Neue Alben Der Tanz um den Büffel€¦ · Sufjan Stevens. Carrie & Lowell. Zunächst ist da...

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Magazin Freitag24. April 2015

FOLKMelodienam Abgrund

NeueAlben

Sufjan Stevens. Carrie & Lowell.Zunächst ist da diese Erhaben-heit der Melodien, das filigraneGitarrenspiel, die einschmei-chelnde Stimme. Nach Abste-chern zu orchestralen Klängenund zum Elektropop ist SufjanStevens zu seinen Folkwurzelnzurückgekehrt. Doch unter dereinlullenden Oberfläche öffnensich tiefe Abgründe. Auslöser fürStevens’ neues, formal ent-schlacktes Werk war der Tod sei-ner Mutter Carrie, die mit Schi-zophrenie und Drogenabhängig-keit gekämpft hatte. Hier drehtsich alles um Tod, Verlust unddie unendlichen Facetten derLiebe. Ein trauriges, manchmalverzweifeltes Album, das seineKraft aus der Songwriterkunstund den schlichten Melodien ei-nes Manns schöpft, den die «Sun-day Times» als gegenwärtig in-teressantesten Musiker Ameri-kas einschätzte. (Irascible.)

ROCKMusikals Medizin

Rocky Votolato. Hospital Hand-shakes. Der in Seattle domizi-lierte Songwriter Rocky Votolatoist keiner, der das Leben auf dieleichte Schulter nimmt. Dabeitritt er bei seinen Konzerten, dieer oft solo bestreitet, als souve-räner und humorvoller Enter-tainer auf. Seine Alben aber tra-gen Titel wie «Suicide Medicine»,und seinem neuen Werk ging einetiefe Depression voraus. Davonhört man auf «Hospital Hand-shakes» wenig. Dafür gibt es hiermelodieseligen Powerpop, kan-tige Punkriffs und eine Stimmevoller Leidenschaft, die Potenzialzu einer grossen Karriere böte.Doch die Leichtigkeit des Show-biz ist nicht Votolatos Ding. «Ichschreibe über das Trauma», sagter. «Musik hat eine heilende Wir-kung – und ich denke, das hörtman.» (Irascible)

AMERICANAZurückan den Start

Elliott Murphy. Aquashow De-constructed. Der US-SongwriterElliott Murphy pflegte schon im-mer eine leidenschaftliche Affäremit Europa. Hier verdiente ersein erstes Geld als Strassenmu-siker, hier gelang ihm später derDurchbruch als rock ’n’rollenderTroubadour. Und hier liess ersich für sein Debütalbum «Aqua-show» inspirieren, das 1973 er-schienen ist. «He’s gonna be amonster», glaubte die Platten-firma damals, doch Murphy bliebstets ein Insidertipp, trotz Kol-laborationen mit Bruce Spring-steen und Co. Nun hat Murphysein Debüt wieder besichtigt undneu eingespielt. Zusammen miteuropäischen Musikern und mitder Weisheit eines weit gereistenGeschichtenerzählers. GrossesSongwriting zwischen Bob Dy-lan und Lou Reed und eine al-terslose Stimme, die immernoch unter die Haut fährt. (BlueRose) Samuel Mumenthaler

LITERATUR Schummrige Sa-loons, die Weite der Prärie undBüffelherden: John Williamswiederentdeckter Roman«Butcher’s Crossing» ist Lite-ratur im Breitbandformat. EinWestern, der kein Western ist– und ein Buch von existen-zieller Wucht und Schönheit.

Er ist gerade einmal dreiund-zwanzig Jahre jung, stammt ausbestem Haus, hat in Harvard stu-diert, sein Vater ist Laienpredi-ger. «Jetzt bist du noch weich»,sagt Francine, die hübsche Hurein Butcher’s Crossing, die geradenicht arbeitet und sich ihm annä-hert. «Wenn du zurückkommst,wirst du hart und rau sein, wie dieanderen Männer.» Es sind dieSiebzigerjahre des 19. Jahrhun-derts. Will Andrews ist von Bos-ton nach Kansas in die Stadt derBüffeljäger gekommen. Auf derSuche nach seinem wahrenSelbst, das er unter den Schich-ten der Zivilisation in der Wildniszu finden hofft, schliesst er sicheinem Jagdtrupp an. Die grosseZeit der Büffelfelle ist eigentlichschon vorbei, die Herden sindweitgehend ausgerottet. DochMiller, der Mann, dem Andrewsfolgt, hat in einem verstecktenHochtal in den Bergen von Colo-rado vor Jahren eine riesige Her-de gesehen. Mit Planwagen, Och-sengeschirr und Pferden, einemmürrischen Häuter und dem ein-armigen Alkoholiker Charley als

Wagenlenker und Koch brechensie aus der Büffeljägerstadt auf.

Es ist der Mythos der Erobe-rung des Wilden Westens, dender US-amerikanische AutorJohn Williams (1922–1994) in«Butcher’s Crossing» verhandelt.Dabei versetzt er seinen 1960 er-schienenen Roman mit allen In-gredienzen eines klassischenWestern. Doch er nimmt dasGenre der Trivialliteratur als Fo-lie. Dass es kein gutes Ende neh-men wird, weiss, wer die beidenZitate liest, die Williams seinemRoman voranstellt: eine Passageaus R.W. Emersons Essay «Na-ture», wo der Philosoph die Na-tur als wahre Quelle der gött-lichen Offenbarung feiert. Unddas vernichtende Gegenargu-ment seines Zeitgenossen Her-man Melville, Verfasser von «Mo-by Dick», über die zerstörerischeGewalt der Natur. Vor dieser Fall-höhe findet der Roman statt.Zeitlich verortet verhandelt erzeitlose, existenzielle Fragen.Und die Jagd nach den Büffelnwird zur Parabel, die bis in unsereheutige Zeit weist.

Gemalte LandschaftenZunächst ist die Natur schön.Und schön ist auch Williams Pro-sa. Geschmeidig perlen die Sätze.Der Autor, der neben RomanenGedichte geschrieben hat, maltdie Landschaften des mittlerenWestens im Breitbandformat.Man fühlt den Staub in den Au-

gen brennen, sieht das Präriegrasin wechselndem Licht, riecht dasverwesende Büffelfleisch. Detail-genau beschreibt Williams, wieBleikugeln gegossen werden oderwie man erlegten Büffeln dieHaut abzieht, und steht damiteinem Hemingway in nichtsnach.

«Etwas Schwarzes bewegtesich unter den dunklen Kiefern,die am gegenüberliegendenBerghang des Tals wuchsen. AmRand dieses Fleckens verlief eineleichte Wellenbewegung, dannerbebte der Fleck selbst wie einegrosse Wasserfläche, die von ver-borgenen Strömungen bewegt

wird»: Als die Truppe die Herdefindet, beginnt das grosse Ab-schlachten. Systematisch er-schiesst Miller nach und nach na-hezu alle fünftausend Büffel, dieFelle werden mitgenommen, dienackten Kadaver bleiben zurückund verrotten. Es ist nicht Blut-rausch, nicht Gier. Andrews er-kennt es als «kalte, hirnlose Re-aktion auf das Leben, auf dasMiller sich eingelassen hatte».Doch die Natur schlägt zurück:Der Wintereinfall kommt, späterschwellen die Flüsse an, auch dieNachfrage nach Fellen unterliegtihren eigenen Gesetzen.

Die grosse Leere im WestenDort, wo «so etwas Schönes wiedie eigene, unentdeckte Natur»auftauchen sollte, bleibt Leerezurück, wie sie Williams, derzweieinhalb Jahre bei den ArmyAir Forces in Indien und Burmastationiert war, wohl nur zu gutkannte. Eine Leere der Seele, diesich im Buch in dem verkom-menen Städtchen nach dem En-de des Büffelrausches spiegelt.«Butcher’s Crossing» ist ein Ent-wicklungsroman mit umgekehr-ten Vorzeichen, der nicht dieNatur verherrlicht, sondern vonVerrohung erzählt. Er tut es mitgrosser Poesie und zeitloserSchönheit.

Anne-Sophie Scholl

Der Tanz um den Büffel

Natur als göttliche Offenbarung oder zerstörerische Gewalt: John Williams verhandelt in seinem Roman den Mythos der Eroberung des Wilden Westens. Nick Hall

«Butcher’s Crossing»:John Williams, dtv, 368 S.

JOHN WILLIAMS UND SEIN ROMAN «STONER»

Zu Lebzeiten wurde John Wil-liams (1922–1994) gelesen, derganz grosse Erfolg jedoch bliebaus. Dieser setzte erst ein, nach-dem sein dritter Roman «Stoner»2003 in der Reihe New York Re-view Classics neu aufgelegt wor-den war. Seither gilt der Autor inden USA als Ikone der klassi-schen Moderne. Auf Deutsch istJohn Williams erst seit wenigenJahren zu lesen. 2013 erschien«Stoner» in deutscher Überset-zung, 2015 legte der Verlag sei-nen zweiten Roman «Butcher’sCrossing» nach. Williams hat vierRomane und zwei Gedichtbändegeschrieben, ein fünfter Romanblieb unvollendet.

Während John Williams in«Butcher’s Crossing» von derSehnsucht nach unverfälschterNatur schreibt, führt «Stoner»von der Natur zur Kultur. Der Ro-man spielt im 20. Jahrhundertund erzählt von einem armenFarmerssohn, der seine Leiden-schaft für Literatur entdeckt undProfessor an einer Universitätwird. Es ist ein vordergründig un-spektakulärer Roman, darüber,was es heisst, ein Mensch zu sein– in der Liebe, der Freundschaft,der Ehe, der Familie, der Arbeitund im Krieg. ass

«Stoner»: John Williams,dtv, 352 S., 2013 erschienen.

«Der schwarzeFleck erbebte wieeine Wasserfläche,die von verborge-nen Strömungenbewegt wird.»

aus «Butcher’s Crossing»

BERNER KRIMI Ein neuerBerner Kommissar taucht aufder literarischen Landkarteauf: Mit liebevollem Humornimmt Godi Huber in dreizehnunblutigen Kürzestkrimis dasGenre aufs Korn.

Was für ein Auftakt: «Bruno Pe-retti, ein altgedienter Tschuggerder Berner Kantonspolizei, ge-hörte nicht zu denen, die Tagezählen. Deshalb war die Pensio-nierung plötzlich da. Noch eineWoche Akten ausmisten, dannwürde er sich von den Kollegenund Büropflanzen verabschie-den. Da trat der Chef ins Büro, einDossier in der Hand. ‹Bruno, dubist der einzige, der Zeit hat. EinTaxi mit Fahrer ist spurlos ver-

schwunden. Kümmere dich dar-um.›» Brunos letzter Fall bei derKantonspolizei ist zugleich seinerster Fall im Land der Literatur.

Blut fliesst nicht in den Kür-zestkrimis von Godi Huber, demKommunikationsleiter der Ge-meinde Köniz und früheren Mit-arbeiter dieser Zeitung. Dafürdurchzieht feiner Humor die Ge-schichten. Seine Hauptfigur hatder 1958 geborene Autor beste-henden Kommissaren nachemp-funden – Donna Leons unermüd-licher Brunetti klingt in dessenNamen an oder auch Bruno, derChef de Police der Périgord-Kri-mis von Martin Walker. Ausge-stattet ist Peretti aber mit bäri-gen – pardon bernischen Attribu-ten: Er ist gutmütig, menschlich

und ein notorischer Beizengän-ger. In seiner Stammbeiz bestellter jeweils ein Bier und einen Sta-pel Bierdeckel: «Indem er die De-ckel auslegte, einsammelte, aus-legte und wieder einsammelte,ordnete er seine Gedanken, bissich Beobachtungen und Ahnun-gen zu einer Spur verdichteten.»Peretti beschattet einen Rosen-kavalier, lauert einer Diebin vonGlückskarten auf oder spürt ei-nem gelben Taxi nach, das sichbis San Remo verfahren hat. Undüber die dreizehn Kurzkrimis, dieje für sich selbst stehen, bahntsich eine Liebesgeschichte an mitFrau Huber, Perettis Lieblings-nachbarin.

Erschienen sind die Krimis imBerner Verlag Sage und Schreibe,

Rosenkavaliere und Glückskartendiebeder mit dem Büchlein seinen Ein-stand gibt. Gegründet wurde erunter anderem von Tina Uhl-mann, einer langjährigen Mitar-beiterin dieser Zeitung. Weil dieKrimis aus dem Bernbiet so kurz,so dialogisch und dialektal ge-färbt sind, vertonte sie der Radio-mann Pierre Kocher – gelesenvon Schauspieler Dieter Stoll undmit Akkordeonklängen unter-malt. Anne-Sophie Scholl

Godi Huber: Bärige Menschlichkeitdurchzieht seine Kürzestkrimis. zvg

«Bruno Peretti – Bärenstark»:Godi Huber, Sage und Schrei-

be, 72 Seiten. Vernissage: 6. Mai,Thalia Thun; Radio: Radio BernerOberland, ab 26. April, 20 Uhr;Radio Rabe, ab 28. April, 18.30Uhr. Info und weitere Termine:www.sageundschreibe-verlag.ch

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