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Universität Duisburg – Essen
Fachbereich Bildungswissenschaften
Masterthesis im Studiengang
Soziale Arbeit: Beratung und Management
vorgelegt von
Caroline Häußler
Die Entstehung und Dynamik von Widerständen in
organisationalen Veränderungsprozessen:
Ein Blickwinkel aus chaostheoretischer, konstruktivistischer und
systemischer Perspektive
Erstgutachter: Prof. Dr. Wolfgang Stark
Zweitgutachter: Dr. Hans-Jürgen Knorn
Bearbeitungszeit: 05.06.2008 – 18.09.2008
Caroline Häußler - Hohenstaufenstrasse 19 - 47058 Duisburg
Matrikelnummer 0122954700 carohaeusler@yahoo.de
Gliederung 1 Einleitung
1.1 Einführung in die Thematik 1.2 Inhalt und Zielsetzung der Arbeit
2 Veränderungen in Organisationen
2.1 Was bedeutet Change Management 2.2 Widerstand im Change Management
3 Die Theorie komplexer Systeme
3.1 Chaos und Ordnung 3.2 Selbstorganisation in komplexen Systemen 3.3 Das menschliche Gehirn als ein selbstorganisierendes System
4 Der soziale Konstruktivismus 4.1 Die Grundannahmen des sozialen Konstruktivismus 4.2 Die Wirklichkeit unserer Alltagswelt 4.3 Die Bedeutung der Wirklichkeit unserer Alltagswelt im Arbeitsleben 4.4 Die menschliche Persönlichkeit und ihr Einfluss auf den Umgang mit
Veränderungen 4.4.1 Die Entstehung der menschlichen Persönlichkeit aus
konstruktivistischer Perspektive 44.2 Persönlichkeitskonstrukte und ihr Einfluss auf die
Veränderungsbereitschaft von Mitarbeitern 4.4.2.1 Kontrollüberzeugung 4.4.2.2 Ambiguitätstoleranz 4.4.2.3 Offenheit für neue Erfahrungen
4.4.3 Der individuelle Umgang mit Veränderungen 5 Systemtheorie
5.1 System und Umwelt 5.2 Autopoiesis und Selbstorganisation 5.3 Strukturelle Kopplung 5.4 Kommunikation 5.5 Personen als Elemente sozialer Systeme
6 Das Team und seine Bedeutung für die Entstehung von Widerstand
6.1 Die Entstehung einer Gruppe 6.2 Teamrollen und Teamnormen 6.3 Der gruppendynamische Raum
6.3.1 Die Dimension der Zugehörigkeit 6.3.2 Die Dimension der Macht 6.3.3 Die Dimension der Intimität
6.4 Gruppendynamik im Veränderungsmanagement
7 Management von komplexen Systemen
7.1 Management von Instabilität 7.2 Management auf der Basis von Chaostheorie und Synergetik
7.2.1 Der Stellenwert von Führung 7.2.2 Führung und Widerstand 7.2.3 Die Bewertung von Widerstand 7.2.4 Widerstand und Emotionen 7.2.5 Der Nutzen von Widerstand
7.3 Die Aufgaben von Führung im Veränderungsmanagement
8 Fazit
1 Einleitung
1.1 Einführung in die Thematik
Fast alles um uns herum verändert sich ständig. Unser Wissensstand vergrößert sich
täglich. Wir gewinnen mehr Lebenserfahrung. Wir werden älter. Unser Denken
verändert sich. Dieser stetige ist Wandel unwiderlegbar und dennoch glauben wir
weiterhin an die Beständigkeit unserer gewohnten Umgebung. Denn viele von diesen
Veränderungen an uns selbst nehmen wir überhaupt nicht wahr, da sie aufgrund ihrer
langsamen Entwicklung für uns nicht erkennbar sind. 1
Auch Organisationen befinden sich immer wieder in Veränderungsprozessen. Ihr
Durchlaufen von Wandel ist eine Notwendigkeit, um im Wettbewerb des Marktes
weiter bestehen zu können. Auffallend ist jedoch, dass diese Veränderungen immer
häufiger, immer schneller und insgesamt immer radikaler anstehen.2 Man kann sogar
sagen, dass „eine Unternehmung (...) auf Dauer nur überleben [wird; C.H.], wenn ihre
Lern- und Änderungsgeschwindigkeit mindestens so groß ist wie das Tempo der
Veränderung ihres Umfelds.“3 Es ist jedoch festzustellen, dass Organisationen,
insbesondere bei der Umsetzung von größeren Veränderungsvorhaben, häufig
scheitern. Scheitern bedeutet das Versäumnis eines Unternehmens, sich an sich
verändernden externe und interne Bedingungen anpassen zu können und steht damit in
einer engen Verbindung zu finanziellen Verlusten. Dem Thema Veränderung kommt
also eine wachsende Bedeutung zu und Unternehmen müssen sich verstärkt damit
beschäftigen, ihren Betrieb so zu gestalten, dass er ständige Veränderungsprozesse nicht
nur aushält, sondern erfolgreich vollzieht. Dies gilt nicht nur für
Wirtschaftsunternehmen, sondern ebenfalls für Unternehmen aus dem sozialen Sektor.
Wenn man allerdings von Veränderungen in einer Organisation spricht, ist festzustellen,
dass Mitarbeiter sich häufig nicht problemlos auf sich verändernde Strukturen,
Rahmenbedingungen, Prozesse oder neue Arbeitsfelder einstellen und
Veränderungsvorhaben im Unternehmen durch Widerstand blockieren. Doch die
Mitarbeiter eines Unternehmens sind für eine erfolgreiche Implementierung von
Veränderungen von großer Bedeutung, denn letztlich sind sie es, die sie umsetzen und
1 Kraus, G.; Becker-Kolle, C. [u.a.] (2004): 11 f. 2 Doppler, K.; Fuhrmann, H. (2002): 11 3 Doppler, K.; Fuhrmann, H. (2002): 19
mittragen müssen.4 Widerstand der Mitarbeiterschaft gegenüber organisationalen
Veränderungsprozessen ist eine der wesentlichen Ursachen dafür, dass Veränderungen
nicht erfolgreich vollzogen werden können. Dies hat für eine Organisation meist nicht
nur finanzielle, sondern häufig sogar existentielle Konsequenzen. Warum dieser
Widerstand entsteht, welche Dynamik er hervorbringen kann und welche Rolle
Management in diesem Zusammenhang spielt, ist Thema dieser Arbeit.
Die Motivation, mich mit dem Thema Veränderungsmanagement und Widerständen
näher zu beschäftigen, begründet sich in eigenen beruflichen Erfahrungen mit dieser
Thematik. Dadurch entstand ein persönliches Interesse an Ursachen und
Wechselwirkungen von Phänomenen, die immer wieder im Kontext organisationaler
Veränderung auftreten. Festzustellen war für mich, dass Veränderungsvorhaben nie
nahtlos verlaufen, viele Stolperfallen beinhalten, häufig schlechtgeredet werden und in
ihrem Ergebnis selten das hervorbringen, was ihr eigentliches Ziel war. Diese eigenen
Erfahrungen begründen sich allerdings auf den Non-Profit-Bereich und unterscheiden
sich somit möglicherweise von Unternehmen, die im Wirtschaftssektor tätig sind.
Beschäftigt man sich mit dem Thema Veränderungsmanagement, dann fällt auf, dass
einem in der Literatur zwar jede Menge Hilfestellung für die Durchführung von
Veränderungsmaßnahmen gegeben wird, allerdings wenig auf die Hintergründe
eingegangen wird, die die Entstehung und Dynamik von Widerstand erklären.
Die Fragen, die mich interessieren und die ich im Kontext dieser Arbeit beantworten
möchte sind: Was ist an Veränderungen so brisant, dass sie häufig nicht dorthin führen,
in welche Richtung man sie geplant hat? Warum machen Veränderungen Angst? Warum
haben viele Mitarbeiter Schwierigkeiten, sich auf Veränderungen und Neues
einzustellen? Woher kommt es, dass Menschen unterschiedlich auf Veränderungen
reagieren? Welchen Einfluss hat der Einzelne auf die Organisation in der er arbeitet?
Wie muss Management gestaltet sein, um möglichst wenig Widerstand entstehen zu
lassen? Die Beantwortung dieser Fragen bietet die Möglichkeit, die Hintergründe des
Phänomens Widerstand besser zu verstehen. Das bessere Verständnis wiederum, kann
zu einer anderen Attribution von Mitarbeiterverhalten und einem effektiveren Umgang
mit Veränderung und Widerstand beitragen.
4 Kraus, G.; Becker-Kolle, C. [u.a.]: (2004): 16 ff.
Allerdings sind Veränderungsprozesse in einem Unternehmen ein komplexes
Geschehen. Denn Organisationen sind Systeme, die aus einer Vielzahl von Perspektiven
betrachtet werden können. Und je nach Blickwinkel kommt man zu unterschiedlichen,
sich manchmal ergänzenden, wie auch manchmal widersprechenden Erklärungen über
die Strukturen und das Verhalten von Menschen in Organisationen.5 Auch in dieser
Arbeit können letztlich nur Ausschnitte bearbeitet werden. Denn um das Phänomen
Widerstand in Veränderungsprozessen zu verstehen, können unterschiedliche
Erklärungsansätze zu Rate gezogen werden. In dieser Arbeit werden die theoretische
Grundlagen der Chaostheorie, der Synergetik, des sozialen Konstruktivismus, der
Systemtheorie sowie der Gruppendynamik verwendet.
Ein besonderer Augenmerk ist darauf zu richten, dass Organisationen Systeme sind,
deren unterschiedlichen Elemente miteinander in Beziehung stehen und deren
Verknüpfung immer Wechselwirkungen hervorruft. Eine der Indikatorvariablen, die
einen großen Einfluss auf das Gesamtgefüge des Systems ausüben kann, ist der einzelne
Mitarbeiter mit seiner individuellen Persönlichkeit. Denn die Aspekte der menschlichen
Persönlichkeit bestimmen die Wahrnehmung der jeweiligen Realität eines Individuums.
Und die individuelle Wahrnehmung der Realität wiederum bestimmt das Verhalten eines
Menschen und somit auch das Verhalten eines Mitarbeiters in Zeiten des
organisationalen Wandels.
Das Verhalten des einzelnen Mitarbeiters beeinflusst jedoch ebenfalls das gesamte
organisationale System sowie seine Subsysteme und somit den Erfolg von
Veränderungsprozessen im Unternehmen. Natürlich sind Organisationen Systeme,
deren einzelnen Mitarbeiter austauschbar sind. In jeder Organisation gibt es eine eigene
Kultur und eigene Strukturen, in die jeder „Systemeinsteiger“ ungefragt integriert wird.
Wenn man jedoch Veränderungen in einem Unternehmen umsetzen möchte, benötigt
man die einzelnen Mitarbeiter, die diese mittragen. Somit ist das Individuum ein
wichtiger Anknüpfungspunkt für den Veränderungsmanager, um Widerstände im
Unternehmen besser bearbeiten zu können.
5 Malik, F. (1986): 169
1.2 Inhalt und Zielsetzung der Arbeit
Das Ziel der Arbeit ist es, nach Ursachen für die Entstehung und die Dynamik von
Widerständen gegenüber organisationalen Veränderungen zu suchen. Hierbei geht es
mir weder um das Finden der Wahrheit, noch um die Vollständigkeit des
Geschriebenen. Die erarbeiteten Ursachen bilden also eine Perspektive, die bei der
Betrachtung von Veränderungsvorhaben eingenommen werden kann. Diese Perspektive
ermöglicht es, Wandel und Widerstand als ein natürliches Phänomen zu bewerten und
durch diese Betrachtungsweise eine höhere Effektivität und Effizienz im Umgang mit
Wandel und Widerstand zu erwirken.
Der thematische Einstieg in die vorliegende Arbeit beinhaltet eine kurze Darstellung
dessen, was Veränderungsmanagement heisst und warum Veränderungen stattfinden
bzw. stattfinden müssen. Ebenfalls wird das Phänomen Widerstand gegen
Veränderungsprozesse beschrieben und es wird erläutert, welche Auswirkung
Widerstand für eine Organisation haben kann.
Um sich mit dem Thema Veränderungsmanagement und dem damit einhergehenden
Phänomen Widerstand auseinandersetzen zu können wird im Folgenden zunächst auf
die Frage eingegangen, wie Veränderung überhaupt entsteht. Denn
Veränderungsprozesse gehorchen bestimmten Gesetzmäßigkeiten. Als wissenschaftliche
Erklärungsgrundlage für diese Gesetzmäßigkeiten wird die Theorie komplexer Systeme,
die Chaostheorie genutzt. Sie beschäftigt sich mit Struktur und Chaos und ihrer
Entstehung. Ebenfalls wird das Phänomen der Selbstorganisation erklärt, wobei hier auf
die Theorie der Synergetik zurückgegriffen wird. Das Phänomen der Selbstorganisation
findet sich in den unterschiedlichsten Bereichen wieder, zu denen nicht nur
Organisationen, sondern ebenfalls der Humanbereich gehört.
Im Anschluss wird dann die Entstehung von Widerstand näher betrachtet. Da die
Ursache für Widerstand immer im Individuum zu suchen ist, ist es wichtig zu verstehen,
warum sich Menschen häufig gegen Veränderungen wehren. Hierfür liefern Prozesse
der Selbstorganisation und die Ausbildung von Einstellungs- und Verhaltensmustern im
gesellschaftlichen Kontext, theoretisch fundiert durch den sozialen Konstruktivismus,
eine wichtige Erklärungsgrundlage. Ebenfalls kann im Kontext des sozialen
Konstruktivismus dargestellt werden, wie menschliche Persönlichkeit entsteht und wie
verschiedene Persönlichkeitskonzepte Einfluss auf den Umgang mit
Veränderungsprozessen nehmen können.
Da jedoch die einzelne Person niemals losgelöst aus dem organisationalen Kontext
betrachtet werden kann, wird im nachfolgenden Kapitel darauf eingegangen, in welchem
Zusammenhang der einzelne Mitarbeiter in seiner Organisation steht. Grundlage hierfür
bildet die Systemtheorie von Luhmann, auf deren theoretischer Basis deutlich gemacht
werden kann, wie Systeme funktionieren sowie Rückkopplungsprozesse entstehen.
Ebenfalls soll in diesem Kontext dargestellt werden, welche Auswirkungen der
Widerstand einzelner Mitarbeiter für das Gesamtsystem einer Organisation haben kann
und welche Bedeutung gruppendynamische Prozesse für die Entstehung von
Widerstandstrukturen einnehmen.
Im letzten Teil der Arbeit geht es auf der Basis der dargestellten Theorien noch einmal
darum zu beleuchten, wie das Verständnis von Veränderungsmanagement und
Widerstand in Veränderungsprozessen aussehen kann. Hier wird insbesondere auf das
Management und somit das Führungsverhalten in Veränderungsprozessen eingegangen.
Der Begriff des Verständnisses bezieht sich sowohl auf den strategische Aspekt der
Organisationsplanung hinsichtlich der immer häufiger anstehenden
Veränderungsprozesse. Hier wird wieder an die Theorie komplexer Systeme angeknüpft,
auf deren Basis Unternehmensführung neue Anstöße für den Umgang mit
Veränderungen gewinnen kann. Ebenfalls bezieht sich der Begriff des Verständnisses
auf den direkten Umgang mit Widerständen innerhalb der Mitarbeiterschaft und dem
Ausbau einer Veränderungskultur im Unternehmen.
2 Veränderungen in Organisationen
„Das wirtschaftliche, politische, und soziale Umfeld ist hochgradig instabil geworden.
Da gibt es zwar neue Chancen, aber auch neue Risiken. Ein Unternehmen, das in
diesem turbulenten Umfeld überleben will, muss rasch reagieren, sich kurzfristig sich
ändernden Bedingungen anpassen können. Dies bedeutet: rasche Produktinnovation,
immer kürzer werdende Produktlebenszyklen sowie – vor- und nachgelagert –
entsprechende betriebliche Umstellungen. Der Innovationsdruck ist enorm, der
Rhythmus, mit dem Veränderungen in das organisatorische und personelle Gefüge
eingesteuert werden, atemberaubend. Geschwindigkeit wird zum strategischen
Erfolgsfaktor.“6
2.1 Was bedeutet Change Management
Ein Arbeitsbereich, der sich mit der Planung und Umsetzung von
Veränderungsprozessen in Organisationen beschäftigt, ist das Change Management.
„Change Management ist die Strategie des geplanten und systematischen Wandels, der
durch die Beeinflussung der Organisationsstruktur, Unternehmenskultur und
individuellem Verhalten zu Stande kommt, und zwar unter größtmöglicher Beteiligung
der betroffenen Arbeitnehmer. Die gewählt ganzheitliche Perspektive berücksichtigt die
Wechselwirkung zwischen Individuen, Gruppen, Organisationen, Technologien,
Umwelt, Zeit sowie die Kommunikationsmuster, Wertestrukturen,
Machtkonstellationen etc., die in der jeweiligen Organisation real existieren.“7
Change Management ist also ein Prozess, der sowohl die Planung und Umsetzung, als
auch die Begleitung von Veränderungsvorhaben in einer Organisation umfasst. Hierbei
geht es nicht nur unbedingt um Veränderungsmaßnahmen, die ein gesamtes
Unternehmen betreffen. Auch die Einführung einer neuen Software in einer einzelnen
Abteilung wird als Change-Management bezeichnet. Es gibt unterschiedliche Konzepte
wie Krisenmanagement, Turnaroundmanagement, Organisationsentwicklung oder die
Lernende Organisation, die jeweils verschiedene Arten von Veränderungsprozessen
beschreiben. Sie unterscheiden sich in den Kerndimensionen „Veränderungsbedarf
einer Organisation“ sowie „Veränderunsgbereitschaft der Mitarbeiter“. Der im Falle
eines Krisenmanagements notwendige Veränderungsbedarf einer Organisation ist
6 Doppler, K.; Lauterburg, C. (2005): 26 7 Kraus, G.; Becker-Kolle, C. [u.a.] (2004): 15
weitaus höher, als wenn es lediglich um eine Verbesserung von Prozessen, ohne eine
anstehende Sanierung geht. Die hier zu ergreifenden Maßnahmen sind gleichzeitig
aggressiver und müssen innerhalb kürzester Zeit umgesetzt werden. Je mehr Zeit
gegeben ist und je größer die Veränderungsbereitschaft der Mitarbeiter ist, desto
mitarbeiterzentrierter und intergativer kann vorgegangen werden.8
Die Gründe warum sich eine Organisation mit dem Thema Change Management
beschäftigt oder auch beschäftigen muss, sind vielfältig. Doppler beschreibt fünf
Ursachenbereiche, die Umgestaltungen in einer Organisation notwendig machen:
� Innovationssprünge in der Informatik und Telekommunikation
Mikroelektronik, Informatik und Telekommunikation sind nicht nur ein kaum mehr
wegzudenkender Teil unseres Lebens geworden, sondern sie entwickeln sich mit einer
atemberaubenden Geschwindigkeit. Dies führt zu immer schnelleren
Produktlebenszyklen, zu einer neuen Definition von Wertschöpfungsketten sowie einer
Neugestaltung von Geschäftsprozessen und somit zu immer schnelleren
Veränderungen. Zusätzlich bieten Fortschritte in der Produktionstechnologie die
Möglichkeit, immer schneller und kostengünstiger zu produzieren, was ebenfalls dazu
führt, dass Betriebe sich immer wieder umstellen müssen.
� Verknappung der Zeit
Die technologischen Entwicklungen führen zu einer großen Beschleunigung der
Geschäftsabläufe. Ebenfalls ist die Beschaffung von Informationen gleichzeitig sowohl
einfacher, als auch komplexer geworden. Durch die Möglichkeit, ohne jegliche
Zeitverzögerung mittels Internet mit der Welt kommunizieren zu können, müssen
immer mehr Informationen verarbeitet werden, muß immer schneller reagiert werden,
um mit dem Markt mithalten zu können. Bedingt durch kürzere Reaktionszeiten werden
die Planungsphasen verringert und „das wirtschaftliche, politische und soziale Umfeld
ist hochgradig instabil geworden“9.
8 Kraus, G.; Becker-Kolle, C. [u.a.] (2004): 21 ff. 9 Doppler, K.; Lauterburg, C. (2005): 26
� Interkulturelle Zusammenarbeit in einer globalen Ökonomie
Die neuen Informationstechnologien führen auch zu einer immer stärkeren Vernetzung,
die sich längst nicht mehr nur in nationalen Grenzen bewegt, sondern über die
Staatsgrenzen hinweg. Diese Verbindungen können zwar schnell aufgebaut, jedoch
ebenfalls schnell wieder gelöst werden. Auch hier müssen Organisationen in der Lage
sein, rasch zu reagieren und umzudenken. Internationale Fusionen und Kooperationen
und der Aufbau von globalen Netzwerken führen zu immer stärkeren Verflechtungen,
in denen Veränderungen immer mehr als nur einen Bereich betreffen und oftmals zu
unvorhersehbaren Entwicklungen führen.
� Verknappung der Ressourcen
Sowohl Bürgern, als auch Unternehmen stehen immer weniger Ressourcen zur
Verfügung, da viele wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklungen bezahlt werden
müssen. Beispielhaft zu nennen sind hier die Folgekosten von gesellschaftlichen
Fehlentwicklungen wie beispielsweise der Überalterung der Bevölkerung, das
Zuneigegehen natürlicher Ressourcen und der drohende Öko-Kollaps mit der
Konsequenz steigender Kosten für Rohstoffe und Entsorgung oder die kontinuierlich
sinkende Zahl der Arbeitsplätze. Dies sind nur einige Entwicklungen, die letztlich von
der Gemeinschaft mitgetragen werden müssen. Das bedeutet sowohl für den einzelnen
Bürger, als auch die Unternehmen, dass sie für die gleichen Leistungen immer weniger
Geld erhalten, gleichzeitig jedoch immer mehr Steuern zahlen müssen.
� Dramatische Steigerung der Komplexität
Bedingt durch den rasanten gesellschaftlichen und strukturellen Wandel wird Planung
immer schwieriger. Dies gilt auch für das Management einer Organisation. Durch die
Schnelllebigkeit und die immer stärkeren Vernetzungen, ist Wandel zum einen
notwendig, um weiter bestehen zu können, zum anderen entwickelt Wandel häufig eine
Eigendynamik, die in ihrer Komplexität nicht mehr vorhersehbar und somit nicht zu
steuern ist. Management ist gefordert, sich auf diese neuen Entwicklungen einzustellen.
Der Schwerpunkt von Management verlagert sich stärker auf die Führung eines
Unternehmens in den Zeiten von organisationalen Veränderungen und verlässt dafür
tendenziell mehr die Aufgabe, den Normalbetrieb aufrechtzuerhalten und zu leiten.10
In Abhängigkeit von den jeweiligen Gründen steht ebenfalls der Veränderungsumfang.
Veränderungen, die in einer Organisation vollzogen werden, können in ihrem Fokus
entweder die gesamte Organisation, bestimmte Teams oder einzelne Individuen in
ihrem jeweiligen Arbeitsbereich betreffen. Es gibt Veränderungen, die lediglich einen
geringen Raum einnehmen und eine Organisation und ihre Mitarbeiter nur punktuell
berühren. Andere wiederum gestalten sich als radikale Umbruchslawinen, die alles mit
sich reißen und darauf abzielen, einen gesamten Betrieb quasi neu zusammenzusetzen.
Man kann bei der Gestaltung von Veränderungsprozessen zwischen einer
Funktionsoptimierung einer Organisation und einem Musterwechsel unterscheiden. Bei
einer Funktionsoptimierung wird versucht, eine Leistungssteigerung durch eine
Verbesserung bestehender Verhaltensmuster zu erzielen. Diese Form der
Leistungssteigerung hat jedoch ihre Grenzen, denn die alten Verhaltensmuster bergen in
sich nur einen gewissen Möglichkeitsraum, innerhalb dessen Verbesserungen erzielt
werden können. Wenn eine Organisation jedoch größere Leistungsverbesserungen
geplant hat oder mit völlig neuen Anforderungen konfrontiert wird, kann Erfolg nur
damit erlangt werden, dass bestehende Verhaltensmuster verlassen werden. Man kann
hier von einem Prozessmusterwechsel sprechen.11
Der Change Manager muss, wenn er Innovationen in einem Betrieb umsetzen will, an
drei unterschiedlichen Ebenen ansetzten. Diese müssen im Rahmen von
Veränderungsprozessen in einem Unternehmen immer beachtet werden, damit eine
Chance auf eine erfolgreiche Implementierung von Veränderungsmaßnahmen besteht.
Hierzu gehört
� die Ebene der Strategie,
also die Frage nach der Richtung, in die ein Unternehmen gehen will,
� die Ebene der Struktur,
also die Gestaltung von Aufbau- und Ablauforganisation
� die Ebene der Kultur,
also die Einbindung der Mitarbeiter in die Veränderungen.
10 Doppler, K.; Lauterburg, C. (2005): 21 ff. 11 Kruse, P. (2004): 20 f.
Man kann erkennen, dass sich zwei der Ebenen, die Ebene der Strategie und die Ebene
der Struktur eher mit den harten Faktoren einer Organisation beschäftigen. Die Ebene
der Kultur ist ein weicher Faktor, der allerdings für die Umsetzung von
Veränderungsprozessen eine erhebliche Bedeutung einnimmt. Denn Veränderungen
werden immer von Mensch zu Mensch vollzogen und nur mit der Bereitschaft der
Mitarbeiter sich dem Wandlungsprozess zu stellen, steht und fällt der Erfolg des
gesamten Vorhabens. Besonders dann, wenn es sich um komplexe
Veränderungsprozesse handelt, kann nur durch Beachtung und Einbeziehung aller drei
Ebenen eine erfolgreiche betriebliche Umstrukturierung stattfinden.12 Doch auch dann
bekommt man noch lange keine Garantie dafür, dass der Veränderungsprozess den Weg
einschlägt, der vom Management geplant wurde.
Die Unternehmensberatung McKinsey hat sich in den 90iger Jahren in einer
Untersuchung mit dem Erfolg von Veränderungsmaßnahmen in den beratenen
Organisationen befasst und ist zu dem Ergebnis gekommen, dass nur etwa 30% der
Veränderungsvorhaben das vorgegebene oder angestrebte Ziel erreichen. Die Ursache
für die mangelnde Zielerreichung seien nicht Mängel in den Analysen oder den
vorgeschlagenen Maßnahmen, sondern läge an der mangelnden Umsetzung der
vorgeschlagenen Maßnahmen in den jeweiligen Organisationen.13 Auch Maus schreibt
von Untersuchungen wie beispielsweise von LaClaire & Rao aus dem Jahr 2002, dass
58% der untersuchten Unternehmen nach der Implementierung einer Veränderung
keines der erwarteten Ziele erreichten und 20% der Unternehmen lediglich ein Drittel
oder weniger der geplanten Ziele realisieren konnten.14 Kruse schreibt von
Untersuchungen, die sich mit dem Erfolg bei Veränderungsprozessen von brachen- und
länderübergeifenden Unternehmen beschäftigten.15 Auch hier wurden die „mit der
Veränderung angestrebten Ziele, wie zum Beispiel kürzere Durchlaufzeiten, effizientere
Geschäftsprozesse, Senkung der Betriebskosten, Qualitätsverbesserungen oder bessere
Kundennähe“16 häufig gar nicht oder nur teilweise erreicht. Auf der Basis, dass etwa
70% Prozent aller initiierten Change Prozesse in Unternehmen fehlschlagen, lässt sich
natürlich die Frage formulieren, ob sich Veränderungsprozesse in Organisationen
überhaupt managen lassen und wo die Ursachen für die Fehlschläge zu suchen sind.
12 Kraus, G.; Becker-Kolle, C. [u.a.] (2004): 16 f. 13 Fisch, R.; Beck, D. (2006): 6 f. 14 Maus, J. (2007): 4 15 Kruse, P. (2005): 17 16 Kruse, P. (2005): 17
Dass Organisationen nicht passgenau auf die veränderten Nachfragen und
Herausforderungen ihrer Umwelt reagieren, an überholten Zielen und Zwecken
festhalten und einleuchtend konzipierte Modelle nicht umgesetzt werden, wirft
Fragestellungen auf. Dabei ist es eigentlich ganz einfach. Um eine Effizienzsteigerung
und Produktverbesserung in einem Unternehmen erreichen zu können, müssen die
„gewachsenen Organisationsstrukturen aufgebrochen, die funktionalen
Abteilungsgrenzen eingerissen und im Sinne von Geschäftsprozessen radikal neu
gestaltet werden“17. Bestehende Hierarchiesysteme müssen überdacht und
Verantwortung im Sinne einer höheren Eigenverantwortung an Mitarbeiterinnen und
Mitarbeiter delegiert werden.18
Doch Veränderungsprozesse in einer Organisation haben nicht nur einen sachlichen
Aspekt, sondern ebenfalls einen psychologischen, also die Einstellungen und das
Verhalten von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern. Hier scheint die rationale Logik zu
versagen und nicht mehr die Prozesse zu erfassen, die im Hintergrund, zwischen
Organigrammen, Flussdiagrammen und Projektplänen ablaufen. Es entwickeln sich
plötzlich Strukturen, wie beispielsweise in Form von Widerstand gegen die geplanten
Veränderungen, die von keinem gewollt und erst recht nicht durch das Management
geplant waren.
2.2 Widerstand im Change Management
Wie in der Einleitung beschrieben, ist der Widerstand von Mitarbeitern gegenüber
Veränderungsvorhaben einer Organisation eine der wesentlichen Ursachen dafür, dass
Veränderungen nicht erfolgreich vollzogen werden können. Und das besitzt für eine
Organisation meist nicht nur finanzielle, sondern oft sogar existentielle Konsequenzen,
da der weitere Bestand einer Organisation mittlerweile erheblich an ihre
Veränderungsfähigkeit gekoppelt ist. Widerstand gegen Veränderung entsteht
insbesondere dort, wo Mitarbeiter nicht genügend eingebunden werden und Change-
Prozesse mit der Brechstange angegangen werden. Das heißt, verändern sich Mitarbeiter
aus sich selbst heraus bzw. werden Veränderungen von ihnen angestossen, wird kaum
von Widerstand gegen diesen Wandel auszugehen sein. Erst wenn Veränderung Top-
Down initiiert wird, kann es zu Schwierigkeiten in der Umsetzung kommen.
17 Doppler, K; Fuhrmann, H. [u.a.] (2002): 20 18 Doppler, K; Fuhrmann, H. [u.a.] (2002): 20
Natürlich gehen Veränderungen in einer Organisation immer auch mit Konsequenzen
für die in ihr tätigen Mitarbeiter einher, denn wo verändert wird, kann es Gewinner und
Verlierer geben. Für die Mitarbeiter ist die Klarheit und Vorhersehbarkeit von
Prozessen nicht gegeben, sie sind mit mehrdeutigen und unklaren Rollen und
Aufgabenbereichen konfrontiert, es ist schwierig an Informationen zu kommen und
vertraute Strukturen und Rahmenbedingungen werden aufgebrochen und neu gestaltet.
Insgesamt bedeutet das, dass alte Verhaltens- und Reaktionsmuster nicht mehr
angewendet werden können.19 Der damit einhergehende Widerstand innerhalb der
Mitarbeiterschaft begründet sich im wesentlichen auf zwei Bereiche, die häufig bei der
Planung und Durchführung von Veränderungsprozessen vergessen werden, da sie sich
nicht in das rationale Gefüge der beschlossenen Strategie integrieren lassen:
„Emotionen und scheinbar nicht kalkulierbare gruppendynamische Prozesse.“20 Und
genau das sind Themenkomplexe, die in der Geschäftswelt häufig keinen Platz finden,
deren Hintergründe jedoch im Rahmen dieser Arbeit etwas näher beleuchtet werden
sollen.
Doch zunächst zum Begriff Widerstand und was darunter verstanden wird. „Widerstand
umfasst passive oder aktive Verhaltensweisen von betroffenen Mitarbeitern, Gruppen
oder der ganzen Belegschaft, die die Veränderungsziele blockieren, ablehnen, infrage
stellen, unterlaufen oder nicht unterstützen.“21 Grundsätzlich kann man sagen, dass
Widerstand zu einer Reduzierung der Arbeitsleistung, einer Zunahme von
Schlechtleistung, einer Bildung von sich abkapselnden Untergruppen, einer erhöhten
Fluktuation sowie einer erhöhten Abwesenheits- bzw. Krankheitsrate führt.22
Widerstand drückt sich auf unterschiedlichsten Ebenen aus. Er kann sowohl aktiv wie
auch passiv sein sowie verbal oder non-verbal geäußert werden. Meist jedoch wird
Widerstand gegen Veränderungsprozesse von Mitarbeitern nicht offen und direkt
formuliert, sondern ist an den unterschiedlichsten Symptomen zu erkennen, die
beispielhaft in Abb. 1 aufgeführt sind.
Ebenfalls ist Widerstand ein fester Bestandteil des Veränderungsprozesses und kann
nicht vermieden werden. Es kommt also nicht darauf an, Strategien zu entwickeln, wie
man den Widerstand der Mitarbeiterschaft verhindern kann, sondern es kommt darauf
19 Kahn, Robert L. [u.a.] (1964): 72 ff. 20 Doppler, K.; Fuhrmann, H. [u.a.] (2002): 63 21 Doppler, K.; Lauterburg, C. zit. in Kraus, G.; Becker-Kolle, C.; Fischer, T. (2004): 62 22 Wöhrle, A. (2002): 73
an, effizient damit umzugehen. Für einen effizienten Umgang ist es wichtig zu wissen,
warum Widerstand entsteht und welche Dynamik er entwickeln kann.
Abb. 1: Widerstandssymptome in Veränderungsprozessen
Typische Widerstandssymptome in Change-Prozessen
Verbal/Reden Nonverbal/Verhalten
Aktiv/Angriff Widerspruch Gegenargumente Vorwürfe Abwertungen Gerüchte Streit Drohungen Polemik
Aufregung Abwertende Gestik und Mimik Aktive Verhinderung einer Umsetzung Intrigen Cliquenbildung
Passiv/Flucht Ausweichen Schweigen Bagatellisieren Blödeln Ins Lächerliche ziehen Nebensächliches debattieren
Lustlosigkeit Unaufmerksamkeit Müdigkeit Innere Kündigung Fernbleiben Krankheit
Quelle: Kraus, G.; Becker-Kolle, C.; Fischer, T. (2004): 62
Ein Veränderungsprozess durchläuft immer unterschiedliche Phasen, die durch den
Change Agent steuernd begleitet werden müssen. Wenn auf die Phase des Widerstands
nicht entsprechend reagiert wird, kann sich schnell eine Dynamik entwickeln, die nur
mit viel Aufwand wieder einzufangen ist. In der folgenden Graphik sind die Phasen zu
erkennen, die ein Veränderungsprozess durchlaufen muss.
Abb. 2: Phasen von Veränderungsprozessen
Quelle: Keuper, F.; Groten, H. (2007): 281
5. Lernen
1. Schock
7. Integration
6. Erkenntnis
4 . Emotionale
2. Ablehnung
3. rationale Einsicht
Zeit
Wahrgenommene eigene Kompetenz
Warum normal intelligente und nicht verhaltensgestörte Menschen Maßnahmen
bekämpfen, die notwendig und sinnvoll sind, lässt sich, wie schon bemerkt, nicht mit
sachlichen Überlegungen und logischen Argumenten fassen.23 Widerstand gegenüber
Veränderungen wird durch die unterschiedlichen Zielbündel von Unternehmen und
Mitarbeitern hervorgerufen. Denn Entwicklungen, die für ein Unternehmen postiv sein
können, gestalten sich nicht unbedingt auch positiv für den einzelnen Mitarbeiter.
Besonders der Anstoß von größeren Veränderungsprozessen, also
Prozessmusterwechseln, bewirken die Entstehung von Stress bei den Arbeitnehmern, da
sie diese Veränderungen mit Arbeitsplatz- und Statusverlusten, Versetzungen, einer
Gefahr für die eigene Karriere und sogar mit familiären Konflikten in Verbindung
bringen.24 Callan publiziert in seiner Studie unterschiedlichste Forschungsergebnisse, die
beispielsweise belegen, dass eine anstehende Fusion häufig mit wachsender Angst
innerhalb der Mitarbeiterschaft einhergeht. Ebenfalls genannt wird das Gefühl von
Kontrollverlust und Verunsicherung, die Befürchtung, dass zwischenmenschliche
Beziehungen verloren gehen sowie gut funktionierende Arbeitsteams und Arbeitsmoral
zerschlagen werden.25
Diese aufkeimenden Gefühle werden selten offen thematisiert, denn ihre Herkunft ist
dem Einzelnen oft selber nicht bewusst und ihre Ursachen häufig unangenehm oder
peinlich zu benennen und zuzugeben. Kaum ein Mitarbeiter spricht gegenüber seinem
Vorgesetzten aufrichtig von Verlust- und Versagensängsten, Unsicherheit und Angst
mit Hinblick auf die Zukunft oder die Befürchtung vor entstehender
Gewinnermentalität und Machtkämpfen. Doch auch wenn Emotionen nicht offen
gemacht werden, beeinflussen sie den Veränderungsprozess, meist in Form von
Widerstand.
Die Ungewissheit zukünftiger Entwicklungen und die damit einhergehende Instabilität
und Unsicherheit in Veränderungsprozessen gestaltet sich für viele Mitarbeiterinnen und
Mitarbeiter als scheinbar so problematisch, dass sie mit Emotionen wie Angst reagieren.
Das heißt, machmal „verbieten und untersagen wir uns das Neue und verzichten lieber
auf eine mögliche Weiterentwicklung, als uns durch den Übergang [vom Alten zum
Neuen; C.H.] verunsichern zu lassen“26. Dieser Zusammenhang lässt sich u.a. dadurch
23 Doppler, K.; Lauterburg, C. (2005): 325 24 Callan, V. J. (1993): 64 f. 25 Callan, V. J. (1993): 64 f. 26 Kruse, P. (2005): 24
erklären, dass Systeme, also auch der Mensch, eine ausgeprägte Tendenz haben,
bestehende Stabilitäten zu erhalten.27 Menschen verändern sich nicht gerne. Die
Tendenz an stabilen Mustern festzuhalten wurde in der Psychologie vielfach untersucht
und nachgewiesen.28 Und das zu Zeiten von Wandel notwendige Loslassen von stabilen
Verhaltensmuster geht bei den Menschen eben mit Emotionen einher, die wiederum zu
einem bestimmten Verhalten führen. Denn menschliche Gefühle sind maßgeblich an
der Verhaltensplanung- und Verhaltenssteuerung beteiligt, wirken also bei der
Handlungsauswahl mit und fördern bestimmte Verhaltensweisen.29
Festgestellt wurde literaturübergreifend, dass es verschiedene Typen von Menschen gibt,
die in unterschiedlichen Verhaltensmustern auf Veränderungen reagieren. Je nach
Persönlichkeitskonzept des Einzelnen sind die mit der Veränderung einhergehenden
Emotionen eher postiver oder eben eher negativer Natur. Auch die Stärke der erlebten
Emotionen unterscheidet sich. Die subjektive Wahrnehmung und die Persönlichkeit des
Einzelnen bilden also eine wichtige Grundlage zum Verständnis von Widerständen
gegenüber Veränderungen in einer Organisation.
Um die Entstehung von Widerstand gegenüber Veränderungen erklären zu können,
müssen im Folgenden zunächst zwei Fragestellungen weiter bearbeitet werden: Warum
versuchen Menschen bestehende Stabilitäten zu erhalten und möchten einmal
herausgebildete Ordnungen und Mustern nur ungern wieder verlassen? Und wie
entsteht subjektive Wahrnehmung, Persönlichkeit und Musterbildung eines Menschen
und wie kann dessen Persönlichkeit einen Einfluss auf das Verhalten in Zeiten der
Veränderung nehmen?
Doch bevor auf diese beiden Fragestellungen weiter eingegangen wird, muss zunächst
einmal grundlegend geklärt werden, um was es sich bei Veränderung eigentlich handelt.
27 Kruse, P. (2004): 54 28 Kruse, P. (2004): 54
3 Die Theorie komplexer Systeme
In diesem Abschnitt geht es zunächst darum darzustellen, wie Veränderung, sowie
Ordnung und Struktur eigentlich entstehen. Denn es wird immer noch in vielen
Bereichen, so auch im Management, daran geglaubt, dass Veränderungen kontinuierlich
von statten gehen und ihre Dynamiken, dass heißt ihre Entwicklungen in der Zeit,
genau berechnet werden können, wenn man die dahinterstehenden Kräfte kennt.
Diesen Glauben findet man auch häufig in der gängigen Literatur, die sich mit
Veränderungsmanagement in Organisationen beschäftigt. Der zu beschreitende Weg
scheint klar: Ein Veränderungsfahrplan muss entwickelt werden, in dem die einzelnen
vom Management zu gehenden Schritte festgelegt werden. Wichtig hierbei ist lediglich,
dass man keinen der relevanten Faktoren vergisst. „Die besondere Herausforderung für
das Change Management ist es, alle Faktoren zu berücksichtigen und verschiedene
Methoden zur Qualitäts- und Produktivitätssteigerung miteinander zu verbinden und in
Balance zu halten, so dass alle Beteiligten mit dem Ertrag zufrieden sind.“30 Ob dieser
Anspruch zu halten und in seiner Umsetzung realistisch ist, wird in dem folgenden
Kapitel weiter untersucht. Denn wie Doppler und Lauterburg passend formulieren:
„Dies ist ein genereller Befund: Es passiert heute ständig zu viel gleichzeitig. Ob als
Politiker, Manager oder Chefbeamter: Man überblickt nicht mehr alles, was gerade
passiert. Man versteht nicht mehr bei allem, warum es passiert – dann, wenn es passiert.
Man hat nicht mehr alles einfach „im Griff“. Man kann nicht immer steuern, wenn man
meint, es müsste gesteuert werden. Und oft genug ist man Entwicklungen ausgesetzt,
deren Verlauf man überhaupt nicht zu prognostizieren vermag. Vor allem aber: Alles ist
zunehmend mit allem vernetzt. Was man an einem Ort tut, kann an einem anderen
unvorhergesehene Konsequenzen zeitigen. Technische, ökonomische, politische und
gesellschaftliche Prozesse beeinflussen sich gegenseitig und entwickeln ihre
Eigendynamik. Es kommt zu „Kipp-Effekten“ – und von heute auf morgen hat sich ein
bisher realistische Szenario in sein Gegenteil verwandelt.“31
29 Küpers, W.; Weibler, J. (2005): 81 30 Kostka, C.; Mönch, A. (2006): 21 31 Doppler, K.; Lauterburg, C. (2005): 36
3.1 Chaos und Ordnung
Die Theorie komplexer Systeme, die sogenannte Chaostheorie, beschäftigt sich mit den
Phänomenen von Struktur und Chaos und ihrer Entstehung. Die systemische Weltsicht,
die mit der Chaostheorie eng verbunden ist, geht von zwei grundlegenden Annahmen
aus: Der Prozesshaftigkeit der Welt sowie der Ganzheit allen Geschehens.
Wenn die Welt als Prozess verstanden wird, bedeutet das, dass alles der Veränderung
unterworfen und ständig in Bewegung ist. Auf dieser Basis können auch Struktur und
Ordnung nicht mehr als etwas Zeitloses, Statisches dargestellt werden, sondern erklären
sich als dynamische Prozesse. Diese dynamischen Prozesse, die in der Welt stattfinden,
sind aus der Perspektive der Ganzheitlichkeit alle miteinander vernetzt, was bedeutet,
dass sie sich gegenseitig beeinflussen. Um dies analytisch fassbar zu machen, werden
Systeme und Systemebenen von dem „Gesamtsystem Welt“ abgetrennt, um sie als
kleinere Systemeinheiten analytisch betrachten zu können.32
Unterschieden werden kann zwischen zwei verschiedenen Aspekten von Prozessen. Die
einen können als reversible Prozesse beschrieben werden, die durch ein stabil-
periodisches Verhalten gekennzeichnet sind (bspw. Herzschlag, Pendelbewegungen)
und somit eine phänomenale Stabilität aufweisen. Zum anderen gibt es irreversible
Prozesse, die durch instabiles, nicht-periodisches und chaotisches Verhalten
gekennzeichnet sind (bspw. Wetter, Turbulenzen in Flüssigkeiten oder Gasen) und
dadurch ausschlaggebend für phänomenale Veränderung sind. In jedem Geschehen
lassen sich beide Komponenten ausmachen, also Stabilität und Instabilität sind
miteinander verknüpft und setzen durch diese Verknüpfung jedem stabilen-
periodischen Prozess eine zeitliche Grenze. Und genau das ist ein entscheidendes
Kennzeichen von Leben. Das bedeutet, dass immer ein Wechsel zwischen stabilen
Phasen, also den für einen gewissen Zeitraum stabilen Strukturen und den
Phasenübergängen, also den Zerfall ins Chaos, stattfindet. Ohne die Phasenübergänge,
also den Zerfall einer Struktur, gibt es keine Entwicklung und die Welt würde erstarren.
Abb. 3: Stabiles und instabiles Gleichgewicht
Quelle: Kriz, J. (1992): 38
Eine Voraussetzung dafür, dass Strukturen entstehen und diese wieder zu Chaos
zerfallen können, ist, dass diese analytisch abgegrenzten Systeme offen gegenüber ihrer
Umwelt sind, um mit dieser Energie, Materie oder Informationen austauschen zu
können. Ebenso wichtig ist es jedoch, dass diese Systeme von ihrer Umwelt
abzugrenzen sind, damit die Voraussetzungen für das Phänomen der Selbstorganisation,
also der Entstehung einer Struktur, gegeben sind.33 Bei der Entstehung von
Selbstorganisation kann schon die Veränderung einer unspezifischen Größe zu einer
hochspezifischen Struktur des jeweiligen Systems führt. Diese Veränderung ist Ursache
für die Strukturbildung innerhalb eines Systems, wobei die Strukturbildung in dieser
Form nicht gleichzeitig von außen vorgegeben wurde. Das heißt, dass sich die
Entwicklung einer Struktur niemals auf eine ganz bestimmte Ursache zurückführen
lässt, sondern in einem komplexen Zusammenwirken entsteht.34
Schon scheinbar ganz simple Prozesse, deren formale Darstellung an Einfachheit kaum
zu übertreffen ist (z.B. z -> z² +c), erweisen sich in ihrem Langzeitverhalten als
unberechenbar.35 Das bedeutet, dass selbst diese Prozesse unter bestimmten
Bedingungen eine unglaublich große Anzahl unterschiedlichster Phänomene erzeugen
können, die letztlich in ihrer Ausgestaltung nicht vorherzusehen sind. Das begründet
sich darin, dass die Sensibilität des Systems gegenüber kleinster Abweichungen äußerst
hoch ist und schon eine Veränderung des Ausgangswertes beispielsweise um ein
Millionstel innerhalb kürzester Zeit zu einem anderen Prozessverlauf führen kann.
32 Kriz, J. (1992): 20 33 Kriz, J. (1992): 19 ff. 34 Kriz, J. (1992): 18 35 Kriz, J. (1992): 16
Wenn schon eine minimale Veränderung der Ausgangsbedingungen zu einem anderen
Prozessverlauf führt, bedeutet dies zwangsläufig, dass ein solcher Prozess langfristig
nicht zu berechnen ist. Denn das Ergebnis jedes einzelnen Schrittes in der Zeit stellt
wiederum einen wesentlichen Ausgangspunkt für die Berechnung weiterer folgender
Ergebnisse dar und muss somit in seiner kleinsten Abweichung berechnet werden. Nach
einigem Zeitverlauf müssten die Abweichungen selbst simpelster Rückkopplungen
allerdings mit unendlicher Genauigkeit berechnet werden. Denn das Runden von
Zahlen würde ja eine Veränderung der Ausgangsbedingungen zur Folge haben und
diese wiederum zu verfälschten Ergebnissen führen.
Da jedoch keine Rechnung die Anzahl von unendlich vielen Stellen berücksichtigen
kann und selbst die minimalste Abweichung in ihrer Dynamik eine Veränderung im
Prozessverlauf bewirkt, ist unser weitverbreiteter Glaube an die Berechenbarkeit der
Welt aus dem Blickwinkel der Theorie komplexer Systeme nur bedingt haltbar.36 Das
heißt, dass die aus unserem Alltagshandeln häufig resultierende Annahme „kleine
Ursachen haben nur kleine Wirkungen“ durch die Erkenntnisse der Chaostheorie
deutlich infrage gestellt werden. In Abb. 4 ist graphisch dargestellt, wie die Abhängigkeit
von den Anfangsbedingungen aussehen kann. Stellt man sich vor, wie eine Stahlkugel
auf eine Rasierklinge trifft, hängt der weitere Verlauf der Bahnkurve empfindlich von
dem Auftreffpunkt der Kugel ab.
Abb. 4: Abhängigkeit von den Anfangsbedingungen
Quelle: Haken, H.; Schiepek, G. (2006): 93
36 Kriz, J. (1992): 30 ff.
Genau auf dieser Grundlage basiert das alte Glücksspiel am Galton-Brett oder das
System eines Flipperautomaten. Der Verlauf der Kugel steht in starker Abhängigkeit zu
den Anfangsbedingungen und kann nicht vorausgesagt werden.37
Abb. 5: Galton-Brett als Beispiel einer urtümlichen Glücksspielmaschine
Quelle: Haken, H.; Schiepek, G. (2006): 93
Ebenfalls ist jedes System mit Störungen unterschiedlicher Art konfrontiert. Hierzu
gehören zum einen Störungen, die von außen an das System herangetragen werden, zum
anderen Störungen, die sich innerhalb des Systems entwickeln. Der Begriff Störung
kann hierbei als Veränderung der jeweiligen Bedingungen verstanden werden. Befindet
sich das System gerade in einem stabilen Zustand, kann es Störungen ausgleichen, das
heißt, dass der vorherige Zustand eines Systems selbstorganisiert, sprich eigenständig,
wieder hergestellt wird. Diesen Zustand einer stabilen periodischen Dynamik, auf die
sich das System nach Einfluss einer Störung wieder hinbewegt, nennt man einen
Attraktor. Man kann also sagen ein Attraktor lässt sich als ein wahrnehmbarer Zustand,
eine wahrnehmbare Struktur oder Form eines dynamischen Systems begreifen. Wird das
System allerdings mit einer Störung konfrontiert während es sich in der Nähe von
Instabilität befindet, führt diese Störung zu einem Phasenübergang, also dem Zerfall in
Chaos. Dieser Phasenübergang bietet die Basis für das System sich in eine andere
Prozessstruktur zu bewegen, das heißt einen neuen Attraktor aufzusuchen.38
37 Haken, H.; Schiepek, G. (2006): 93 38 Kriz, J. (1992): 19 ff.
Für das Thema Veränderungsmanagement ist insbesondere interessant, wie ein Systems
auf Störungen reagiert. Denn für die Dynamik eines Systems ist seine Reaktion auf
Eingriffe, Einflüsse und Veränderungen von großer Bedeutung. Auf der Basis der
Entwicklung eines ungestörten Systems „Referenzdynamik“ lassen sich die folgenden
Möglichkeiten beschreiben.
1. Die Abweichung von der Referenzdynamik bewegt sich innerhalb fester Grenzen
innerhalb derer sie sich auf unbestimmte Zeit bestehen bleibt (Abb. 6).
Abb. 6: Bahnstabilität und der Verlauf der Dynamik nach einer Störung
(gestrichelte Linie)
Quelle: Kriz, J. (1992): 122
2. Die Abweichung von der Referenzdynamik wird immer geringer, bis sie schließlich
gegen Null geht. Dies gilt insbesondere dann, wenn die Referenzdynamik auf einen
Punktattraktor zuläuft (Abb. 7).
Abb. 7: Schematische Darstellung asymptotischer Stabilität
Quelle: Quelle: Kriz, J. (1992): 123
3. Die Abweichung von der Referenzdynamik bleibt nicht innerhalb fester Schranken.
Man kann hier von instabilen Systemen sprechen, wie einem System im
Phasenübergang, also bei einem System im Chaos (Abb. 8).
Abb. 8: Schematisierung von Instabilität
Quelle: Kriz, J. (1992): 124
4. Die Abweichung von der Referenzdynamik bleibt innerhalb einer festen Grenze,
solange die Störung keinen bestimmten Schwellenwert überschreitet (Abb. 9). Wenn
jedoch dieser Schwellenwert überschritten wird, verhält sich das System wie in Fall
drei.
Abb. 9: Lokale Instabilität
Quelle: Kriz, J. (1992): 122
Für die Durchführung von Veränderungsprozessen in einer Organisation, also der
Entstehung einer neuen Struktur, ist es also notwendig die Organisation zunächst in die
Nähe von Instabilität, also Chaos zu führen. Um dies zu ermöglichen, muss die
bestehende Ordnung mittels einer Störung dazu angeregt werden ihren Zustand zu
verlassen. Denn erst der Zerfall von bisherigen Strukturen ebnet die Möglichkeit neue
Strukturen und Ordnungen entstehen zu lassen. Wie in Abb. 3 zu erkennen war, wird
die Kugel in einem stabilen Gleichgewicht immer wieder in ihre Ausgangslage
zurückrollen, wobei die Kugel in einem instabilen Gleichgewicht durch den kleinsten
Stoß aus dieser Lage entfernt werden kann und die Möglichkeit hat, sich auf einen
neuen Attraktor zu zubewegen.
3.2 Selbstorganisation in komplexen Systemen
In unserem Alltagsdenken wird Ordnung als etwas angesehen, hinter dem zwangsläufig
eine ordnende Instanz stehen muss. Lediglich Unordnung kann spontan und
selbstständig entstehen und dass ein System eigenständig von einem ungeordneten in
einen geordneten Zustand übergeht, widerspricht zunächst jeglicher Intuition.39 Dem
hält die Chaostheorie jedoch entgegen. Das Phänomen von spontanen
Ordnungsprozessen, die ohne jegliche von außen einwirkenden Kräften aus einem
System heraus entstehen, lässt sich immer wieder beobachten. Ein häufig angeführtes
Beispiel ist die sogenannte Bénard-Instabilität. Erhitzt man eine Flüssigkeit von unten,
entsteht ein Temperaturunterschied zwischen der heißeren Unter- und der kühleren
Oberseite der Flüssigkeit. Wenn der Temperaturunterschied groß genug ist, gerät die
Flüssigkeit in Bewegung und die Flüssigkeitsmoleküle bewegen sich in einer turbulenten
Strömung ungeordnet durcheinander. Bei einer weiteren Erhöhung der Temperatur
entsteht jedoch plötzlich makroskopisch ein Ordnungsmuster, die Moleküle bilden
Wabenstrukturen aus oder gehen in Walzformation vor.40
Abb. 10: Bénard-Instabilität
Quelle: Kruse, P.(2004): 52
39 Kruse, P.(2004): 50 40 Kruse, P.(2004): 52
Beispiele wie diese gibt es viele. Sie kommen aus der Biologie, der Physik, der Chemie
oder der Neurowissenschaft. Doch ebenfalls ist eine große Vielfalt an physiologischen,
psychologischen und sozialen Phänomenen existent, die sich durch eine kohärente
Musterbildung auszeichnen.41 Dieses Phänomen der Selbstorganisation wird von der
Theorie der Synergetik „der Lehre vom Zusammenwirken“ erforscht. Synergetik
untersucht „Systeme, die aus sehr vielen einzelnen Teilen bestehen, die miteinander
wechselwirken und dann auf makroskopischer Ebene Strukturen und Funktionen
hervorbringen. Es handelt sich also um die Erforschung der Emergenz neuer Qualitäten
durch Selbstorganisation in komplexen Systemen“ 42.
Wie kann also makroskopische Ordnung aus mikroskopischem Chaos entstehen?
Hierfür muss zunächst noch mal an das vorangegangene Kapitel zur Chaostheorie
angeknüpft werden. Die Störung eines Systems ist eine notwendige Voraussetzung
dafür, dass eine neue Ordnung, also die Hinwendung zu einem neuen Attraktor,
überhaupt entstehen kann. Denn erst durch eine Störung kann das System in eine Phase
der Instabilität geführt werden, die wiederum die Grundlage für die Entstehung neuer
Ordnungsmuster bildet. Haken benennt diese Störung als ein oder mehrere
Kontrollparameter, die die Einwirkung der Umgebung auf das jeweilige System
beschreiben. Kontrollparameter steuern die Zustände eines Systems indirekt und
können in kritische und unkritische Bereiche unterteilt werden. Solange ein System
stabil ist, passiert nichts weiter, denn das System kann Einflüsse von außen abfedern
und wird im Anschluss wieder in seinen alten Zustand zurückfallen. Doch was passiert
dann, wenn sich die Kontrollparameter einem kritischen Wert annähern und das System
in die Nähe von Instabilität gerät? Wird ein Kontrollparameter geändert, kann das zu
einer sofortigen, qualitativen Veränderung des Systemverhaltens führen. Um im Bild der
Kugel zu bleiben, welches bereits im Kapitel über die Chaostheorie verwendet wurde,
bedeutet Instabilität, dass der Boden auf dem die Kugel liegt (der Attraktor) immer
breiter wird und die Wände immer flacher.43 Das heißt, dass die Wahrscheinlichkeit
eines Attraktorenzustands verringert wird.44
41 Haken, H.; Schiepek, G. (2006): 64 42 Haken, H. (2007): 20 43 Haken, H.; Schiepek, G. (2006): 80 f.
Abb. 11: System in der Instabilität
Quelle: Haken, H.; Schiepek, G. (2006): 81
Bedingt durch auftretende innere und äußere Schwankungen kommt es zu kritische
Fluktuationen. Im Bild der Kugel gesprochen kann diese, bedingt durch die
Schwankungen, sehr weit ausgelenkt werden. In der Folge kommt es bei dem System zu
einem Phasenübergang, der von Haken als das Phänomen des kritischen
Langsamerwerdens beschrieben wird. Man kann sich vorstellen, dass ein System
während eines Phasenübergangs mögliche Zustände austestet, in die es nach
Überschreitung der Instabilitätswelle übergehen kann. Diese unterschiedlichen Zustände
stehen in einer Art Konkurrenzkampf zueinander, wobei letztlich einer der möglichen
Zustände diesen Konkurrenzkampf gewinnt und als Ordnungsparameter auftritt. Im
weiteren Verlauf kommt es dann zu folgendem Effekt. Das sich auf der Basis von
äußeren und inneren Schwankungen chaotisch bewegende System formiert sich in
Richtung einer Konfiguration, die immer mehr anwächst, während alle anderen
Konfigurationen, also möglichen Zustände, wieder aussterben. Ein Ordnungsparameter
ist hergestellt. Die einzelnen, häufig sehr zahlreichen Systemelemente, aus denen ein
System besteht, werden von dem entstandenen Ordnungsparameter gezwungen, sich
mit ihrem Verhalten an dieses anzupassen. Der Vorgang, dass viele einzelnen Teile in
ihrer Dynamik durch einen, oder manchmal auch mehrere Ordner, festgelegt werden
benennt Haken als Versklavungsprinzip.45 Man kann also sagen, dass komplexe
dynamische Systeme durch kritische Werte von Kontrollparameter bestimmt sind, an
denen die Wechselwirkung ihrer Elemente zu einer Strukturbildung führt.
44 Kruse, P. (2005): 55 45 Haken, H.; Schiepek, G. (2006): 82
Abb. 12: Versklavungsprinzip
Quelle: Haken, H.; Schiepek, G. (2006): 83
Dies führt letztlich zum Konzept der zirkulären Kausalität. Denn zum einen wird durch
das Versklavungsprinzip der Ordner das Verhalten der Teile bestimmt, zum anderen
jedoch wird erst durch das Zusammenwirken der Teile die Entstehung von Ordnern
ermöglicht.
Abb. 13: Zirkuläre Kausalität
Quelle: Haken, H.; Schiepek, G. (2006): 83
Ebenfalls in Abb. 13 ist zu erkennen, dass es, wenn man den Zirkel einmal herum
wandert, zwei Möglichkeiten gibt. Geht man von den Ordnern aus, wird der Eindruck
erzeugt, als ob die Ordner auf sich selber wirken würden. Durch die Existenz von nur
wenigen Ordnern, kann selbst das Verhalten eines komplexen Systems mittels eines
geringen Informationsaufwandes beschrieben werden. Man kann hier von einer
Informationskompression sprechen. Beginnt man bei den einzelnen Teilen und geht
über die Ordner wieder zu den einzelnen Teilen zurück, scheint es, als hätten sich die
einzelnen Teile auf der Basis von Wechselwirkungen alleine geordnet. Man kann sagen,
dass man es hier mit einer Konsensusfindung zu tun hat.46
46 Haken, H.; Schiepek, G. (2006): 69 ff.
In den vorangegangenen beiden Abschnitten wurde das Prinzip von Veränderung und
das Phänomen von Ordnungsbildung nun recht abstrakt dargestellt. Auf das
Veränderungsmanagement übertragen kann man auf dieser theoretischen Basis zunächst
einmal sagen, dass organisationaler Wandel immer mit Instabilität einhergeht. Das ist
wichtig, um zu verstehen, warum Menschen häufig nicht gut mit Veränderung umgehen
können. Bestehende Strukturen müssen destabilisiert werden, damit neue Strukturen
aufgebaut werden können. An einem simplen Beispiel dargestellt: möchte ich ein neues
Computersystem in einem Betrieb einführen, muss das Alte aufgegeben werden, bevor
mit dem Neuen gearbeitet werden kann. In den Übergangszeiten wird es immer wieder
zu chaotischen Situationen kommen.
Ausserdem kann festgehalten werden, dass organisationale Veränderungen nicht linear
planbar und in allen ihren Auswirkungen berechnet werden können. Systeme, und somit
auch Organisationen, haben zwar die Fähigkeit selbstständig Ordnungen
herauszubilden, es ist jedoch nie hundertprozentig vorhersehbar, welche Ordnung
letztlich entsteht. Ein Beispiel für dieses Phänomen ist eben der Widerstand, der bei
einer angestossenen Veränderung innerhalb der Mitarbeiterschaft entstehen kann.
Widerstand kann eine so starke Struktur entwickeln, dass eine Organisation gezwungen
ist, das geplante Veränderungsvorhaben zurückzunehmen, weil sie nicht in der Lage ist,
dasselbe umzusetzen.
Das Prinzip der Selbstorganisation hat für diese Arbeit eine recht hohe Bedeutung, da es
sich auf alle möglichen komplexen Systeme übertragen lässt. Das heißt, es bietet nicht
nur eine Erklärungsgrundlage für physikalische und chemische Prozesse, sondern läßt
sich ebenfalls auf psychische und soziale Phänomene anwenden. Da Widerstand
innerhalb der Mitarbeiterschaft eines Unternehmens entsteht, bietet der Blickwinkel auf
Selbstorganisation im Humanbereich die Möglichkeit, die Entstehung und Dynamik von
Widerstand näher erklären zu können. Da sich diese Arbeit u.a. mit der Frage
beschäftigt, warum es Menschen schwer fällt, sich auf Veränderungen einzustellen, wird
es in dem jetzt folgenden Kapitel um ein sich selbstorganisierendes System gehen, dass
letztlich den Menschen als Individuum ausmacht: das menschliche Gehirn.
3.3 Das menschliche Gehirn als ein selbstorganisierendes System
Übergänge von Unordnung zu Ordnung lassen sich also auch im Humanbereich finden
und Selbstorganisation, Ordnungsbildung und Phasenübergänge in Form von Chaos
lassen sich auch in unserem Alltag immer wieder erfahren. Dabei geht die Entstehung
von Ordnung meistens eher unauffällig von statten, „nicht zuletzt, weil wir organisch,
physiologisch, sozial und sprachlich in eine Vielzahl vorgeformter, evolutionär, familiär
und kulturell tradierter Ordnungen hineingeboren werden“47. Der Übergang von einer
Ordnung zu einer anderen fällt meist weit deutlicher aus und es kostet eine gehörige
Portion Mühe, alte Denk- und Verhaltensstrukturen zu verlassen.
Die Tendenz, Ordnungen selbstorganisiert herzustellen und Bestehendes beizubehalten
gilt für alle selbstorganisierten Systeme, zu denen auch das menschliche Gehirn zählt.
Eine Beschreibung dessen, wie ein menschliches Gehirn genau funktioniert, würde den
Rahmen dieser Arbeit sprengen. Dennoch sollen hier einige typische Funktionsweisen
skizziert werden, da sie erklären können, warum Widerstand gegenüber Veränderungen
bei einem Mitarbeiter entstehen kann.
Das menschliche Gehirn ist eines der Organe, das in unserem Körper mit am meisten
Energie benötigt, um ihre Arbeitsleistung zu erbringen. Dies ist einer der Gründe dafür,
dass das Gehirn versucht, möglichst effizient zu arbeiten und die einströmende
Informationsmenge soweit wie möglich zu reduzieren. Um diese Reduzierung erreichen
zu können, arbeitet es auf der Basis von Musterbildungs- und
Mustererkennungsprozessen. Das heißt, es nutzt bereits gemachte Vorerfahrungen und
Gestaltprinzipien, verformt quasi die komplexen Eindrücke, um sie besser in bereits
bestehende Schemata integrieren zu können.48 Man kann sagen, es schafft Ordnungen.
Diese vom Gehirn geschaffenen Ordnungen sind neuronale Verknüpfungen in Form
von Netzwerken zwischen verschiedenen Erfahrungen, die auch als Assoziationen
bezeichnet werden können. Auf der Basis dieser Netzwerke kann „ein gesamtes
Erinnerungsbild auf der Grundlage einzelner Hinweisreize oder Teilmerkmale“49
aufgebaut werden. Hierzu gehört beispielsweise das Erkennen von Gesichtern oder das
Vervollständigen von Wörtern und Bildern. Es werden also Erfahrungen
unterschiedlichster Art und Modalität zu Gedächtniseindrücken (Mustern)
zusammengefügt. Informationen werden insbesondere dann bevorzugt gespeichert,
47 Haken, H.; Schiepek, G. (2006): 24 48 Haken, H.; Schiepek, G. (2006): 202
wenn sie in bereits bestehende Schemata hineinpassen. Das heißt, sie werden inhaltlich
in Assoziationsnetzen abgelegt, durch die sie ebenfalls wieder aktiviert werden können.
Viele Experimente deuten darauf hin, dass besagte Assoziationsnetze von dem
menschlichen Gehirn zunächst auf der Basis von Erfahrungen gebildet, also gelernt
werden müssen.50 Der Mensch muss also die notwendigen Ordnungsmuster zunächst
einmal selber schaffen.
Das menschliche Gehirn erlernt also Ordnungsmuster auf deren Basis es
Wahrnehmungen einsortiert. Für die Nutzung der Ordnungsmuster ist Aufmerksamkeit
eine grundlegende Voraussetzung. Denn wenn die Aufmerksamkeit bezüglich eines
Ordnungsmusters nicht vorhanden ist, kann es entsprechend nicht auftreten. Hat das
Gehirn ein Ordnungsmuster erkannt, verschwindet die entsprechende Aufmerksamkeit
wieder und es wird Raum für den Blick auf ein neues Ordnungsmuster geschaffen. Man
kann hier von einer neuronalen Ermüdung sprechen. Dies ist der Prozess, welcher
abläuft, wenn das Gehirn komplexe Szenen erfassen möchte. Es widmet sich einem Teil
der Szene, wendet sich dann der nächsten zu usw. Ein anschauliches Beispiel für dieses
Phänomen sind die sogenannten „Kippbilder“.51
Abb. 14: Beispiel für Kippbilder
Quelle: Haken, H.; Schiepek, G. (2006): 195
49 Haken, H.; Schiepek, G. (2006): 205 50 Haken, H.; Schiepek, G. (2006): 186 51 Haken, H.; Schiepek, G. (2006): 194 ff.
Welches der dargestellten Bilder von uns zuerst wahrgenommen wird, richtet sich
zusätzlich nach dem Parameter der Voreingenommenheit. Voreingenommenheit
bedeutet in diesem Kontext, dass es bei mehrdeutigem Bildmaterial in der
Wahrnehmung des Einzelnen ein bevorzugtes Bild gibt. Beispielsweise nehmen bei
Abb. 14 „ca. 80% der Männer die junge Frau zuerst ins Auge, während 60% der
weiblichen Betrachterinnen die alte Frau zuerst auffällt“52.53
Ein Musterwechsel von einem Ordnungsmuster zu einem anderen ist nur dann möglich,
wenn der bestehende Ordnungszustand aktiv destabilisiert wird. Denn wie bereits
gesagt, haben Systeme die Tendenz, an stabilen Mustern festzuhalten. Diese Tendenz
zur Stabilität kann gut anhand des in Abb. 15 dargestellten Bildes gezeigt werden.
Betrachtet man die Bildreihe von links nach rechts, behält unser Gehirn relativ lange das
Bild eines Männergesichtes und erkennt erst gegen Schluss der Bildreihe die kniende
Frau. Bei der Betrachtung von rechts nach links ist der Prozess umgekehrt. Diesen
Vorgang bezeichnet man als Hysterese.54
Abb. 15: Hystereseschleife
Quelle: Kruse, P. (2004): 54
Man kann anhand der hier kurz skizzierten Funktionsweisen des menschlichen Gehirns
behaupten, dass die Prozesse der Mustererkennung sich als ein Wettbewerb zwischen
unterschiedlichen Ordnern darstellen. Dieser Wettbewerb wird von „früher gelernten
Mustern, von Aufmerksamkeitsparametern und von Voreingenommenheiten
52 Haken, H.; Schiepek, G. (2006): 197 53 Haken, H.; Schiepek, G. (2006): 197 f. 54 Kruse, P. (2004): 54 ff.
kontrolliert“55. Welchen Vorteile diese Musterbildungsprozessen im Gehirn haben, ist
relativ klar. Systembedingtes Rauschen kann vermindert werden, Inputs besser
selektiert, irritierendes und unpassendes Material kann entfernt werden und die
Kategorisierung von Informationen wird erleichtert. Hierdurch wird eine
zusammenhängende und wirksame Konstruktion der Welt sowie ebenso die Selbstwert-
und Identitätsregulation ermöglicht.56 Der Nachteil ist jedoch, dass es uns aufgrund
dieser bestehenden Muster meist alles andere als leicht fällt sie wieder zu verlassen.
Wahrnehmung gestaltet sich also als eine aktive Konstruktionsleistung des Gehirns.
Zusätzlich wird die Wahrnehmung noch durch Gefühle geschärft, gedämpft oder
gefärbt.57 Unsere Aufmerksamkeit steigert sich beispielsweise dann, wenn wir etwas mit
starken Emotionen verbinden. Dadurch, dass wir auf der Basis unserer Wahrnehmung
handeln, wirken unsere Gefühle entsprechend auf unsere Handlungen ein. Gefühle und
ihre körperlichen Begleiterscheinungen bilden sogar einen wesentlichen Anteil von
Entscheidungsprozessen und sind somit für ein rationales Verhalten nicht
wegzudenken.58 Ebenfalls können impulsive Gefühle rationales Handeln verdrängen,
man spricht dann von einem Automatismus. In diesem Fall kommt der sogenannte
Mandelkern des Gehirns ins Spiel, der Menschen zum Handeln bewegen kann, bevor
diese überhaupt einen logisch begründeten Plan für eine Reaktion aufgestellt haben. Mit
anderen Worten ein Mensch kann auf der Basis von Emotionen reagieren, ohne dabei
bewusst und kognitiv zu handeln.59
Ziel dieses Kapitels war es, einen Erklärungsansatz zu bieten, warum Menschen
versuchen bestehende Stabilitäten zu erhalten. Festzustellen ist: der Umgang mit
Störungen sowie Phasen der Instabilität fallen den Menschen offenkundig alles andere
als leicht.60 Dieses Phänomen lässt sich scheinbar u.a. dadurch begründen, dass das
menschliche Gehirn, also unsere „Antriebsmaschine“ schon in Form von
Ordnungsbildungsprozessen agiert. Der Mensch scheint von seiner Natur aus also quasi
dazu zu neigen, sich von Strukturen regelrecht anziehen zu lassen und möchte sie umso
weniger wieder verlassen, je eindeutiger sie werden. Man könnte im Sinne der Theorie
55 Haken, H.; Schiepek, G. (2006): 198 56 Haken, H.; Schiepek, G. (2006): 207 57 Haken, H.; Schiepek, G. (2006): 179 58 Küpers, W.; Weibler, J. (2005): 59 59 Küpers, W.; Weibler, J. (2005): 58 60 Kruse, P. (2005): 50
komplexer Systeme sogar formulieren, dass hier eine Orientierung auf einen Punkt-
Attraktor stattfindet.61
Die Assoziationsnetze oder Ordnungsmuster von denen in diesem Kapitel die Rede
war, müssen erwiesenermaßen von dem menschlichen Gehirn zunächst erlernt werden.
Das wurde bereits erwähnt. Doch das Lernen eines Menschen findet nie losgelöst von
anderen Menschen statt. Möchte man also wissen, wie sich Assoziationsnetze bilden,
muss die das Individuum umgebenden Gesellschaft mit in den Blick genommen
werden. Denn die Gesellschaft in der sich ein Mensch bewegt, trägt einen wesentlichen
Teil zum Herausbilden von Ordnungs- und Verhaltensmustern bei. Doch auch für die
Entstehung der menschlichen Persönlichkeit ist die jeweilige Gesellschaft, in der man
lebt, von essentieller Bedeutung. Aus diesem Grund wird in dem folgenden Kapitel
zunächst einmal auf das Phänomen der Musterbildung aus gesellschaftlicher Perspektive
eingegangenen. In diesem Kontext kann auch die Frage danach beantwortet werden, wie
subjektive Wahrnehmung und die Persönlichkeit eines Menschen entsteht.
61 Haken, H.; Schiepek, G. (2006): 33
4 Der soziale Konstruktivismus
Die gesellschaftliche Komponente bei der Ausbildung von Verhaltens- und
Denkmustern lässt sich mittels der Theorie des sozialen Konstruktivismus genauer
herleiten. Das ist wichtig für ein tieferes Verständnis darüber, warum Menschen
Widerstand gegenüber Veränderungsbestrebungen leisten. Denn wenn Ursachen für
Einstellungen und Verhaltensmuster bekannt sind, kann man sie entsprechend
bearbeiten. Attributionen, also Ursachenzuschreibungen werden auf der Grundlage
dieses Wissens verändert und ermöglichen einen effektiveren und somit auch
effizienteren Umgang mit Widerständen im Unternehmen.
Der soziale Konstruktivismus bildet eine wichtige theoretische Basis zur Erklärung von
sozialer Wirklichkeit und einzelnen sozialen Phänomenen. Er beschreibt, wie soziale
Phänomene von Menschen konstruiert werden und wie subjektive Wirklichkeiten und
Musterbildungen zu einem Handlungsmotor für den einzelnen Menschen werden. Um
dies erklären zu können, wird in dem folgenden Kapitel auf die Entstehung und
Bedeutung unserer Wirklichkeit der Alltagswelt und der Ausbildung unserer
Persönlichkeit mit ihren unterschiedlichen Persönlichkeitskonstrukten auf der
Grundlage der konstruktivistischen Weltsicht eingegangen. Wichtig ist hierbei im Blick
zu behalten, dass es sich auch bei der menschlichen Gesellschaft und ihrer gesamten
Organisation um Resultate eines Selbstorganisationsprozesses handelt. Die
Ordnungsmuster des sozialen Verhaltens sind hierbei das Ergebnis menschlichen
Handelns, wobei das entstandene Ergebnis nicht vom Menschen geplant und gestaltet
wurde.62
Der Konstruktivismus ist auf die unterschiedlichsten wissenschaftlichen Theorien
zurückzuführen und nimmt auf die unterschiedlichsten Wissenschaftsbereiche Einfluss.
Ebenen sind hier u.a. philosophischer, soziologischer, naturwissenschaftlicher und
psychologischer Natur. Ohne weiter auf die wissenschaftliche Herleitung des sozialen
Konstruktivismus einzugehen, werde ich mich bei meiner Darstellung hauptsächlich auf
die gesellschaftliche Konstruktion unserer Wirklichkeit der Alltagswelt konzentrieren.
Der soziale Konstruktivismus geht von der folgenden Grundannahme aus: „Was uns
selbstverständlich und naturgegeben erscheint, ist konstruiert und beruht auf sozialen
Konventionen“63. Menschliche Verhaltensweisen, Meinungen und Gefühle können also
62 Malik, F. (1993): 223 63 Steins, G. (2003): 53
als sozial vereinbarte Konstruktionen verstanden werden, die keinen absoluten
Wahrheitsanspruch haben, sondern je nach gesellschaftlicher Umgebung unterschiedlich
wahrgenommen werden können.64 Sie sind innerhalb einer Gesellschaft konstruiert
worden, werden von uns übernommen und bestimmen dadurch nicht nur unsere
Wahrnehmung, sondern gleichzeitig unser Handeln.
4.1 Die Grundannahmen des sozialen Konstruktivismus
Grundsätzlich gehen wir meist davon aus, dass wir in der Lage sind, die Welt um uns zu
sehen, wie sie ist. Wir glauben, dass wir uns ein bestimmtes Wissen sowie
Lebenserfahrung angeeignet haben, die uns eine objektive Basis bietet, auf deren
Grundlage wir unsere Meinung bilden. Ebenfalls sind wir davon überzeugt, dass wir in
der Lage sind, die Welt um uns herum zu erfassen und objektiv wissenschaftlich zu
erklären, wenn wir uns nur genug Mühe geben, das Gegebene wissenschaftlich zu
erforschen und zu untersuchen. Der soziale Konstruktivismus geht hier allerdings von
einer gänzlich anderen Annahme aus. Er besagt, dass es keine Wahrheit gibt, die wir in
der Lage wären herauszufinden, sondern wir im Gegenteil diejenigen sind, die die Welt
auf der Grundlage unserer subjektiven Wahrnehmungen zu dem machen, was sie ist, sie
also konstruieren.
Gergen beschreibt den sozialen Konstruktivismus als aus vier Grundannahmen
bestehend. Diese werden im Folgenden kurz beschrieben:
� Die Begriffe, mit denen wir die Welt und uns selber verstehen, ergeben sich nicht zwangsläufig aus
„dem, was ist“.
Das bedeutet, dass die von uns genutzte Sprache keine objektive Welt erschaffen kann.
All die Begriffe und Darstellungsformen, die wir in unserem Handeln verwenden,
können keine Objektivität beanspruchen, da sie von den Menschen im Laufe der Zeit
konstruiert wurden. Die dadurch resultierende Konsequenz ist, dass alles, was wir an
Tatsachen benennen, die unsere Welt darstellen, auch anders sein könnte. Der Mensch
ist also dazu in der Lage Worten wie Liebe, Nation, Religion, Intelligenz etc. eine völlig
andere Bedeutung zuzuschreiben und hat somit die Freiheit, nicht an eine bestimmte
Art des Verstehens gebunden zu sein.
64 Steins, G. (2003): 58 f.
� Wie wir beschreiben, erklären und darstellen, leitet sich aus Beziehungen ab.
Das bedeutet, dass nichts von dem, was wir als Sprache, Symboliken oder andere
Darstellungen kennen, auf der Grundlage eines einzelnen Individuums Sinn und
Bedeutung erlangen kann. Sinn und Bedeutung kann nur dann erschaffen werden, wenn
Menschen in Interaktion miteinander treten und durch Gespräche oder Diskussionen
die Bedeutung vereinbaren. Die Sprache an sich wird erst dadurch sinnvoll, dass eine
Gruppe von Menschen ihre Symbolik versteht und sie anwenden kann, dafür jedoch
bildet die Interaktion eine notwendige Basis.
� So, wie wir beschreiben, erklären oder anderweitig darstellen, so gestalten wir unserer Zukunft.
Die von uns verwendete Sprache mit ihren sozial vereinbarten Bedeutungen, beeinflusst
jedoch ebenfalls das gesamte Verhalten innerhalb einer Gesellschaft. Sie ist die
Grundlage für die Herausbildung von Ritualen oder Traditionen, die wiederum
Bestandteile von bestehenden Institutionen und Organisationen sind. Denn ohne die
Sprache als die von Menschen geteilte Beschreibungs- und Erklärungsform „hätten
diese Institutionen nicht ihre gegenwärtige Form“65. Unsere gesamte Gesellschaft ist
„auf einen kontinuierliche Prozess der gemeinsamen Herstellung von Sinn und
Bedeutung angewiesen“66, da ohne ihn sämtliche Institutionen zusammenbrechen
würden. Gibt es keine für alle gültigen Bedeutungszuschreibungen und Sinnstrukturen,
kann eine Gesellschaft nicht existieren. Der Konstruktivismus allerdings kann dazu
ermuntern, die althergebrachten Bedeutungszuschreibungen kritisch zu hinterfragen und
umzudeuten. Das wiederum heißt, dass der Mensch dazu in der Lage ist, seine Zukunft
umzugestalten - denn nichts von dem so wie es ist, ist richtig und wahr und somit ist es
veränderbar.
� Das Nachdenken über unsere Formen des Verstehens ist für unser zukünftiges Wohlergehen von
entscheidender Bedeutung.
Der Konstruktivismus beschreibt die Wirklichkeit als etwas nicht statisches und somit
veränderbares, je nach Sichtweise, aus der man sie betrachten möchte. Somit ist es
wichtig, die Bedeutungen, die den unterschiedlichen Traditionen zugeschrieben werden
immer wieder zu reflektieren und zu hinterfragen. Denn jede gelebte Tradition
verhindert auch immer das Vorhandensein einer anderen - gleichzeitig führt eine jede
Neuerung zum Verschwinden einer Tradition. Ebenfalls stellt die konstruktivistische
65 Gergen, K. J. (2002): 68 66 Gergen, K. J. (2002): 68
Sichtweise die allgemein übliche Praxis der wissenschaftlichen Beweisführung in Frage,
da der Konstruktivismus beinhaltet, dass sich jede Tradition, und natürlich auch jede
Wissenschaft immer auf der Ebene von einer bereits gesellschaftlich konstruierten
Wirklichkeit bewegt und somit keine objektive Wahrheit für sich beanspruchen kann.
Was wahr und gut ist steht also immer auch im Kontext eines gesellschaftlichen
Zusammenhangs.67
4.2 Die Wirklichkeit unserer Alltagswelt
Beschäftigt man sich mit dem sozialen Konstruktivismus kann es schnell passieren, dass
man in den Glauben gerät, es gäbe keine Wahrheit, keine Wirklichkeit auf dieser Welt.
Doch diese Annahme ist so nicht richtig. Der Konstruktivismus besagt lediglich, dass es
keine allgemeingültige und objektive Wahrheit und Wirklichkeit gibt. Wahrheit und
Wirklichkeit existiert durchaus, allerdings immer eingegrenzt in die Regeln und
Konstrukte einer bestimmten, abgegrenzten Gesellschaft, die eben ihre eigenen,
gemeinsamen Bedeutungszuschreibungen kreiert hat, auf deren Fundamenten sie
besteht.68 Doch wie entsteht die Wirklichkeit unserer Alltagswelt, in der wir uns
tagtäglich bewegen und welche Bedeutung hat sie für unser Handeln?
Die Alltagswelt, in der wir leben und handeln „breitet sich vor uns aus als Wirklichkeit,
die von Menschen begriffen und gedeutet wird und ihnen subjektiv sinnhaft
erscheint“69. Diese Wirklichkeit der Alltagswelt kann gegenüber jeder anderen
Wirklichkeit als für uns oberste Wirklichkeit bezeichnet werden. Sie beschreibt unsere
konkrete Lebenswelt, die in Schule, Uni, mit Freunden, in der Partnerschaft, im Beruf
für uns täglich greifbar ist und an der wir uns mit unserem Denken und Handeln
orientieren. Wir erleben diese Wirklichkeit der Alltagswelt als selbstverständlich und
normal und erfahren sie als auf einer bestimmten Ordnung basierend. Diese Ordnung
scheint für jeden einzelnen von uns eine objektive Ordnung zu sein, da es sich hierbei
um eine bereits angelegte Ordnung handelt, die lange vor unserer eigenen Existenz
entstanden ist. Sie gibt der Gesellschaft in der wir leben einen strukturellen Rahmen, in
dem wir uns bewegen können. Die Sprache, die Institutionen, die Strukturen, die
Objekte, die Traditionen, die Rollen, die wir innerhalb unseres alltäglichen Handelns
67 Gergen, K. J. (2002): 66 ff. 68 Gergen, K. J. (2002): 50 f. 69 Berger. P. L.; Luckmann, T. (2004): 21
verwenden, besitzen die durch die Gesellschaft unterschiedlichsten
Bedeutungszuschreibungen und erfüllen dadurch einen für uns klar erkennbaren Sinn.
Das einzelne Individuum unterteilt diese Wirklichkeit der Alltagswelt noch einmal in
unterschiedliche Zonen, die für es verschiedene Bedeutungen einnehmen. Es gibt zum
einen Zonen, die für die Einzelne in ihrem täglichen Erleben von großer Bedeutung
sind, da sie in einem ständigen Kontakt mit ihr steht. Ist jemand beispielsweise
Marketing Director in der Automobilindustrie, sind das für ihn das Design von
Fahrzeugen oder das Verhältnis zwischen Kosten und Erreichbarkeit potenzieller
Kunden durch verschiedene Werbekampagnen. Dies ist dann ein Wissen, das notwendig
zur Bewältigung der Alltagswelt ist. Neben dem notwendigem Wissen gibt es noch
persönliche Interessen der einzelnen Menschen - ist jemand begeistertere
Rennradsportler, sind für ihn vielleicht unterschiedliche Fahrtechniken und die Tour de
France von Bedeutung. Jenseits dieser Zonen, die sich im engeren Handlungsumfeld
einer Person befinden, ist das Interesse meist weniger intensiv.
Ein anderer wichtiger Bereich der Alltagswelt ist der intersubjektive Bereich derselben.
Man weiß, dass die eigene Wahrnehmung der Alltagswirklichkeit der Wahrnehmung von
anderen Menschen entspricht. Diese gemeinsame Auffassung von Wirklichkeit wird
zwar von verschiedenen Menschen aus vielleicht unterschiedlichen Perspektiven
gesehen, ist jedoch letztlich eine aus der Interaktion entwickelte gemeinsame
Lebenswirklichkeit. Die Wirklichkeit der Alltagswelt wird von der Allgemeinheit
hingenommen und als etwas Selbstverständliches angesehen, das nicht weiter auf seinen
Wahrheitsgehalt hin untersucht werden muss. Sie ist jeden Zweifels erhaben, da durch
ein Anzweifeln ihrer, die gesamte Routinewelt eines Menschen, einer ganzen
Gesellschaft zusammenbricht. Ist man jedoch gezwungen, sich mit Problematiken
auseinander zusetzen, die nicht mehr den Bereich der Alltagswirklichkeit fallen und sich
nicht durch diese erklären lassen, ist man gezwungen, die Grenzen der
Alltagswirklichkeit hin zu einer gänzlich anderen Wirklichkeit zu überschreiten.70
Wie bereits erwähnt, beruht unser gemeinsames Erleben unserer Alltagswelt auf der
Interaktion mit anderen. Die intensivste Interaktion besteht hier aus der direkten
Interaktion zweier, oder mehrerer Individuen von Angesicht zu Angesicht. In der
Interaktion findet ein ständiger Austausch von vereinbarten Symboliken und
Handlungsschablonen statt. Man hat beispielsweise von klein auf gelernt, welche Mimik,
Gestik und Sprache man verwenden muss, wenn sich einem jemand gegenüber als das
verhält, was man in der eigenen Gesellschaft als unhöflich bezeichnet, wie ich mich als
Angestellter meinem Chef gegenüber verhalte, oder wie ich mit einer Person umgehe,
die ich liebe. Um den Umgang miteinander zu vereinfachen haben sich Typisierungen
herausgebildet, wie der typische Deutsche, die typische Frau, der typische Manager. Man
interagiert auf der Basis dieser Typisierungen mit anderen, die natürlich ebenfalls auf der
Basis von Typisierungen mit einem selber interagieren. Dieses Schauspiel funktioniert
natürlich nur so lange, wie es allgemeingültige Typisierungen gibt und mein Gegenüber
sich so verhält, wie ich es von ihm erwarte bzw. umgekehrt.71
Um jedoch den Kontakt mit anderen herstellen zu können und Typisierungen oder
Schablonen zu erarbeiten, benötigt der Mensch eine grundlegende Eigenschaft. Er
muss, um diese Dinge entstehen lassen zu können den Inhalt seines Geistes mit anderen
Menschen teilen, sprich kommunizieren, denn erst so ist er in der Lage sich seine
Alltagswelt zu erschaffen. Und das tut er mittels eines Zeichensystems, wobei die
Sprache als vokales Zeichensystem das wichtigste darstellt. Die Interaktion und
Kommunikation mit anderen Menschen ermöglicht es, sich auf Bedeutungen von
unterschiedlichsten Dingen zu einigen, denn erst durch diese von mehreren Menschen
getroffene Vereinbarung kann eine Bedeutung entstehen. Die Sprache erlaubt es uns,
nicht nur die Dinge aus einer gegenwärtigen Situation, sondern ebenfalls aus der
Zukunft oder Vergangenheit und jeder fiktiv gedachten Situation auszudrücken. Mittels
Sprache kann man sich in räumlichen, zeitlichen und gesellschaftlichen Dimensionen
bewegen und Übergänge zwischen den unterschiedlichen Zonen der Alltagswelt
schaffen. Mittels der Interaktion mit anderen Menschen kann man nicht nur Kategorien
und Typisierungen entwickeln, sondern ebenfalls ganze Symbolsysteme erschaffen, wie
sie beispielsweise in der Kunst oder Religion zu finden sind.72
4.3 Die Bedeutung der Wirklichkeit unserer Alltagswelt im Arbeitsleben
Doch was bedeutet die Wirklichkeit unserer Alltagswelt nun für unser Arbeitsleben und
welchen Stellenwert nimmt sie für das Fühlen und Erleben in Zeiten des Wandels ein?
Menschen benötigen sie, um die Komplexität der Welt um sich herum zu reduzieren
und dadurch handlungsfähig zu bleiben. Es werden Verhaltens- und Handlungsmuster
70 Berger. P. L.; Luckmann, T. (2004): 21 ff. 71 Berger. P. L.; Luckmann, T. (2004): 31 ff. 72 Berger, P. L.; Luckmann, T. (2004): 36 ff.
in Form von Assoziationsnetzen gebildet, die automatisiert ablaufen und uns dadurch
helfen, unserem Leben eine sinnhafte Struktur zu geben, die man nicht weiter
hinterfragen muss.
Der Umstand, dass wir morgens immer zur selben Zeit aufstehen, um an den selben Ort
zu fahren (Arbeit), wo wir immer auf dieselben Menschen treffen, mit denen wir
gemeinsam bestimmte Produkte herstellen, gehört beispielsweise dazu. Ebenfalls
selbstverständlich ist es für uns, dass wir an diesem Ort die Post im Sekretariat abgeben,
die Abrechnungen der Kollege A macht, Kollege B wiederum ein guter
Ansprechpartner bei rechtlichen Problemen ist und es eine Person auf der Arbeit gibt,
die mehr zu sagen hat, als andere (Chef) und die man bei genau festgelegten
Fragestellungen mit einbeziehen muss. Wir haben klare Aufgaben, die wir in einem
bestimmten Zeitrahmen zu erledigen haben, eine feste Stundenzahl, die wir pro Woche
im Betrieb bleiben müssen, meistens eine von allen mit Murren akzeptierte Anzahl von
Überstunden, die als normal gelten, festgelegte Riten von Kaffee- oder Raucherpausen
und ein „Ding mit vier Beinen“ (Tisch), den wir als unseren Arbeitsplatz benennen und
an dem kein anderer außer uns sitzen darf, ausgestattet mit einem Rechner an dem wir
schreiben, wobei wir bei letzterem nicht wissen, wie die Buchstaben eigentlich auf den
Bildschirm kommen, jedoch mit großer Selbstverständlichkeit davon ausgehen, dass sie
es tun. Das ist die Bühne, die wir als unsere Wirklichkeit wahrnehmen und auf der wir
uns mit einer großen Selbstverständigkeit bewegen.
Gleiches gilt auch für die Interaktionsformen, die wir in unserer Alltagswelt erwarten
und benutzen. Mit zunehmender Vertrautheit haben wir Typisierungen herausgebildet,
die die Interaktionen mit anderen Menschen wie Arbeitskollegen bestimmen. Den Chef
spricht man nach zehn Dienstjahren immer noch mit „Sie“ an und man weiß genau,
dass er bei Unpünktlichkeit einen cholerischen Anfall bekommt, somit versucht man,
diese zu vermeiden. Bei Kollegen A ist man am besten vorsichtig, wenn er im Stress ist,
denn dann reagiert er immer unfreundlich, mit dem Kollegen B kann man sich herrlich
gegenseitig necken und die Sekretärin beschwert sich immer lang und breit über zu viel
Arbeit, wenn man sie um etwas bittet, führt dann aber letztlich doch jeden Wunsch aus.
Diese Alltagswelt, in der wir uns bewegen, wird in der Regel als unproblematisch erlebt,
zumindest solange, wie die Konstruktion dieser Wirklichkeit funktioniert. Ebenfalls
bietet sie uns Sicherheit und Struktur und daneben haben wir noch viel Zeit und
Energie darin investiert, uns mit Arbeitstätigkeiten, Rollen und Kollegen zu
arrangieren.73 Die Alltagswelt wird also als wirklich hingenommen, sie ist einfach da und
eine zusätzliche Verifizierung ist nicht weiter nötig. Man weiß, dass sie wirklich ist und
obgleich man in der Lage wäre, dies in Frage zu stellen, werden etwaige Zweifel meist
schnell abgewehrt, um weiter in der Routinewelt existieren zu können.74 „Diese
Ausschaltung des Zweifels ist so zweifelsfrei, dass ich, wenn ich den Zweifel einmal
brauche (...), eine echte Grenze überschreiten muss.“75
Unser Erleben der Alltagswirklichkeit ist so konstruiert, dass sie in einem Automatismus
abläuft und somit als unproblematisch und unkompliziert erlebt wird. In dem
alltäglichem Handeln macht man sich im Regelfall keine Gedanke über Alternativen zu
diesem Automatismus. Befindet man sich jedoch plötzlich in einer Grenzsituation, also
in einer Situation, wo die Alltagswirklichkeit nicht mehr als logischer
Erklärungshintergrund nutzbar ist, wird die alltägliche Routine um uns gestört.
Beispielsweise, wenn keine Buchstaben auf unserem Rechnerbildschirm erscheinen oder
jemand morgens an unserem Arbeitsplatz sitzt. Dann erst nehmen wir überhaupt wahr,
dass die von uns als Wirklichkeit wahrgenommene Alltagswelt konstruiert ist.76
Es kann sogar auch passieren, dass unsere Konstruktion der Alltagswelt weit mehr als
nur gestört wird. Sie kann ernsthaft gefährdet erscheinen (man weiß nicht, ob man
vielleicht aus seinem Job entlassen wird) oder sogar zusammenbrechen (man wird
tatsächlich aus seinem Job entlassen). Dies wiederum gefährdet unsere Wirklichkeit der
Alltagswelt und führt zu Störungen, da man sich mit unerwarteten Rahmenbedingungen
konfrontiert sieht, für deren neue Bedingungen die eigenen Handlungsentwürfe nicht
geeignet sind. Also erst wenn plötzlich routiniertes Verhalten unterbrochen wird, und
man wieder gezwungen ist, die eigene Alltagswirklichkeit in Frage zu stellen, wird sie in
der Interaktion mit anderen Wirklichkeiten überarbeitet und neu konstruiert.77 Im Sinne
der Chaostheorie könnte man auch sagen, das System muss sich erst in einem instabilen
Zustand befinden, um von diesem Zustand des Chaos in einen neuen Ordnungszustand
übergehen zu können.
Das heißt, Veränderungen bedrohen auch immer die Wirklichkeit unserer Alltagswelt,
denn plötzlich funktionieren lang antrainierte und routinierte Muster und
Verhaltensweisen nicht mehr und man steht einer Komplexität gegenüber, mit der man
73 Steins, G. (2003): 58 f. 74 Berger, P. L.; Luckmann, T. (2004): 26 75 Berger, P. L.; Luckmann, T. (2004): 26 76 Steins, G. (2003): 58
zunächst nicht umzugehen weiß. Dies gilt natürlich auch für Veränderungsprozesse in
einer Organisation. Mitarbeiter haben liebgewonnene Gewohnheiten entwickelt und
sich einen vertrauten Rahmen geschaffen, der einem sicher hilft sich zu verhalten.
Umstrukturierungsprozesse jedoch bedeuten, dass neue Rahmenbedingungen
geschaffen werden. Man fusioniert mit einer anderen Firma, es werden Abteilungen
zusammengelegt, Aufgabenbereiche verändert und neu verteilt, es werden Stellen
abgebaut und Mitarbeiter versetzt. Dies führt dazu, dass Handlungsentwürfe nicht mehr
funktionieren, vertraute Haltegriffe und Orientierungspunkte entzogen und gewohnte
Reaktions- und Verhaltensmuster überdacht und überarbeitet werden müssen. Und das
führt zunächst zu einer Gefühlreaktion: Angst und Unsicherheit. Diese Gefühle
wiederum bewirken, dass zunächst einmal versucht wird, am bereits Bekannten und
Gewohnten festzuhalten und dadurch Veränderungen nicht mitzutragen, also
Widerstand zu leisten.78
Dass Beharrungstendenzen bei anstehenden Veränderungen auftreten, liegt also in der
Natur der Sache und begründet sich damit, dass einzelne Mitarbeiter sowie das
übergeordnete Sozialsystem der für Systeme üblichen Tendenz zur Stabilität folgen.79
Das heißt, für viele Menschen sind Veränderungen zunächst mit eher negativen
Gefühlen verbunden. Doch Menschen sind verschieden und so gibt es bestimmte
Aspekte der menschlichen Persönlichkeit, die es einem Menschen ermöglichen sich
besser, oder eben auch schlechter auf Veränderungen einzustellen. Das heißt mehr oder
weniger negative Gefühle hinsichtlich Veränderungen zu entwickeln. Darauf, wie die
menschliche Persönlichkeit entsteht und wie sich Aspekte der menschlichen
Persönlichkeit auf Veränderungen auswirken, soll nun im Folgenden weiter eingegangen
werden.
4.4 Die menschlichen Persönlichkeit und ihr Einfluss auf den Umgang mit
Veränderungen
Warum sind Menschen unterschiedlich in ihren Fähigkeiten, ihre gewohnten Muster zu
verlassen und warum ist es für manche leichter, sich auf Veränderungen einzustellen als
für andere? Es scheint einzigartige und individuelle Muster von Eigenschaften eines
Menschen zu geben, die dessen Wahrnehmung und somit auch sein Verhalten
77 Steins, G. (2003): 58 f. 78 Doppler, K; Fuhrmann, H. (2002): 126 ff. 79 Kruse, P. (2004): 60
bestimmen. Um sich auf betriebliche Umstrukturierungsprozesse einstellen zu können,
haben beispielsweise besonders die Menschen Vorteile, für die der Verzicht auf
Klarheit, Eindeutigkeit und Vorhersehbarkeit nicht als psychischer Stress
wahrgenommen wird, sondern als Möglichkeit der Weiterentwicklung, Verbesserung
und Befreiung von Abhängigkeiten und falschen Sicherheiten.80 Denn in Situationen der
Veränderung sind Dinge in ihrer Bedeutung oft unscharf, mehrere Aspekte und
Perspektiven spielen eine Rolle und sind nicht hundertprozentig planbar in ihrer
Auswirkung.
Es gibt unterschiedliche psychologische Ansätze, die sich mit der Entstehung
menschlicher Persönlichkeit beschäftigen und jeweils verschiedene Blickwinkel
einnehmen. Grundsätzlich ist bei der Persönlichkeitsentwicklung eines Menschen
zwischen zwei Dingen zu unterscheiden. Den biologischen Voraussetzungen, also den
Anlagen, die durch unsere Gene beeinflusst werden und dem Bereich der
Persönlichkeit, der trotz identischer genetischer Veranlagungen von Mensch zu Mensch
verschieden ist. Persönlichkeit wird auch durch den Austausch mit der Umwelt
erzeugt.81 Das bedeutet, dass sie als Bedingung für ihre Entwicklung auch immer die
„Bedingungen der konkreten Gesellschaft mit den ihr eigenen Wesenszügen“82 benötigt.
Um individuelle Unterschiede in der Entwicklung der Gesamtpersönlichkeit zu erklären,
bietet sich ebenfalls der soziale Konstruktivismus als eine Herleitung an.
4.4.1 Die Entstehung der menschlichen Persönlichkeit aus konstruktivistischer
Perspektive
Um an den vorangegangenen Abschnitt über die Entstehung der Wirklichkeit unserer
Alltagswelt anzuknüpfen, kann man sagen, dass Sprache nicht nur Typisierungen,
Kategorien und Symbolsysteme schafft, sondern ebenfalls ein entscheidender Faktor für
die Entwicklung der Persönlichkeit ist. Denn die Persönlichkeit eines Menschen kann
sich immer nur in der Interaktion zwischen dem Individuum und der Gesellschaft
entwickeln. Das individuelle Bewusstsein ist immer gesellschaftlich determiniert -
gleichzeitig kann eine Gesellschaft nur dann existieren, wenn es Individuen gibt, die sich
ihrer bewusst sind. Ein Individuum kann sich also niemals seiner Selbst bewusst werden
80 Doppler, K; Fuhrmann, H. (2002): 126 ff. 81 Simon, W. [Hrsg.] (2006): 9 ff. 82 Simon, W. [Hrsg.] (2006): 11
und somit eine Identität ausbilden, wenn es sich nicht im Kontakt zu anderen erfährt.83
Begrifflichkeiten wie „Eigenes“ und „Anderes“ würden also ohne einander nicht
existieren, denn „ohne das Andere ist das Eigene nicht erkennbar“84. Die bewusste
Kommunikation eines Individuums entwickelt sich also aus der unbewussten
Kommunikation innerhalb eines gesellschaftlichen Prozesses. Gleiches gilt für die
Entwicklung von Symbolen wie Sprache und Regelsystemen – auch hier werden
unbewusst verwendete Symbole zu bewussten mittels gesellschaftlicher Interaktion.
Denn unser Handeln löst eine bestimmte Reaktion bei unserem Gegenüber aus, dessen
Reaktion wiederum Auswirkungen auf unser eigenes Handeln hat, welches nun
aufgrund der Reaktion unseres Gegenübers abgewandelt wird.85
Die menschliche Persönlichkeit wird während der Sozialisation des Menschen
entwickelt. Die Sozialisation beginnt zunächst in der Form von Kontakten des Kindes
zu sogenannten signifikanten Anderen, also Personen, zu denen wir einen konkreten
Bezug herstellen können, wie den Eltern, den Großeltern oder später dem Erzieher oder
Lehrer. Welche Inhalte genau im Rahmen der Sozialisation erlernt werden, ist wiederum
abhängig davon, in welcher Gesellschaft wir geboren werden. Denn die von den Eltern
gelebte Wirklichkeit wird von dem Kind als gegeben und objektive Wirklichkeit
wahrgenommen und auf deren Basis konstruiert es die eigene Wirklichkeit der
Alltagswelt.86 Die sogenannte Wirklichkeit der Alltagswelt ist also für die Konstruktion
der Persönlichkeit von entscheidender Bedeutung.87 Zum einen lernt das Kind von
seinen Eltern oder anderen Bezugspersonen, wie „man sich benimmt“ - dass man
beispielsweise bestimmte Dinge nicht in den Mund nimmt, sich beim Niesen die Hand
vor den Mund hält und dass man mit Messer und Gabel zu essen hat.88
Zum anderen werden auch Emotionen und Rollen in dieser Zeit gelernt. Das heißt,
auch die menschlichen Emotionen werden quasi als Produkte aus sozialen Prozessen
hervorgebracht und sind somit ein Konstrukt der menschlichen Vorstellung. Es gibt,
ähnlich wie bei der Sprache, unterschiedliche „Emotionsmuster“, die sich aus sozialen
Praktiken ableiten und dadurch in Form eines Interpretationsschemata Bedeutung für
die einzelnen Menschen erlangen. Emotionen werden von uns im Rahmen des
83 Mead, G. H. (1998): 177, 183 84 Leifeld, U. (2002): 61 85 Mead, G.H. (1998): 222 86 Berger, P. L.; Luckmann, T. (2004): 145 87 Steins, G. (2003): 58 88 Berger, P. L.; Luckmann, T. (2004): 62 f.
Sozialisationsprozesses „in Form emotionaler Perspektiven, Verhaltensweisen oder
Identifikationen erworben und entwickelt“89.90 Hierzu gehört beispielsweise wann man
wütend wird und wie man seine Wut zum Ausdruck bringt, ob man sich bei Trauer eher
zurückzieht, oder Kontakt zu anderen Menschen sucht und eben auch, ob man
Veränderungen neugierig und aufgeschlossen gegenüber steht, oder ihnen mit Angst
und Unsicherheit begegnet. Für das emotionale Erleben des Einzelnen sind also immer
auch die sozialisierten Wahrnehmungen und Beurteilungen von Bedeutung.91 Man kann
sagen, dass sich das soziale Fundament einer Emotion in Form von Schemata und
Rollen äußert.92
Diese - zunächst in Beziehung zu den signifikanten Anderen erlernten -
Bedeutungszusammenhänge werden nach und nach ebenfalls in Beziehung zu den
unterschiedlichsten gesellschaftlichen Sinnzusammenhängen gesetzt, es werden also die
von den konkreten Bezugspersonen vermittelten Regeln generalisiert. Das heißt man
lernt im Laufe der Sozialisation die „objektive“ Wahrheit der Gesellschaft, in der man
lebt, und internalisiert sie letztlich als seine subjektive Wirklichkeit – übernimmt also
eine Welt in der Andere schon leben.
Die Entwicklung von Persönlichkeit kann allerdings nie als ein abgeschlossener Prozess
bezeichnet werden. Jedoch wird in den jungen Jahren der Grundstein für die Identität
einer Person gelegt und die in dieser Zeit entwickelte Identität „ist und bleibt die
„heimatliche Welt“, die wir noch in fernste Regionen des Lebens, wo wir keineswegs
heimisch sind, mit uns nehmen“93. Auch wenn der Sozialisationsprozess eines
Menschen nie abgeschlossen ist, da unsere verinnerlichte subjektive Wirklichkeit immer
„durch gesellschaftliche Beziehungen bewahrt, verändert oder sogar neu geformt“94
werden kann, wurde zu Beginn des Lebens die Grundlage gelegt, auf der man im
folgenden Leben aufbaut und die schwer veränderbar ist. Der Mensch konstruiert seine
Identität also vor dem Hintergrund seiner Lebenserfahrungen, die sich dann als Abbild
der Realität im Gehirn niederschlägt und auf deren Grundlage er handelt.
Auf der Basis von unterschiedlichsten Forschungen wurden im Laufe der Zeit mehr und
mehr Konzepte entwickelt, die bestimmte Persönlichkeitseigenschaften von Menschen
89 Küpers, W.; Weibler, J. (2005): 64 90 Küpers, W.; Weibler, J. (2005): 64 91 Küpers, W.; Weibler, J. (2005): 64 92 Küpers, W.; Weibler, J. (2005): 61 93 Berger, P. L.; Luckmann, T. (2004): 146 94 Berger, P. L.; Luckmann, T. (2004): 185
kategorisieren, also menschliches Verhalten erklären und Persönlichkeitseigenschaften
von Menschen in mentalen Schemata zusammenfassen. Diese Konzepte werden als
Persönlichkeitsmodelle oder als Persönlichkeitskonstrukte bezeichnet. Sie beschreiben
eine mentale Struktur von Individuen, die es dem einzelnen Menschen ermöglicht,
Informationen aus seiner Umgebung zu simplifizieren, wirksam zu bewältigen sowie
ihnen Sinn zu verleihen und Erkenntnisvermögen und Interpretationen von Ereignissen
und ihren Hintergründen zu verstehen und zu lenken.95 Da Menschen sich entweder
besser oder eben schlechter auf Veränderungen einstellen können, kann man vermuten,
dass die Persönlichkeit eines Menschen einen Einfluss auf sein Verhalten in einem
Veränderungsprozess hat. Es muss also bestimmte Aspekte der menschlichen
Persönlichkeit, sprich Persönlichkeitskonstrukte geben, die sich nachweislich auf das
Verhalten von Menschen in Veränderungssituationen auswirken.
4.4.2 Persönlichkeitskonstrukte und ihr Einfluss auf die
Veränderungsbereitschaft von Mitarbeitern
Wie bereits im Kapitel über das menschliche Gehirn dargestellt wurde, ist der Mensch
dazu in der Lage, aufgrund einzelner Hinweisreize ein gesamtes Assoziationsnetzwerk
zu aktivieren. Man kann hier von einer Form eines Automatismus sprechen.
Beispielsweise konnte in verschiedensten Untersuchungen nachgewiesen werden, dass
Einstellung und soziale Wahrnehmung ohne eine bewusste Intention des Individuums
entsteht. Die Einstellung eines Menschen wird schon durch die reine Präsenz des
Einstellungsobjektes automatisch aktiviert und übt dann ihren Einfluss auf Gedanken,
Emotionen und Verhalten aus. Das bedeutet, dass der erste Verhaltensschritt eines
Menschen unbewusst auf der Basis von bestehenden Mustern verläuft und zunächst
nicht vom Individuum zu steuern ist. Diese vorbewussten Einflüsse spielen eine noch
stärkere Rolle im Verhalten, solange sich die handelnde Person nicht über bestehende,
das Verhalten steuernde Muster bewusst ist, da sie somit auch nicht korrigiert werden
können. Erst wenn Persönlichkeitsmuster und das dadurch resultierende Verhalten
bewusst werden, kann auch das Verhalten vom Menschen bewusster gesteuert werden.96
Das heisst, hat ein Mensch also ein bestimmtes Assoziationsnetz erst einmal gelernt,
wird er in der Regel auch danach denken, fühlen und handeln. Es haben sich in den
letzten Jahrezehnten viele Forschungsvorhaben mit der Entwicklung von Skalen
95 Lau, C.-M.; Woodman, R. W. (1995): 538
bezogen auf psychologische Reaktionen von Individuen beschäftigt. Hierzu gehören
ebenfalls Skalen, die menschliche Einstellung und menschliches Verhalten in Bezug auf
Veränderungen erfassen. Hierzu gehören beispielsweise die von Oreg entwickelte Skala
„Resistance to Change“97, die von Wanberg und Banas entwickelte Skala „Openess to
Change“98 oder die von Ashford entwickelte Skala„ Coping with Change“99. Ebenfalls
gibt es Skalen, die die Bereitschaft einer gesamten Organisation hinsichtlich
organisationaler Veränderung auf unterschiedlichsten Ebenen erfassen. Beispielhaft zu
nennen ist die von Holt und Armenakis entwickelte Skala „Readiness for Organizational
Change“100.
Ebenfalls sind die verschiedenen Persönlichkeitskonstrukte der Menschen, also quasi
deren erlernten Assoziationsnetze, immer mehr erforscht worden. So gibt es bereits
unterschiedliche Persönlichkeitskonstrukte, die mit der Einstellung und dem Verhalten
von Menschen zu Zeiten von Veränderung in Zusammenhang gebracht werden. Man
kann also quasi von einem psychischen Konstrukt sprechen, dessen innewohnende
Dynamik bestimmte Verhaltensweisen zu Zeiten von Veränderung situativ unterstützt
und wiederum andere Verhaltensweisen unterdrückt.101 Es können im Rahmen dieser
Arbeit nicht alle dieser Persönlichkeitskonstrukte dargestellt werden. Um jedoch das
Verständnis für den Leser zu verbessern und ihm die Möglichkeit zu geben eine
Vorstellung davon zu bekommen, wie solche Persönlichkeitskonstrukte aussehen
können, werden im Folgenden beispielhaft drei dieser Persönlichkeitskonstrukte
skizziert (Kontrollüberzeugung, Ambiguitätstoleranz, Offenheit für Erfahrungen), die
in einer nachweislichen Beziehung zur organisationaler Veränderung stehen.
4.4.2.1 Kontrollüberzeugung
Das Persönlichkeitskonstrukt “Kontrollüberzeugung” wurde 1966 von Rotter
entwickelt und beschreibt den Grad des Glaubens eines Menschen darüber, in wie weit
er sein Leben und seine Umwelt selber kontrollieren kann. Unterschieden wird zwischen
der internalen Kontrollüberzeugung und der externalen Kontrollüberzeugung eines
Menschen. Personen mit einer eher internalen Kontrollüberzeugung glauben, dass sie
96 Bargh, J. A.; Chen, M.; Burrows, L. (1996): 230 ff. 97 Oreg, S. (2003): 680 ff. 98 Wanberg, C. R.; Banas, J. T. (2000): 132 ff. 99 Ashford, S. J. (1988): 19 ff 100 Holt, D. T.; Armenakis, A. A. [u.a] (2007): 232 ff. 101 Krohn, W.; Küppers, G. [Hrsg.] (1992): 147
selber einen großen Einfluss auf ihre Umwelt und ihren persönlichen Erfolg haben.
Menschen mit einer eher externalen Kontrollüberzeugung sehen ihr Leben durch
externe Faktoren gesteuert, wie beispielsweise durch machtvolle andere Menschen oder
eine Chance, die sich ergibt. Sie glauben daran, dass sie selber nur wenig Einfluss auf die
Entwicklungen in ihrem Leben nehmen können.102
4.4.2.2 Ambiguitätstoleranz
Die von Reis 1997 entwickelte Skala Ambiguitätstoleranz untersucht die Fähigkeit eines
Menschen, Urteile in der Schwebe zu halten bzw. zu nuancieren, und sich, wenn ein
Sachverhalt mehrere Deutungsmöglichkeiten zulässt, nicht vorschnell im Sinne von
Vorurteilen festlegen zu müssen. Ambiguitätstoleranz bedeutet „die Tendenz
unstrukturierte, unvollständige, erwartungswidrige, in sich widersprüchliche oder
mehrdeutige Informationen als Bedrohung oder als Ursache psychischen Unwohlseins
wahrzunehmen“103. Unterschieden wird hier zwischen Menschen, die mehrdeutige
Situationen als wünschenswert wahrnehmen und teilweise sogar aktiv suchen und
solchen, für die Unklarheit als Bedrohung wahrgenommen wird.
4.4.2.3 Offenheit für neue Erfahrungen
Die von Costa und McCrae 1989 entwicklte Skala „Offenheit für neue Erfahrungen“
misst das Interesse von Personen an neuen Erfahrungen, Erlebnissen und Eindrücken
und gibt an, wie stark sie sich mit diesen auseinandersetzen. Differenziert werden kann
zwischen Menschen, die neue Erfahrungen als positiv bewerten, also Abwechslung
bevorzugen, wissbegierig sind sowie sich durch Kreativität und Phantasie auszeichnen.
Ebenfalls sind sie bereit, bestehende Normen kritisch zu hinterfragen, andere
Wertvorstellungen anzunehmen und neue Handlungsweisen zu erproben. Dem
gegenüber stehen Menschen, die eher zu konventionellem Verhalten neigen,
konservative Einstellungen besitzen und Bekanntes und Bewährtes Neuem vorziehen.104
102 Judge, T. A.; Thoresen, C. J. [u.a.] (1999): 108 103 Reis, J. (1997): 7 104 Borkenau, P.; Ostendorf, F. (1993): 28
4.4.3 Der individuelle Umgang mit Veränderungen
Es konnte in den vergangenen Kapiteln gezeigt werden, dass das menschliche Gehirn
auf der Basis von Musterbildungs- und Mustererkennungsprozessen arbeitet und dass
diese Musterbildungsprozesse gesellschaftlich determiniert sind. Ebenfalls wurde
dargestellt, wie sich die menschliche Persönlichkeit bildet und dass es bestimmte
Persönlichkeitskonstrukte gibt, die es einem Menschen ermöglichen, sich besser oder
eben schlechter auf Veränderungen einstellen zu können. Auf der Basis der
vorangegangenen Kapitel konnte also die Frage beantwortet werden, warum Widerstand
gegenüber Veränderungen im Individuum entstehen kann. Doch wozu das Ganze?
Welchen Einfluss kann denn ein einzelner Mitarbeiter mit seinen individuellen
Einstellungen auf die Entwicklung einer gesamten Organisation haben?
Forschung, die sich mit organisationaler Veränderung beschäftigt, richtet ihren
Blickwinkel meist vermehrt auf eine makro- und systemorientierte Perspektive. Es wird
allerdings von einigen Autoren kritisiert, „dass sich die meisten Studien zu
organisationalen Veränderungen mit organisationalen Faktoren beschäftigen, und den
individuellen Level des Prozesses vernachlässigt haben“105. Denn mit diesem
Blickwinkel wird die Möglichkeit außer Acht lassen, dass die einzelnen Menschen in
Veränderungsprozessen einen Einfluss auf den Verlauf von Veränderungsvorhaben
nehmen können.
Dass Menschen dies können, lässt sich allerdings durch Forschungsergebnisse belegen.
In verschiedenen Untersuchungen wird die Wichtigkeit des individuellen Verhaltens für
den Erfolg einer Veränderung unterstrichen, wie beispielsweise bei Orth und Porras &
Robertson.106 Ebenfalls lieferten die Ergebnisse einer Studie von Lines das Ergebnis,
dass es eine negative Korrelation zwischen Widerstand gegen Veränderungsprozessen
und der Zielerreichung einer Organisation gibt. Das heißt, je mehr Widerstand es
innerhalb des Unternehmens gibt, desto weniger werden die von der
Unternehmensführung geplanten Ziele erreicht.107
Lau und Woodmann haben auf der Basis von qualitativen und quantitativen Methoden
untersucht, ob sich die Reaktionen auf organisationelle Veränderungen auf die
individuellen Veränderungsschemata von Menschen zurückführen lassen. „When an
105 Maus, J. (2007): 5 106 Maus, J. (2007): 8 107 Lines, R. (2004): 207 ff.
organization is undergoing changes, its members have some interpretation of and
expectations about these changes. The cognitive understanding of changes is guided by
a mental map representing the knowledge structures of change attributes and
relationships among different change events.”108 Ergebnis dieser Untersuchung war,
dass es einen signifikanten Zusammenhang zwischen Veränderungsschemata und den
individuellen Reaktionen auf Veränderungen gibt und diese Veränderungsschemata,
ebenfalls signifikant, durch die Persönlichkeit eines Menschen beeinflusst werden.109
Judge und Thoresen konnten in einer Studie nachweisen, dass sich die Persönlichkeit
eines Menschen und die dadurch resultierende Wahrnehmung von Veränderungen auf
das Verhalten von Managern in Veränderungssituationen auswirken. Untersucht wurde
der Einfluss von sieben verschieden Persönlichkeitskonzepten („locus of control“,
„openess to experience“, „tolerance for ambiguity“, „generalized self-efficacy“, „self-
esteem“, „positive affectivity“ and „risk aversion“) auf Reaktionen von Managern
bezüglich organisationaler Veränderung. Es konnte zwischen allen der auserwählten
sieben Persönlichkeitskonzepten und dem erfolgreichen Umgang mit Veränderungen
ein signifikanter Zusammenhang aufgedeckt werden.110
Die aufgeführten Untersuchungen sind natürlich nur ein kleiner Ausschnitt dessen, was
es an Forschungen auf dem Gebiet des Veränderungsmanagements gibt. Sie scheinen
allerdings zu belegen, dass die einzelnen Mitarbeiter einer Organisation durch ihre
Unterstützung oder eben ihren Widerstand gegen das geplante Veränderungsvorhaben
einen nicht unwesentlichen Beitrag zum Erfolg bzw. Misserfolg desselben leisten.
Ebenfalls wird gezeigt, dass ein nachweislicher Zusammenhang zwischen der
Persönlichkeit eines Menschen und seinem Umgang mit Veränderungen besteht. Das
bedeutet, dass der Erfolg oder nicht Erfolg von Veränderungsprozessen sich auch auf
die Persönlichkeit eines Menschen zurückführen lässt.
Auf der Basis der hier exemplarisch skizzierten Studien lässt sich also formulieren, dass
eine Möglichkeit zur Verbesserung des Erfolges von Veränderungsvorhaben im
Individuum zu suchen ist. Das bedeutet natürlich nicht, dass für den Erfolg von
Veränderungen nicht ebenfalls auf der Makro-Ebene eines Unternehmens angesetzt
werden muss. Denn es ist natürlich einseitig und unzureichend, Widerstand nur aus der
individuellen Perspektive zu betrachten. Doch Veränderungen werden immer noch von
108 Lau, C.-M.; Woodman, R. W. (1995): 538 109 Lau, C.-M.; Woodman, R. W. (1995): 537 ff.
Mensch zu Mensch vollzogen und nur mit der Bereitschaft der Mitarbeiter lassen sich
Veränderungsvorhaben realisieren. Was allerdings nicht vergessen werden darf, ist die
Tatsache, dass die einzelnen Mitarbeiter einer Organisation Teile eines
Organisationssystems sind. Somit wirken sich die Einstellung und das Verhalten eines
einzelnen Mitarbeiters in Form von Rückkopplungsprozessen auch immer auf das
Gesamtsystem aus und das Gesamtsystem wiederum auf die Individuen, die in ihm
agieren.
110 Judge, T. A.; Thoresen, C. J. (1999): 107 ff.
5 Systemtheorie
Bislang konnte anhand der Theorie komplexer Systeme erklärt werden, wie Chaos und
Ordnung entstehen und dass es notwendig ist, ein System zunächst in einen instabilen
Zustand zu bringen, um ein neues Ordnungssystem herzustellen, also Veränderung zu
bewirken. Ebenfalls konnte die Entstehung von Widerstand auf der Basis individueller
Musterbildungsprozessen, die wiederum zu bestimmten menschlichen
Verhaltensmustern führen, erklärt werden. Diese Arbeit hat sich also zunächst einmal
auf einer sehr komplexen Ebene mit dem Thema Veränderung beschäftigt und danach
einen Blick auf die Mikroebene des Individuums geworfen, um hier das Phänomen
Widerstand gegenüber Veränderungsprozessen erklären zu können. Um jedoch die
Dynamik von Widerstand innerhalb einer Organisation erfassen zu können, muss der
Blick nun auch mit auf die Organisation als Ganzes gerichtet werden.
In dem jetzt folgenden Abschnitt wird es darum gehen, darzustellen, welche Bedeutung
das Individuum für die erfolgreiche Implementierung von Veränderungsprozessen
einnimmt. Da es sich bei Organisationen um Systeme handelt, die bestimmten
Gesetzmäßigkeiten gehorchen, ist es zunächst einmal notwendig zumindest einige dieser
Gesetzmäßigkeiten näher zu beleuchten. Man muss also wissen, wie ein System
zusammengesetzt ist und wie es funktioniert. Die theoretische Grundlage hierfür bildet
die Systemtheorie, wobei bei den nachstehenden Erklärungen von Grundbegriffen im
wesentlichen auf die Systemtheorie von Luhmann zurückgegriffen wird.
5.1 System und Umwelt
Was ist also ein System und wie lässt es sich abgrenzen? Um ein einzelnes System
analytisch betrachten zu können, muss es zunächst von dem Gesamtsystem der Welt
abgetrennt werden. Man kann ein System als eine Gesamtheit von einzelnen Elementen
bezeichnen, die in einer Wechselwirkung zueinander stehen, wobei ein System,
bestehend aus seinen einzelnen Elementen, nur über die Abgrenzung zu seiner Umwelt
definiert werden kann.111 Das heißt, dass „das System seine eigenen Elemente
einschließt und damit die Umwelt ausschließt“112. Umwelt existiert allerdings nicht an
sich, also als eigenes System, denn sie stellt sich für jedes System anders dar, das heißt,
ein System ist Gestalter seiner Umwelt.
111 Krieger, D. J. (1996): 12 f. 112 Krieger, D. J. (1996): 13
Zu unterscheiden ist in diesem Zusammenhang zwischen zwei Komplexitätsstufen von
Umwelt, die ein System umgeben. Hierzu gehört einmal die Weltkomplexität, die als
Umwelt aller möglichen Systeme bezeichnet werden kann. Zum zweiten existiert eine
systemrelative Umwelt, die für jedes System seine eigene ist und von ihm selber
konstruiert wird.113 Systeme können nicht ohne ihre Umwelt bestehen, denn um sich
selber konstituieren zu können, müssen sie eine Differenz zu ihrer Umwelt erzeugen
und erhalten. Das System muss also eine Grenze herstellen, wobei die Grenzerhaltung
als Systemerhaltung bezeichnet werden kann. Gibt es diese Grenze nicht mehr, hört
auch das System auf zu existieren.114
Durch die Grenze zwischen System und seiner Umwelt enthält das System zwangsläufig
weniger Elemente, als die des Gesamtsystems der Welt. Ebenfalls wird ein System
dadurch bestimmt, dass die einzelnen, sich innerhalb des Systems befindlichen
Elemente, miteinander in Beziehung treten. Dieses in Beziehung miteinander treten
bezeichnet Luhmann als Operation. Ist eine Operation anschlussfähig, also findet
nachfolgend an eine Operation eine weitere Operation gleichen Typus statt, entsteht ein
System. Ein System wird also durch die Verkettung von Operationen gebildet.115 Durch
die Verbindung von einer endlichen Zahl an Elementen innerhalb der Systemgrenzen
bedeutet die Entstehung eines Systems die Reduktion von Komplexität. Und genau dies
ist der Sinn von Systemen, sie reduzieren die Komplexität des Gesamtsystems der Welt.
Neben der Tatsache, dass Systeme operieren und sich dadurch von ihrer Umwelt
abgrenzen, tun sie noch etwas anderes, sie beobachten. Denn das System muss ja
erkennen können, ob eine Operation zu dem System selber gehört oder eben zu seiner
Umwelt.116 Die Fähigkeit zu beobachten ist von grundlegender Bedeutung, wenn eine
Unterscheidung zwischen beispielsweise System/Umwelt getroffen werden soll, denn
nur so kann ein System die Grenze zwischen sich und seiner Umwelt definieren.
Gleichzeitig benötigt jede Beobachtung eine Unterscheidung, damit sie überhaupt
beobachten kann. Das System muss also entscheiden, ob eine Operation zu dem System
selber gehört, oder eben nicht. Diese Entscheidung wird aus der Perspektive des
jeweiligen Systems getroffen. Das bedeutet, jede Beobachtung wird von dem jeweilig
113 Krieger, D. J. (1996): 14 ff. 114 Krieger, D. J. (1996): 13 115 Luhmann, N. (2006): 77 116 Luhmann, N. (2006): 59
beobachtenden System konstruiert und was beobachtet wird, ist letztlich von der
Unterscheidung abhängig, die eine Beobachtung verwendet.117
Hier lässt sich Bezug nehmen auf den Konstruktivismus, der aussagt, dass es keine
allgemeingültige Wirklichkeit gibt, sondern jede Wirklichkeiten eine subjektive ist,
entsprechend auch jede eingenommene Perspektive eine subjektive darstellt. „Die
Systeme kopieren die System-Umwelt-Differenz, also eigentlich ihre Außengrenze, noch
einmal in sich hinein und benutzen diese Abgrenzung intern als Grundkategorie für ihr
sämtliches Unterscheiden, sämtliches Beobachten.“118 Diesen Widereintritt der
Außengrenze in das System wird von Luhmann als „Reentry“ bezeichnet.
5.2 Autopoiesis und Selbstorganisation
Auf der Basis der vorangegangenen Ausführungen lässt sich formulieren, dass einem
System immer nur die eigenen Operationen zur Verfügung stehen. Diese systemeigenen
Operationen bilden zum einen die Grundlage für den Aufbau von Strukturen innerhalb
des Systems. Zum anderen determinieren sie den historischen Zustand des Systems, also
„die Gegenwart, von der alles Weitere ausgehen muss“.119 Das heißt, was in einem
Moment passiert und in diesem Moment wahrgenommen wird, bildet den
Ausgangspunkt für die darauf folgende Handlung.
In diesem Zusammenhang lässt sich noch einmal auf eine der Aussagen der
Chaostheorie verweisen, die die hohe Bedeutung der jeweiligen Anfangsbedingungen
für die weiteren Entwicklungen eines Systems unterstreicht. Luhmann differenziert
zwischen den Begriffen „Selbstorganisation“, die er als die „Erzeugung einer Struktur
durch eigene Operationen“120 beschreibt und dem der „Autopoiesis“, die einen Zustand
determiniert, „von dem aus weitere Operationen möglich sind“121. Die Strukturen eines
Systems können also nur dann wirksam werden, wenn das System auch operiert, sie sind
entsprechend nur in der Gegenwart existent. Wie auch in der Chaostheorie wird hier der
klassischen Vorstellung widersprochen, in der Strukturen als etwas beständiges
angesehen werden und Prozesse oder Operationen als etwas vergängliches.122
117 Schuldt, C. (2006): 49 118 Berghaus, M. (2003): 44 119 Luhmann, N. (2006): 101 120 Luhmann, N. (2006): 101 121 Luhmann, N. (2006): 101 122 Luhmann, N. (2006): 101 f.
Doch die Gegenwart kann nur dann bestehen, wenn auch die Kopplung an die
Vergangenheit, also an ein Gedächtnis, erfolgt. Gedächtnis wird von Luhmann
allerdings nicht als gespeicherte Vergangenheit angesehen, sondern als eine „laufende
Konsistenzprüfung von unterschiedlichen Informationen im Hinblick auf bestimmte
Erwartungen“123. Es wird also überprüft in wie weit zu erwarten ist, dass eingefahrene
Gewohnheiten, man könnte auch sagen Muster oder Strukturen, für die Erreichung
eines zukünftigen Zustandes von Nutzen sind. „Strukturen sind Erwartungen in Bezug
auf die Anschlussfähigkeit von Operationen, sei es des bloßen Erlebens, sei es des
Handelns, und Erwartungen in einem Sinne, der nicht subjektiv gemeint sein muss.“124
Strukturbildung scheint also dadurch zu entstehen, dass eine Wiederholung stattfinden
und man eine Situation als die Wiederholung einer vorangegangenen erkennen muss.125
Man kann sagen, dass es sich hierbei um einen Musterausbildungs- und
Mustererkennungsprozess handelt.
Der Begriff der „Autopoiesis“ wurde von dem Biologen und Neurophysiologen
Humberto R. Maturana geprägt und von Luhmann übernommen. “Die autopoietische
Organisation wird als eine Einheit definiert durch ein Netzwerk der Produktion von
Bestandteilen, die 1. rekursiv an dem selben Netzwerk der Produktion von
Bestandteilen mitwirken, das auch diese Bestandteile produziert, und die 2. das
Netzwerk der Produktion als eine Einheit in dem Raum verwirklichen, in dem die
Bestandteile sich befinden.“126
Bei der Autopoiesis handelt es sich um ein Organisationsprinzip aller lebender Systeme.
Sie bedeutet, dass sich die Systeme selber erzeugen und erhalten können, indem sie die
Komponenten, aus denen sie bestehen, selber produzieren und herstellen. Ein zentrales
Kennzeichen autopoietischer Systeme ist ihre Geschlossenheit gegenüber ihrer
Umwelt.127 Das bedeutet, dass sie sich ausschließlich auf sich selber beziehen, wenn sie
operieren und sie besitzen keine informationelle Input/Output Schnittstelle, so dass
man sie entsprechend als autonom gegenüber ihrer Umwelt bezeichnen kann.
Umweltereignisse besitzen zunächst also keinen Informationswert für das
autopoietische System. Ereignisse in der Systemumwelt können als eine Form von
123 Luhmann, N. (2006): 103 124 Luhmann, N. (2006): 103 125 Luhmann, N. (2006): 107 126 Matura zit. in Krieger, D. J. (1996): 36 127 Schuldt, C. (2006): 24
Störung bezeichnet werden, die erst auf der Basis von systemeigenen
Organisationskonstruktionen zu Informationen für das System werden.128
Doch obwohl autopoietische Systeme eine Geschlossenheit gegenüber ihrer Umwelt
aufweisen, haben sie nicht nur Kontakt zu ihrer Umwelt, sondern sind sogar hochgradig
auf diese angewiesen. Das heißt es kommt zu einem ständigem Austausch von
Informationen zwischen System und Umwelt, wobei das System steuert, welche
Informationen es für sich annimmt und welche nicht. Autopoietische Systeme operieren
auf der Basis eigener Maßgaben, wobei sie gleichzeitig von einer Umwelt umgeben sind,
von der sie abhängig sind.129
Ein System besteht also ausschließlich aus Operationen und erschafft sich in einem
ständigen zielgerichteten, autokatalytischen Prozess mittels dieser Operationen quasi aus
sich selbst heraus selbst. Systeme entnehmen ihrer Umwelt immer das, was im Sinne der
bisherigen Operationen anschlussfähig ist, sie orientieren sich also an der Eigenlogik
systemeigener Strukturen und verfolgen das Ziel, Komplexität zu reduzieren.
5.3 Strukturelle Kopplung
Die Beziehung, die ein System zur Umwelt und somit zu anderen Systemen eingehen
kann, wird von Luhmann als strukturelle Kopplung bezeichnet. Sie ermöglicht es einem
autopoietischen System, welches ja nur selbstreferenziell agiert und somit nicht
innerhalb anderer Systeme operieren kann, sich dennoch mit anderen Systemen aus
seiner Umwelt abzustimmen. Die strukturelle Kopplung mit seiner Umwelt ist eine
Notwendigkeit für ein System, um sich an seine Umwelt besser anpassen und letztlich
weiter bestehen zu können. Da ein System jedoch eine bestimmte Struktur, also einen
bestimmten Möglichkeitsraum besitzt, mit dem es Informationen aus seiner Umwelt
verarbeiten kann, ist es auch nur in der Lage bestimmte Informationen zu verstehen.
Das bedeutet, dass die Kopplungen zwischen System und Umwelt hochselektiv sind
und durch sie sowohl etwas eingeschlossen, als auch gleichzeitig etwas ausgeschlossen
wird. „Die Reduktion von Komplexität, das Ausschließen einer Masse von Ereignissen
in der Umwelt von möglichen Einwirkungen auf das System ist die Bedingung dafür,
dass das System mit dem Wenigem, was es zulässt, etwas anfangen kann.“130
128 Krieger, D. J. (1996): 38 129 Schuldt, C. (2006): 25 130 Luhmann, N. (2006): 121
Im Laufe der Zeit wird also ein System immer ausdifferenzierter, seine Komplexität
wächst. Warum dies geschieht, lässt sich wieder auf die Differenz zwischen dem System
und seiner Umwelt zurückführen. Denn die Veränderungen, die ein System und seine
Umwelt durchlaufen sind unterschiedlich, was zu einer gewissen Spannung führt, die
wiederum bewirkt, dass sich das System mittels struktureller Kopplungen neu an seine
Umwelt anpasst. Das System passt sich also den veränderten Rahmenbedingungen an.
Ein System kann sich jedoch nicht allein aus sich heraus verändern. Um sich
weiterzuentwickeln und zu verändern benötigt ein System die Störung aus seiner
Umwelt.131 Das heißt somit natürlich auch, dass die Strukturentwicklung eines Systems
davon abhängig ist, welchen strukturellen Kopplungen es mit der Umwelt ausgesetzt
ist.132 Ein System, wie beispielsweise eine Organisation, operiert in Abgrenzung zu ihrer
Umwelt, entnimmt ihr jedoch gleichzeitig Informationen und verändert sich so im
Rahmen ihrer Möglichkeiten, bildet also ein neues Verhalten aus.133
5.4 Kommunikation
Überall bestehen soziale Systeme, für die die Begriffe der allgemeinen Systemtheorie
gelten. Als umfassenstes soziale System kann die Gesellschaft bezeichnet werden, die
wiederum Teil- bzw. Subsysteme, wie beispielsweise die Wirtschaft oder die Politik
herausbildet. Auch eine Organisation ist ein soziales System. Ein grundlegendes
Kennzeichen sozialer Systeme ist die Kommunikation. Jedes System besitzt einen
Operationstypus, der für das System charakteristisch ist und die Möglichkeit birgt
wieder anschlussfähig zu sein. Und soziale Systeme operieren dadurch, dass sie
kommunizieren.134 „Ein Sozialsystem entsteht, wenn sich Kommunikation aus
Kommunikation entwickelt.“135 Wie bereits dargestellt, kann und muss sich ein System
von seiner Umwelt unterscheiden. Diese Differenz wird mittels Kommunikation
geschaffen, die wiederum Kommunikation erzeugt. Das heißt, es schließt sich eine
Kommunikation an eine andere an, es kommt eine dritte und vierte hinzu, es wird
thematisiert, was bisher gesagt wurde und so weiter. Dieser Vorgang läuft allerdings
systemintern ab, in der Systemumwelt passiert gleichzeitig etwas anderes oder vielleicht
auch gar nichts. Um diese Kopplungen zwischen den unterschiedlichen
131 Berghaus, M. (2003): 55 132 Luhmann, N. (2006): 116 133 Berghaus, M. (2003): 56 134 Berghaus, M. (2003): 61 135 Luhmann, N. (2006): 78
Kommunikationen herstellen zu können, muss ein System „ausmachen, beobachten,
festlegen können, was zu ihm passt und was nicht“136.137 Um diese Anschlussfähigkeit zu
kontrollieren, muss ein System, wie bereits im vorangegangenen Kapitel dargestellt, über
die Fähigkeit der Selbstbeobachtung verfügen.138 Da soziale Systeme aus nichts anderem
als Kommunikation bestehen, sind die Menschen nach Luhmann keine Teile oder
Elemente sozialer Systeme. Gesellschaft ist also ein Netzwerk bestehend aus
Kommunikation und nicht ein Netzwerk bestehend aus Individuen. Das bedeutet
natürlich auch, dass nicht die Menschen kommunizieren, sondern nur die
Kommunikation kommunizieren kann.139
Hier stellt sich natürlich die Frage, was Kommunikation eigentlich bedeutet? Luhmann
beschreibt Kommunikation als eine dreistellige Einheit, die in Information, Mitteilung
und Erfolgserwartung in Form von Verstehen differenziert wird. Wenn kommuniziert
wird, wird zunächst eine Information aus den vielen existierenden Möglichkeiten
ausgewählt. Wenn ich als Chef zu einem Arbeitnehmer sage „Diese Aufgabe haben sie
sehr gut erfüllt“, ist diese Aussage gleichzeitig eine Entscheidung gegen viele andere, wie
„Sie haben sich keinerlei Mühe mit dieser Aufgabe gegeben“, „Sie haben ganz
ordentlich gearbeitet“ oder „Die Aufgabe haben sie zügig erledigt“. Diese Auswahl aus
schier unendlichen Möglichkeiten, wird dadurch begrenzt, dass Kommunikation
versucht einen Sinn herzustellen. Diese ausgewählte Information wiederum kann mittels
einer Mitteilung überbracht werden. Auch die Mitteilung beruht auf einer Selektion,
denn eine Person besitzt weit mehr Informationen, als sie je mitteilen kann, sie muss
also wiederum eine Auswahl treffen. Der Sender muss sich für bestimmte inhaltliche
Sinnvorschläge und Darstellungsweisen entscheiden und trifft gleichzeitig eine
Entscheidung gegen andere.140
Im Anschluss auf die Selektion der Information und der Selektion einer Mitteilung
richtet sich das Augenmerk auf den Empfänger, man kann von einer Erfolgserwartung,
also „die Erwartung einer Annahmeselektion“141 sprechen.142 Erst das Verstehen erzeugt
letztlich Kommunikation, denn wenn auf eine kommunikative Handlung eine weitere
erfolgen soll, muss der Empfänger zunächst einmal verstehen, dass es sich um eine
136 Luhmann, N. (2006): 81 137 Luhmann, N. (2006): 81 138 Luhmann, N. (2006): 81 139 Berghaus, M. (2003): 63 ff. 140 Berghaus, M. (2003): 73 ff. 141 Luhmann, N. (1984): 196
Mitteilung handelt. Wenn dies verstanden wurde, wird mit einer
Anschlusskommunikation reagiert; wurde sie nicht verstanden, bietet sich die
Möglichkeit einer reflexiven Kommunikation, also einer Kommunikation über die
Kommunikation.143 Doch auch die Reaktion des Empfängers besteht wiederum aus
einer Selektion unterschiedlichster Möglichkeiten. Jedoch beinhaltet seine Handlung
bereits die beiden Selektionen des Senders. Kommunikation besteht immer aus der
Synthese dieser drei Handlungen.
Auch menschliches Bewusstsein, also psychische Systeme sind nach Luhmann kein
Bestandteil von sozialen Systemen. Psychische und soziale Systeme operieren
unterschiedlich in ihrer eigenen Autopoiesis, sind also jedes für sich operativ
geschlossen, wobei jedoch beide Systemarten sich gegenseitig beeinflussen und
ohneeinander nicht existieren können. Es besteht hier eine äußerst starke wechselseitige
Abhängigkeit. Diese enge strukturelle Kopplung wird von Luhmann als Interpenetration
bezeichnet. Sie wird dadurch ermöglicht, dass sowohl soziale, wie auch psychische
Systeme sinnvoll operieren, wobei sie in erster Linie die Sprache nutzen. Das heißt Sinn
und Sprache sind von Kommunikations- und Bewusstseinssystemen gleichermaßen in
Gebrauch, wobei dadurch die Interpenetration quasi nahezu unbemerkt und reibungslos
verläuft.
Doch warum ist die Abhängigkeit zwischen diesen beiden Systemen so stark? Die
Bewusstseinssysteme können die Welt sinnlich erfahren, soziale Systeme besitzen diese
Möglichkeit der Wahrnehmung nicht. Das bedeutet, dass sie auf die Wahrnehmung
psychischer Systeme angewiesen sind, wenn sie etwas über ihre physikalische Umwelt
erfahren möchten. Und dieser Weg der Wahrnehmung führt über das individuelle
Bewusstsein, welches seine Wahrnehmungen und Eindrücke hauptsächlich durch die
Sprache an das soziale System übermittelt. Das Bewusstsein ist also eine
Vermittlungsinstanz zwischen Außenwelt und Gesellschaft. Jedoch kann die
Gesellschaft nur das wahrnehmen, was das Bewusstseinssystem mittels seiner selektiven
Wahrnehmung herausfiltert. Das heißt das Bewusstseinssystem ist die einzige
Möglichkeit, Kommunikation zu beeinflussen.144
142 Luhmann, N. (1984): 196 f. 143 Luhmann, N. (1984): 198 144 Berghaus, M. (2003): 71
5.5 Personen als Elemente sozialer Systeme
Es wurde im vorangegangenen Abschnitt dargestellt, dass Systeme in ihrer Ganzheit zu
betrachten sind, da ihre einzelnen Elemente miteinander in Beziehung stehen und sich
gegenseitig beeinflussen. Jetzt soll es noch einmal darum gehen, die Systemtheorie
konkret auf Organisationen und die in ihnen agierenden Individuen zu beziehen. Denn
in Luhmanns Theorie werden soziale Systeme aus der soziologischen Perspektive
betrachtet, bei der der handelnde Mensch nicht als Subjekt in den Blick kommt.145 Denn
Luhmann formuliert klar, dass der Mensch kein soziales System, also keine Organisation
bildet, sondern diese aus Kommunikation besteht. Aus dieser Perspektive verliert sich
jedoch der psychologische Aspekt. Im kommenden Abschnitt wird der Fokus mehr auf
die Individuen gerichtet, also die einzelnen Mitarbeiter eines Unternehmens. Denn wie
bereits in Abschnitt 4.4.3 gezeigt werden konnte, wirkt sich die individuelle
Persönlichkeit und Wirklichkeit der Alltagswelt eines Mitarbeiters auf dessen Umgang
mit Veränderungen und somit auf das System der Organisation als Ganzes aus. Um dies
beschreiben zu können, muss der Blickwinkel von der klassischen Systemtheorie auf
soziale Systeme in Form von Organisationen hingewendet werden, da sich hier gewisse
Besonderheiten finden lassen.
Eine wesentliche Besonderheit ergibt sich daraus, dass die Elemente sozialer Systeme
aus Personen und ihren Handlungen bestehen. Wer genau zu einem sozialen System
gehört, lässt sich oft nicht genau abgrenzen, sondern ergibt sich aus dem Blickwinkel
des Beobachters. Handlung oder Verhalten eines Menschen basieren jedoch nicht auf
dem einfachen Reagieren auf einen bestimmten Reiz, wie es beispielsweise bei einem
Molekül der Fall ist. „Der Handlungsbegriff impliziert, dass das Verhalten der Mitglieder
des Systems von ihren Gedanken, persönlichen Zielen, und Absichten sowie von ihren
Einstellungen und Empfindungen abhängt.“146 Wie bereits im Abschnitt über den
sozialen Konstruktivismus verdeutlicht wurde, liegen dem Verhalten der Menschen
subjektive Deutungen, Regeln, Gewohnheiten und Beziehungen zur Umwelt zugrunde,
deren Basis wiederum die individuell konstruierten Wirklichkeit jedes Einzelnen
bildet.147 Das heißt, Menschen machen sich ein Bild von ihrer jeweiligen Situation und
handeln auf der Grundlage dieses Bildes. Das Gedächtnis erzeugt also keine
photographischen Abbildungen von Sinneseindrücken, sondern nur dem Original
145 König, E.; Volmer, G. (2000): 31 146 Ellebracht, H.; Lenz, G. [u.a.] (2003): 19 147 Ellebracht, H.; Lenz, G. [u.a.] (2003): 19
ähnliche Eindrücke.148 „Dieses Prinzip (...) erinnert uns ganz allgemein daran, dass wir,
wenn wir an Kokosnüsse oder Schweine denken, keine Kokosnüsse oder Schweine im
Gehirn haben.“149 Vorerfahrungen, Hypothesen, Annahmen über die Wirklichkeit und
Emotionen prägen diese Abbildungen. Sinneseindrücke werden also nach individuellen
Mustern einsortiert.150 Unsere Wahrnehmung der Realität bestimmt auch, wie wir
miteinander kommunizieren.
Ebenfalls werden soziale Systeme wie Organisationen von sozialen Regeln bestimmt, die
beschreiben, wie wir uns innerhalb des Systems verhalten dürfen.151 Diese Regeln
beziehen sich auf das Zusammenleben und das Zusammenarbeiten. Sie können
differenziert werden in offizielle Regeln, beispielsweise dargestellt in einem
Organigramm einer Organisation oder in inoffizielle Regeln, die man in keinem
Organigramm findet, sondern die das Zusammenleben und –arbeiten informell
strukturieren und die sich jeder „Systemneueinsteiger“ in Interaktion mit anderen erst
einmal aneignen muss. Diese informellen Regeln bilden sich mit der Zeit aus und
bestimmen das Verhalten einzelner Mitarbeiter. Damit können sie für die
Weiterentwicklung der Organisation entweder unterstützend oder hinderlich sein.152
Genauso wie alle anderen Systeme befinden sich Organisationen in einem Prozess, das
heißt, sie entwickeln sich weiter. Dies geschieht angestoßen durch Einflüsse von außen,
oder durch Entwicklungen innerhalb der Organisation. Dadurch bedingt entwickeln
sich Menschen weiter, verändern ihre individuelle Konstruktion von Wirklichkeit.
Ebenfalls können offizielle und inoffizielle Regeln und Interaktionsstrukturen
umgeformt werden.153 Hierbei beeinflusst die Umwelt durch ihr Einwirken die
Organisation, wobei der Raum, den dieser Einfluss einnehmen kann, erst von den
Bedeutungszuschreibungen durch die Organisation selber festgelegt wird. So
bekommen beispielsweise Veränderungen sowie bestehenden Regeln und
Interaktionsstrukturen erst durch die subjektive Deutung des Mitarbeiters eine positive
oder negative Bewertung zugeschrieben.154
148 Haken, H.; Schiepek, G. (2006): 33 149 König, E.; Volmer, G. (2000): 32 150 Haken, H.; Schiepek, G. (2006): 33 151 König, E.; Volmer, G. (2000): 32 152 König, E.; Volmer, G. (2000): 38 f. 153 König, E.; Volmer, G. (2000): 41 f. 154 König, E.; Volmer, G. (2000): 40 f.
Wie bereits dargestellt, beeinflussen sich die einzelnen Systemelemente gegenseitig. Dies
gilt auch für die einzelnen Personen in Organisationen. Dadurch „entstehen immer
wiederkehrende Verhaltensmuster oder Interaktionsstrukturen, die den Regelkreisen
und Rückkopplungsprozessen in anderen Systemen entsprechen“155. Diese
Interaktionsstrukturen in Organisationen sind wiederum das Ergebnis von vorweg
abgelaufenen wechselseitigen Deutungen von Verhalten und somit Resultat auf der
Basis von individuell konstruierter Wirklichkeit.156
155 König, E.; Volmer, G. (2000): 39 156 König, E.; Volmer, G. (2000): 39 f.
6 Das Team und seine Bedeutung für die Entstehung von Widerstand
In welchem Zusammenhang stehen aber jetzt die Dynamik von Widerstand und die
Systemtheorie? Warum Widerstand entsteht wurde bereits erklärt. Vereinfacht
formuliert denkt und lebt der Mensch in „Ordnungsmustern“ und hat das
grundsätzliche Bestreben diese auch beizubehalten. Aus diesem Grund versucht er die
mit Veränderung einhergehenden instabilen Zustände zu vermeiden.
Jetzt geht es darum sich die Dynamik von Widerstand anzusehen. Denn widerstreben
einem Mitarbeiter die anstehenden Veränderungen in einer Organisation und trägt er
diese nicht mit, ist dies zunächst einmal, für sich betrachtet, völlig unproblematisch.
Doch der Mitarbeiter steht eben nicht für sich alleine, wie im vorangegangenen
Abschnitt über die Systemtheorie verdeutlicht werden konnte. Jeder Mitarbeiter ist Teil
des Organisationssystems und somit nimmt er mit seinem Verhalten zwangsläufig
Einfluss auf andere Elemente im System, also andere Mitarbeiter und somit auch auf die
Organisation als Ganzes. Eine Problematik ergibt sich also erst dann, wenn man den
Widerstand des Einzelnen in einen Zusammenhang zu dem gesamten
Organisationsgefüge setzt.
Diese Zusammenhänge zwischen einzelnen Systemelementen, hier also den
Mitarbeitern, wird aus systemischer Perspektive durch den Begriff der Rückkopplung
beschrieben. Rückkopplung bedeutet, dass die einzelnen Menschen innerhalb einer
Organisation miteinander in Beziehung stehen und sich gegenseitig beeinflussen. Ein
grundlegendes Konzept bildet hierbei auch die Theorie des sozialen Konstruktivismus,
die ja ebenfalls von einer Selbstkonstitution und Abgrenzung von Systemen ausgeht.
Systeme werden nicht gemacht, sondern entstehen auf der Basis von rekursiven
Anschlüssen systeminterner Operationen.
In Form der positiven Rückkopplung kann das bedeuten, dass das Widerstandsverhalten
eines Mitarbeiters sich auf das Verhalten eines anderen auswirkt und dessen Verhalten
wieder positiv auf den ersten zurückwirkt. Nehmen wir das Beispiel, dass in einem
Betrieb ein neues Computersystem eingeführt werden soll. Mitarbeiter A kann nicht
besonders gut mit Computern umgehen und hat sich gerade erst recht gut in das
bestehende System eingearbeitet. Er hat große Angst, dass er mit dem neuen System
nicht zurechtkommen wird und erklärt Mitarbeiter B immer wieder die Nachteile des
neuen Computersystems. Nach einiger Zeit ist Mitarbeiter B überzeugt. Diese
Überzeugung von Mitarbeiter B bestärkt Mitarbeiter A von der Richtigkeit seiner
Meinung. Das heißt es findet eine Art Schaukelbewegung statt, die sich sowohl in eine
positive, als auch in eine negative Richtung bewegen kann. Diese Schaukelbewegung
kann sogar soweit führen, dass ein System zusammenbricht. Im Falle des Beispiels sähe
das vereinfacht formuliert so aus, dass immer mehr Mitarbeiter von den Nachteilen
eines neuen Computersystems überzeugt wären und alles daran legen würden zu
demonstrieren, dass man mit dem neuen System nicht arbeiten kann. Schlimmstenfalls
führt die erhöhte Fehlerquote dazu, dass die Kosten-Nutzen Relation des neuen
Systems nicht mehr gegeben ist.
Das Gegenstück zur positiven Rückkopplung ist die negative. Negative Rückkopplung
führt letztlich zu einer Stabilisierung des Systems. Eine Variable wirkt sich positiv auf
eine andere aus, wobei diese dann die erste Variable wieder negativ beeinflusst. Das
wohl bekannteste Beispiel kommt aus der Evolutionstheorie und ist das biologische
Gleichgewicht. Nehmen wir die Hasenpopulation auf einer Insel. Wächst diese an, gibt
es mehr Nahrung für die Feinde der Hasen, wie beispielsweise den Fuchs. Die
Verbesserung der Nahrungssituation führt dazu, dass die Füchse mehr Nachkommen
zeugen. Die steigende Zahl der Füchse jedoch führt zu einer sinkenden Zahl der
Hasenpopulation, denn es werden mehr getötet. Dadurch, dass es weniger Hasen gibt,
sinkt zwangsläufig die Fuchszahl auf der Insel, denn es gibt nicht mehr genug Nahrung
für alle usw.157
Positive und negative Rückkopplung beschreiben die Beeinflussungsstruktur in einem
System. „Sie geben jedoch nur die Richtung einer Systemzustandsveränderung an und
sagen noch nichts über die Dynamik oder die Zeitdauer aus, in der diese
Zustandsveränderung erfolgt.“158 Die Zusammenhänge zwischen den Variablen können
linear verlaufen, oder sie können exponentiell von statten gehen. Die Wahrscheinlichkeit
von exponentiellen Verknüpfungen steigt mit der Komplexität eines Systems.159 Da es
sich bei einer Organisation um ein komplexes System handelt, ist die Wahrscheinlichkeit
einer exponentiellen Verknüpfung, also einer „Selbstaufschauklung“, relativ hoch.
Betrachtet man unbelebte Materie sind kausale Zusammenhänge, also die
Verknüpfungen zwischen Systemelementen, einfacher zu durchschauen. Bei der Frage
nach Beweggründen von Menschen für bestimmte Einstellungen, Emotionen und die
dadurch resultierenden Verhaltensweisen wird die Erklärung von Zusammenhängen viel
157 Wagner, R. H.. (2001): 14 f. 158 Wagner, R. H.. (2001): 17
schwieriger. Denn schon bei dem Informationsaustausch innerhalb einer Organisation,
somit der Kommunikation zwischen den Mitarbeitern über die anstehenden
Veränderungen, hängt die Verarbeitung der Information stark von dem Sender und dem
Empfänger der Information ab. Denn, wie im Abschnitt über die Systemtheorie erklärt,
findet während der Kommunikation immer ein Auswahlprozess aus verschiedenen
Informationen statt. Und dieser Auswahlprozess wird bedingt durch die individuellen
Ordnungsmuster der einzelnen Mitarbeiter. Diese Ordnungsmuster wurden wiederum
determiniert durch die jeweilige Gesellschaft in der man aufwächst und lebt.
Eine weitere wesentliche Komponente, die bei der Dynamik von Widerstandsprozessen
im Blick behalten werden muss, sind gruppendynamische Prozesse, die überall dort
stattfinden, wo Menschen über einen längeren Zeitraum zusammen sind.
Gruppendynamik wird in diesem Kontext verstanden als „das Geschehen in Gruppen,
die Dynamik von Veränderung und Kontinuität, mit anderen Worten: das Kräftespiel
einer Gruppe“160.
6.1 Die Entstehung einer Gruppe
Damit sich eine Gruppe bilden kann, ist das Vorhandensein von Zielen eine wesentliche
Voraussetzung. Eine Gruppe bildet sich erst dann, wenn es darum geht ein
gemeinsames Ziel zu erreichen. Im Falle eines Arbeitsteams sind dies die jeweiligen
Arbeitsziele, die es zu erfüllen gilt. Man muss jedoch zwischen dem persönlichen
Zielpool der einzelnen Gruppenmitglieder und dem Gruppenvertrag, also den
Gruppenzielen differenzieren. Jedes Mitglied eines Arbeitsteams bringt unterschiedliche
Zielvorstellungen mit. Inhaltlich geht es bei dem einzelnen Mitarbeiter beispielsweise
um Themen wie „gemocht werden“, „eine interessante Arbeit haben“, „Karriere
machen“ oder vielleicht auch „Freunde finden“. Der persönliche Zielpool jedes
Einzelnen wird dann quasi in einen „großen gemeinsamen Topf gegeben“, dem
Zielpool des Teams. Hier hinterlassen die Ziele ein unverwechselbares
Beziehungsgeflecht auf dessen Basis das Team eine gemeinsame Ausrichtung entwickeln
muss, es muss einen Gruppenvertrag schließen. Dieser Gruppenvertrag „entsteht auf
nachvollziehbaren, aber unkalkulierbaren Wechselwirkungen; die Gruppendynamik
159 Wagner, R. H.. (2001): 18 160 König, O.; Schattenhofer, K. (2006): 12
entzieht sich wegen der komplexen Wechselwirkungen zwischen den im Pool der
Gruppe schwimmenden Zielen der Formelbildung“161.162
Wie sich aus einer bloßen Menschenansammlung eine Gruppe mit einem
Gruppenvertrag entwickelt, lässt sich mittels des Prozesses der Selbstorganisation
erklären. Bei einer spontanen Ansammlung von Menschen kann man sagen, dass es sich
zu Beginn um eine Gruppe handelt, „in der zunächst keine Rollen und Positionen, keine
Erfahrungen und Aufgabenverteilungen, mit anderen Worten: keine Strukturen
bestehen“163. Erst im Laufe der Zeit entwickelt sich die „spontane
Menschenansammlung“ zu einer Gruppe mit einem festgelegten Ordnungsmuster.
Dabei bedient sich die soziale Strukturbildung offenbar sozialer und kultureller
Stereotypien, deren Bildung wiederum schon im Sozialisationsprozess, also quasi mit der
Geburt, begonnen hat.164 Das heißt, dass auch bei der Ausbildung von Gruppen die
Existenz von bestehenden Ordnungsmustern eine hohe Bedeutung einnimmt. Die
einzelnen Menschen innerhalb einer Gruppe verhalten sich auf der Basis ihrer
individuellen Ordnungsmuster und bilden damit eine wesentliche Grundlage für den
weiteren Verlauf einer Strukturbildung. Das kennen wir bereits aus der Chaostheorie.
Und so schaffen kleine Verhaltenselemente von einzelnen Menschen die
Voraussetzungen für weitere Verhaltensweisen, wobei Aktion und Reaktion wiederum
rekursiv wirken, sich also wechselseitig beeinflussen. Systemtheoretisch formuliert
spricht man hier von der Rückkopplung. So formen sich die Konturen einer Gruppe,
wobei durch die Entstehung von Ordnung und Struktur den einzelnen Menschen
Orientierung und Identität geboten wird. Natürlich schränken Struktur und Ordnung
innerhalb einer Gruppe die Verhaltensspielräume einzelner Menschen ein, das heißt die
Existenz einer Ordnung geht auch immer mit der Reduktion von Freiheitsgraden des
Einzelnen einher.165 Es entstehen also verschiedene Ordner in Form von Regeln,
Normen und Verhaltensweisen, denen sich die einzelnen Elemente des Systems, also die
Gruppenmitglieder, versklaven. Das bedeutet, dass der Einzelne zwar das Team mit
lebensnotwendigem Elementen versorgt (seinen persönlichen Zielen), die
Herausbildung einer Struktur ist allerdings wiederum die Leistung der gesamten Teams
161 Stahl, E. (2007): 13 162 Stahl, E. (2007): 2 ff. 163 Haken, H.; Schiepek, G. (2006): 30 164 Haken, H.; Schiepek, G. (2006): 30 165 Haken, H.; Schiepek, G. (2006): 31
und kann nicht durch einen Einzelnen erbracht werden.166 Hier passt dann der
altbekannte Satz: das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile.
Dieser Prozess der Selbstorganisation, also die Hinwendung zu einem Ordnungsmuster,
einer Gruppenstruktur, geht auch immer mit Gruppendynamik einher. Diese findet
immer innerhalb einer Gruppe statt und lässt sich nicht aufhalten. „Niemand, der in und
mit Gruppen zu tun hat, kann sozusagen autark entscheiden, ob Gruppendynamik
stattfinden soll oder nicht. Gruppendynamik ist wie das Wetter oder andere
Naturelemente: grundsätzlich immer vorhanden und in ihrer elementaren Wirkung nicht
steuerbar.“167 Erforscht worden ist allerdings, welche Elemente eine wichtigen
Bedeutungsraum für die Gruppendynamik einnehmen.
6.2 Teamrollen und Teamnormen
In Gruppen und Teams finden immer auch Normbildungsprozesse statt, die definieren,
was innerhalb eines Teams als wünschenswertes Verhalten bewertet wird. Teamnormen
können als Standards verstanden werden, die entweder von außen, oder durch die
einzelnen Teammitglieder in das Team hineingetragen wurden. Sie werden in
Interaktion der einzelnen Gruppenmitglieder herausgebildet und liefern die Möglichkeit
der Orientierung. Erst durch die Entwicklung von Teamnormen ist das
Zusammenarbeiten innerhalb eines Teams überhaupt erst möglich. Häufig gibt es einen
Widerspruch zwischen den expliziten, also offenen, oder von der Umwelt vorgegebenen
Normen und den impliziten, also unausgesprochenen oder im Gruppenprozess
entstandenen Normen. Die Teammitglieder passen sich dabei in der Regel den
impliziten Normen an.168
Ebenfalls existieren in allen Teams unterschiedlichste Rollenkonstellationen. Für die
Charakterisierung der unterschiedlichen Rollentypen stehen verschiedene Modelle zur
Verfügung. Die Gruppendynamik geht davon aus, dass in jedem Arbeitsteam eine
bestimmtes Repertoire an Rollentypen vorhanden sein muss, damit es arbeitsfähig ist.
Diese Rollentypen sind nicht unbedingt mit den persönlichkeitspsychologischen
Typologien gleichzusetzten, da sie nicht an bestimmte Personen gebunden sind, sondern
166 Stahl, E. (2007): 17 167 Doppler, K.; Fuhrmann, H. [u.a.] (2002): 122 168 König, O.; Schattenhofer, K. (2007): 44 f.
sogar situativ unter den Mitgliedern eines Arbeitsteams aufgeteilt werden können.169 Ein
Modell ist das von Raoul Schindler entwickelte rangdynamische Modell.
Abb. 16: Rangdynamisches Modell nach Raoul Schindler
Quelle: König, O.; Schattenhofer, K. (2007): 51
Ausgangspunkt des Modells ist, dass sich ein Gruppe immer in Auseinandersetzung mit
einem Gegenüber befindet. Dieses Gegenüber „G“ kann sowohl eine Person, eine
andere Gruppe oder ein an die Gruppe herangetragener Auftrag wie beispielsweise ein
Veränderungsvorhaben sein. Die Beziehung, die die Gruppe zu „G“ einnimmt, ist
meistens nicht eindeutig, sondern ambivalent. In der Auseinandersetzung mit „G“ bildet
sich letztlich eine Rangstruktur mit unterschiedlichen Rollentypen aus: Von Alpha wird
eine erfolgreiche Auseinandersetzung mit „G“ erwartet. Denn die Alphaposition führt
die Gruppe an, tritt aktiv für deren Ziele ein und verspricht Erfolg. Alpha steht für
Identität und Kontinuität und somit für die Sicherheit der Gruppe. Die Personen auf
der Gammaposition identifzieren sich mit dem Inhaber dieser Alphaposition. Solange
die Aktivitäten von Alpha erfolgversprechend sind, unterstützen die Gammas diese
Position und folgen ihr. Die Omegaposition repräsentiert die Position, die sich am
weitesten von Alpha entfernt hat, sich allerdings noch immer innerhalb der Gruppe
befindet. Omega steht hierbei für Verunsicherung, Veränderung und Neues und wird
sowohl als ein abzuwehrendes, wie auch als faszinierendes Gruppenmitglied betrachtet.
Inhaber der Omegaposition stellen den momentanen Zustand in der Gruppe in Frage
und geraten dadurch schnell in Gefahr von dieser ausgeschlossen oder
Anziehungspunkt ihrer Aggressionen zu werden. Die Betaposition beschreibt eine eher
unabhängigere Rolle, die sich nicht direkt in den Konflikt zwischen Alpha und Omega
169 König, O.; Schattenhofer, K. (2007): 47 f.
einbinden lässt. Somit hat der Inhaber dieser Rolle die Möglichkeit beratend und
fachlich unterstützend zur Konfliktbearbeitung beizutragen.170
Verhaltensweisen von einzelnen Mitarbeitern müssen also immer auch auf der Basis
eines gesamten Teams bewertet werden, um verständlich zu sein. Denn Rollen sind
komplementär und bedingen sich gegenseitig. „Damit eine Gruppe ihre Möglichkeiten
und personalen Ressourcen optimal nutzen kann, um ihre (selbst) gesetzten Ziele besser
zu erreichen, braucht es jemanden, der initiativ wird, neue Ideen anstößt, bisheriges in
Frage stellt und neue Konzepte einfordert. Es braucht Leute, die mitmachen,
Gefolgschaft leisten und die Initiative loyal und engagiert unterstützen. Und es braucht
jemanden, der dagegenhält, kritisch gegenübersteht, sich nicht anschließt, sondern
kompetent opponiert und die Antreiber dazu bringt, ihre Konzepte zu überprüfen.“171
6.3 Der gruppendynamische Raum
In Arbeitsteams gibt es unterschiedliche Ebenen, auf denen das Geschehen stattfindet.
Grob unterteilen kann man diese Ebenen in eine Sachebene, man kann sagen den
offiziellen Auftrag eines Teams und die Ebene der psychosozialen Dynamik. Diese
Trennung der Ebenen kann mit dem Bild eines Eisberges veranschaulicht werden.
Hierbei gestaltet sich die verhältnismäßig kleine Spitze des Eisberges, die sich überhalb
des Wassers befindet, als die Sachebene eines Teams. Diese Ebene ist für alle zu sehen
und sie beinhaltet beispielsweise die Arbeitsziele einer Abteilung. Der Teil des
Eisberges, der sich unterhalb des Wassers befindet ist nicht mehr für alle sichtbar. Hier
geht es um die psychosoziale Dynamik wie beispielsweise Konflikte, Spannungen oder
zwischenmenschliche Beziehungen innerhalb eines Arbeitsteams. 172 Das heisst durch
die Vernetzung der Mitarbeiter untereinander entstehen intrasystemische
Wechselwirkungen, durch die wiederum systemische Eigenschaften in Form von
emergenten Qualitäten erwachsen. Denn auch für die notwendige Dynamik der
Kontrollparameter als Bedingung für einen Übergang in ein neues Ordnungsmuster in
einem Arbeitsteam ist gesorgt. Soziale Situationen haben für die Menschen immer eine
Relevanz. Motive wie der Wunsch nach Zugehörigkeit, Einfluss und Anerkennung
erlangen schon in scheinbar unbedeutenden Kommunikationssituationen eine hohe
170 König, O.; Schattenhofer, K. (2007): 51 f. 171 König, O.; Schattenhofer, K. (2007): 53 172 König, O.; Schattenhofer, K. (2006): 23 ff.
Bedeutung und können als Kontrollparameter fungieren.173 Um diese Dynamik
innerhalb von Gruppen und somit auch Arbeitsteams beschreiben zu können, wird,
neben Teamrollen und Teamnormen, zwischen drei verschiedenen Dimensionen
unterschieden: Zugehörigkeit, Macht und Intimität.
6.3.1 Die Dimension der Zugehörigkeit
Ähnlich, wie sich Systeme von ihrer Umwelt abgrenzen müssen, um zu klären, was zu
dem System gehört und was eben nicht, müssen auch Gruppen definieren, wer sich
innerhalb und wer sich außerhalb einer Gruppe befindet. Denn letzlich bilden ja auch
sie ein System. Auch bei Arbeitsteams, denen es ja das oberste Ziel sein sollte, ein
gemeinsames Sachziel zu erreichen, ist Zugehörigkeit ein wichtiges Thema. In jedem
Gruppenzusammenhang besteht bei jedem Menschen das Bedürfnis nach Zugehörigkeit
und die Angst vor Ausschluss. Auch wenn jemand formal durch beispielsweise einen
Arbeitsvertrag oder eine betriebliche Versetzung in eine Gruppe aufgenommen wird, ist
noch nicht abgeklärt, ob er auch wirklich in dieser Gruppe integriert ist. Von den
Mitgliedern der Gruppe selber wird bestimmt, wer dazu gehört und wer nicht. Dies
orientiert sich an bestimmten Verhaltensweisen und Regeln, die sich in jeder Gruppe
anders gestalten. Da es immer mehrere Gruppen gibt, denen man angehört, kann es
durchaus zu Loyalitätskonflikten kommen. Diese Loyalitätskonflikte bewegen sich nicht
nur zwischen dem privaten und dem beruflichen Bereich. Es kann auch sein, dass ein
Arbeitnehmer in einen Zugehörigkeitskonflikt kommt, weil er neben seinem
Kernarbeitsteam noch Mitglied in ein oder zwei Projektteams ist und er sich hier die
Frage stellen muss, wem er sich mehr verpflichtet fühlt. Das Thema Zugehörigkeit zu
einer Gruppe geht für jeden mit einer gewissen emotionalen Spannung einher. Denn
Menschen brauchen aneinander und sind aufeinander angewiesen. Hat sich ein
Arbeitnehmer in seiner Abteilung gut integriert und fühlt er sich dort wohl, birgt die
Vorstellung diese Abteilung, beispielsweise bedingt durch betriebliche
Umstrukturierungen zu verlassen, das Risiko, in einer anderen Gruppe nicht mehr
dieselbe Position und Zugehörigkeit einnehmen zu können.174
173 Haken, H.; Schiepek, G. (2006): 530
6.3.2 Die Dimension der Macht
Macht ist immer eingebettet in das Netz sozialer Beziehungen und hat somit immer
einen relativen Charakter. Die Herausbildung von Machtstrukturen ist bereits in kleinen
Gruppen notwendig, um effektiv an Zielen arbeiten zu können. Beispielsweise ist eine
Teamsitzung, die nicht von einem „Gruppensprecher“ moderiert wird, häufig dazu
verdammt, ohne jedes Ergebnis wieder beendet zu werden. Doch das Streben nach
Macht und Einfluss kann dann kontraproduktiv sein, wenn es Gruppenressourcen
blockiert und Rivalität und Konkurrenz nicht mehr der Sache dienlich sind, sondern
allein zur Verfolgung persönlicher Ziele verwendet werden. Für den Umgang mit
solchen Machtbalancen stehen einer Gruppe zwei Möglichkeiten zur Verfügung, die
sich sowohl auf formeller, wie auch auf informeller Ebene ansiedeln lassen: Hierarchie
und Normen. Formale Hierarchiestrukturen gibt es in jedem Betrieb. Parallel dazu
existieren immer auch informelle Hierarchien innerhalb einer Abteilung, die bestenfalls
die offizielle Führungskraft unterstützen, oder eben deren Macht und Einfluss
untergraben. Gleiche Unterteilung gilt auch für Normen und Regeln innerhalb einer
Gruppe. Interessant für das Thema Gruppendynamik sind allerdings nicht die
Hierarchien, Regeln und Normen, die für jeden ersichtlich sind. Gruppendynamik findet
insbesondere auf der Hinterbühne statt, dort wo nicht mehr jeder Zuschauer Zugang
hat. Der Umgang mit Macht und Einfluss innerhalb einer Gruppe wird also bestimmt
von äußeren Bedingungen sowie den einzelnen Menschen mit den ihnen eigenen
Bedürfnissen nach Macht und Einfluss und ihren gelernten Verhaltensweisen bezogen
auf dieselben.175
Die Methoden mit denen innerhalb von Organisationen Macht aufgebaut und eingesetzt
wird, werden auch als Mikropolitik zusammengefasst. Mikropolitische Engagement
findet immer innerhalb einer Organisation statt und es nutzt dafür Freiräume und
Widersprüche. Im positiven Sinne schafft mikropolitische Aktivität beispielsweise mehr
Flexibilität und Raum für Innovation und Entwicklung. Allerdings werden insbesondere
in Zeiten von Umstrukturierungen mikropolitische Aktivitäten häufig nicht mehr dazu
genutzt, um Organisationsziele schneller und besser zu erreichen, sondern um eigene
Interessen und Ziele durchzusetzen. Häufig geht es hier um den Erhalt oder die
Ausweitung des eigenen Machtbereiches oder das Vorantreiben der eigenen Karriere.176
174 König, O.; Schattenhofer, K. (2006): 35 f. 175 König, O.; Schattenhofer, K. (2006): 37 f. 176 Doppler, K.; Fuhrmann [u.a.] (2002): 42 ff.
6.3.3 Die Dimension der Intimität
Die dritte Dimension befasst sich mit der Nähe und Distanz, die innerhalb einer
Gruppe gelebt wird.177 Intimität bezieht sich dabei auf das ernsthafte Interesse an dem
einzelnen Menschen, losgelöst von der Maske seiner beruflichen Rolle.178 Sie kann so
gestaltet werden, dass man Abstand zueinander hält und der Umgang innerhalb der
Gruppe einen eher sachbezogenen Aspekt einnimmt. Es gibt aber beispielsweise auch
Arbeitsteams, wo viel über das Privatleben erzählt wird oder sogar ein reges informelles
Treiben außerhalb der Arbeitszeiten stattfindet. Grundsätzlich geht es in dieser
Dimension um die Fragen nach Sympathie und Antipathie zwischen den einzelnen
Gruppenmitgliedern und die daraus resultierende Gestaltung von Annäherungs- und
Abstoßungsprozessen. Häufig gibt es auch bestimmte Personen innerhalb einer Gruppe
zu denen Nähe ein gewisses Privileg darstellt und als attraktiv angesehen wird.
Machtzentren ordnen sich häufig um diese Personen herum an und deshalb ist deren
Meinung für alle anderen Teammitglieder häufig von großer Bedeutung. Dies kann sich
natürlich ebenfalls auf deren Meinung zu anstehenden Veränderungsvorhaben beziehen.
Die Dimension von Nähe und Distanz ist also auch mit den anderen beiden
Dimensionen Macht und Zugehörigkeit eng verknüpft.179
Das heißt die Einflussnahme der sozialen Gruppe auf den einzelnen Mitarbeiter ist
ebenso gegeben, wie der Einfluss des Einzelnen auf die Gruppe. Dabei zeigt der
Einfluss der Gruppe Wirkung in Bezug auf „Menge und Qualität seiner Arbeit, auf die
Motivation und die Attitüden, auf seine Loyalität, auf seine Forderungen gegenüber der
Organisation, auf sein Fernbleiben von der Arbeit, auf Krankenstand und
Kündigungshäufigkeit, auf sein Risiko- und Entscheidungsverhalten, aber auch auf
Initiative und Verantwortlichkeit“180. Somit sind Gruppendynamische Prozesse und
Rollen innerhalb von Arbeitsteams zu einem wichtigen Faktor für die Planung und
Durchführung von Veränderungsvorhaben zu bewerten.
177 König, O.; Schattenhofer, K. (2006): 38 178 Senge, P. M.; Kleiner, A. [u.a.] (1997): 81 179 König, O.; Schattenhofer, K. (2006): 38 ff. 180 Weinert, Ansfried B. (1992): 375
6.4 Gruppendynamik im Veränderungsmanagement
Differenziert werden muss also zwischen der Vorderbühne und der Hinterbühne einer
Organisation. Auffallend ist, dass bei der Planung von Veränderungen häufig nur die
Vorderbühne mit einbezogen wird. Das heißt es werden Strukturen und Organigramme
verändert, Arbeitsprozesse umgewandelt und Mitarbeiter versetzt. Vergessen wird dabei,
dass das Organigramm nun mal nicht enthält, wie sich die Zusammenarbeit wirklich
gestaltet, wie das Zusammenspiel zwischen den einzelnen Abteilungen aussieht, wer
tatsächlich über ein bestimmtes Wissen und bestimmte Erfahrungen verfügt und wer
weiß, welche Wege man beschreiten muss, um bestimmte Dinge zu erreichen. Vorder-
und Hinterbühne gibt es auch bei dem Informationsfluss innerhalb einer Organisation.
Die offiziell herausgegebenen Informationen werden immer noch ergänzt um eigene
Meinungen und Vermutungen, es werden Gerüchte kreiert und es gibt offizielle
Informationen, die noch nicht offen gemacht wurden, dafür aber hinter vorgehaltener
Hand weitergetratscht werden, weil es irgendwo eine undichte Stelle gab.181 Besonders in
Veränderungsprozessen fließen informelle und formelle Strukturen,
Arbeitsbeziehungen, Rollenverständnisse und persönliche Wahrnehmungsmuster häufig
ineinander und produzieren Beziehungsfragen, Fantasien, Ängste und
Ausweichsysteme.182
Ein Arbeitsteam ist ein Ort spontaner Strukturbildung, es organisiert sich selbst. In
diesem Zusammenhang ist es wichtig, sich noch einmal daran zu erinnern, dass die
einzelnen Teammitglieder das Team mit lebensnotwendigem Material in Form von
ihren persönlichen Zielen beliefern, welches die Grundlage für den Gruppenvertrag
bildet. Das heißt ein Team kann sich nur auf der Basis verändern, dass neues
Gedankenmaterial von Einzelnen in den Zielpool des Teams eingespeisst wird. Indem
die Teammitglieder also ihre Ziele verändern, also verändertes Rohmaterial liefern,
kommt es auch zu einer Bewegung innerhalb des Teams und letzlich zu einer
Veränderung der Teamziele. Die einzelnen Mitarbeiter sind also die Träger von
Veränderungsbereitschaft.183
Doch wie in den vorangegangenen Kapiteln dargestellt, haben Menschen grundsätzlich
die Tendenz, an stabilen Mustern festzuhalten, wobei sie sich, bedingt durch ihre
individuelle Persönlichkeit, besser oder eben auch schlechter auf Veränderungen
181 Doppler, K.; Fuhrmann, H. [u.a.] (2002): 44 f. 182 Doppler, K.; Fuhrmann, H. [u.a.] (2002): 142
einstellen können. Wenn wir es jetzt innerhalb eines Teams mit einem Mitarbeiter zu
tun haben, dem Umstrukturierungsprozesse Angst machen, wird er anfangen, gegen
diese Umstrukturierungen, in welcher Form auch immer, Widerstand zu leisten. Durch
positive Rückkopplungen kann es dazu kommen, dass immer mehr Teammitglieder
anfangen, sich gegen die anstehenden Veränderungsprozesse auszusprechen. Denn
Menschen orientieren sich aneinander, an anderen Personen, anderen Gruppen und
anderen Meinungen. Insbesondere Stress, Ablenkung oder Müdigkeit „machen
Menschen empfänglich für Informationen, welche Einstellungen, oder
Personenwahrnehmung verändern können“184. Und Stress entsteht häufig in
mehrdeutigen Situationen, wo Menschen nicht mehr in der Lage sind Zusammenhänge
zu begreifen, also auch in Veränderungsprozessen.185 Hierbei kommen neben der
eigenen Einstellung gegenüber den Veränderungen im Unternehmen also noch der
Wunsch nach Zugehörigkeit, Nähe, Akzeptanz, Macht und Einfluss. Also die Elemente,
die neben der eigenen Persönlichkeit noch die soziopsychologische Dynamik innerhalb
einer Gruppe und somit eines Teams ausmachen. Wenn sich also genügend
Teammitglieder gegen das anstehende Veränderungsvorhaben aussprechen, kann es
sein, dass sich der Gruppenvertrag, also der Zielpool des Teams dahingehend ändert,
dass es plötzlich das Ziel ist, geplante Veränderungen nicht mitzutragen.
Wenn also nicht auf den individuellen Arbeitnehmer mit seinen Einstellungen und
seinen Emotionen eingegangen wird und die Führungsebene an Mitarbeitern vorbei
plant, sie als Betroffene, aber nicht am Prozess Beteiligte ansieht, kann sich die
informelle Hinterbühne einer Organisation schnell in die eigentliche Bühne verwandeln.
„Das Spiel, das ansteht heißt: Unterlaufen. Widerstand in seinen unterschiedlichsten
Formen wird vorbereitet und bald auch praktiziert. Die Methoden können
unterschiedlich sein: Wegdrücken, Schlechtmachen, Dienst nach Vorschrift,
Grundsatzdiskussionen führen, So-tun-als-ob.“186 Plötzlich entsteht eine Dynamik, die
sich mehr und mehr zu einer Widerstandstruktur verfestigen kann. Das heißt es entsteht
neben der Dynamik, die eh bereits Bestandteil des Veränderungsprozesses ist, eine
zusätzliche Dynamik von beteiligten und auch weniger beteiligten Gruppen. Diese
183 Stahl, E. (2007): 17 184 Haken, H.; Schiepek, G. (2006): 531 185 Doppler, K.; Fuhrmann, H. (2002): 128 f. 186 Doppler, K.; Fuhrmann, H. [u.a.] (2002): 155
arbeiten mit kontraproduktiver Energie entgegen gewünschter Veränderungen und
laden die instabile Situation weiter auf.187
Denn zu vergessen ist nicht, dass, wenn in einer Organisation grundlegende
Veränderungen eingeführt werden sollen, es notwendig ist, dass die Organisation in
einen Zustand von Instabilität geführt wird. Denn erst jetzt kann sie in einen neuen
Ordnungszustand übergehen. Doch ist der Zustand von Instabilität erst einmal erreicht,
bedeutet dies ebenfalls, dass sich die Organisation in einem äußerst sensiblen Zustand
befindet.188 Und in welchen Ordnungszustand ein System übergeht, wird im Rahmen
des Phasenübergangs ausgetestet und einer der möglichen Zustände formiert sich in
Form eines Ordnungsparameters, dem sich die einzelnen Systemelemente unterordnen.
Das heisst, „es ist vorhersehbar, dass Ordnung entsteht, nicht jedoch, welche“189. In
diesem Zusammenhang sei das klassische Beispiel der Chaostheorie zu erwähnen, und
zwar, dass der Flügelschlag eines Schmetterlings einen Orkan in einem anderen Land
verursachen kann. Das heißt kleine Ursachen können große Wirkungen herbeiführen.
Wenn also Mitarbeiter beginnen Widerstand zu leisten, der nicht durch die
Führungsspitze bearbeitet wird, kann dies schnell dazu führen, dass sich dieser
Widerstand fortsetzt, es also zu expositionellen Verknüpfungen innerhalb des
Organisationssystems kommt und sich eine Widerstandsstruktur entwickelt. Haben sich
diese Strukturen erst einmal gebildet ist es sehr schwierig, sie wieder zu lösen. Denn
Systeme haben ja bekanntlich eine Tendenz zur Stabilität. Ebenfalls sind „etablierte
Attraktoren (z.B. Einstellungen oder Handlungsstrategien) (...) in Gruppen oft stabiler
als bei Einzelpersonen, eventuell weil der Aufwand für ihre Generierung größer war (...),
weil sich Gruppennormen etabliert haben, oder weil man nicht nur Gesichtsverlust vor
sich selber, sondern auch implizite oder explizite soziale Sanktionen befürchtet. So mag
auch der Hystereseeffekt, also die Überhangstabilität eines Attraktors bei geänderten
Bedingungen und Kontrollparametern (...) in Gruppen noch ausgeprägter sein.“190 Man
kann generell formulieren, dass sich in Gruppen die Tendenzen extremisieren, die bei
den Einzelmitgliedern vorliegen.191
187 Doppler, K.; Fuhrmann, H. [u.a.] (2002): 25 188 Kruse, P. (2004): 56 189 Haken, H.; Schiepek, G. (2006): 38 190 Haken, H.; Schiepek, G. (2006): 535 191 Haken, H.; Schiepek, G. (2006): 535
Wo also ein strikter institutioneller Rahmen fehlt, sprich sich eine Organisation in einem
Zustand von Instabilität befindet, stiften Kommunikationsprozesse, Tausch und
Austausch das Netz, das die Handlungsträger verbindet und bilden durch diesen
Vorgang Strukturen aus. Diese Strukturbildung geschieht in Form eines sozialen
Prozesses, jedoch meist sogar unbewusst durch das Agieren der unterschiedlichen
betroffenen Individuen. Durch die Anhäufung, also Verdichtung bestimmter
individueller Verhaltensweisen kann also eine Struktur entstehen. Hierbei liegt ein
zyklisches Modell zugrunde, dass in Form von Rückkopplung, Resonanz und
Selbstverstärkung verläuft.
7 Management von komplexen Systemen
Anhand der dargestellten Theorien konnte erklärt werden, wie die Entstehung und
Dynamik von Widerständen gegenüber organisationalen Veränderungsprozessen
stattfindet. Festzustellen ist, dass es immer noch die Menschen in einer Organisation
sind, die die wesentlichen Funktionen erfüllen und auch diejenigen sind, die den Verlauf
des Veränderungsprozesses erheblich mitbestimmen. Ebenfalls konnte verdeutlicht
werden, dass es sich bei dem einzelnen Mitarbeiter oder bei einem Arbeitsteam um
Personen handelt, die nicht fremdbestimmt sein wollen, deren jeweilige Biographien
Einfluss auf ihr Verhalten haben und dieses Verhalten zusätzlich noch durch das
Verhalten von anderen Menschen beeinflusst wird und somit häufig nicht vorhersehbar
ist. Mit dieser Unbestimmtheit und Dynamik ist umso stärker zu rechnen, je
unbestimmter und instabiler die Umwelt der Mitarbeiterschaft wird.
Im letzten Kapitel dieser Arbeit wird nun beim Management von Veränderungen
angesetzt. Denn Management von „Humansystemen“ hat unter anderem die Funktion,
deren wirksamen Umgang mit Veränderung und somit mit Unbestimmtheit, Instabilität
und Widerstand zu gewährleisten. Dabei muss sich gutes Management auf die jeweils
individuellen Bedürfnisse seiner Mitarbeiter nach Struktur und Führung einstellen. Es
geht nun im wesentlichen um die Beantwortung der Fragen, wie das Verständnis und
die Gestaltung von Veränderungsmanagement unter der Berücksichtung der
vorangegangenen Ausführungen aussehen kann. Wenn jedoch von Management
gesprochen wird, wird die Blickrichtung auf die Führungsebenen einer Organisation
gelenkt. Und zwar auf die Führung von einer Organisation durch eine Phase von
Instabilität. Führung ist der Initiator von Veränderung und es ist die Aufgabe von
Führung, Veränderung vorzubereiten, zu kommunizieren, durchzuführen und dabei als
Vorbild zu fungieren.192
7.1 Management von Instabilität
Es lässt sich auf der Basis von der Chaostheorie natürlich fragen, in wie weit sich
Organisationen in Zeiten des Wandels überhaupt führen lassen. Meistens geht man im
Management ja von der Planbarkeit von Prozessen aus, wobei diese Planung auf der
Basis von unterschiedlichsten Methoden erfolgt. Dieser Anspruch und der Nutzen
dieser Methoden lässt sich aus der chaostheoretischen Perspektive allerdings nur bedingt
halten. Mintzberg formuliert bezüglich Planung etwas provokant folgendes: „Experts in
the techniques of forcasting and planning perform the function of magicians in
primitive society. They provide a basis for a decision when there is no rational method.
These techniques are not far removed from the ancient techniques that we now scoff at,
such as reading the entrails of slaughtered animals or gazing into crystal balls.“193
Planung kann dadurch, dass sie Menschen das Gefühl vermittelt, Kontrolle über einen
Prozess zu haben, Sicherheit und Orientierung bieten.194 Bedingt durch den instabilen
Zustand einer Organisation im Rahmen von organisationalen Veränderungsprozessen,
sprich deren prinzipieller Offenheit der Zukunft gegenüber, ist Kontrolle über die
zukünftigen Entwicklungen jedoch kaum möglich. „In pragmatischer Hinsicht ergibt
sich daraus die Konsequenz, dass langfristige Planungen immer weniger zur
Verbesserung der Orientierung beitragen können. Selbst wenn alle Beziehungen in
Organisationen deterministisch und die diesen zugrundelegenden Gesetzmäßigkeiten
bekannt wären, würde die Sensitivität gegenüber den Anfangsbedingungen langfristige
Prognosen unmöglich machen.“195
Wichtig für die Unternehmensführung ist also, als ersten Schritt nicht mehr davon
auszugehen, dass man immer und vor allem alles innerhalb einer Organisation unter
Kontrolle hat. Durch innere und äußere Systemstörungen beeinflussen so viele Dinge
die Systemdynamik, dass „selbst in bester Absicht und unter größter Umsicht
durchgeführte Maßnahmen sehr häufig zu anderen Ergebnissen führen, als wir
eigentlich wollten, und dass unsere Möglichkeiten ein System zu beherrschen, letztlich
begrenzt sind“196. Das gilt insbesondere für die Planung und Durchführung von
Veränderungsprozessen. Hier erlebt man permanent, dass das Organisationssystem mit
seinen jeweiligen Mitarbeitern oft nicht in erwarteter Weise auf Input reagiert oder per
Knopfdruck das tut, was die Unternehmensführung will. Doch wie kann Management
hier steuernd eingreifen?
Wie die Chaostheorie beschreibt, sind Stabilität und Instabilität miteinander verknüpft
und es lassen sich in jedem Geschehen immer beide Komponenten ausmachen. Da sich
eine Organisation also entweder in einem Zustand von Stabilität, oder in dem Zustand
von Instabilität befindet, muss sich auch das Management auf beide der organisationalen
192 Haken, H.; Schiepek, G. (2006): 588 193 Mintzberg, H. (1994): 211 194 Mintzberg, H. (1994): 212 ff. 195 Holtbrügge, D. in Schreyögg, G.; Conrad, P. (2000): 126
Zustände einstellen können. Das Ziel von Management muss es also sein, eine Balance
zwischen Stabilität und Instabilität herzustellen. Doch worin unterscheidet sich das
Management von stabilen bzw. instabilen Organisationsphasen?
Beim Management von stabilen Phasen kann gut mit bekannten Methoden gearbeitet
werden, da die Führungsperson ihre Organisation und deren Abläufe kennt. Das heißt,
das was passiert, kann auf absehbare Zeit vorhergesehen werden. Hierfür müssen durch
die Führung Situationsanalysen gemacht werden, auf deren Basis Zielbestimmungen
formuliert und Maßnahmenkataloge entwickelt werden. Die Ergebnisse der Maßnahmen
werden in regelmäßigen Abständen mit einem Soll-Ist Vergleich überprüft, um bei
einem Verlassen des geplanten Entwicklungsverlaufs frühzeitig gegensteuern zu
können.197
Bei der Durchführung von Veränderungsvorhaben ist dieses Verfahren jedoch zum
Scheitern verurteilt, da es in instabilen Situationen keine Vorhersehbarkeit gibt. Das
Management von Instabilität muss im Verlauf der Veränderung bei seiner Planung
immer wieder die aktuelle Ist-Situation berücksichtigen. Das bedeutet, hier ist ein
sensibles Wahrnehmen kleinster Veränderungen und die entsprechende schrittweise
Anpassung bzw. Neuformulierung der Zielvorstellungen mit den vorgefundenen
Bedingungen erforderlich.198 Doch das ist noch längst nicht alles. Führungsqualität heißt
hier ebenfalls die Fähigkeit Visionen für die Veränderung zu entwickeln und sie so
überzeugend zu übermitteln, dass sie von den Mitarbeitern mitgetragen werden und
Orientierung bieten. Wenn die Visionen klar kommuniziert werden, bieten sie letztlich
Sicherheit, da deutlich ist, in welche Richtung die Veränderungsmaßnahmen gehen.
Ebenfalls gehört zum Management von Instabilität die Bereitschaft Fehler und
Leistungseinbrüche gelten zu lassen und sie als einen Teil des Lernprozesses zu
akzeptieren, Kreativität durch die Entwicklung ungewöhnlicher Szenarien zu fördern
und vor allem auch selber die Unsicherheiten, die mit einer Veränderung einhergehen
auszuhalten und Risikobereitschaft glaubhaft vorzuleben.199
196 Malik, F. (1993): 198 197 Kruse, P. (2004): 62 f. 198 Kruse, P. (2005): 49 199 Kruse, P. (2004): 76
7.2 Management auf der Basis von Chaostheorie und Synergetik
Der Verlauf von Veränderungsprozessen wird durch unterschiedlichste Faktoren
beeinflusst, die von Führung mit beachtet werden müssen, um ein erfolgreiches
Veränderungsvorhaben zu initiieren. Wichtig ist, dass man sich mit seiner
Aufmerksamkeit nicht nur auf einen einzelnen Faktor bezieht, sondern das
Gesamtsystem einer Organisation mit in den Blick nimmt. Die Fragen, die gestellt
werden müssen sind: Worauf und wie können wir Einfluss nehmen? Und welche
Ergebnisse kann das Management letztlich erwarten?
Haken hat mit seinem „synergetischen Modell der Macht“ eine graphische Darstellung
geschaffen, die das Zusammenwirken der einzelnen Faktoren in einer Organisation
noch einmal vor Augen führt.
Abb. 17: Ein synergetisches Modell von Macht
Quelle: Haken, H.; Schiepek, G. (2006): 603
Wie in Abb. 17 zu erkennen ist und bereits im Kapitel über die Systemtheorie erläutert
wurde, sind Organisationen immer abhängig von ihren Randbedingungen, also den
systemexternen und systeminternen Strukturen. Dabei sind mit internen
Randbedingungen beispielsweise die Gestaltung von Regeln und
Kommunikationswegen, Ablaufroutinen und Gewohnheitsrechten innerhalb der
Organisation gemeint. Als externe Randbedingungen kann die externe Umwelt einer
Organisation bezeichnet werden, mit der eine Organisation immer in Form von
strukturellen Kopplungen in einem Austausch steht und ihn gleichzeitig gestaltet. Diese
Randbedingungen beeinflussen sowohl die Ordner innerhalb einer Organisation, als
auch die Kontrollparameter.
Kontrollparameter sind die Größen, welche auf ein System einwirken und deren
Änderung einen Phasenübergang bewirken kann. Das heißt, um Veränderungen zu
veranlassen, kommt es für die Unternehmensführung darauf an, dass sie über die
nötigen Kontrollparameter verfügt. Kontrollparameter können die Motivation für die
entsprechende Veränderung sein, Information und Kommunikation über die
anstehenden Entwicklungen oder emotionale Energie oder Sicherheit. Über ihre Hilfe
lässt sich das Verhalten der einzelnen Mitarbeiter beeinflussen und verändern. Gelingt
es einer Führungsperson nicht, die entsprechenden Kontrollparameter zu finden,
werden sich die Mitarbeiter nicht von der Notwendigkeit einer Veränderung überzeugen
lassen.200 Wie die Kontrollparameter aussehen müssen, ist wiederum abhängig von den
jeweiligen Mitarbeitern und ihrer Persönlichkeit.
Was genau die Mitarbeiter brauchen, wird Führung jedoch nur in einer direkten
Kommunikation mit ihnen herausfinden können. Denn wie in Kapitel 5.4. beschrieben,
bestehen soziale Systeme aus Kommunikation, also aus dem Austausch von
Informationen. Denn Kommunikation ist die Operation, auf deren Basis sich das
System bildet und verändert. Doch wie der sozialen Konstruktivismus erklärt, handeln
Menschen nicht auf der Basis von einer objektiven Wirklichkeit, sondern auf der Basis
dessen, was sie für wirklich halten. Aus diesem Grund „müssen [von Führung; C.H.] die
Wahrnehmungs- und Kommunikationsprozesse studiert werden, durch die sich die
Systemelemente ihre Wirklichkeit schaffen; muss untersucht werden, wie Lern- und
Erfahrungsprozesse diese Wirklichkeit verändern oder auch bestätigen; muss verstanden
werden, wie geistige Dinge, wie Ideen, Gerüchte, Meinungen, Intrigen usw. entstehen,
sich wandeln und fortpflanzen, ein Eigenleben annehmen usw.“201. Kontrollparameter
wie Motivation können also nicht nur durch so genannte „hard facts“ und
überzeugende Argumente gestaltet werden. Sie sind weitaus sensibler und umfassen
ebenfalls Komponenten wie Wertschätzung oder Anerkennung.202
Durch das von den Kontrollparametern beeinflusste Verhalten der einzelnen
Mitarbeiter entstehen mittels eines selbstorganisatorischen Prozesses Ordner, denen sich
die einzelnen Systemelemente unterordnen (versklaven). Dieser Vorgang wird neben
200 Haken, H.; Schiepek, G. (2006): 603 201 Malik, F. (1993): 186
den verschiedenen Persönlichkeiten der einzelnen Mitarbeiter zusätzlich durch
gruppendynamische Prozesse beeinflusst. Eine Struktur (Ordner), die beispielsweise
entstehen kann, ist der Widerstand gegenüber den anstehenden Veränderungen. Auch
der Ordner Unternehmenskultur beeinflusst die Fähigkeit einer Organisation und ihrer
Mitglieder sich zu verändern massiv. Da es sich bei einer Organistion um ein soziales
System handelt, ist auch hier Kommunikation zwischen den einzelnen Mitarbeitern als
eine grundlegende Basis für eine Strukturentstehung in Form von Ordnern zu sehen.
Die innerhalb einer Organisation entstandenen Ordner wirken sich wiederum auf
interne und externe Randbedingungen aus.203
Auf der Grundlage der in dieser Arbeit dargestellten, theoretischen Aspekten von
Widerstand gegenüber Veränderungsprozessen in einem Organisationssystem besteht
die Aufgabe von Führung darin, geeignete Bedingungen für Selbstorganisation, also für
dynamische Ordnungsübergänge zu schaffen. Hierzu gehört die Herstellung von
stabilen Randbedingungen für die nicht selten turbulenten Prozesse der
Selbstorganisation. Unter stabilen Randbedingungen wird beispielsweise die von
Mitarbeitern erlebte Sicherheit innerhalb einer Organisation und Stärkung des eigenen
Selbstwertgefühls verstanden. Hierzu gehört auch die Sicherheit des eigenen
Arbeitsplatzes. Gleichzeitig muss Führung Kontrollparameter erzeugen, die beim
Menschen oft mit intrinsischer Motivation und mit Emotionen zu tun haben.
Mitbeachtet werden muss außerdem die zeitliche Synchronisation von Vorgaben und
Inputs durch das Management mit dem Entwicklungstempo der Mitarbeiter. Denn
abhängig von ihrer Persönlichkeit benötigen die Mitarbeiter unterschiedlich viel Zeit,
um sich auf Veränderungen einstellen zu können. Der Führung einer Organisation
fallen also zentrale Aufgaben zu, wenn sie ihr Unternehmen erfolgreich durch die für
eine Veränderung notwendige Phase der Instabilität führen wollen.
7.2.1 Der Stellenwert von Führung
Die Person des Führers, sein Verhalten, sein Stil und daraus resultierend das
Führungsklima beeinflusst also die Aspekte des Organisationsgeschehens und ist somit
für das erfolgreiche Durchlaufen von Veränderungsprozessen von enormer
Bedeutung.204 Führungsverhalten nimmt also einen starken Einfluss auf das Erleben und
202 Haken, H.; Schiepek, G. (2006): 603 203 Haken, H.; Schiepek, G. (2006): 604 204 Weinert, A. B. (1992): 340
Verhalten der einzelnen Mitarbeiter, auf Arbeits- und Gruppenprozesse und auf
Aspekte wie Planung, Kontrolle und Mitbestimmung. Dies lässt sich auf systemische
Rückkopplungsprozesse zurückführen. Die Rückkopplungsprozesse werden durch die
besondere Funktion einer Führungskraft allerdings noch einmal verstärkt, da
Führungspositionen mit Macht und Einfluss einhergehen und ihnen die Gestaltung von
Veränderungsprozessen in einem grossen Umfang obliegt.
Die Darstellung dessen, wie wichtig die menschliche Persönlichkeit mit ihren
individuellen Verhaltensmustern ist, wenn es um die erfolgreiche Durchführung von
Veränderungsprozessen geht, war ein wesentlicher Bestandteil dieser Arbeit. Dies gilt
jedoch nicht nur für die „normalen“ Mitarbeiter, die letztlich mit dem anstehenden
Veränderungsvorhaben konfrontiert werden, sondern ebenfalls für die Führungskräfte.
Wie bereits in Kapitel 4.4.3 vorgestellt, formulieren Judge, Thoresen [u.a.] als ein
Ergebnis ihrer Studie, dass es einen Zusammenhang zwischen bestimmten
Persönlichkeitskonzepten von Managern und dem erfolgreichen Umgang mit
Veränderungen gibt.205 Gleichzeitig gelten für die Führungsetage, also häufig die
Initiatoren des Veränderungsvorhaben, ebenfalls Phänomene wie Hysterese, das
Festhalten an alten Verhaltensmustern, das Aufkeimen von Emotionen wie
Unsicherheit und Angst in Bezug auf anstehende Veränderungen. Das bedeutet, dass es
auch hier zu Formen von Widerstand kommen kann. Nicht selten verstricken sich die
Machtetagen in Unternehmen dadurch in so tiefgehende mikropolitische Aktivitäten,
dass sie kaum mehr in der Lage sind, ihre Mitarbeiter im Veränderungsprozess zu
begleiten. Da jedoch die eigene Persönlichkeit und die eigene Einstellung gegenüber
Veränderungsmaßnahmen eine so wichtige Rolle spielt, sollte sich jede Führungskraft
dazu anhalten, ihre eigene Veränderungsbereitschaft zu überprüfen. Denn wie sagt man:
„Der Fisch fängt am Kopf zuerst an zu stinken“. Fehlt das Fundament für
Veränderung, sprich: ist die Führung eines Unternehmens nicht überzeugt, werden sich
auch die Mitarbeiter nicht überzeugen lassen.
Auch wenn das Thema Führung in diesem Zusammenhang nicht umfassend behandelt
werden kann, lässt sich formulieren, dass „eine Führungsperson, um erfolgreich zu sein,
neben Variablen des Selbstverständnisses, des Bewusstseins über den Einfluss des
eigenen Führungsstils auf die Gruppe, der Gruppen- und Situationsvariablen, der
Gruppendynamik und der Persönlichkeitscharakteristika, vor allem ein fundiertes
205 Judge, T. A.; Thoresen, C. J. (1999): 118
Wissen über die Motivation der Geführten und über interindividuelle Unterschiede
haben muss“206. Ziel von Führung in einem Veränderungsprozess kann es also nicht nur
sein, vordeterminierte Ziele blind zu erreichen. Es geht innerhalb des
Führungsprozesses vor allem darum, die Ziele der einzelnen Individuen, die des Teams
und die der Organisation so miteinander zu verbinden, dass möglichst viele der oft
unterschiedlichen Ziele erreicht werden können. Die Qualität einer Führungsperson
kann hier insbesondere daran gemessen werden, „inwieweit ihr Einfluss und ihre Macht
zur Veränderung von Attitüden und Verhalten der Mitarbeiter beiträgt, diese Mitarbeiter
belohnt, zufrieden stellt und ihren eigenen Zielen näher gebracht hat“207.208
7.2.2 Führung und Widerstand
Zur Führungsaufgabe gehört es während eines Veränderungsprozesses auch, sich mit
den Widerständen innerhalb der Mitarbeiterschaft auseinander zusetzen. Dies impliziert
ebenfalls, dass die jeweilige Führungskraft die Ursachen von Widerständen kennt und
den Widerstand der Mitarbeiter richtig bewertet.
Um mit Widerstand umgehen zu können, muss Führung über unterschiedlichste
Faktoren informiert sein, die das Verhalten von Mitarbeitern beeinflussen können:
� die Motive und Ziele der einzelnen Mitarbeiter,
� die Persönlichkeit der jeweiligen Mitarbeiter und das dadurch resultierende
Bedürfniss nach Unabhängigkeit, Sicherheit, Klarheit, Mitbestimmung etc.,
� die jeweiligen Rollen, die die Einzelnen im Team einnehmen,
� die gruppendynamischen Prozesse,
� den Grad des Verständnisses über die Problematik, die zu den anstehenden
Veränderungen führt.
Zusätzlich hilfreich ist ein Blick in die Literatur über Veränderungsmanagement. Hier
werden die Mitarbeiter einer Organisation häufig in verschiedene Typisierungen
unterteilt, die darstellen sollen, wie sich die Kombination von individueller
Persönlichkeit und gruppendynamischen Elementen auf Mitarbeiterverhalten gegenüber
Veränderungsvorhaben auswirken kann. Differenziert werden kann zwischen
„Visionären und Missionaren“, „aktiven Gläubigen“, „Oppertunisten“, „Abwartenden
206 Weinert, A. B. (1992): 377 207 Weinert, A. B. (1992): 345 208 Weinert, A. B. (1992): 345
und Gleichgültigen“, „Untergrundkämpfern“, „offenen Gegnern“ und „Emigranten“.
Diese Typisierungen sind zwar plakativ und sollen den Blick auf den Einzelnen nicht
ersetzen, helfen jedoch, einen Überblick auf die verschiedenen Rollen innerhalb einer
Organisation zu bekommen.
Abb. 18: Typische Einstellungen gegenüber dem organisationalen Wandel
Quelle: Küpers, W.; Weibler, J. (2005): 149
Visionäre und Missionare sind häufig die Initiatoren von Veränderung und haben es
sich zum Ziel gemacht, die anderen Organisationsmitglieder von der Notwendigkeit
derselben zu überzeugen. Durch ihre Arbeit wächst die Zahl der aktiven Gläubigen, also
der Mitarbeiter, die den Wandel nicht nur akzeptieren, sondern sich persönlich dafür
einsetzten. Oppertunisten fokussieren die persönlichen Vor- und Nachteile bezüglich
anstehender Veränderung und bewegen sich dabei zwischen Zustimmung und Skepsis.
Die Mehrheit der Mitarbeiter sind als Abwartende und Gleichgültige zu typisieren, die
keine grosse Bereitschaft zeigen, sich aktiv an dem Veränderungsprozess zu beteiligen.
Sie möchten zunächst Erfolge sehen, bevor sie sich persönlich einbinden lassen, wobei
sie nicht im Blick haben, dass der Erfolg auch von ihrem eigenen Engagement abhängt.
Ihr Widerstand drückt sich also durch Untätigkeit aus. Den aktiven Part im Widerstand
nehmen die Untergrundkämpfer und offenen Gegner ein. Unterschieden werden kann
hier zwischen den Mitarbeitern, die ihre Kritik offen ausdrücken und denen, die die
informellen und verdeckten Kanäle nutzen, um ihrer Meinung Ausdruck zu verleihen
und sich auf diesem Weg Verbündete zu suchen. Als Emigranten können die
Mitarbeiter bezeichnet werden, die sich dazu entschlossen haben, die
Veränderungsvorhaben nicht mitzutragen und entweder formal oder innerlich
kündigen.209 Ziel von Führung muss es also sein, die Zahl der „aktiven Gläubigen“ zu
erhöhen. Sie muss Visionen schaffen und Mitarbeiter dazu bringen, die Bereitschaft zu
entwickeln, sich aktiv am Veränderungsprozess beteiligen zu wollen. Hierzu gehört es
auch, Vorschläge von Mitarbeitern aufzunehmen, denn sie kennen das operative
Geschäft letztlich am besten.
7.2.3 Die Bewertung von Widerstand
Gezeigt werden konnte bislang, dass Widerstand gegenüber Veränderungen in einem
engen Zusammenhang zur menschlichen Natur steht und diese Voraussetzungen in
einem Unternehmen mit ins Blickfeld genommen werden müssen. Das Phänomen
Widerstand ist also als ein völlig natürliches Phänomen zu bewerten und kann als ein
wesentlicher Bestandteil von Veränderungsprozessen angesehen werden. Es gibt keine
Veränderung ohne Widerstand. Ebenfalls als natürlich anzusehen ist die Tatsache, dass
die Mitarbeiter sehr unterschiedlich auf Veränderung reagieren, da jeder mit anderen
individuellen Voraussetzungen ausgestattet ist. Verschärft ausgedrückt, könnte man
sogar formulieren, dass Widerstand die Identität des Einzelnen sichert.
Allerdings wird Widerstand gegen Veränderungsprozesse von Führung meistens nicht
als ein natürliches Phänomen betrachtet, sondern als etwas Negatives bewertet. Er soll
möglichst umgangen werden und wenn er auftritt, wird er häufig ignoriert oder nicht
wahrgenommen, eben weil er nicht auftreten darf. Denn Widerstand integriert sich nicht
in die rationalen Ziele eines Unternehmens und behindert dadurch den Ablauf und
somit den erfolgreichen Abschluss der Maßnahmen. Doch dass gerade die Mißachtung
von Widerstand zu erfolglosen Veränderungsprozessen führt, wird häufig nicht gesehen.
Man kann sogar noch einen Schritt weitergehen und das Wort Widerstand als ein
Synonym für die typische Stabilitätstendenz komplexer Systeme verwenden. Und diese
wiederum geht mit dem Zustand von Instabilität einher, welcher notwendig für eine
grundlegende Veränderung einer Organisation ist. „Häufig wird die Phase der
209 Küpers, W.; Weibler, J. (2005): 149 f.
Instabilität jedoch negativ als Krise beschrieben, und die Deutung der typischen
Stabilitätstendenz der Systeme erfolgt im Sinne eines Widerstands.“210
Diese klassische Bewertung von Widerstand als etwas die Veränderung störendes ist
also weiter zu hinterfragen. Denn wie in dieser Arbeit dargestellt wurde, können sich
innerhalb einer Organisation schnell Widerstandsdynamiken entwickeln, die den Erfolg
von Veränderungsvorhaben massiv gefährden. Um jedoch mit den notwendigen
Interventionen reagieren zu können, ist es die Aufgabe von Führung, auf der Basis von
Fachwissen eine richtige Bewertung über Widerstand in der Mitarbeiterschaft
vorzunehmen. Wichtig ist es, sich bewußt zu machen, dass die jeweilige Attribution
einer Sache natürlich auch Einfluss darauf nimmt, wie man mit ihr umgeht. Sprich,
soziale Wirklichkeit ist nicht einfach gegeben, sondern wird von den jeweiligen
Handlungsträgern auf der Basis ihrer „Wirklichkeit der Alltagswelt“ bzw. mittels
Interpretationen Dritter hergestellt.211 Man nimmt also Verhalten wahr und zieht im
Anschluss Schlüsse darüber, warum, sprich nach welche Zielen, Motiven und
Intentionen sich Menschen in dieser Weise verhalten.212
Bemerke ich als Chef, dass ein Mitarbeiter Veränderungen blockiert, habe ich also
unterschiedliche Interpretationsmöglichkeiten. Beispielsweise kann ich davon ausgehen,
dass er mich provozieren will oder zu faul ist, sich mit neuen Arbeitstechniken
auseinanderzusetzen oder ich bewerte sein Blockade als einen natürlichen Vorgang, der
nicht absichtlich stattfindet. Entsprechend anders wird meine Reaktion natürlich
aussehen. Und genau aus diesem Grund ist es von großer Bedeutung für eine
Führungskraft, über die Ursachen von Widerstand und über die Entstehung von
Widerstandsdynamiken informiert zu sein. Weiss ich, warum ein Mitarbeiter mit
Widerstand reagiert, kann ich mein eigenes Verhalten besser auf mein Gegenübr
einstellen.
7.2.4 Widerstand und Emotionen
Dargestellt wurde ebenfalls, dass Emotionen einen direkten Einfluss auf unsere
Entscheidungen und somit auch auf unser Verhalten haben. Es ist sogar so, dass
„wichtige Entscheidungen nur auf der Grundlage von Emotionen möglich“213 sind.
210 Kruse, P. (2005): 80 211 Küpers, W.; Weibler, J. (2005): 105 212 Weinert, A. B. (1992): 417 213 Keuper, F.; Groten, H. [Hrsg.] (2007): 253
Emotionen entstehen unbewusst und lassen uns die Dinge, die wir tun und die um uns
herum passieren in „gut“ und „schlecht“ unterteilen. Auf der Basis eines ungeheuren
Erfahrungschatzes, den wir im Laufe unseres Lebens gesammelt haben, wird das soeben
Wahrgenommene auf der Basis dieser Erfahrungen, man könnte auch sagen dieser
emotionalen Konditionierungen, in Form eines Mustererkennungsprozesses unbewußt
identifiziert und emotional bewertet.
Der Verstand und unsere Vernunft, also unser logisches, rationales Denken, setzt erst
später ein und zwar dann, wenn es um Dinge geht, die komplexer sind und eine längere
Handlungsplanung benötigen.214 Letztlich ist es so, dass unsere Emotionen das erste
und das letzte Wort gegenüber unserem rationalen Denken haben. Das heißt, „alles, was
Vernunft und Verstand als Ratschläge erteilen, muss für denjenigen, der die eigentliche
Handlungsentscheidung trifft, emotional akzeptabel sein“215. Man kann sagen, es gibt
zwar ein rationales Abwägen von verschiedenen Handlungsoptionen und den mit ihnen
einhergehenden Konsequenzen, aber es existiert kein reines rationales Handeln. Erst
wenn mögliche Konsequenzen mit starken Emotionen verbunden sind, hat Vernunft
quasi eine Chance.
Mit Blick auf die Führung von Veränderungsprozessen ergeben sich hier zwei
Konsequenzen: Zum einen wird es keiner Führungskraft gelingen, Emotionen aus dem
Veränderungsprozess auszugliedern. Sie gehören dazu. Zum anderen sind Menschen
und ihr Verhalten nicht über rationale Argumente zu verändern. Nur so lässt sich auch
das Phänomen von Widerstand gegenüber absolut logischen und notwendigen
Veränderungsvorhaben erklären.216
7.2.5 Der Nutzen von Widerstand
Eine weitere Perspektive bei der Bewertung von Widerstand ergibt sich aus der
Chaostheorie. Denn zu vergessen ist nicht, dass eine Organisation in den Zustand von
Instabilität geleitet werden muss, um in einen neuen Ordnungszustand übergehen zu
können. In diesem Zustand von Instabilität ist eine Organisation jedoch äußerst sensibel
gegenüber Störungen. Aus diesem Grund könnte der Widerstand einzelner Mitarbeiter
durchaus positiv von Führung genutzt werden. Denn die Mitarbeiter, die Widerstand
214 Keuper, F.; Groten, H. [Hrsg.] (2007): 253 ff. 215 Keuper, F.; Groten, H. [Hrsg.] (2007): 256 216 Keuper, F.; Groten, H. [Hrsg.] (2007): 256 f.
leisten, sind im positiven Sinne formuliert Bewahrer einer alten Ordnung. Ihr Verhalten
garantiert möglicherweise der Organisation eine gewisse Stabilität. Das heißt, ihre
Ordnungserhaltung stärkt die Organisation in einem Zustand der Instabilität und
bewahrt sie davor, nicht zu schnell und unüberlegt in einen neuen Ordnungszustand
überzugehen. Sprich durch die Bewahrer alter Ordnungen wird dem Management mehr
Zeit gegeben, eventuell steuernd auf sich entwickelnde Prozesse Einfluss zu nehmen.
Ebenfalls sollte niemals vergessen werden, dass bestimmte alte Strukturen,
Vorgehensweisen, Prozesse oder Verhaltensweisen auch gut funktioniert haben. Durch
die Bewahrer alter Ordnungen kann hier die Funktion erfüllt werden, noch einmal zu
überdenken, was wirklich geändert werden muss und welche Erfahrungen und
Arbeitsweisen möglicherweise sogar bei umfassenden Veränderungen weitergenutzt
werden können.
Ebenfalls kann es nicht das Ziel eines Unternehmens sein, nur Mitarbeiter zu
beschäftigen, für die Veränderung und Instabilität ein willkommenes und gesuchtes
Risiko ist. Dies sind zwar Mitarbeiter, die für die Initierung von Neuanfängen und den
Verlauf von Veränderungsprozessen dem Unternehmen wertvolle Dienste leisten.
Allerdings sind sie auch diejenigen, die bei Routineaufgaben und der Optimierung oder
Qualitätssicherung von einem bestehenden Zustand weit weniger Befriedigung
empfinden und dadurch schlechter einsatzfähig sind. Unterschiedliche Persönlichkeiten
und Rollen innerhalb eines Teams sind von grosser Bedeutung, um nicht nur die
richtigen Mitarbeiter für die Zeit des Wandels in einem Unternehmens zu besitzen,
sondern auch gleichzeitig die Profitabilität in stabilen Zeiten sicherzustellen.217
Wichtig für das Management von Veränderung ist es also nicht, Widerstand
grundsätzlich zu verhindern. Dies würde letztlich eine Verschwendung von
Arbeitsleistung bedeuten. Gleichzeitig ist es jedoch falsch, Widerstand zu ignorieren
oder nicht wahrzunehmen. Denn die Konsequenzen eines derartigen Verhaltens von
Seiten des Managements birgt eine Gefahr für den weiteren Verlauf des
Veränderungsprozesses. Denn erst eine fehlende Reaktion auf erste Anzeichen von
Widerstand ermöglicht es, dass sich eine Widerstandsdynamik entwickeln kann, die das
Veränderungsvorhaben letztlich scheitern lässt. Aufgabe von Management ist es also die
Entwicklung von Widerstandsstrukturen zu unterbinden. Das bedeutet ein bewußtes
Einplanen des Themas Widerstand in das Veränderungskonzept einer Organisation.
217 Kruse, P. (2005): 66, 122
Denn nur so kann es gelingen, erste Anzeichen von Widerstand zu erkennen und diesen
frühzeitig mittels akiver Einbeziehung der Menschen zu bearbeiten.218
7.3 Die Aufgaben von Führung im Veränderungsmanagement
Für das Veränderungsmanagement können die Eigenschaften komplexer Systeme und
die unterschiedlichen Persönlichkeiten von Mitarbeitern durchaus von Bedeutung sein.
Voraussetzung dafür ist natürlich, dass man sie kennt. Zusammenhänge und
Wechselwirkungen sind also bei der Erklärung von Widerstand und der Initiierung von
Veränderung immer zu beachten. Das bedeutet, dass sich das Management nicht nur auf
einen Faktor beziehen darf, sondern das gesamte Organisationssystem mit in den Blick
nehmen muss. Auf der Basis dieser Arbeit können die folgendenden Ansatzpunkte für
ein erfolgreiches Veränderungsmanagement formuliert werden:
� Die Betrachtung einer Organisation aus systemischer Perspektive
Die Ausbildung eines Verständnisses für Systemverhalten bildet die Grundlage, um
Systeme effektiver verändern zu können. Es kommt darauf an eine Organisation aus
ganzheitlicher Perspektive zu betrachten und die Zusammenhänge und
Wechselwirkungen, die innerhalb einer Organisation bestehen, mit in die Planungen
einzubeziehen. Hierzu gehört auch die Identifikation von Ordnern (Mustern) und den
Systemgrenzen sowie die Erfassung und Analyse von Dynamiken, Prozessen und
Attraktoren. Ebenfalls bedeutet das die Koordination des Veränderungsprozesses auf
den unterschiedlichen Ebenen. Dies betrifft beispielsweise die Abstimmung zwischen
technischen, organisatorischen und psychologischen Dynamiken.
� Kontrollparameter identifizieren
Die Identifikation der Kontrollparameter ist ein wesentlicher Schritt, um
Veränderungsprozesse überhaupt in Gang setzten zu können. Denn sie sind die
Größen, deren Aktivierung soviel Energie freisetzt, dass ein System seinen alten
Ordnungszustand verlässt und damit die Möglichkeit hat, sich einem neuen
zuzuwenden. Ebenfalls sind Kontrollparameter von Bedeutung, um die Mitarbeiter von
den anstehenden Veränderungen zu überzeugen, sprich Widerstände bearbeiten zu
können. Durch ihre Kenntnis können die inneren Wechselwirkungen der Prozesse und
zwischen den Systemelementen, also den Mitarbeitern, moduliert werden.
218 Keuper, F.; Groten, H. [Hrsg.] (2007): 260
� Destabilisierung
Um Veränderungen durchzuführen muss die Organisation zunächst die alten, stabilen
Zustände verlassen. Auf der Basis, dass Systeme eine Tendenz zur Stabilität aufweisen
und die gewohnten Muster nur ungern ablegen, benötigen unternehmerische
Veränderungsprozesse eine treibende Kraft. Management muss auch hier an den
Kontrollparametern ansetzen und diese erhöhen, also Interventionen kreieren, die das
Unternehmen aus der Balance seines bisherigen komfortablen Prozessierens bringen.
� Stabilisierung
Das Management hat die Aufgabe, bevor ein Veränderungsprozess angestossen wird,
stabile Randbedingungen zu schaffen. Denn die entstehende instabile Situation führt bei
den meisten Mitarbeitern zu Ängsten und Unsicherheiten. Aus diesem Grund ist es
wichtig einen stabilen Rahmen zu bieten, der strukturelle und emotionale Sicherheit
erzeugt. Hierfür ist die Herstellung von Vertrauen und Selbstwertunterstützung durch
Führung der einzelnen Mitarbeitern und die Entwicklung einer Unternehmenskultur, die
den Mitarbeitern die Möglichkeit bietet, sich möglichst angstfrei auf eine Veränderung
einlassen zu können, von grosser Bedeutung.
� Re-Stabilisierung
Wenn einzelne Veränderungsschritte und neue Ordnungsmuster implementiert wurden,
gilt es, diese Ergebnisse zu sichern. Das heißt alle positiven neuen Verhaltensmuster
und Ordnungen müssen weiter stabiliert und automatisiert werden. Für die Stabilierung
ist es unerlässlich, dass sich auch die Mitarbeiter mit den neuen Ordnungsmustern
identifizieren können. Für die Re-Stabilisierung können vielleicht auch die Mitarbeiter
wichtig sein, die sich zu Zeiten des Wandels ungerne von alten Zuständen entfernen
wollten.
� Sinnbezug und Persönlichkeitsentwicklung
Persönlichkeitsentwicklung ist wichtig, um die einzelnen Mitarbeiter dazu zu befähigen,
mit Veränderungen umzugehen und neues Verhalten zu erlernen. Gleichzeitig müssen
die Entwicklungen einer Organisation von den Mitarbeitern und Führungskräften als
sinnvoll erlebt werden und mit ihren eigenen Zielvorstellungen und Lebenskonzepten
im Einklang stehen, da sie ansonsten nicht unterstützt werden.
� Der Blick auf das Individuum
Der einzelne Mitarbeiter spielt eine wesentliche Rolle bei der erfolgreichen
Implementierung von Veränderungsvorhaben. Denn letztlich können nicht
Organisationen Neues lernen und Neues bewirken, sondern immer nur die einzelnen
Menschen in ihnen. Um jedoch auf einer sinnvollen Basis auf den einzelnen Menschen
eingehen zu können, muss Führung eine Vorstellung davon haben, von welchen
mentalen Modellen und Grundannahmen, also von welcher Wirklichkeit der Alltagswelt,
der Einzelne geleitet wird. Erst die Kenntnis dieser Annahmen und der damit
implizierten Persönlichkeit des Einzelnen bieten die Grundlage, sie besprechbar und
somit zu einem Gegenstand der Entwicklung zu machen. Ziel ist es, diese mentalen
Modelle zu erkennen und sich auf ihrer Basis weiterzuentwickeln.
� Der Blick auf das Team
Menschen beeinflussen sich gegenseitig und können so die Entstehung von Dynamiken
innerhalb von Arbeitsteams und Organisationen bewirken. Diese Dynamiken können,
wenn es sich beispielsweise um Widerstand handelt, für die Organisation negativ sein.
Rückkopplungsprozesse können durch Führung allerdings auch im positiven Sinne
genutzt werden. Sind einzelne Mitarbeiter von der Veränderung überzeugt (aktive
Gläubige), können sie wiederum andere überzeugen. Ebenfalls können Menschen
voneinander und miteinander lernen und dadurch sich und die Organisation
weiterentwickeln, sprich Veränderung und Innovation kreieren. Hier gilt wieder der Satz
„Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile“, sprich ein funktionierendes Team
erbringt mehr Leistung, als einzelne Mitarbeiter.
� Der Blick auf die Führung
Die Aufgabe von Führung ist es natürlich, alle die aufgeführten Punkte im Blick zu
behalten und miteinander zu verbinden. Um durch Veränderungen führen zu können,
sind stetige Rückkopplungen erforderlich, durch die eine Anpassung an den situativen
Charakter während einer Instabilitätsphase ermöglicht wird. Damit Führung selber mit
instabilen Situationen umgehen kann, müssen die jeweiligen Führungspersonen eine
eigene Veränderungsbereitschaft mitbringen und in der Lage sein, eine
Untenehmenskultur zu gestalten, in der Vertrauen untereinander, Fehlertoleranz und
eine offene Kommunikation zu gemeinsam gelebten Werten werden. Auf dieser Basis
kann eine Vision entwickelt werden, in der sich die einzelnen Mitarbeiter mit ihren
individuellen Interessen wiederfinden können und sie deshalb mittragen.219
Führung muss sowohl die Phasen von Stabilität, als auch die von Instabiliät gestalten
können und die Balance zwischen den beiden Systemphasen ist eine der wesentlichen
Aufgaben für das Management von komplexen Systemen. Dabei geht es bei der
Unterstützung von stabilen Strukturen darum, strategische Vorgaben eines
Unternehmens umzusetzen und Produktivität und Leistung abzusichern. Instabilität
dagegen bringt Innovation und Veränderung, die im Rahmen eines
Veränderungsprozesses soweit entwickelt werden muss, bis sie in den
Unternehmensalltag integriert werden können. Die Managementprozesse komplexer
Systeme müssen, insbesondere in der Nähe von Instabilität, nach der Logik verlaufen,
dass jedes Zwischenergebnis den Ausgangspunkt für weitere Planungen liefert. Auf
dieser Basis können auch Widerstände früh genug erkannt und bearbeitet werden. Das
Management sieht sich so nicht dem Zwang ausgesetzt, an dem einmal angefertigtem
Handlungsfahrplan festzuhalten. Das bedeutet nicht, dass nicht ein Endziel anvisiert
werden sollte, auf welches man hinarbeitet.220 Schwierig hierbei ist jedoch, dass das
Auftreten und die Folgen von Ordnungsübergängen, also dem Übergang zwischen
Ordnung und Chaos, nur sehr bedingt vorhersehbar sind. Die Dynamik eines Systems
und die darin auftretenden Instabilitäten oder stabilen Ordnungszustände müssen also
für das Management erfassbar gemacht werden und bedingt durch den jeweiligen
Systemzustand muss Führung mit ganz anderen Maßnahmen reagieren.
Die einzige Möglichkeit, den aktuellen Systemzustand zu erfassen, ist eine intensive und
kontinuierliche Kommunikation mit den einzelnen Mitarbeitern einer Organisation.
Durch Einschätzungen der Mitarbeiter über relevante Systemgrößen, sowohl bezogen
auf technische, organisatorische, aber auch psychische Belange, bekommt die
Unternehmensführung zeitnahe Erkenntnisse über den jeweiligen Systemzustand.
Management- und Führungsentscheidungen lassen sich auf dieser Basis wesentlich
sicherer und fundierter treffen und können dem situativen Charakter des
Systemzustandes besser gerecht werden.
219 Schiepek, G.; Eckert H. (07.06.2008): http://www.ccsys.de/site/content/1_unternehmen/1_4_index.php und Senge, P. M.; Kleiner, A. [u.a.] (1997): 6 f. 220 Malik, F. (1993): 173 f.
Die Kommunikation mit den Mitarbeitern ermöglicht es also, die Kontrollparameter zu
identifizieren, deren Gestaltung wichtig für den Verlauf des Veränderungsvorhabens ist.
Um diese Kommunikation effektiv gestalten zu können, muss Führung über die
Prozesse informiert sein, wie die Entstehung und Dynamik von Widerstand verläuft. Es
geht also darum, im Einzelfall herauszuarbeiten, welche Kontrollparameter für den
jeweiligen Veränderungsprozess eine entscheidende Rolle spielen. Bei den Mitarbeitern
geht es dabei fast immer um Motivation, um die Unterstützung des Selbstwertgefühls
und die Aktivierung von Ressourcen. Wesentlicher Bestandteil der
Führungskräfteentwicklung sollte also die Förderung von emotionalen, sozialen und
kognitiven Kompetenzen für den Umgang mit komplexen, nichtlinearen Prozessen, also
mit Selbstorganisation sein. Diese Systemkompetenz im Umgang mit
selbstorganisierenden Prozessen bei Individuen, in Teams und in Organisationen wird,
begründet durch den immer stärker anwachsenden Veränderungsdruck, eine
entscheidende Schlüsselqualifikation für Führungskräfte sein.
8 Fazit
Das Ziel der Arbeit war es, nach Ursachen für die Entstehung und die Dynamik von
Widerständen gegenüber organisationalen Veränderungen zu suchen. Ebenfalls war die
Frage, an welchen Punkten Management ansetzten kann, um Widerstand in
organisationalen Veränderungsprozessen zu bearbeiten und somit den erfolgreichen
Verlauf von Veränderungsvorhaben zu gewährleisten. Festzustellen ist, dass die
Entstehung von Widerstand ein natürliches Phänomen innerhalb eines
Veränderungsprozesses darstellt, welches nicht gänzlich verhindert werden kann.
Management kann durch umsichtiges Handeln lediglich die Intensität von Widerstand
bei dem einzelnen Mitarbeiter steuern und damit die Entstehung von einer Dynamik
verhindern, die letztlich zu Widerstandsstrukturen innerhalb einer gesamten Belegschaft
führt. Ein bestimmtes Verhalten oder gar eine Verhaltensänderung kann also bei den
Mitarbeitern nicht einfach angeordnet werden, da sie einem Lernprozess unterliegt, der
von der jeweiligen Führung begleitet werden muss.
Auf der Basis, dass in Systemen eine Rekursivität besteht, kann also nicht nur an der
Auswahl und Persönlichkeitsentwicklung der Mitarbeiter oder an der Qualifikation der
Führungskräfte gearbeitet werden. Denn letztlich beeinflusst sich alles gegenseitig. Um
eine Organisation so zu gestalten, dass sie ständige Veränderungsprozesse nicht nur
aushält, sondern erfolgreich vollzieht, muss also etwas Übergreifendes geschaffen
werden, das alle Menschen in der Organisation mit einschliesst. Unternehmensführung
hat hier die Aufgabe, sich während der stabilen Phasen um eine strategische Ausbildung
einer Unternehmenskultur zu bemühen, die das Management von Instabilität unterstützt
und Wandel als einen stetigen Prozess begreift.
Denn je länger eine Organisation in festen Mustern arbeitet, desto beständiger werden
diese Muster. Das bedeutet, dass eine Organisation mit ihren Mitarbeitern immer
empfindlicher gegenüber Veränderungen reagiert. Das bestehende Muster hält die
Organisation zusammen, es ist in Form einer Kultur die Seele eines Unternehmens.221
Wenn also eine Organisation gewünscht wird, die flexibel auf Wandel reagiert, ist die
beste Basis dafür ein Organisationsmuster, sprich eine Organisationskultur zu schaffen,
die an sich schon eine Flexibilität beinhaltet. Eine Organisation muss also
Unternehmensstrukturen herausbilden, deren Ziel es wiederum ist, Strukturen wieder zu
verändern. Es geht also um eine Unternehmenskultur, die Organisationslernen fördert
und damit einen stetigen und regelmäßigen Wandel ermöglicht.222 Denn je
kontinuierlicher Veränderung stattfindet und je mehr der Wandel in den
Organisationsalltag integriert ist, desto flexibler werden die Mitarbeiter in einer
Organisation. Wie dargestellt, ist es schliesslich die Angst vor Neuem und die
Schwierigkeit altes Verhalten zu verlassen, die zu Widerständen führt. Wird Wandel nun
aufgrund von Kontinuität zu etwas Alltäglichem, kann er in das Verhaltensrepertoire der
Mitarbeiter besser integriert werden und weniger Widerstand entsteht.
Auch eine Studie von Maus verweist auf den Vorteil einer positiven Lernkultur für eine
Unternehmung. Denn zwischen der Lernkultur eines Unternehmens und der
Bereitschaft der Mitarbeitern Veränderungen zu unterstützen, besteht ein nachweislicher
Zusammenhang. Das bedeutet, dass eine positive Lernkultur dazu führen kann, dass
anstehende Veränderungsvorhaben bei der Mitarbeiterschaft weniger als Bedrohung
und somit angsteinflössend wahrgenommen werden. Veränderungsvorhaben können
vielmehr als eine Möglichkeit der beruflichen Weiterentwicklung bewertet werden und
somit Wandel zu etwas Unterstützenswertem machen.223
Wichtig ist also nicht das detailierte Planen von Veränderungsprozessen, sondern die
Herstellung von günstigen Entwicklungsbedingungen einer Organisation. Und genau
hierfür ist es notwendig, dass sich das Management von komplexen Systemen mit den
Funktionsweisen und Gesetzmäßigkeiten komplexer Systeme befasst.224 „Eine der
entscheidenden Herausforderungen in Zusammenhang mit der Bewältigung des
Wandels besteht darin, die Idee der Selbstorganisation und Selbstregulierung von
Systemen, des organisationalen Lernens und der Evolution ernstzunehmen, und sie für
die Gestaltung von Systemen zu nutzen.“225 In einer lernenden Organisation geht es
darum Selbstorganisationsprozesse zu fördern. Selbstorganisation wird jedoch durch
„Einbahnstraßeninteraktion“ eingeschränkt. Das heißt, je hierarchischer eine
Organisation aufgebaut ist, desto schwieriger gestalten sich die
Selbstorganisationprozesse. Die Aufgabe von Führung ist es also u.a. die bestehenden
Hierarchien abzuflachen und viele Rückkopplungen zu ermöglichen, sprich Netzwerke
aufzubauen.226
221 Wagner, R. H. (2001): 36 222 Wöhrle, A. (2002): 145 223 Maus, J. (2007): 80 f. 224 Malik, F. (1993): 26 ff. 225 Malik, F. (1993): 25 226 Wagner, R. H. (2001): 26 f.
Ist eine Organisation so aufgebaut, dass sie sich stetig an sich verändernde interne und
externe Bedingungen anpasst, ist zu vermuten, dass auch die Wahrscheinlichkeit von
Krisenmanagement sinkt. Denn es erfolgt ja eine dynamische Abstimmung auf die
jeweiligen Bedingungen. Das würde bedeuten, dass die zu ergreifenden
Veränderungsmaßnahmen weniger aggressiv durchgeführt werden müssten. In der
Kombination von geringerem zeitlichem Druck und einer grösseren
Veränderungsbereitschaft der Mitarbeiter, kann vom Management mehr
mitarbeiterzentriert und integrativer vorgegangen werden, was zwangsläufig zu weniger
Widerstand gegen den nötigen Wandel einhergeht.
Hat man durch eine lernende Unternehmenskultur mehr Zeit gewonnen und muss
keine drängende Betriebssanierung ansetzten, kann auch über die Definition von Erfolg
von Veränderungsvorhaben nachgedacht werden. Geht es bei einem erfolgreichen
Durchlaufen eines Veränderungsprozesses darum, den vorab definierten
Veränderungsablaufplan exakt zu erfüllen oder können Veränderungsprozesse offener
in ihrem Ausgang gestaltet werden? Wir haben erfahren, dass die Ergebnisse von
Veränderungsprozessen sowieso nicht detailliert planbar sind. Alternativ besteht hier die
Möglichkeit, Veränderungsprozesse direkt mit einem offenen Ausgang zu initiieren.
Denn Unternehmen bestehen aus den unterschiedlichsten Ideengebern und eine zu
frühe Festlegung von Zielen, würde einem die Chance nehmen, sich den Prozess
entfalten zu lassen. Immer wieder müssen neue Modelle des Vorgehens entwickelt
werden, um letztlich einen neuen Stand zu finden.227
Man kann also formulieren, dass die Fähigkeit zum Wandel eine Kulturfrage ist. Sprich
der eher weiche Faktor Kultur ist gegenüber den harten Faktoren Struktur und Strategie
der wichtigste Faktor, wenn es um das Thema Veränderung in Organisationen geht.228
Dies zu erkennen ist insbesondere für soziale Organisationen von grosser Bedeutung.
Denn sie unterliegen momentan einem recht hohen Veränderungsdruck, wobei sich die
dort bestehende Unternehmenskultur im Laufe der letzten Jahrzehnte in einem Muster
verfestigt hat, dass Wandel kaum vorsieht. Bedingt dadurch, sind die in ihnen tätigen
Mitarbeiter häufig ebenfalls relativ unbeweglich geworden und reagieren auf anstehende
Veränderungsmaßnahmen mit recht hoher Verunsicherung und Angst, sprich mit
Widerstand. Beispielsweise hat die aus finanziellen Gründen notwendige Fusion von
zwei Kirchenkreisen und den damit zusammenhängenden Umstrukturierungs-
227 Ellebracht, H.; Lenz, G. [u.a.] (2003): 83
maßnahmen im evangelischen Kirchenkreis Duisburg dazu geführt, dass die Mitarbeiter
völlig blockiert waren und konstruktive Arbeit quasi zum Erliegen gekommen ist. Und
genau das gilt es durch ein entsprechendes Management zu verhindern.
Wer jedoch nachhaltig verändern will und den Weg zu einer lernenden Organisation
beschreiten möchte, sollte sich im klaren darüber sein, dass er auf einer ewigen Baustelle
arbeiten wird. Doch auch wem es lediglich um die Implementierung einer neuen
technologischen Entwicklung in seinem Betrieb geht wird nicht an dem einzelnen
Menschen vorbeikommen. Denn dass und warum die einzelnen Mitarbeiter einer
Organisation ein wesentlicher Erfolgsfaktor im Veränderungsprozess sind, konnte im
Rahmen dieser Arbeit gezeigt werden. Die Aufgabe, die einzelnen Mitarbeiter, und in
der Konsequenz die Arbeitsteams, durch den Veränderungsprozess zu begleiten, liegt
bei den Führungsetagen eines Unternehmens. Auch beim Aufbau einer entsprechenden
Unternehmenskultur leisten natürlich alle Mitarbeiter ihren Beitrag. Allerdings trägt
hierbei ebenfalls die Führungsetage einer Organisation eine ganz besondere
Verantwortung, da sie, bedingt durch ihren Einfluss, ein sehr grosse Wirkung auf die
jeweilige Organisation hat.229
228 Kruse, P. (2005): 17
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