Mit dem Bären auf den Fersen

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Hochdurchsatz-Screening

Mit dem B�ren auf den FersenJean-Louis Reymond*

Stichw�rter:Biokatalyse · Hochdurchsatz-Screening ·Kombinatorische Chemie · Selbstorganisation ·Wirkstoff-Forschung

Chemie ist die Kunst, Materie umzu-wandeln. Aus Blei Gold zu machen hatzwar nicht so recht funktioniert, den-noch haben Chemiker ihre Methodenzum Design, zur Selektierung und zurSynthese neuer Verbindungen mit au-ßergew#hnlichen Eigenschaften, vor al-lem Wirkstoffen zur Behandlung vonKrankheiten, bis zur Perfektion entwi-ckelt. Ein entscheidender Aspekt beider Wirkstoff-Findung ist die Selektie-rung aktiver Verbindungen, denn es istnicht m#glich, die Natur und St+rkemolekularer Wechselwirkungen zwi-schen einem Zielmolek-l, etwa einemEnzym, und dem Wirkstoff selbst ver-l+sslich vorherzusagen. Die Selektie-rung aktiver Verbindungen st-tzt sichdaher auf ein Hochdurchsatz-Screening,in dem ein Standardtest mit einer Ver-bindung mit bekannter Aktivit+t alsReferenz f-r den Test ganzer Verbin-dungsserien zugrundegelegt wird.[1]

Die Entwicklung des Hochdurch-satz-Screenings war eine Folge des Auf-kommens der kombinatorischen Che-mie, einer Technologie, die es erlaubt,innerhalb kurzer Zeit Millionen vonVerbindungen – anstelle von vielleichtzehn oder wenig mehr – zu synthetisie-ren.[2] Das Prinzip der kombinatorischenSynthese besteht darin, eine große Zahlvon Verbindungen mithilfe nur wenigerReaktionen herzustellen, z.B. beimSplit-and-Mix-Verfahren.[3] Bei diesenMethoden wurden zum Teil auch Ver-bindungsgemische verarbeitet, was sichaber als wenig praktikabel erwiesen hat

und in der Folge weitgehend ausgeklam-mert wurde, sodass sich die modernekombinatorische Chemie haupts+chlichmit der Entwicklung von parallelen undFestphasen-Synthesen f-r Einzelverbin-dungen besch+ftigt.[4]

Die Idee, Verbindungsgemische zuverwenden, war damit allerdings nichtam Ende, sondern tauchte bald in einemganz anderen Zusammenhang, n+mlichin der supramolekularen Chemie, wie-der auf. Nach einer Definition von Lehnund Whitesides ist es das Ziel der su-pramolekularen Chemie, komplexe Sys-teme durch die Selbstorganisation mo-lekularer Bausteine -ber nichtkovalenteWechselwirkungen ohne Einwirkungvon außen aufzubauen.[5] Die nichtko-valente Selbstorganisation aus Mischun-gen von Bausteinen ist eine Grundvor-aussetzung zur Herstellung komplexerSupermolek-le, die durch schrittweiseSynthese nicht zug+nglich sind. DasKonzept erwies sich dar-ber hinaus alsgeeignet, kovalent gebundene Substan-zen zu +quilibrieren,[6] und wurde in derWirkstoff-Findung wieder aufgegriffen,als erkannt wurde, dass in +quilibrieren-den Mischungen von Bausteinen nieder-molekularer Inhibitoren wie Peptide[7]

und Imine[8] in Gegenwart eines Ziel-proteins der am besten bindende Inhi-bitor angereichert wird. Dieser Typ+quilibrierender Mischungen wurde dy-namische kombinatorische Bibliothek(DCL) genannt.[9]

Die Dynamik einer DCL kommtw+hrend der Gleichgewichtseinstellungin Gegenwart des Zielliganden zumTragen. Dieser dynamische Zustand istjedoch kurzlebig und geht unausweich-lich in den statischen Zustand einesthermodynamischen Gleichgewichts-ber. Dies ist insofern problematisch,als es im Gleichgewicht fast unm#glich

ist, zwischen +hnlichen Verbindungen zuunterscheiden. Ein kleines Dbergewichteiner Bibliothekskomponente gegen--ber einer anderen, bez-glich der Bin-dungsst+rke zur Zielverbindung, f-hrtnur zu einem proportional kleinenDberschuss ihrer Konzentration. Daherlassen sich mit DCL die besten Verbin-dungen einer Bibliothek nur dann auf-sp-ren, wenn ihre Bindungseigenschaf-ten denen der -brigen Komponentenweit -berlegen sind.[10] Mit mathemati-schen Modellen ließ sich k-rzlich zei-gen, dass eine einzelne Verbindung ei-ner DCL die Zielstruktur um drei bisvier Zehnerpotenzen besser bindenmuss, um einen nennenswerten Anteil(mehrere Prozent) der DCL im Gleich-gewicht auszumachen.[11] Eine +hnlicheSituation stellt sich bei Target-beschleu-nigten Synthesen ein.[12]

Vor kurzem fanden Kazlauskas,Gleason und Mitarbeiter[13] eine L#sungzu diesem Problem der Selektion ausGemischen, wobei sie von einem ande-ren Gebiet der Chemie, der Biokatalyse,ausgegangen waren. Bei der Biokatalyseverwendet man Enzyme f-r die organi-sche Synthese, besonders wegen ihrerEigenschaften als umweltfreundlicheund hochselektive Katalysatoren.[14]

Die am weitesten verbreitete biokataly-tische Reaktion ist die kinetische Race-matspaltung; dabei wandelt ein Enzymbevorzugt eines der Enantiomere (z.B.A) aus einem racemischen Substrat(A,B) in ein neues Produkt P um, w+h-rend das andere, B, nicht umgesetzt wird(Schema 1). Die mathematische Be-handlung der kinetischen Racematspal-tung nach Kagan und Fiaud[15] deckteine -berraschende Eigenschaft auf:Sogar, wenn das Enzym nicht vollst+n-dig selektiv f-r eines der Enantiomereist, bleibt nach der Reaktion das nicht-

[*] Prof. J.-L. ReymondDepartment f(r Chemie und BiochemieUniversit+t BernFreiestrasse 3, 3012 Bern (Schweiz)Fax: (+41)31-631-8057E-mail: reymond@ioc.unibe.ch

AngewandteChemie

5695Angew. Chem. 2004, 116, 5695 –5697 DOI: 10.1002/ange.200460313 � 2004 Wiley-VCH Verlag GmbH & Co. KGaA, Weinheim

umgesetzte Enantiomer in einer h#he-ren optischen Reinheit zur-ck, als auf-grund der intrinsischen Selektivit+t desEnzyms zu erwarten w+re (d.h. R(=A/B)@S(= kB/kA oder =KB/KA); Abbil-dung 1). Dieser h#here Reinheitsgradhat seinen Preis, denn die Ausbeute anreinem, nichtumgesetztem Substrat liegtniedriger als das theoretische Maximumvon 50%.

Kazlauskas, Gleason et al.[13] er-kannten, dass dieselbe Gleichung gilt,wenn man mit einem nichtselektivenEnzym ein Verbindungsgemisch in Ge-genwart eines Dberschusses von Ziel-protein abbaut. Diese kinetisch kontrol-lierte Reaktionsf-hrung sollte dazu f-h-ren, dass sich ein gr#ßeres Verteilungs-

verh+ltnis einstellt, als aufgrundder relativen Bindungskonstan-ten f-r die Bindung an das Ziel-protein zu erwarten w+re. DasKonzept wurde an einer Mi-schung von Dipeptiden, die umdie Bindung an Carboanhydraseals Zielprotein konkurrieren,-berpr-ft. Als unselektives En-zym zum Abbau der schw+cherbindenden Liganden diente dieProtease Pronase (Schema 2).Jhnlich wie bei der kinetischenRacematspaltung musste die Se-lektierung mit der Zerst#rung dermeisten Verbindungen bezahltwerden, darunter auch eines Teils

der gut bindenden Liganden.Die gleichen Autoren haben aufbau-

end auf diesem Konzept eine selbstse-lektierende DCL-Anordnung einge-f-hrt, die ausschließlich die am bestenbindenden Komponenten der DCL an-reichert und die -brigen Verbindungennur in Spuren beh+lt.[16] Die Aminoter-mini der Dipeptide, die durch die Wir-kung der zur Zerst#rung ungebundenerInhibitoren eingesetzten Pronase freige-setzt werden, kuppeln wiederkehrendan aktive Ester, wodurch sich die Di-peptid-Bibliothek aus ihren Komponen-ten st+ndig regeneriert; auf diese Weiseentsteht eine pseudo-DCL (Schema 3).

In dem pseudo-DCL-Experimentwird die Selektion durch Bindung andie Zielverbindung in Konkurrenz zum

Abbau der Verbindungen durch Prona-se in mehreren Zyklen wiederholt; da-durch kann auch eine kleine Pr+ferenzbei der Bindung an das Zielprotein ineiner starken Anreicherung des besserbindenden Dipeptids resultieren. Eben-so wie zwei gl-cklose J+ger, die versu-chen, einem w-tenden B+ren davonzu-laufen, kann keine der Verbindungender pseudo-DCL der Pronase entkom-men. Ein kleiner Affinit+tsvorsprung

vor den -brigen Verbindungen derBibliothek reicht allerdings aus, da-mit der bessere Inhibitor „-berlebt“und die schw+cheren Inhibitoren„gefressen“ werden. Nach sieben Zy-klen mit wiederkehrenden Kupplun-gen in 16-Stunden-Intervallen bliebnur ein einziger Inhibitor in einemDberschuss von 100:1 zur-ck, unddass, obwohl er in Bezug auf dieBindung von Carboanhydrase nur2.3-mal wirksamer war als die n+chst-bessere Komponente der Bibliothek.Das Experiment war insofern gl-ck-lich gew+hlt, als die C-terminaleAminos+ure des Dipeptids nicht mitCarboanhydrase wechselwirkt undsich daher ohne Probleme im Systemanreichern kann.

Die pseudo-DCL enth+lt Ele-mente, die an ein lebendiges Systemerinnern. Zu nennen w+ren der mo-lekulare „Tod“ von Verbindungen

Abbildung 1. Verh+ltnis der verbleibendenSubstrate, R=A/B, als Funktion des Gesamt-umsatzes und der Selektivit+t, S= kB/kA (selek-tives Enzym) oder S=KB/KA (Bindung an einZielprotein). Auftragung gegen den Umsatzdes Substrates A,B zum Produkt P;S= ln[(1�c)(1�ee)]/ln[(1�c)(1+ ee)]=ln[(1�c)(2/(R+1))]/ln[(1�c)(2R/(R+1))];Enantiomeren(berschuss ee= (A�B)/(A+B).Bei hohen Ums+tzen ist R viel grCßer als S.

Schema 3. Pseudodynamische kombinatori-sche Bibliothek von Dipeptiden.[16] Die Amino-termini bb1–j des hydrolysierten Dipeptids wer-den durch zeitlich festgelegte Zugabe mit akti-vierten Estern (aa1–i-X) gekuppelt. Die Estersind an eine feste Phase gebunden, und diePronase ist vom Zielprotein Carboanhydrasedurch eine Dialysemembran getrennt. In die-sem Experiment gibt es vier aktivierte Carbon-s+ureester aa-X (i=4) und zwei Aminos+urenbb (j=2), die acht mCgliche Dipeptide aax-bby

bilden.

Schema 1. Prinzip der kinetischen Racematspaltung.Die Anreicherung von A gegen(ber B wird entwederdurch den Katalysator bewirkt (kA<kB, keine Zielstruk-tur) oder durch differenzierende Bindung an eine Ziel-struktur T (KA<KB, nichtselektiver Katalysator,kA= kB).

Schema 2. Kinetische Spaltung einer Dipeptid-Bi-bliothek mithilfe von Pronase.[13] Die Protease Pro-nase ist vom Zielprotein Carboanhydrase durcheine Dialysemembran getrennt. Kxy ist die Disso-ziationskonstante des Carboanhydrase-Dipeptid-Komplexes aaxbby. Die besten Liganden der Car-boanhydrase unter den Dipeptiden „entkommen“der Hydrolyse durch Pronase.

Highlights

5696 � 2004 Wiley-VCH Verlag GmbH & Co. KGaA, Weinheim www.angewandte.de Angew. Chem. 2004, 116, 5695 –5697

durch Hydrolyse durch Pronase, diemolekulare „Geburt“ durch Resyntheseund die Existenz einer Energiequelle inForm der aktivierten Ester, die f-r dieNeukupplung verwendet werden. DieEinspeisung von Energie h+lt das Sys-tem vom thermodynamischen Gleichge-wicht fern, was eine essenzielle Voraus-setzung f-r lebende Systeme ist. ImVergleich zu fr-heren DCLs bestehtder entscheidende Unterschied darin,dass die Resynthese-Zyklen so gesteuertwerden k#nnen, dass das System peri-odisch zu hohen Ums+tzen getriebenwird, bei denen die besten Ligandenauch am besten selektiert werden (Ab-bildung 1). Da dieser Eingriff des Expe-rimentators zur zeitlichen Steuerungschwierig zu ersetzen ist, erscheint dieEntwicklung eines v#llig autonomenSystems allerdings kompliziert.

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AngewandteChemie

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