Seide aus Beton

Preview:

Citation preview

T R E F F P U N K T FO R SC H U N G

6 © 2012 Wiley-VCH Verlag GmbH & Co. KGaA, Weinheim www.chiuz.de Chem. Unserer Zeit, 2012, 46, 6 – 8

N AT U R S TO F F E

nächst an einer festen Oberfläche be-festigt und dann durch Wegziehender Beine die Extrusion von weitererSeide bewirkt, was im Prinzip demSpinnvorgang der Spinnen entspricht.Ungewöhnlich ist, dass C. bonellii unter Wasser spinnt – das ist imReich der Spinnen zuvor im Süß -wasser, aber noch nicht im Meer -wasser beobachtet worden.

Konvergente EvolutionDie Ähnlichkeit mit der Seide ist in-sofern überraschend, als biologischnäher verwandte Materialien so hartsind, dass man sie üblicherweise alsZement bezeichnet. Die Materialpro-duktion bei C. bonellii hat zum Bei-spiel viele Gemeinsamkeiten mit denanalogen Prozessen bei den Ranken-fußkrebsen (z.B. den Seepocken), mitdenen der Flohkrebs sehr viel näherverwandt ist als mit den Spinnentie-ren. Beide beginnen mit einem ähnli-chen Ausgangsmaterial. Die Protein-produzierenden Drüsen sind bei bei-den Tierarten anatomisch äquivalent(obwohl ihr genaues Verwandtschafts-verhältnis noch zu klären ist) undauch die Aminosäurezusammenset-zung der Proteine ist ähnlich. DieSeepocke spritzt die klebrige Flüssig-keit aus Proteinen dann durch meh-rere räumlich verteilte Drüsen aufdie Kontaktfläche, woraufhin das Ma-terial innerhalb weniger Stunden aus-härtet und die Seepocke für den Restihres Lebens mit ihrem Substrat ver-bindet.

In einem Sekretions-Bein von C. bonellii hingegen führen die Drü-sen alle in eine gemeinsame Kam-mer, aus der das Material durch eineneinzigen engen Kanal zu einem einzi-gen Ausgang am Ende des Beins ge-langt, durch den das Material dannvermutlich durch Zugspannung ge-sponnen wird. Ebenso wie der See-pocken-Zement ist der Werkstoff sehrklebrig und bindet dadurch Sandkör-ner und andere Partikel mit ein. DieSeidenfasern hingegen verwandelnden Zement der Seepocken in einenVerbundwerkstoff, der sich auch zumAufbau der dreidimensionalen Röh-ren eignet.

Es handelt sich also um ein Bei-spiel für konvergente Evolution: Spin-nen, Insekten und Flohkrebse gingenvon verschiedenen Grundlagen aus,kamen aber zu ähnlichen techni-schen Lösungen für ähnliche Anfor-derungen. Dementsprechend istnicht unbedingt zu erwarten, dasssich die Ähnlichkeiten auch auf mo-lekulare Strukturen erstrecken. ErsteUntersuchungen deuten darauf hin,dass der proteinreiche Kern der Fa-sern nicht so viele antiparallele beta-Faltblatt-Strukturen enthält wie Spin-nenseide. Wie die Fasern auf moleku-larer Ebene genau aufgebaut sind,bleibt allerdings noch zu erforschen.

[1] K. Kronenberger et al., NaturwissenschaftenDOI 10.1007/s00114-011-0853-5

Michael Großwww.michaelgross.co.uk

T R E F F P U N K T FO R SC H U N G

Ein nur wenige Millimeter großerMeeresbewohner aus der Ord-nung der Flohkrebse baut sichRöhren aus einem proteinhaltigenMaterial, das mit dem klebrigenZement der Seepocken verwandtist, aber gesponnene Fasern nachArt der Spinnenseide enthält.

Der Flohkrebs Crassicorophium bo-nellii lebt wie Diogenes in einer Ton-ne: er baut sich horizontale Röhren,die an beiden Enden offen sind undhorizontal am Untergrund festkleben.Die Arbeitsgruppe des Spinnenfor-schers Fritz Vollrath an der Universi-tät Oxford hat nach eingehender Un-tersuchung des Röhrenmaterials unddes Produktionsprozesses nun vorge-schlagen, dass das Meerestierchendas faserige Baumaterial ähnlich wieeine Spinne produziert [1].

Definierendes Kriterium für Sei-den der Spinnen und Insekten ist,dass die hauptsächlich aus Proteinbestehenden Fasern nicht durchDruck von innen, sondern durch eineZugkraft von außen die Drüsen ver-lassen. Die Seidenraupe erzeugt dieseZugkraft durch Rotation, währendSpinnen sie entweder durch ihr eige-nes Gewicht oder durch Ziehen mitihren Beinen erzeugen.

C. bonellii besitzt zwei für dieProduktion seines Röhrenmaterialsspezialisierte Beine in der Mitte desKörpers (Abbildung). Vollraths Ar-beitsgruppe vermutet, dass das Tier-chen eine entstehende Faser zu-

Abb. Der Floh-krebs Crassicoro-phium bonelliibaut Röhren auseinem protein-haltigen Materi-al, das mit demZement der See-pocken verwandtist, aber gespon-nene Fasern nachArt der Spinnen-seide enthält.[Bild: K. Kronen -berger und D. Johnston] Seide aus Beton

Recommended