Aktive und Passive Sterbehilfe. Medizinische, rechtswissenschaftliche und philosophische Aspekte....

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524 MedR 2005, Heft 9 Buchbesprechungen

kommt die Zahl von jährlich ca. 900–1.000 Tötungen ohneeigenes Verlangen, die auf das Urteil von Angehörigen undÄrzten hin erfolgten, die bei diesen Tötungen von einem,,lebensunwerten und für sich belastenden Leben“ ausgin-gen.

Wenn wir auf der einen Seite die Praxis der Sterbehilfe inden Niederlanden sehen und die Umfragen nach Forderungeiner Legalisierung der aktiven Sterbehilfe in der deutschenBevölkerung ernst nehmen, auf der anderen Seite aber dasLeid schwerstkranker und sterbender Mitmenschen vermin-dern wollen, müssen wir eine gute Antwort darauf finden:Diese Antwort ist die Palliativmedizin. Palliativmedizin istin der Lage, durch eine multimodale Betreuung Leidenumfassend zu lindern. Im Vordergrund steht der Menschin seiner Ganzheitlichkeit mit physischen, psychischen undgeistig-seelischen Problemen und Nöten sowie die Achtungder Menschenwürde im Leben, Sterben und danach. In derPalliativmedizin geht es nicht um das medizinisch-technischMachbare, sondern um das medizinisch-ethisch Vertretbare. Diemoderne Palliativmedizin bietet ,,aktive Lebenshilfe“ undeine echte Alternative zur aktiven Sterbehilfe.

Vor dem Hintergrund der aktuellen Sterbehilfedebattehat der ,,Arbeitskreis Ethik“ der Deutschen Gesellschaftfür Palliativmedizin (DGP) im Jahre 2002 eine Befragungder DGP-Mitglieder (n = 730) durchgeführt. Die Auswer-tung erfolgte nach Berufsgruppen getrennt und wurde mitden Antworten einer Vergleichsgruppe von 505 Ärzten und338 Pflegenden sowie Beschäftigten aus anderen Berufenim Gesundheitsbereich außerhalb der DGP in Beziehunggesetzt. Zwar ist die Einstellung von Ärzten zu verschie-denen Formen der Sterbehilfe wiederholt auch Gegenstandvon Befragungen und Untersuchungen in Deutschland undim Ausland gewesen, doch wurde diese bisher nicht zuden Erfahrungen und Möglichkeiten palliativmedizinischerBetreuung in Beziehung gesetzt. Eine Legalisierung von ak-tiver Sterbehilfe oder medizinisch assistiertem Suizid wurdenur von 9,6 % bzw. 26 % der Ärzte und 17 % bzw. 31 % derPflegenden der DGP im Gegensatz zu 27 % bzw. 41 % der

Ärzte und 65 % bzw. 78 % der Pflegenden außerhalb derDGP befürwortet. In dieser Studie konnte erstmals gezeigtwerden, daß unabhängig von der Berufsgruppenzugehörig-keit eine Legalisierung der Euthanasie umso weniger alsnotwendig erachtet wurde, je ausgeprägter die palliativme-dizinische Erfahrung und die Kenntnis ethischer Prinzipiennach eigener Einschätzung der Befragten waren.

Im letzten Kapitel wurde die Sterbehilfe einer kritischenmedizin-ethischen Beurteilung unterzogen, wobei die gän-gigen Pro- und Contraargumente (,,Autonomie“, ,,Miss-brauch“ etc.) analysiert wurden. Unter Berücksichtigung deraktuellen Euthanasie-Praxis und ihrer Folgen muß aus me-dizinethischer Sicht aktive Sterbehilfe zurückgewiesen wer-den. Durch die neue Tötungsmentaliät infolge Legalisierungder aktiven Sterbehilfe und der sich damit zunehmend ein-schleichenden gesellschaftlichen Akzeptanz wird die mit die-ser Praxis idealisierte ,,Freiheit zum Tode“ letztlich zu einer,,Unfreiheit zum Leben“ pervertiert. Hierbei geraten zwangs-läufig mehr und mehr Menschen, die trotz psychischer oderorganischer Leiden und unheilbarer Krankheit weiterlebenoder ihre moribunden Angehörigen am Leben lassen wol-len, in einen Rechtfertigungszwang. Das Euthanasiegesetzschützt den Arzt, nicht den Patienten. Der Patient, der nichteuthanasiert werden will, ist seines Lebens nicht mehr si-cher, weshalb sich mehr und mehr Menschen in Hollandeine Verfügung (,,CredoCard“) gegen Euthanasie zulegen.Die initiale, schwache Position des Patienten, die Anlaß derganzen Euthanasiebewegung war, wird zugunsten der ge-fürchteten ,,Übermacht“ der Medizin weiter geschwächt.

Da Befragungsstudien von terminal kranken und sterben-den Patienten belegen, daß eine adäquate Symptombehand-lung und menschliche Zuwendung die Patientenwünschenach frühzeitiger Beendigung ihres ansonsten unerträglichenLebens zurückdrängt, müssen aus medizin-ethischer Sichteine flächendeckende palliativmedizinische Versorgung, aberauch Aus-, Fort- und Weiterbildung in Palliativmedizin beiStudierenden, Ärzten und Pflegenden auf das Nachhaltigstegefordert und gefördert werden.

B UC HB ES PREC HU N G EN

DOI: 10.1007/s00350-005-1471-z

Aktive und Passive Sterbehilfe. Medizinische, rechtswissen-schaftliche und philosophische Aspekte. (Reihe Neuzeit undGegenwart. Philosophie in Wissenschaft und Gesellschaft).Herausgegeben von Felix Thiele. Wilhelm Fink Verlag, München2005, 285 S., kart., € 29,90

Zu den großen Zeitfragen gehört das Thema der Hilfe beim und zumSterben. Trotz vieler Beiträge (auch in dieser Zeitschrift) ist die voneiner breiten Öffentlichkeit verfolgte Debatte der Fachleute noch nichtzu einem Abschluß gekommen. Sie geht um die ethischen und recht-lichen Grenzen des Erlaubten und des Gebotenen. Unter der kaummehr zu überblickenden Vielzahl von Publikationen gehört der hieranzuzeigende Sammelband, der aus einem Symposium in Ahrweilerhervorging, zu den wertvollen Veröffentlichungen. Der Herausgeber,der das Buch so ausführlich wie eindringend einleitet, hat acht nam-hafte Autoren für das Gemeinschaftswerk gewonnen: Dieter Birnbacher,Günther Patzig, Jürgen Mittelstraß, Klaus Kutzer, Friedhelm Hufen, JeantineE. Lunshof, Hans-Ludwig Schreiber und Dietrich Kettler.

Vor dem Hintergrund der Rechtsentwicklung in den Niederlandenund Belgiens steht im Mittelpunkt das Ringen um die aktive Sterbe-hilfe: die gezielte Herbeiführung des Todes durch ärztliches Handelnunter besonderen Voraussetzungen. In dem Band zeigt sich je undje die Bereitschaft, der aktiven Sterbehilfe ein freilich eng begrenztesund überwachtes Feld zu öffnen. Die Bedenken gegen das niederländi-sche Modell treten andererseits durchaus hervor, am eindrücklichstenwohl bei Hans-Ludwig Schreiber: Die Auseinandersetzungen in den Nie-

derlanden zeigten, ,,daß die Frage der Abgrenzbarkeit hoffnungsloserZustände des Kranken von anderen schwierig wird und eine imma-nente Tendenz zur Ausweitung besteht“. Lasse man eine aktive, gezielteTötung auf Verlangen überhaupt zu, ,,entstehen damit erhebliche Ge-fahren für krankes und schwergeschädigtes Leben“, zumal im Zeichenimmer knapper werdender Ressourcen (S. 124 f.).

Die acht Aufsätze im ersten Teil des Bandes erweisen sich als um-sichtig, wohlerwogen und gewissenhaft. Freilich hätte die christlicheLehre mehr Raum verdient, denn auch diese Position gilt es nebender nicht religiös begründeten genau zu erkennen. ,,Eine liberale po-litische Kultur kann sogar von den säkularisierten Bürgern erwarten,daß sie sich an Anstrengungen beteiligen, relevante Beiträge aus derreligiösen in eine öffentlich zugängliche Sprache zu übersetzen“ (JürgenHabermas).

Ungefähr die Hälfte des Bandes bietet Dokumentationen, vor al-lem den umfänglichen Bericht der Bioethik-Kommission des LandesRheinland-Pfalz vom 23. 4. 2004: ,,Ethische, rechtliche und medizi-nische Bewertung des Spannungsverhältnisses zwischen ärztlicher Le-benserhaltungspflicht und Selbstbestimmung des Patienten“, mit einemMinderheiten-Votum (kategorische Ablehnung der ärztlich assistiertenSelbsttötung) und Sondervoten (u. a. Ablehnung der aktiven Sterbe-hilfe auch in Extremfällen). Es folgen wichtige Gerichtsentscheidun-gen, Auszüge aus dem StGB und dem BGB, schließlich die Grundsätzeder Bundesärztekammer zur ärztlichen Sterbebegleitung vom Septem-ber 1998 und vom Mai 2004. Die beigefügten Verzeichnisse sind vonNutzen.

Prof. Dr. iur. Dr. h. c. Adolf Laufs, Heidelberg

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