Die Jelzinsche Verfassung von 1993 Präsident – Regierung und Legislative im superpräsidentiellen...

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Die Jelzinsche Verfassung von 1993

Präsident – Regierung und Legislative im superpräsidentiellen System

Politik und Gesellschaft in RusslandDozent: Dr. Jan WielgohsReferenten: Franziska Keich, Benedikt Mohr, Christoph Schütz

1. Regimetypen: Parlamentarismus, Präsidentialismus,

Mischsysteme

Grundfrage bei der Betrachtung parlamentarischer und

präsidentieller Regierungssysteme:

Wie ist das Verhältnis zwischen den verfassungsrechtlichen

Instanzen (Exekutive und Legislative) geregelt?

Parlamentarische Systeme

Wahlvolk

Funktionslogik: institutionelle Gewaltenverschränkung• Interdependenz von Exekutive und Legislative• Funktionale Trennung von Regierungsmehrheit und Opposition• Verkörperung der Volkssouveränität durch das Parlament• Eindämmung politischer Macht: Parteienkonkurrenz

Regierungsmehrheit

Opposition

Regierung

Präsidentielle Systeme

Wahlvolk Wahlvolk

Funktionslogik: Gewaltentrennung• institutionelle Trennung von Exekutive und Legislative• Funktionale Verschränkung von Exekutive und Legislative im politischen Alltag• Duale Demokratische Legitimität• Eindämmung politischer Macht: checks and balances

Parlamentsmehr-heit

Parlamentsminder-heit

Regierung

Parlamentarische und Präsidentielle Systeme: Unterscheidungskriterien

Primärkriterien (nach Steffani: 1992):• Abberufbarkeit der Regierung durch das Parlament

aus politischen Gründen? ja: parlamentarisch nein: präsidentiell

• Geschlossene oder doppelte Exekutive? geschlossen: präsidentiell doppelt: parlamentarisch

Parlamentarische Systeme: Kriterien

Primärkriterium: • Abberufbarkeit der Regierung durch die Legislative aus

politischen Gründen• Doppelte Exekutive: Regierungschef - Staatsoberhaupt Supplementäre Kriterien:• Parlamentsauflösung durch die Regierung möglich• Legitimationskette: Wahlvolk Parlament Regierung• Vereinbarkeit von Regierungsamt und Mandat• Regierung besitzt Initiativrecht bei Gesetzen• Regierung besitzt kein Vetorecht • Fraktionsdisziplin: stark

Präsidentielle Systeme: Kriterien

Primärkriterium:

• Abberufbarkeit der Regierung nur bei strafrechtlich relevantem Vergehen

• Geschlossene Exekutive: Regierungschef und Staatsoberhaupt bilden Einheit

Supplementäre Kriterien:• Legitimationsketten: Wahlvolk Exekutive / Wahlvolk

Parlament• Keine Parlamentsauflösung durch die Regierung• Keine Vereinbarkeit von Amt und Mandat• Regierung besitzt kein Initiativrecht bei Gesetzen• Vetorecht der Regierung gegenüber Gesetzesvorhaben• Mangelhafte Fraktionsdisziplin

Semipräsidentialismus (Maurice Duverger)

• Direkte Legitimierung des Staatspräsidenten mit bedeutenden politischen Kompetenzen

• Premierminister und Kabinett, die vom Vertrauen des Parlaments abhängig sind

Geteilte Exekutive: Möglichkeit der

Cohabitation (= Präsident und Premierminister aus unterschiedlichen politischen Lagern)

Realtypus: V. Republik in Frankreich

Premier-präsidentielle und Präsidentiell-parlamentarische Subtypen (Shugart/Carey:

1992)Premier-präsidentiell:• Direktwahl des Präsidenten• Beachtliche Kompetenzfülle des Präsidenten• Abhängigkeit der Regierung vom Vertrauen des Parlaments• Recht des Präsidenten auf Parlamentsauflösung • Kein Recht auf Entlassung der Regierung gegen den Willen des

Parlaments Präsidentiell-Parlamentarisch:• Direktwahl des Präsidenten• Gesetzgebende Kompetenzen des Präsidenten• Abhängigkeit der Regierung vom Vertrauen des Parlaments• Recht des Präsidenten auf Parlamentsauflösung• Recht des Präsidenten auf Ernennung und Entlassung der Regierung

„The perils of presidentialism“ (JuanLinz: 1994)

Empirische Beobachtung: Nur wenige lange und dauerhaft bestehende Regime verfügen über präsidentielle Regierungsform

These:Präsidentielle Regimestrukturen bergen eine hohe Wahrscheinlichkeit demokratiegefährdender Konflikte in sich, vor allem in der Frühphase der Demokratisierung

Wirkung von Präsidialregimen nach Juan Linz

• Hohe Konfliktwahrscheinlichkeit: Bei unterschiedlicher politischer Verortung von Exekutive und Legislativmehrheit

• Rigide Amtszeit des Präsidenten: mangelnde politischer Flexibilität des Amtsträgers und permanenter Handlungsdruck

• Nullsummencharakter der Präsidentenwahl: Ausschluss signifikanter politischer Minderheiten von der Exekutivmacht

• Polarisierender Charakter der Präsidentenwahl: Zwang zu Kooperation mit extremistischen Kräften bei hoher Wählerfragmentierung

• Zweidimensionalität des präsidentiellen Regierungsauftrags: Symbolische Repräsentation vs. politischer Handlungsauftrag; Allgemeinwohl vs. Partikularinteressen der politischen Unterstützer

2. Die Jelzinsche Verfassung von 1993: Verfassungsnorm

Verfassungsprinzipien

• Demokratieprinzip – „Die RF – Russland ist ein demokratischer …

• Föderalismusprinzip– …föderativer…

• Rechtsstaatsprinzip – …Rechtsstaat mit republikanischer

Regierungsform“ (Artikel 1)• Sozialstaatsprinzip – „Die RF ist ein Sozialsstaat“ (Artikel 7)

Die „Duale Exekutive“

Präsident

Sicherheitsrat

Regierung

Dekret Juli 1996

• Staatsoberhaupt• Wahl alle vier Jahre•„Garant der Verfassung“• Innen- und Außenpolitik• Exekutive und Legislative

(Art. 80 ff)

• Ministerpräsident• Ministerien

Die „Duale Exekutive“

Präsident

Sicherheitsrat

Regierung

Ernennung &

Absetzung Verantwortlich

Unklare Verhältnis Präsident – dominierender Pol

„Leitet“ (Art. 81.3)

Die Legislative

Staatsduma Bundesrat

• Direkt legitimiert• Wahl alle 4 Jahre• Legislative Funktion

• Mittelbar legitimiert• Repräsentiert Subjekte• Teil der Legislative

Bundes- / FöderalversammlungArt 94ff

Exekutive Legislative

Präsident

Staatsduma Bundesrat

Regierung

Kontrolle?

Präsident

Staatsduma Bundesrat

• Amtsenthebung ≠ Dekret / Veto

•Auflösung• Veto Bestätigung

MisstrauensvotumRegierung

Die Judikative

Verfassungsgericht

• 19 Verfassungsrichter• Kompetenzstreitigkeiten• Keine Verfahrensinitiative

Judikative – Exekutive

Präsident

Verfassungsgericht

Vorschlag

Bundesrat Wahl

Synopse: Stellung des Präsidenten

Präsident

Staatsduma Bundesrat

Sicherheitsrat

Verfassungsgericht

Regierung• Exekutive & Legislative• Geringe Kontrolle durch andere Organe• Personalien

Bewertung der Verfassung von 1993

• Schwezowa (2001)– „Formal betrachtet steht es nicht schlecht um die

demokratische Ordnung in Russland“ • Sakwa (1996)– Klarer Bezug zu bestimmten (demokratischen) Werten

• Gewaltenteilung ,Sozialstaat, rule of law, Menschen- und Bürgerrechte

– Liberale Verfassung mit einigen prozeduralen Mängeln

• Mommsen (2001)– Schlüssiges Dokument, das demokratischen und

rechtstaatlichen Prinzipien verpflichtet ist

Bewertung der Verfassung von 1993

• Sakwa (1996)– Gewaltenteilung nicht ausbalanciert – Unerfüllbare Versprechungen

• Mangott (2002)– Beschneidung der Mitwirkung des Parlaments am

politischen Entscheidungsprozess– Klassische Kontrollrechte nicht gegeben – Politik in Russland ist in der Mehrheit ohne und

gegen das Parlament möglich

4. Synopse: Bewertung der Jelzinschen Verfassung

…nach RegimetypenSteffani: Parl. System mit Präsidialdominanz- Abberufbarkeit der Regierung und doppelte Exekutive- Einseitige Kompetenzverlagerung zugunsten des Präs.

Duverger: Semipräsidentialismus- Direkt legitimierter Präs. mit bedeutenden Kompetenzen- Regierung vom Vertrauen der Staatsduma abhängig

Shugart/Carey: präsidentiell - parlamentarisch- direkt legitimierter Präsident mit Legislativkompetenzen- Abhängigkeit der Regierung vom Parlament- Reaktives Recht des Präs. auf Parlamentsauflösung - Recht des Präs. auf Ernennung und Entlassung der Regierung

…nach Analyse von Norm & Praxis• „Superpräsidentialismus“(Holmes)• „Wahlmonarchie“ (Mommsen)• „Nomenklaturdemokratie“• „Regime ohne System“ (Schewzowa)• „Plebiszitärer Autoritarismus“ (Mommsen)

Hegemoniale Dominanz des Präsidenten und informeller Entscheidungsstrukturen über semipräsidentiellem (parlamentarischem) Verfassungsdesign

Zusammenhang zwischen Regierungsform und demokratischer Stabilität?

• Inwiefern wird eine Demokratisierung der Russischen Föderation durch die institutionelle Struktur der Jelzinschen Verfassung behindert?

• Wie ist die Bedeutung des constitutional engineering für den Demokratisierungsprozess im Vergleich zu außerkonstitutionellen Faktoren (Elitenverhalten, Parteien, Gesellschaftsstruktur, Rechtsstaat, Ökonomie) zu bewerten?

- Knobloch, Jörn (2002): Defekte Demokratie oder keine? – Das politische System Russlands. LIT Münster.- Mangott, Gerhard (2002). Zur Demokratisierung Russlands. Band 1: Russland als defekte Demokratie. Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden.- Mommsen, Margareta (2001): Russlands politisches System des „Superpräsidentialismus“ in: Höhmann, Hans-Hermann / Schröder, Hans-Henning (Hrsg.)(2001): Russland unter neuer Führung: Politik, Wirtschaft und Gesellschaft am Beginn des 21. Jahrhunderts, Agenda Verlag, Münster, 44-54.- Dies. (2009): Systemübergang unter Gorbatschow und Jelzin: UdSSR/Russland 1987 – 91 – 99, in: Jerzy Macków (Hrsg.)(2009): Autoritarismus in Mittel- und Osteuropa, Vs Verlag, Wiesbaden- Linz, Juan (1990): The Perils of Presidentialism, in: Journal of Democracy 1 (1990), S.51-69.

- Sakwa, Richard (1996): Russian Politics and Society (2nd Edition). Routledge, London, New York.

- Schewzowa, Liliija (2001): Das neue Russland. Von Jelzin zu Putin in: Höhmann, Hans-Hermann / Schröder, Hans-Henning (Hrsg.)(2001): Russland unter neuer Führung: Politik, Wirtschaft und Gesellschaft am Beginn des 21. Jahrhunderts, Agenda Verlag, Münster, 33-43.

- Schmidt, Manfred G. (2006): Demokratietheorien. Eine Einführung, Vs Verlag, Wiesbaden

- Steffani, Winfried (1992): Parlamentarisches und präsidentielles Regierungssystem, in: Schmidt, Manfred G. (Hrsg.) (1992): Lexikon der Politik. Band 3, Beck, München.

- Stykow, Petra (2007): Vergleich politischer Systeme, UTB, Paderborn.- Uhl, Manfred(1999): Verfassungen in den politischen Systemtransformationen Osteuropas – die postsozialistischen Verfassungsordnungen der Russischen Föderation, Belarus und Lettland, Ergon, Würzburg.

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