sich einer nicht beeinflussbaren Situation aussetzt.

Doch da viele das Risiko nicht kennen und technisch von Allrad und ESP verwöhnt ihre Fähigkeiten

überschätzen, kommt das Überschreiten der Grenzen katastrophal plötzlich. Der sichere Quattro

schlitterte wider Erwarten und Werbeversprechen in die höchste Prämienstufe. Dann kommt im besten

Fall der AvD oder das rote Kreuz, um den Wagen wieder flott zu machen oder mit Decken und warmem

Tee. Neue Risikokultur.

Ein schöner Begriff ! Mit Spielraum für Interpretation. Die Gefahr macht die Natur, das Risiko (Möglichkeit

eines Schadens) der Mensch. Offenbar muss sich die Menschheit auch zu Beginn des 3. Jahrtausends

trotz andauernden gesellschaftlichen Fortschritts und trotz ständiger Entwicklung neuer Technologien

immer noch eines eingestehen: Das mögliche Scheitern an der Natur und das Scheitern des

gesellschaftlichen Umgangs mit Natur (vgl. Dombrowsky 2001: 229). Ohne Beschränkung der Nutzung

kann die Höhe eines Schadens nicht verringert werden. Ob dies durch freiwillige Massnahmen oder

Vorschriften erreicht wird, ist aber nicht nur eine Frage der politischen Grundeinstellung, die Maßnahme

braucht Anschluß an die automobile Gesellschaft, um Wirkung zu erzielen.

Wir können unseren alltäglichen Umgang mit Gefahren und Risiken fürs erste wie folgt zusammenfassen:

- Der Umgang mit Gefahren bildet einen Bestandteil des täglichen Lebens.

- Es wird immer zwischen Chance und Risiko abgewogen, weshalb sich kein

allgemeingültiges Niveau für ein akzeptiertes Risiko festlegen lässt.

- Die Einschätzung von Chancen und Risiken beruht auf der Täuschung durch Technik

und Komfort.

- Unbekannte und nicht durch unser Verhalten beeinflussbare Gefahren werden

abgelehnt.

Doch mit dieser ersten Bestandsaufnahme können wir nicht zufrieden sein. Es bleibt die Frage offen: Wie

läßt sich dieser Habitus der Akteure der automobilen Gesellschaft und damit das Handeln der Akteure der

automobilen Gesellschaft wissenschaftlich, verkehrssoziologisch erklären?

Es ist hier nicht der Raum, die wissenschaftliche Diskussion über die Unterschiedlichen Methoden und

Theorien der gesellschaftlichen Risikowahrnehmung abzubilden.

Die sehr umfangreiche, sämtliche Herkunftslinien aufzeigende Dissertation von Frau Dr. Tina Plapp, die

am Lehrstuhl für Versicherungswirtschaft in Karlsruhe forscht, und die ich zunächst persönlich befragt

und dann deren Arbeit ich primär heran gezogen habe, bietet für an diesen Fragen interessierten

Akademikern eine ausgezeichneten Zugang zu diesem Forschungsfeld.

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Ihre Forschungen, die sich versicherungstypisch meist auf die Naturkatastrophen durch Sturm, Hagel,

Überschwemmungen beziehen, lassen allerdings nur mit etwas gutem Willen direkt auf das Feld der

Winterrisikokultur der Sommereifenfahrer heranziehen.

Entscheidungen im Risikomanagement für eine bestimmte Strategie sind durch die Risikowahrnehmung

geprägt und beruhen auf mehr oder weniger kollektiven Risikourteilen (vgl. Tobin/Montz 1997: 281). Dies

gilt auch für Entscheidungen von Experten (vgl. Rowe/Wright 2001). Insofern haben Risikowahrnehmung

und -bewertung auch Bedeutung für das Risikomanagement.

Sie untermauern den Bedarf für ein grundsätzlich anderes Verständnis von „Risk- Management“,

transportiert möglicherweise auch durch den DVR und die Initiative Pro- Winterreifen !

Die Auseinandersetzung innerhalb der deutschen Soziologie mit der Risikogesellschaft (Beck 1986) und

mit der theoretisch fruchtbaren Begriffsbestimmung durch Luhmanns Gegensatzpaar Risiko / Gefahr

(Luhmann, 1991, 1993) gibt leider, wie Plapp anmerkt und ich bestätigen kann, bis dato so gut wie keine

Anknüpfungspunkte zur Anleitung empirischer Forschungen, weil sie sich dem Thema Risiko auf einer zu

sehr abstrakten Ebene annähert. Risiko ist als Begriff und Konzept eben noch ein recht junges Thema für

die Soziologie in Deutschland. Ulrich Beck war mit seinem Buch Risikogesellschaft (1986) zwar nicht der

der erste, der sich sozialwissenschaftlich der Herausforderung Risiko stellte. Die Verkehrssoziologie der

ersten Stunde hatte bereits auf das gesellschaftliche Phänomen des Risk-seeking in den sechziger

Jahren hingewiesen. In der Gesellschaftstheorie hat der Risikobegriff inzwischen aber eine steile Karriere

erfahren als der neuralgische Punkt, an dem sich die Grunderfahrungen und Probleme einer hoch

industrialisierten und in vielen Bereichen verwissenschaftlichten Gesellschaft (Bechmann 1993: 238)

kristallisieren. „Zur Wahrnehmung von Risiken durch die Gesellschaft und durch verschiedene soziale

Gruppen war v.a. in der amerikanischen sozialpsychologischen Forschung empirisch seit den 70er und

80er Jahren gearbeitet worden, wobei hier an erster Stelle die Gruppe um Paul Slovic zu nennen ist (vgl.

Fischoff/ Slovic/ Lichtenstein 1979, Slovic 1987, zusammengefasst Slovic 2000). Etwas mehr theoretisch-

konzeptionell orientiert ist der ebenfalls aus den USA stammende kulturtheoretische Ansatz der

Kulturanthropologin Mary Douglas und des Politikwissenschaftlers Aaron Wildavsky zur

Risikowahrnehmung (vgl. Douglas/ Wildavsky 1983).“

Risikowahrnehmungen zu erforschen hat aber durchaus einen praktischen Anwendungsbezug für

Entscheidungen und damit zum Handeln gegenüber Risiken.

„Denn man kann davon ausgehen, dass die Art der Wahrnehmung eines Risikos neben anderen

Einflussgrößen auch das Verhalten gegenüber Risiken mitbestimmt. Wahrnehmung und Bewertung

bilden eine Grundlage für die Entscheidung, ob man z.B. Vorsorgemaßnahmen trifft, dass der möglicher

Schaden nicht so hoch ausfällt, und sich um Versicherungsschutz im Schadenfall bemüht (vgl. Beck

1984), oder sich für den Fall des Falls in einer Art sozialstaatlichen Erwartungshaltung (vgl. Geipel 1993:

116) auf staatliche Hilfeleistung z.B. in Form von Soforthilfeprogrammen verlässt.„

Die Bedeutung von Risikowahrnehmung und -bewertung weist aber – dies ist mir besonders wichtig zu

erwähnen - auch über die fälschlich angenommene Ebene individueller Entscheidungen hinaus. Das

Verweigern der Autofahrer, sich der Winterreifenfahrkultur anzuvertrauen, ist also keine nur juristisch zu

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behandelnde Einzelentscheidung, sondern trägt – wie ich nun aufzeigen werde - den gesellschaftlichen

Strukturen der automobilen Gesellschaft Rechnung.

Risiko- Risikowahrnehmung und Winter–Risikokultur

Der Begriff Risiko ist in aller Munde, ja, wir leben sogar in der Risikogesellschaft (Beck 1986). Egal ob in

konstruktivistischer oder objektivistisch-realistischer Perspektive: Risiko ist zum Leitbegriff avanciert, der

die öffentlichen Diskussionen über die Grundbedingungen unser individuellen und gesellschaftlichen

Existenz prägt. (Holzheu/Wiedemann 1993:

Unter Risikowahrnehmung und -bewertung wird einfach gesprochen der alltagsweltliche Prozess

verstanden, mit dem Menschen ohne die Rückgriffsmöglichkeit auf lange Datenreihen und exakte

Rechenmodelle ganz persönlich Risiken einschätzen. Risikowahrnehmung ist darum das oft, wie Frau Dr.

Plapp schreibt “intuitive oder rein erfahrungsbasierte, unstrukturierte Wahrnehmen von Erfolgs- und

Misserfolgsmöglichkeiten und von möglichen Zusammenhängen zwischen Handlungen und Folgen

(Banse/Bechmann 1998: 11). Simpel gesprochen: Wer sich stark fühlt, schätzt Risiken geringer und

anders ein, als der Schwache. Also: Wer sich für einen guten Fahrer hält, geht größere Risiken ein.

Hier wird das Paradoxon deutlich: Ein wirklich guter, erfahrener Fahrer kauft Winterreifen und fährt

vorsichtig, der vermeintlich Gute kauft keine und gibt trotzdem Gas.

Lassen Sie mich zunächst ihre Aufmerksamkeit auf den Begriff des Risikos lenken:

Im Taschen- Lexikon von Bertelsmann findet sich folgender Eintrag:

Risiko [ (...), ital.]: 1. allg.: Gefahr, Wagnis; 2.: Wirtschaft: die Gefahr, ein angestrebtes Ziel nicht zu

erreichen, im betrieblichen Bereich Verlust zu erleiden. Ein Risiko wohnt jeder unternehmerischen

Tätigkeit inne, kann aber durch geeignete Maßnahmen (...) verringert werden.? (Bertelsmann Lexikon-

Institut 1992 Bd. 13: 171)

Dieser Lexikoneintrag enthält die wesentlichen Grundzüge des Risikobegriffs: den Verweis auf die

Alltagssprache und den Verweis auf die Herkunft aus der Ökonomie mit dem Hinweis auf die Möglichkeit

der Risikosteuerung.

Allerdings hat der betriebswirtschaftliche Fachbegriff vom Herkunftsbereich des Handels- und

Versicherungswesens weit in andere Bereiche gewirkt und ist dort ebenfalls zum Bestandteil des

jeweiligen Fachjargons geworden: u.a. in der Volkswirtschaft, in verschiedensten technischen Disziplinen

(Ingenieure), der Toxikologie, der Medizin und im Verkehr und Umgang mit Technik. Trotz fachlicher

Unterschiede haben die genannten Bereiche zwei Dinge gemeinsam:

1. alle gehen von der objektiven Existenz von Risiken in der Realität aus und

2. schätzen Risiko rechnerisch-quantitativ ab (vgl. hierzu auch Renn 1992: 56f).

Diese Arbeit bezieht sich vom Grundverständnis mehr auf die unter 1. kurz Gefahr, Wagnis genannte

Perspektive, da sie Menschen in der Alltagssprache benutzen und damit auch zur Grundlage ihres

alltäglichen Handelns machen. Denn es geht um das Risiko, das Menschen mit Situationen, Objekten

oder Handlungen verbinden, aus denen ein möglicher Schaden, aber auch Nutzen folgen kann.

Abschließend ist zur Auffassung von Risiko, die in der Risikoformel zum Ausdruck kommt, noch kritisch

anzumerken, dass die Projektion der Vergangenheit (aufgetretener Fälle) in die Zukunft eigentlich eine

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statische Auffassung der Realität darstellt, die die Dynamik der Realität, ihren Wandel, nur schwer zu

integrieren vermag (vgl. Tierney 1999: 228).

Die sozialwissenschaftliche Risikoforschung setzte, so Dr. Plapp, dagegen an einem Auseinanderklaffen

von mathematisch-technischen Risikoanalysen und der Risikowahrnehmung in der Öffentlichkeit an:

„Nicht die Ergebnisse von Risikoanalysen, sondern die subjektive, gesellschaftlich und kulturell

vermittelte, konstruierte Wahrnehmung der Welt bildet - auch und gerade für die Wahrnehmung von

Risiken - den handlungsrelevanten Kontext (vgl. Renn 1989: 167f). Daher muss untersucht werden, wie

Menschen alltäglich und im Zusammenleben mit anderen Menschen ihre Wirklichkeit samt den Risiken

darin konstruieren und ihnen Handlungsrelevanz zuweisen. Diese durch die sozialwissenschaftliche

Risikoforschung durchgesetzte Erkenntnis ist mit einem Wechsel der Wirklichkeitsauffassung verbunden.

Mit der Akzentverschiebung auf den Menschen als einen aktiv an der Wahrnehmung beteiligten Akteur

nimmt die neuere (sozial)psychologische und sozialwissenschaftliche Forschung zur Risikowahrnehmung

eine konstruktivistische Wirklichkeitsperspektive innerhalb eines realistischen Paradigmas ein: Es gibt da

draußen in der Welt zwar Risiken, aber wir sehen die Wirklichkeit durch eine Art selbst errichteten,

konstruierten Filter, den wir durch unser soziales Umfeld erlernen. Nach dieser konstruierten Sicht richten

wir unser Handeln und da individuelle Konstruktionsprozesse durch Kommunikation immer sozial, d.h.

auch kulturell geprägt und vermittelt sind, ist Risiko ein soziales Konstrukt. Der Kommunikation - was wird

wie kommuniziert und was nicht - kommt hierbei eine entscheidende Rolle zu (vgl. Renn 1995: 29).“

Dies bedeutet für unser Thema: Erst die Kommunikation läßt eine „Winterrisikokultur“ entstehen.

Solche Antworten auf die eingangs aufgeworfenen Fragen sind also nicht nur wichtig, weil sie

Grundlagenforschung darstellen und damit zur Wissensvermehrung beitragen, sondern aus ihnen

ergeben sich Strategien - das Risikomanagement. An seiner Entwicklung und Umsetzung sind

Entscheidungsträger, Politiker oder Wissenschaftler bis heute in unterschiedlichen Rollen und Funktionen

beteiligt. Die Kommunikation über Risiken, was wann von wem kommuniziert wird, ist auch im Bereich

der Prävention wichtig. Doch damit effektive Maßnahmen zur Risikokommunikation entwickelt werden

können, ist es unumgänglich auf die Risikowahrnehmung der „Zielgruppe“ zurückgreifen zu können. Aber

hier fehlt es noch an Erkenntnissen.

Lassen Sie mich eine weitere wichtige Komponente einführen: Die in unserer Gesellschaft immer mehr

Platz greifende Risiko-Politik. Sie umschreibt gewollte Einflüsse auf das Verhalten bestimmter Gruppen.

Risiko-Politik wird etwa von Castor-Gegnern gemacht, aber auch von einer Regierung, die dazu gangbare

Auswege sucht. Sie führt auch zur Entwicklung risikopolitischer Mittel wie etwa neue

Versicherungsprodukte, aber auch präventive Gesetze und Verordnungen. Dabei sind das Wissen und

die Sicht der potentiellen Betroffenen bzw. Kunden von Vorteil. Darum sollten die Marktforschungsdaten

der Reifenhersteller der Forschung zugänglich gemacht und die Motive der Autofahrer stärker erforscht

werden.

Betrachtet man die Phänomene von Risiko-Einschätzung, -Management und –Politik, bleiben Fragen

offen:

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1. Wieso erregen nur bestimmte, ausgewählte, Gefahrenarten die Aufmerksamkeit der automobilen

Gesellschaft und andere nicht?

2. Wie, d.h. auf welcher Grundlage entscheiden Autofahrer, welche Risiken sie eingehen und welche sie

vernachlässigen, wo sie doch über die Warnphänomene bewußt getäuscht werden?

Diese allgemeinen Fragen versucht bisher nur die sogennate Kulturtheorie Douglas/Wildavsky 1982: 8,

1993: 113). zu finden:

„Die grundlegenden Annahmen der Kulturtheorie (= Cultural Theory) bestehen darin, dass es

unterschiedliche Gesellschaftsformen gibt, und dass jede dieser sozialen Organisationsformen ihre

eigene selektive Sicht der gesamten Welt einschließlich der natürlichen Umgebung produziert. Diese

selektive Sicht bestimmt die Auswahl der aufmerksamkeitsrelevanten Gefahren. Mit der Zugehörigkeit zu

sozialen Institutionen bzw. Organisationsformen entscheiden - so die Annahme - wir uns also gleichzeitig

auch für die Aufmerksamkeit für bestimmte Risiken.“

Risikowahrnehmung, d.h. Risikoselektion ist also in dieser Lesart das Ergebnis sozialer

Konstruktionsprozesse und damit auch nur im Sozialgefüge zu verändern. Es wird folglich schwer

werden, die Gefahren klirrender Kälte in die warmen Wohnzimmer zu tragen. Wir werden dazu eher

drastische Bilder brauchen, als liebliche Eisbärchen.

Die bisher referierte Forschungsentwicklung eint, daß sie auch als wissenschaftliche Reaktion auf die

kontroverse öffentliche Diskussion zu Risiken aus Technik und Umwelt entstanden ist. Eine zweite

Gemeinsamkeit dieser Ansätze besteht darin, dass sie die Vielseitigkeit und Unterschiedlichkeit von

Risikowahrnehmungen erklären möchten. In der sozialwissenschaftlichen Risikodebatte lassen sich , so

Plapp zusammenfassend, „zwei Sichtweisen auf die Wirklichkeit ausmachen. So wird sowohl die

objektivistisch-realistische Perspektive (es gibt Risiken und man kann sie objektiv erfassen) vertreten,

z.B. bei Beck, als auch die relativistisch-konstruktivistische Sichtweise (Risiken als solche sind nicht

vorhanden, sondern werden bestimmten Vorgänge oder Gefahren zugeschrieben und damit zu Risiken

erklärt), z.B. bei Luhmann (1991, 1993) oder Japp (1996, 2000). Beide Sichtweisen, die

konstruktivistische wie die realistische, gehen davon aus, dass Risiken mehr und mehr ein

Begleitumstand säkularisierter, moderner, komplexer und hochtechnisierter Gesellschaften sind und dass

Risiken zugenommen haben. Risiko ist daher in beiden Sichtweisen ein gesellschaftlich geschaffenes

Produkt. Die konstruktivistische Sichtweise geht davon aus, dass Menschen früher faktisch sehr viel mehr

Bedrohungen ausgesetzt waren als heute, etwa durch Krankheiten oder aus der natürlichen Umgebung.

Heute werden allerdings sehr viel mehr Bedrohungen als Risiken wahrgenommen (vgl. Wiedemann 1993:

45). Dieser Befund spiegelt nicht nur ein größer gewordenes Bedürfnis nach Sicherheit wieder. Er zeigt

auch, dass mehr Entwicklungen oder Situationen als Problemlagen begriffen werden, bei denen man sich

entscheiden muss. Risiken betreffen immer die unbekannte, offene Zukunft und haben daher im Kern

immer etwas mit Entscheidungen zu tun (vgl. Renn 1992: 56, Gloede 1996: 34, Stallings 1997). In

konstruktivistischer Lesart stellt sich die Wahrnehmung der Zunahme von Risiken folglich auch als eine

Zunahme von Entscheidungsmöglichkeiten dar. Insofern ist sie ein Ergebnis der modernen

gesellschaftlichen Entwicklung hin zu mehr (individueller) Freiheit. In der realistischen Sichtweise wird es

dagegen als Faktum betrachtet, dass bedingt durch die Entwicklung hin zu komplexen, vernetzten,

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technisierten Gesellschaften selbst neue Risiken geschaffen worden sind (etwa durch Technik,

Ernährung, Freizeitaktivitäten), die zu den alten Risiken aus der natürlichen Umgebung

(Naturkatastrophen und Krankheiten) hinzugekommen sind. Gleichwohl werden gerade auch die

vermeintlich alten, durch zahlreiche Schutzmaßnahmen eingegrenzten Risiken aus extremen

Naturereignissen in den letzten Jahrzehnten neu entdeckt, da in technisierten und durch viele

Interdependenzen geprägten Gesellschaften immer mehr Potential für katastrophale Schäden auch

infolge von Naturereignissen entstanden ist.“

Verkehrs-Soziologisch betrachtet ist Risikowahrnehmung ( Schnee und Eis auf der Straße !!) und –

bewertung (Winterreifen notwendig) ein Prozess der Bedeutungszuschreibung, in dem ein Objekt, eine

Handlung oder eine Situation mit dem Attribut Risiko versehen wird. Das zweite Paradoxon wird sichtbar:

Kommuniziert wird Sicherheit und Souveränität, nicht Risiko - die von automobilen Strukturen verursachte

Dynamik führt zur gegenwärtigen gefährlichen WinterRisikokultur! Das Bild zeigt den souveränen Reifen,

der dem Autofahrer Freiräume eröffnet. Doch brauchen würden wir Bilder von Trümmern und Blaulicht die

sagen: Mit Winterreifen wäre das nicht passiert. „No belt – no excuse“ textet die britische Sicherheitsgurt-

Kampagne, „kein Winterreifen – kein pardon“ müßte es für das Hervorrufen von Winterfahrkultur heißen.

Das kann auch bedeuten, daß Versicherungen den Einsatz von Winterreifen mit Rabatten honorieren

sollten...

Daß das Winterbewußtsein von Staat zu Staat unterschiedlich ist, mag an den Rahmenbedingungen

liegen:

In Kanada gibt es Grundregeln, die man im Winter unbedingt beachten sollte – sie können Ihr Leben

retten.

Legen Sie sich, sobald es kühler wird, folgende Dinge ins Auto (ins Innere - nicht in den Kofferraum)!

Zusätzliche warme Kleidung, Streichhölzer bzw. Feuerzeug, dicke Kerzen, eine Wolldecke pro

Sitzreihe, Handschuhe, Taschenlampe, energiereiche Snacks wie Müsli-Riegel o.ä.

Wenn Sie im Winter durch Panne oder Unfall irgendwo außerhalb liegenbleiben, rettet sie diese

Ausrüstung vorm Erfrieren. Es hat schon Fälle gegeben, da sind Leute ganz nah der Stadt

liegengeblieben und erfroren bis Hilfe kam.

In der Schweiz gibt es die höchsten Zulassungszahlen für Allrad-Automobile.

In Skandinavien sind Steckdosen an Parkplätzen für Standheizungen vorgesehen.

In Australien sorgen Funk-Anlagen und Kreise mit An- und Abmeldepflicht für Rettungsnetze.

In den Alpen findet man allenthalben Notruftelefone an Paßstrassen.

Und bei uns gibt es an Steigungsstrecken wenigstens öffentlich zugängliche Kästen mit Streugut.

Fassen wir die Ergebnisse des verkehrssoziologischen Betrachtens nach unserem Streifzug durch

Wissenschaft und Alltagsverhalten zu einer einzigen These zusammen:

Es gibt noch keine Winter(reifen) fahrkultur in der automobilen Gesellschaft in Deutschland, zu

unterschiedlich, ja beinahe unüberbrückbar sind die Widerstände der automobilen Gesellschaft und der

Widerspruch zwischen Wettbewerbsvorteilen, kurzfristigen Wirtschafts- und notwendigen kulturellen

soziale Interessen sowie die individuelle Einschätzung der am Geschehen beteiligten Akteure.

Page 11: Was ist Winterfahrkultur?

Aber eine solches Winter-Bewußtsein ist dringend notwendig.

Einige Verbesserungen der „Winterrisikokultur“ und der schädlichen, uns im Winter 2001/ 2002 schon an

den Rand einer Katastrophe bringenden Sommereifenfahrerei, sind möglich:

Individuelle Anreize statt Verbote! (Warum keine ermäßigten Versicherungstarife für nachweisliche

Winterreifenutzung?)

Wirksame Kampagnen, die den Winterreifen als „Survival-„ und damit unabdingbares „Life-Style

Element“ beschreiben;

Umkehrung der Argumentationsbasis – „Kein Winterreifen – keine Entschuldigung“

Fokussierung auf Winterphänomene „Zu Reif für Grip“, „Schnee = Slalom“, „Mit Eis geschüttelt und

gerührt“, „Unter 7 – Winterreifen“, „Im Winter schnell – tot“

Denkbar sind auch Kampagnen wie „Der DVR-Winterkönig“, „St. Martin / der Nikolaus hätte Winterreifen“.

Vielleicht finden sich auch Sponsoren für Schilder „Ab hier mit Winterreifen“. Analog zur Kampagne

Schulanfang könnte über den Straßen auch zu lesen sein „Winterreifen – der Winter hat begonnen!“

Eine Anmerkung zum Schluß: Der Eisbär im Logo sollte zurück in den Zoo, denn in Deutschland gibt es

auch im Winter – zumindest in der freien Natur - keine. Und er steht für einen selbstverständlichen

Umgang mit dem Winter, ohne Hilfsmittel und große Vorsorge – sicher kein Anreiz, in Winterreifen zu

investieren.

In Deutschland gibt es viel zu viele sture, „Esel“, die im Winter mit Sommerreifen fahren, weil sie der

Winter mangels Winterfahr-Bewußtsein kalt läßt. Denen ist nur mit der Kandare beizukommen.