Deutschland zu Fluss

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Ballenstedter 1858 in einer frühen Form der Arbeitsbeschaffungsmaß- nahme selbst schufen. Lenné mach- te aus einem Obst- und Küchengar- ten eine 29 Hektar große Anlage, Ein Engländer schreibt einen Reise- führer über Münchens Geheimnis- se. Das muss man sich mal vorstel- Magdeburg Stadtansicht von Telgte Dumont-Reisetaschenbuch, vierzig Titel er- scheinen komplett überarbeitet, circa 290 Seiten mit herausnehmbarer Karte, je 14,95 Euro Braunschweig M itte lla n d k a n a l Nordhausen

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F R A N K F U R T E R A L L G E M E I N E S O N N T A G S Z E I T U N G , 2 4 . M A I 2 0 0 9 , N R . 2 1 R E I S E V 5

Hochfliegende Pläne, das Schlossfür eine Hotelfachschule mit Öko-gut zu nutzen, zerbröseln. Stadt-väter und Adelsfamilie versichernsich gegenseitig des Respekts undversuchen, einen dritten Weg desUmgangs miteinander zu finden.Das war eigentlich immer so. Vorallem Joachim Ernst Herzog vonAnhalt, der 1947 in russischer Haftin Buchenwald verhungerte, ge-nießt bei den Ballenstedtern im-mer noch hohes Ansehen. „MeinVater kümmerte sich um alles.Man könnte sagen, er war wie derLeiter eines großen Betriebes. Erachtete auch darauf, dass es den Fa-milien gut ging. Es gab nach mei-ner Meinung kein Notleiden“, erin-nerte sich seine Tochter Anna-Lui-se, die 1996 in ihren Geburtsort zu-rückkehrte und vor sechs Jahrenstarb. Im Museum haben sie einekleine Erinnerungsecke für die An-halt-Familie eingerichtet, die auchbizarre Erscheinungen des Adelsle-bens nicht unter den Teppichkehrt. Zum Beispiel befeuertePrinz Eduard in den siebziger Jah-ren den Aufschwung von Tokaier,

indem er für den ungarischenWein mit Smoking und Fliege undHarald-Juhnke-Grinsen auf einerAnzeigenseite in der „Bunten“warb: „Voltaire, Goethe und ande-re große Geister haben schon ver-sucht, einen Tokaier zu beschrei-ben. Für mich ist der vollreife Jahr-gangswein schlichtweg unbe-schreiblich.“ Und seine SchwesterAlexandra besang eine Single mitdem Titel „High Society“.

Mitten im Schloss hat heute Kul-turamtsleiterin Bettina Fügemannihr Büro. Hinter ihrem Rückenwindet sich der Arm einer Monste-ra-Zimmerpflanze zärtlich um denHals einer Lenné-Skulptur. „Wirmüssen nach vorn blicken undnicht dauernd zurück“, sagt FrauFügemann und bricht dann zu ei-ner sehr schnellen Führung durchdas Schloss auf. Nebenbei erzähltsie, dass sie in ihrer Freizeit gernLiebesromane schreibt, die sie ih-rem Mann dann vorliest: „Sie wer-den es nicht glauben, bei den eroti-schen Stellen schläft er immerein.“ Dann fliegt das lange blondeHaar voran und die Amtsleiterin

durch die Geschichte der früherenHausherren. Man merkt, dass derBau noch ein wenig groß ist fürganz heutige Ideen, aber es gibteine Askanier-Ausstellung und eineGaststätte im ehemaligen Refekto-rium. Die Schlosskirche sieht wie-der wie ein sakraler Ort aus, aller-dings fehlt der Altar. Die Ballen-stedter wollten einen multifunktio-nalen Raum für Konzerte undKongresse, und wenn doch mal einGottesdienst oder eine kirchlicheTrauung stattfinden, wird dasKreuz eben schnell hereingerollt.So praktisch liegen die Dinge inBallenstedt. Und weil man in die-sem Ruf steht, griff man auch zu,als der Sammler Heinz Stammeraus Hameln einen Ort suchte, andem er seine Sammlung von Film-projektoren, Kameras und Kinopla-katen ausstellen konnte. Nunhängt an der Barockfassade dasSchild „Cinema-Museum“ unddürfte manchem FilmhistorikerRätsel aufgeben.

Draußen blinkt der Schlossteichin einem wirklich grandiosen Parkvon Peter Joseph Lenné, den die

Ballenstedter 1858 in einer frühenForm der Arbeitsbeschaffungsmaß-nahme selbst schufen. Lenné mach-te aus einem Obst- und Küchengar-ten eine 29 Hektar große Anlage,

die von einer Wasserachse mit fünfBassins und Drachenfontäne be-stimmt wird. Wenn sonntags dieGartentouristen kommen, wird dieWassermaschine gern angeworfen.

Dann geht es vorbei an derGrablege AlbrechtS des Bären, woauf der Tafel immer noch „demWegbereiter ins deutsche Ostland“gedacht wird. Napola-Schüler wur-den hier eingeschworen. Nachdem Krieg mauerte die DDR dieGruft zu und lagerte Munition fürBetriebskampfgruppen ein. Jetzthängt die Tafel wieder, davor liegtein Kranz der Bruderschaft der As-kanier. Ballenstedter Geschichtsflö-ze. Das gilt auch für das fürstlicheTheater, das 1788 erbaut wurde,Lortzing und Liszt sah und heutezum Beispiel für Kabarettprogram-me mit dem Titel „Eine Nacht imRussenpuff“ gemietet wird. Natür-lich kommt auch das NordharzerStädtebund-Theater mit Opern-gastspielen, ergänzt Frau Füge-mann, als hätte sie die Frage schonerwartet. Ein frühklassizistischerSaal in Weiß und Gold, mit zweiRängen und einer Fürstenloge.Auch hier sanierte die Klugheitmit, und man ahnt, wie die Spieldo-se wohl ausgesehen haben muss, alsLortzing 1846 seine „Undine“ diri-gierte und schrieb: „In Ballenstedt

ging es mir gut, ich erhielt die Hälf-te der Einnahmen, siebzig Talerund einen Sack voll Lorbeeren.“

Dann stehen wir draußen, bli-cken die Allee hinab, schauen aufdas wiederaufgebaute Schlosshotelund denken ein wenig an Wilhelmvon Kügelgen, der hier Hofmalerund Kammerherr war und immervon seinem „frischen, freundli-chen, hellen Ballenstedt“ sprach.Auch wenn noch nicht alles wiederfrisch ist, die Stimmung hat sichdoch sehr aufgehellt, und so kom-men die Kügelgen-Fans und dieHarz-Wanderer, die Askanier unddie, die dauerhaft bleiben wollen.So wie ein Landwirt aus dem Nie-dersächsischen, der sich in das Ro-koko-Jagdschlösschen auf demRöhrkopf verliebte und nun unterdie schöne Kuppel zieht.

Frau Fügemann zieht es zumDichten, und wir schlendern dieKastanienallee wieder hinunter,um zum Bahnhof abzubiegen.Plötzlich ist die Gegenwart ganzaufdringlich. In den verspieltenKlinkerbau mit seinen geschwunge-nen Dächern hat die Deutsche

Bahn dicke Nägel geschlagen.Züge fahren hier schon lange kei-ne mehr, auf dem Vorplatz haltenBusse. Und der Bahnhof sieht aus,als würde er darauf warten, dassdie Harzreise als Seelenerfri-schung wieder in Mode kommt.Die Zeichen stehen nicht schlecht.

Anreise Vom Quedlinburger Bahnhof fah-ren auch Busse nach Ballenstedt (mehr un-ter www.qbus-ballenstedt.de).Übernachten Das „Schlosshotel Ballen-stedt“ wurde schon im 18. Jahrhundert fürdie Gäste des Fürstenhofes eingerichtet.Es entstand nach dem Abriss 1996/97 völ-lig neu – mit barocken Zutaten (DZ ab 109Euro). Das Hotel „Stadt Bernburg“ wurde1779 im Fachwerkstil erbaut und beher-bergte die Dresdner Künstlerfreunde vonWilhelm von Kügelgen wie Ludwig Richter,Carl Gottlieb Peschel und Ernst FerdinandOehme (DZ 70 Euro).Literatur Wilhelm von Kügelgen wurde1833 Hofmaler der kleinen Residenz Ballen-stedt. In seinen posthum erschienenen „Ju-genderinnerungen eines alten Mannes“ istsein Blick auf das Harzstädtchen dokumen-tiert. Außerdem lohnt sich das Buch „Gar-tenträume Sachsen-Anhalt – ZwischenHarz, Elbe und Saale“ (Verlag L&H, 14,80Euro). Darin stellt Ludwig Schumann dievierzig schönsten Parkanlagen vor, diezum Netzwerk „Gartenträume“ gehören(www.gartentraeume-sachsen-anhalt.de).

Für die Tasche „Man sieht nur, wasman weiß“ – unter diesem Mottopräsentierte Dumont Anfang desJahres seine neuen Reisetaschenbü-cher. Man sieht es schon, bevorman weiß, dass die Bücher kom-plett neu überarbeitet worden sind:Die Bände sind nicht mehr orange,sondern blassblau im Grundton,wer also an die Dumont-Reisebuch-reihe gewöhnt ist, greift jetzt viel-leicht erst mal daneben im Buchre-gal. Hinter dem neuen Antlitz ver-bergen sich pro Band (es gibt prak-tisch zu jeder von den Deutschenregelmäßig bereisten Destination ei-nen Führer) etwa zwanzig Prozentmehr Umfang, also mehr Informati-on. Und die kommt jetzt ein biss-chen jünger, übersichtlicher undpersönlicher daher – wobei dieHandschrift der Buchautoren im-mer schon ein besonderes Merk-mal der Dumont-Reisebücher war.Meist kann man in den Büchernauch von der großen Liebe (undmanchmal auch von der Not) derAutoren zu ihrem Land lesen.

Es gibt Weltgegenden, da ist dasDumont-Reisetaschenbuch seitJahrzehnten das Standardwerk, wiebeispielsweise die Seychellen. Neusind jetzt die „Lieblingsorte“ derRechercheure – die besonderenEmpfehlungen sind dann auch als„Mein Tipp“ gekennzeichnet undmeistens inspirierter als der, in Lis-sabon ins Goethe-Institut zu ge-hen. Es gibt Satellitenkarten, mehrKarten, noch mehr Tabellen undmehr abgesetzte Infokästen – einBlick in die Register lohnt sichmanchmal, um sicherzugehen,auch alle Informationen gefundenzu haben.

Die Essays und allgemeinen In-formationen zu den Ländern sindwie gewohnt sehr ausführlich undkenntnisreich. Und das große Extrakommt zum Schluss: Jeder Bandhat in der hinteren Umschlagklap-pe eine große Karte zum Auffalteneingeklebt.

Und so stellt sich auch bei Du-mont die Frage wie bei der rotenKonkurrenz: Wie bekommen wirdie Karte nach dem 50. Mal faltenso flach, dass sie wieder ins Buchpasst? kakaDumont-Reisetaschenbuch, vierzig Titel er-scheinen komplett überarbeitet, circa 290Seiten mit herausnehmbarer Karte, je14,95 Euro

Ein Engländer schreibt einen Reise-führer über Münchens Geheimnis-se. Das muss man sich mal vorstel-

len: Duncan J.D. Smith lässt sichin der Stadt einen Obatzn erklären,verarbeitet das Gelernte in einemBuch und lässt sein Werk ins Deut-sche übersetzen. „Nur in Mün-chen“ soll dabei keine ethnolo-gisch-parodistische Stereotypen-sammlung sein, sondern ein gut-und ernstgemeinter Tippgeber.Das Ergebnis wäre gar nicht mal soverkehrt, hätte sich der Autor aufseine Funde konzentriert und sichseine eingestreuten Stammtisch-weisheiten wie „Obwohl das multi-kulturelle Miteinander in einigenTeilen Europas letztlich als geschei-tert angesehen werden muss . . .“oder „Leider haben nur sehr weni-ge Deutsche ein gutes Verhältnis zuihren türkischen Nachbarn“ ge-spart. So bleibt das Buch hinter sei-nen Möglichkeiten. Oder wie eindarin Porträtierter, nämlich KarlValentin, sagen würde: „Kunstkommt von können, nicht von wol-len, sonst müsste es ja Wunst hei-ßen.“ mwitDuncan J.D. Smith: „Nur in München“. Ver-lag Christian Brandstätter, 232 Seiten,19,95 Euro

Für den Tisch Spannender undweitaus weniger anstrengend als

Deutschland zu Fuß scheintDeutschland zu Fluss zu sein. Querdurch die Nation auf Gewässern,Kanälen, Bächen, Seen, um dieLandschaft aus der Paddelperspekti-ve zu entdecken. Dazu dient dasBuch „Deutschland zu Fluss“, dasfünfzig Strecken vorschlägt.

Die Fulda, der Spreewald, dieMosel, der Neckar, die Diemel undund und . . . eine schöne und kom-plette Auflistung von Wasserwan-dertouren mit Rahmenprogramm.Mit oder ohne Kultur, mit oderohne Hotels, mit oder ohne Cam-ping, für Anfänger oder für Kajak-experten, für denjenigen, der nurein paar Stunden Zeit hat, und fürdenjenigen, der mehrere Tage un-terwegs sein will. In diesem Buchfinden sich alle notwendigen De-tails, um Wasserwandertouren zuplanen, zu organisieren und durch-zuführen. Nur die Plastiktüte darfman nicht vergessen, um das Buchvor dem Wasser zu schützen! eggMichael Hennemann: „Deutschland zuFluss. Die 50 schönsten Kanurouten vonList bis Oberstdorf und Selfkant bis Gör-litz“. Bruckmann 2009, 144 Seiten, 29,95Euro

Für manche Abenteuer genügenVorstellung und Einbildung. DieVorstellung zum Beispiel, sichnachts in einem Schneesturm beiminus dreißig Grad auf einem Glet-scher zu befinden. Und die Einbil-dung, plötzlich Carbon-Goretx-Aluminium-Produkte besitzen zumüssen, die nur Extrembergsteigerbenötigen: ein Zweipersonen-Expe-ditionszelt (3100 Gramm), einenPropangaskocher (68 Gramm),eine Stirnlampe (48 Gramm) undeinen Daunenschlafsack, der bis mi-nus vierzig Grad warm hält (1620Gramm).

Solche Artikel versammelt das„Globetrotter Handbuch 2009“(920 Gramm), das nun erstmals (zu-sätzlich zur Paperbackausgabe) in li-mitierter Auflage gebunden erschie-nen ist. Ein Katalog in Buchformalso, mit 721 Seiten, die Sehnsüchteschüren und Wünsche nach – fürdie Mehrheit der Menschheit – völ-lig überflüssigen Produkten sugge-rieren. Und so kommt man nach ei-nem langen Bürotag nach Hause,durchblättert in Ermangelung ei-nes Naturabenteuers das „Globe-trotter Handbuch“, träumt ein biss-chen und bestellt dann – man kannja nie wissen – vielleicht doch nochdie wasserdichten Hochtourenstie-fel (1860 Gramm). asl„Globetrotter Handbuch 2009“, gebundeneAusgabe, 721 Seiten, 4 Euro Schutzgebühr

An den beiden stillgelegten Bahnhöfen in Ballenstedt fahren heute keine Züge mehr ein. „Ballenstedt West“ wird noch von Bussen angefahren, in „Ballenstedt Ost“ wartet man heute nur noch auf den Sonnenuntergang.

NEUE REISEBÜCHER

Stadtansicht von Telgte Abb. aus

Hennemann, „Deutschland zu Fluss“, Bruckmann-Verlag

HalberstadtHalberstadt

BraunschweigBraunschweig

THÜRINGENTHÜRINGEN

NIEDER-NIEDER-SACHSENSACHSEN MagdeburgMagdeburg

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QuedlinburgQuedlinburg

NordhausenNordhausen

WernigerodeWernigerode

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H A R ZH A R Z Rappbode-

Stausee

Elbe

Ballenstedt

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