View
247
Download
15
Category
Preview:
DESCRIPTION
Â
Citation preview
Eine Vorarlberger Familie in der Steiermark
Die Sieber-Geschwister
4
Regina, älteste Tochter von Hedwig
— Meine Brücke in eine längst vergangene Welt
Plazidus Sieber, mein Großvater, kam am 11. Februar 1894 als
fünfzehntes von achtzehn Kindern auf der Fluh, einem Bergdorf
über Bregenz in Vorarlberg, zur Welt. Ein gleichnamiger Bruder
war ebenso wie neun weitere Geschwister früh verstorben. Die
Eltern bewirtschafteten einen Bauernhof, von dem klar war, dass
ihn nur ein Sohn erben würde. So musste sich mein Großvater mit
der Idee anfreunden, seine Heimat zu verlassen und anderswo
sein Glück zu suchen.
Der junge Plazidus war, so sagt man, ausgesprochen lebens-
und unternehmungslustig. Er spielte Mundharmonika und scheu-
te keine Mühe, um Tanzveranstaltungen im Tal zu besuchen – per
pedes, versteht sich. Auf sein Äußeres soll er großen Wert gelegt
haben, was ihm, wie ich gehört habe, sehr zugute kam, als er um
meine Großmutter warb.
Dabei wäre es um ein Haar nichts geworden mit den beiden.
Kurz vor der Hochzeit lernte er nämlich eine andere Frau kennen,
die ihm für seine wirtschaftlichen Vorhaben besser geeignet er-
schien. Als Ehrenmann hielt er jedoch das Eheversprechen, das
er meiner Großmutter gegeben hatte, – eine kluge Entscheidung,
wie sich herausstellen sollte. Die beiden waren nicht nur in prakti-
schen Dingen ein ideales Paar, das allen Widrigkeiten des Lebens
trotzte.
5
Bauer trifft Fräulein
Nach der Schule perfektioniert Agathe ihre Kochausbildung im Gasthaus einer Kusine, wo sie sich auch manchmal als Kellnerin betätigt. Eines Tages, sie bedient gerade im Garten, spaziert zufällig der junge Plazidus bei der Gartentür herein. Mit seinem Spazierstock und seinem modernen Girardi-Hut ist er eine elegante Erscheinung. Wie es seiner leutseligen Art entspricht, verwickelt er die junge Kellnerin in ein angeregtes Gespräch. Plötzlich naht ein Gewitter – da muss sich Agathe beeilen, die Wäsche abzunehmen! Zwangslage ist Zwangs-lage, da heißt es Hand anlegen. So tut Plazidus etwas, was er noch nie in seinem Leben getan hat und auch nie mehr tun wird: Er hilf t beim Abnehmen der Wäsche!
Später fragt Agathe ihre Kusine, wer denn dieser feine Herr gewesen sei? Daraufhin erfährt sie drei Dinge, die ihr ganz und gar nicht in den Kram passen: Erstens – er heißt Plazidus! Wie kann man nur so heißen? Zweitens – er ist Bauer! Als Wol-furter Bürgertochter ist Agathe durchaus standesbewusst. Sie möchte alles, nur keinen Bauern. Drittens – er kommt von der Fluh! Gigritzpatschen ist eine Großstadt dagegen.
Plazidus hat jedoch hochfliegende Pläne. Er wird sich außer-halb der engeren Heimat eine Existenz aufbauen. Sein Ehr-geiz und sein Geschick sind weithin bekannt. Natürlich weiß er, dass viel harte Arbeit auf ihn wartet. Ob ein zartes Persön-chen wie Agathe da die Richtige ist?
Aber Plazidus ist Agathes große Liebe, gleich wo er herkommt oder wie er heißt. Und er hat ihr die Ehe versprochen, auch wenn in Lauterach vielleicht besser geeignete Frauen zu fin-den wären. Er hält Wort und heiratet sie. Zum Glück, denn mit Agathe trif f t er eine ausgezeichnete Wahl. Die beiden führen eine gute Ehe und sind einander bis an ihr Lebensende liebe-voll zugetan.
6
Meine Großmutter Agathe Schertler wurde am 22. Februar 1897
in Wolfurt als drit tes von acht Kindern einer Bürgerfamilie gebo-
ren, von denen sieben das Erwachsenenalter erreichten. Ihre El-
tern betrieben neben der damals üblichen kleinen Landwirtschaft
eine Stickerei, die später Großonkel Seppl und danach dessen
Tochter Rosemarie übernahm. Agathes Mutter, Anna Maria, ver-
starb nach langem Leiden früh an Lupus, und so musste der Va-
ter, Gebhard Schertler, die Kinder gemeinsam mit seinen älteren
Töchtern Rosa und Anna allein durchbringen.
Anders als ihr späterer Mann, der seine hervorragenden praktischen
Kenntnisse, vor allem das geschickte Rechnen, allein dem Dorflehrer
verdankte, besuchte meine Großmutter die Bürgerschule und vertief-
te ihre Ausbildung später in einem Hotel in Schruns. Dort erwarb sie
hervorragende Kochkenntnisse, die den Hof der Siebers zu einem ge-
suchten Arbeitsplatz für Knechte und Dienstmädchen machen sollten.
Meine eigenen frühesten Eindrücke und Erinnerungen an „daheim
drinnen“, wie meine Mutter ihr Elternhaus nannte, reichen in eine
Zeit zurück, in der es die Familie Sieber bereits „geschaff t“ hatte.
Oft wurde über den Umbau des Wohnhauses gesprochen, das
man in den fünfziger Jahren aufgestockt hatte. Das neue Haus
verfügte nun über ein prestigeträchtiges „Fremdenzimmer“, das
nur über einen langen Gang erreichbar war. Gemeinsam mit mei-
ner Schwester durf te ich in diesem Zimmer, das normalerweise
den Vorarlberger Gästen vorbehalten war, ein paarmal übernach-
ten. Manchmal glaube ich, dass meine heutige Reiselust durch
diese „auswärtigen“ Übernachtungen erstmals geweckt wurde.
Ich erinnere mich an die dicken, straffen und blütenweiß bezoge-
nen Polster und an den grandiosen Blick in der Früh, der über die
roten Pelargonien vor dem Fenster auf die Straße darunter zum
gegenüber liegenden Schlossberg führte. Auch das lindgrüne Ba-
dezimmer und der strenge Duft, ja sogar die braune Flasche des
Rasierwassers meiner beiden Onkel sind mir noch ganz präsent.
7
Spazierten wir mit unserer Mutter von unserer Wohnung in Hafen-
dorf oder sonntags von der Kirche aus zu den Großeltern, kamen
wir am Schloss Wieden vorbei. Das vor der Renovierung stark
baufällige Schloss, das mein Großvater von den Grafen Stuben-
berg seines Kellers wegen als Mostlager zu den landwirtschaftli-
chen Gründen dazu gekauft hatte, erschien mir als Kind wunder-
bar geheimnisvoll, und ich erblickte darin einen klaren Hinweis
auf den Wohlstand der Familie Sieber.
So wurde uns erzählt, dass Maria Theresia und
Papst Pius VI1 auf der Durchreise hier Halt ge-
macht hatten. Der Klang dieser Namen und die
ehrfurchtsvollen Ausführungen meines Vaters,
der die Handwerkskunst früherer Generationen
bewunderte, weil sie ohne moderne Technik sta-
tische Probleme gemeistert und riesige Dach-
stühle nur mit Holznägeln gezimmert hatten,
verstärkten die Faszination.
Kamen wir dagegen mit dem Auto, parkten wir
hinter dem Haus und gelangten durch einen ge-
schwungenen Torbogen mit schmiedeeisernem
Gitter zum Wohnhaus – auch das ein erheben-
der Anblick für ein kleines Kind.
Das tägliche Leben bei den Siebers war nicht ganz so geheimnis-
voll und vornehm. Ständig standen alle Türen offen, und im Winter
erwies sich auch das renovierte Wohnhaus noch als zugige Zim-
merflucht, die wenig Gemütlichkeit aufkommen ließ.
1 1750 Maria Theresia mit Gefolge auf dem Weg zur Garnison in Pettau
1782 Pius VI auf dem Weg zu Josef II, mit dem er wegen der Auflösung
vieler Klöster verhandeln wollte
Blick durch den Torbogen auf das – damals schon
renovier te – Schloss Wieden
8
Dafür herrschte in der warmen Küche ein ständiges Kommen
und Gehen, denn meine Großmutter führte ein bekanntermaßen
gastfreundliches Haus. Ich versuchte schon früh möglichst viel
von den Gesprächen zu erhaschen, konnte mir auf viele Erzäh-
lungen allerdings keinen Reim machen.
Ein heimeliger Ruhepol in all dem Trubel war unsere
kinderlose Großtante Rosa aus Vorarlberg, die mehre-
re Winter in Kapfenberg verbrachte. Ich sehe sie noch
ganz deutlich vor mir, angenehm mollig, in einem
grauen Rock und rosa Wollpullover. Sie nahm uns auf
den Schoß und spielte mit uns „Böckle, Böckle, ditsch“.
Dieses Spiel bestand in nichts anderem, als dass man
die Köpfe nach Ziegenbockart fest aneinander stieß.
Sieger war, wer es länger aushielt, und – Tante Rosa
muss pädagogisch begabt gewesen sein – das waren
immer wir.
Auf der Bank vor der Küche versammelten sich nach
der Arbeit oder auch am Wochenende ärmere Schicht-
arbeiter, die sich zwar kein Bier, wohl aber den bekannt guten
Sieber-Apfelmost leisten konnten. Die Einnahmen daraus gehör-
ten meiner Großmutter. Sie bewahrte sie in einer Schale in einem
damals unerhört modernen Nirosta-Küchenschrank auf. Als Kind
hatte ich immer den starken Eindruck, sollte sich jemand, und sei
es mein Großvater, an diesen Münzen vergreifen, würde es ihn
oder sie die schlimmen Finger oder gleich die ganze Hand kosten.
Die Mostkundschaft war einerseits wunderbar aufregend, weil
die – aus der Sicht eines Vorschulkindes – steinalten Männer von
so fremdartigen Dingen wie vom Böhler-Werk und ihrer schweren
Arbeit am Hochofen redeten und wohl auch die eine oder an-
dere private Komödie oder Tragödie ausplauderten. Andererseits
fürchtete ich mich panisch vor denselben Leuten, sobald sie be-
trunken zur Straße hinunter torkelten. Als einmal einer der Trun-
Tante Rosa 1948
9
kenbolde auf diesem Weg, von dem mich zum Glück ein Zaun
und eine dichte Hecke trennten, im Rausch umfiel und einfach
liegenblieb, getraute ich mich stundenlang nicht, mein Versteck
unter einem Ribiselstrauch zu verlassen, bis ich mir endlich ein
Herz fasste und davonrannte.
Mein Großvater muss schon länger unter einem unerkannten Dia-
betes gelit ten haben. Jedenfalls erscheint er mir in meiner Erinne-
rung, bevor er in den zurückgezogenen Dämmerzustand abglit t,
der damals schlicht Verkalkung genannt wurde, als ziemlich cho-
lerisch. Ich weiß noch, dass er mehrmals seine längst erwach-
senen Söhne anschrie, was nicht auf beide denselben Eindruck
machte. Der Generationenkonflikt war zu Beginn der sechziger
Jahre zwar längst noch nicht in der Provinz angekommen, doch
der „zivile Widerstand“ meines Onkels Richard, der das Leben ins-
gesamt nicht allzu ernst zu nehmen schien, beeindruckte mich als
Kind tief.
Onkel Richard lieferte uns laufend Munition gegen all die lästigen
Erwachsenen, die, sobald wir den Windeln entwachsen waren,
mit dem „Ernst des Lebens“, sprich der Schule, drohten. Als wir
später „Florentine“ von James Krüss lasen, münzte ich das Groß-
muttergedicht gleich auf Onkel Richard um:
Den Duf t dieser Phloxhecke habe ich als Kind geliebtMit meinen Schwestern Annemarie und Veronika
10
„Wer so einen pfundigen Onkel hat,
der lacht auch mit Seife im Mund.
Nur wohnt er am anderen Ende der Stadt
und das ist zum Weinen ein Grund.“
Mein Onkel Helmut, der schon zehn Jahre vor meiner Geburt an
Typhus gestorben war, schien trotzdem irgendwie ständig prä-
sent zu sein. So sieht man meine Großmutter auf kaum einem
Foto aus der Zeit nach seinem Tod entspannt lachen oder auch
nur lächeln. Sie und ihr Mann hatten ihren Lebenstraum, als ge-
machte Leute nach Vorarlberg zurückzukehren, mit ihrem Sohn in
Kapfenberg begraben müssen.
Dank Onkel Herbert war immer für Unterhaltung und Zeitver-
treib gesorgt. Er war sehr an Geografie interessiert und auch
wirklich beschlagen auf diesem Gebiet. In seinen Quizstunden
über Länder und Hauptstädte, Gebirgszüge und Flüsse konnte
man leicht die quälenden Turnübungen vergessen, bei denen
er uns zum Springen nötigte – nicht etwa möglichst weit oder
über ein Hindernis. Nein, er wollte, dass wir mit unseren kur-
zen Beinen aus dem Stand vom Boden auf einen Sessel hüpf ten.
Wer weiß, ohne die ganze schwere Arbeit auf dem Bauernhof
hätte er, der immer wissen wollte, wer denn nun am schnells-
ten, stärksten und mutigsten sei, vielleicht selbst den einen oder
anderen Rekord aufgestellt. Rekordverdächtig ist jedenfalls eine
sportlich anspruchsvolle Radtour bis nach Norddeutschland, mit
der er seine jungen Neffen an den Rand ihrer Leistungsfähigkeit
brachte.
In besonders angenehmer Erinnerung habe ich die üppigen
Vorräte im Hause Sieber. Sie waren in einer Zeit, in der wirklich
noch jeder Groschen umgedreht werden musste, beileibe keine
Selbstverständlichkeit. Auch bei uns daheim im Töllergraben war
damals noch eher Schmalhans Küchenmeister, während meine
Großmutter of fenbar schon aus dem Vollen schöpfen konnte.
11
Zu den Essgewohnheiten im Hause Sieber fällt mir ein Reim aus
einem meiner liebsten Kinderbücher, Försterei Waldeslust, ein:
„So kocht sie die Kartoffelklöße
stets in Kanonenkugelgröße.
Und nur ein ganz gesunder Magen
kann solche schwere Kost vertragen.“
Allerdings kamen keine Kartoffelknödel, sondern hauptsächlich
Fleischgerichte auf den Tisch, und zwar nur vom Schwein oder
Rind. Hühner galten in der Familie als unappetitlich und wur-
den nur als Eierlieferanten akzeptiert. Mit dem Federvieh wollte
sich niemand abgeben, und darauf legte man Wert! Nur Onkel
Richard erbarmte sich der gackernden Meute. Er züchtete sogar
eine ganz spezielle, schwarze Rasse, die selbst meinem Groß-
vater Respekt abnötigte. Auf den Teller schaff ten es aber auch
diese Aristo-Hühner nie, sondern wurden wie alle anderen nach
gebührender Eierspende an bedürftige Interessenten verschenkt.
Die üppigen Fleischgerichte hatte ich übrigens meinem Großva-
ter zu verdanken, der sich in seiner Jugend aus dem herrschen-
den Mangel heraus selbst versprochen hatte, er werde einmal so
wirtschaften, dass immer genügend Fleisch auf den Tisch käme.
Bei Siebers gab es nicht viel zu lesen, doch die Familie hatte einen
Bauernkalender abonniert, in dem unter anderem die politischen
Größen der Zeit abgebildet und beschrieben waren. Über Chru-
schtschow und Churchill, Adenauer und De Gaulle war ich daher
schon lange vor meinem Schuleintrit t genauestens im Bilde.
Das Radio in der „Kanzlei“, einem kleinen Raum neben der Küche,
spielte ebenfalls eine wichtige Rolle in meinem Kinderleben. Dar-
aus erfuhren wir 1963 von drei Todesfällen, die die Erwachsenen
offenbar tief erschütterten: Bundespräsident Schärf starb im Mai,
Johannes XXIII im Juni und John F. Kennedy im November dieses
selben Jahres. Vor allem das Ableben des Papstes und des „guten“
12
US-Präsidenten warf in der Familie die bange Frage auf, wie es mit
der Welt wohl weitergehen würde.
Heute frage ich mich manchmal, woher dieses Gefühl meiner frü-
hen Jahre stammte, durch die Zugehörigkeit zur Familie Sieber
etwas Besonderes zu sein. Meine Großeltern kamen noch aus
einer anderen, längst vergangenen Welt. Mag sein, dass ich ihre
Denkweisen und Beweggründe nicht verstehen konnte, doch sie
beeindruckten mich durch ihre Ernsthaftigkeit und ihren sorgfälti-
gen Umgang mit Menschen und Dingen. Das vermittelte mir als
Kind ein starkes Gefühl der Sicherheit und Geborgenheit.
Annemarie, zweitälteste Tochter von Hedwig
— Daham drin
„Daham drin“ – so nannte unsere Mutter ihr Elternhaus.
Für uns, ihre drei erstgeborenen Töchter, verbarg sich in diesem
Ausdruck eine zweifache Botschaft: Das „Daham“ unserer Mutter
war nicht die damalige Wohnung der Familie Weinhandl am Töl-
lergraben 3, sondern ihr Elternhaus in der Wiener Straße 69. Das
„drin“ markierte das Zentrum der Welt, das Schwarze der Ziel-
scheibe, die heimatliche Höhle, in die sie uns täglich schleppte.
Dort konnte sie, die das Gefühl hatte, zu früh Mutter geworden zu
sein, die Kinder der Großmutter anvertrauen und selbst wieder
zur Tochter werden.
Tagtäglich legten wir mit unserer Mutter den halbstündigen Weg
nach „daham drin“ zu Fuß zurück. Ich weiß noch, wie ich verträumt
und immer zu langsam neben dem Kinderwagen, in dem meine
jüngere Schwester Veronika thronte, herzockelte, auf der anderen
Seite meine „große“ Schwester Regina, die der Welt schon damals
13
mit wacher Aufmerksamkeit begegnete und sich auf Fakten und
Geschehnisse ihren klugen Reim machte.
„Daham drin“ erwartete uns ein buntes, lautes Treiben mit viel-
fältigen Geräuschen, Gerüchen und Ritualen. So unterschiedlich
wir die Atmosphäre auch wahrgenommen haben mögen, einige
Eindrücke liegen doch über allem. Einer der prägendsten war si-
cher unsere Großmutter in der Küche, die pausenlos Mostkunden
bediente, Kaffee kochte und Jausen „richtete“ und ihre Enkelinnen
mit einem freundlich-distanzierten, nicht einer gewissen Hinter-
gründigkeit entbehrenden Interesse wahrnahm.
Wir durf ten ihr langes graues Haar, das sie normalerweise zu
einem Knoten aufgesteckt trug, zu immer neuen, verwegenen
Frisuren türmen, die sie, sobald sie sich von ihrem Platz neben
dem Herd mit seinen matt spiegelnden Rändern erhob, mit einem
Federstreich und leicht peinlich berührtem Blick wieder zunichte-
machte. Unsere Kämmattacken erduldete sie ergeben und in sich
versunken. Vielleicht dienten sie ihr in ihrem hektischen Alltag als
willkommene Meditationspausen, als Entschuldigung dafür, kurz
innezuhalten und die Welt zu betrachten.
Großmama mit meiner Schwester Martina 1966
14
Das Reich unserer Großmutter war die Küche. Sie war die Herrin
über die Mostkassa – eine Schüssel mit Kleingeld, die sie – etwas
über unserer Augenhöhe – in einem Nirostaschrank aufbewahr-
te. Wir liebten es, das Geld zu zählen und mit den Händen in dem
Berg von Schilling- und Groschenmünzen zu wühlen. Es waren so-
gar Fünf- und manchmal auch Zehn-Schilling-Stücke darunter! Da
niemand auf die Idee kam, die Kinder an diesem Mostgeldschatz
zu beteiligen, kam ich nicht umhin, die Sache selbst in die Hand
zu nehmen: In einem unbeobachteten Augenblick schnappte ich
mir eine Handvoll Münzen, versteckte sie unter dem Polster auf
der Küchenbank und meldete dann aufgeregt meinen „Fund“. Ich
durf te ihn zwar behalten, aber richtig froh wurde ich nicht damit:
Die Erwachsenen warfen sich vielsagende Blicke zu, und mich be-
schlich das Gefühl, mir die heiße Ware unehrenhaft angeeignet
zu haben. Nicht ernst genommen zu werden, hinterließ bei mir
ein flaues Gefühl.
Das Mostfass mit seinem stets tropfenden Zapfhahn stand auf ei-
nem Tisch neben der Eingangstür. Die Mostkunden kamen entwe-
der mit großen Flaschen, in die der begehrte, säuerlich riechende
Saft abgefüllt wurde, oder sie bekamen Krügel in die Hand ge-
drückt und ließen sich auf der Bank vor dem Haus nieder. Gegen-
über von dieser Bank befand sich ein niedriges Steinmäuerchen,
und wenn der Platz auf der Bank nicht reichte, breitete sich die
Gesellschaft dorthin aus. Auch Stehplätze waren durchaus be-
gehrt. An diesem Ort wurden die Neuigkeiten aus der Umgebung
abgehandelt. Wir Kinder beobachteten die Szene am liebsten aus
dem Hintergrund, denn wenn wir uns zeigten, konnten wir leicht
zum Ziel des sprichwörtlichen Sieber´schen Stolzes werden, und
das war uns doch etwas unangenehm.
Unser Großvater, der absolute Chef im Hause Sieber, war der
Herr der Jause. Die Plätze an seiner Seite während dieser Mahl-
zeit waren heiß begehrt. Vor sich auf dem Tisch ein Holzbrett mit
Speck, Wurst, Emmentaler Käse und manchmal sogar Essiggur-
15
ken, verteilte er seine Schätze großzügig. Dabei schnitt er immer
ein Stück Speck, Käse, Wurst oder Brot ab und hielt es einem dann
gleich mit dem Messer hin. Beim Speck hatten wir es weniger
auf das „Weiße“ abgesehen, das er uns nach Möglichkeit unterju-
belte, sondern auf das „Rote“. Zwischen unserem Großvater und
uns herrschte ein ständiges Gerangel um das „Rote“. Er achtete
darauf, dass wir nicht nur Speck und Käse aßen, sondern auch
Brot. Vom Most durf ten wir auch kosten, doch der stieß, herb und
sauer wie er war, bei uns zwar auf Interesse, aber auf wenig Be-
geisterung.
Vor dem Haus gab es einen Keller, der von einer schweren, eben
in den Boden eingelassenen roten Eisentür verschlossen wurde,
die hochgezogen und abgestützt werden musste. Dieses unter-
irdische Gelass, in dem die Mostfässer und die sogenannten
Mostbluzer aufbewahrt wurden, war für uns Kinder verbotenes
Terrain und übte daher eine starke Anziehungskraft auf uns aus.
Aus ihm quollen säuerliche, kühle Gerüche, und wenn die Groß-
mutter oder die Bedienstete ihr Vorhaben dort vollendet hatten,
schloss sich die Tür, in deren Nähe wir uns nicht begeben durf ten,
wenn sie geöffnet war, von Neuem. Diese Unterwelt, in der heute
die Zeit stillsteht, übte auf uns Kinder eine große Faszination aus,
zumal wir sie nie erkunden durf ten.
Anders verhielt es sich mit der Heukammer. Trat man aus der
Haustür, konnte man gleich links durch eine runde Tür in den Stall
schlüpfen. Dort empfingen einen der herrlich warme Stallgeruch,
das Schnauben, Mahlen und Stampfen der Kühe, das schreckhaf-
te Grunzen der immer futtergierigen Schweine und – das Wich-
tigste – die duftende Heukammer, in der sich bestimmt ein Nest
mit jungen Katzen versteckte. Da galt es, stundenlang reglos zu
verharren und die Katzenmutter während ihrer Besorgungen zu
beschatten, um schließlich triumphierend die Katzenkinder – so-
fern sie noch klein genug waren – in Beschlag zu nehmen. Wir
mussten dabei vorsichtig vorgehen, denn ihre Sicherheit war stets
16
gefährdet. Auf dem Hof gab es zu viele Katzen, und wenn die
Männer ihrer früh genug habhaft wurden, beförderten sie sie
ohne viel Aufhebens ins Jenseits. Nicht bedroht von einem solchen
Schicksal war der legendäre Kater Lothar, der sich noch in späten
Jahren an einen neuen Namen gewöhnen musste, nachdem er
bei uns Zeit seines Lebens als „Lotte“ firmiert hatte. Eines Tages
teilte uns Onkel Richard nämlich mit, dass es sich bei unserer Lot-
te in Wahrheit um einen Kater handelte. Lothar genoss höchstes
Ansehen, weil er im biblischen Alter von über tausend Jahren mit
nur einem Zahn im Maul angeblich noch Ratten fing.
Zentrum des Stalls war eine große, kalte Milchtonne aus Blech,
in die die dampfende Milch mit Eimern geschüttet wurde. Sie ver-
strömte einen warmen, süßlichen Geruch, der sich mit dem Blech-
geruch zu einer eigenartigen Mischung verband. Immer wurden
auch die Katzen aus diesem Reichtum bedient, und wenn sie sich
den Bauch vollgeschlagen hatten, warteten in den dunklen Ecken
schon die Igel auf ihre Chance.
Im Stall tummelten sich neben uns drei Mädchen auch immer Kin-
der aus der Nachbarschaft oder aus dem Schloss, die gar nicht so
vornehm waren, wie ihre Wohnadresse vermuten ließ. So war es
für einige Buben ein beliebter Zeitvertreib, sich auf den Misthau-
fen zu stellen und ihren Blaseninhalt in einem möglichst hohen
und weiten Bogen in der Umgebung zu verteilen. Meine Schwes-
tern und ich konnten mit solchen exotischen Kunststücken natür-
lich nicht aufwarten und begnügten uns mit der Zuschauerrolle.
Wir waren während dieser Vorführungen aber alles andere als
untätig und feuerten die Protagonisten nach Kräften an.
Zum Küchenreich unserer Großmutter gehörte auch die soge-
nannte „Speis“, ein länglicher, dunkler Raum mit Steinboden, in
dem so geheimnisvolle Dinge wie eingelegte Eier aufbewahrt
wurden. Bleich und grünlich schimmernd ruhten sie in einem Rie-
senglas in ihrer Sole. Dass sie jemals auf den Tisch gekommen
17
wären, ist mir nicht erinnerlich. In der Speis herrschte, anders als
in der Küche, eine kühle, sakrale Stille. Wir durf ten diesen Raum,
in dem sich Köstlichkeiten wie Joghurt in dunkelbraunen Glas-
flaschen mit Aluminiumverschluss und andere geheimnisvolle
Gläser und Flaschen verbargen, nur in Begleitung unserer Groß-
mutter betreten, die allzu neugierige Fragen oder gar Handgreif-
lichkeiten mit Bestimmtheit abwehrte.
Nach dem Mittagessen versammelten sich die Erwachsenen zum
Beten in der Küche, manchmal auch in der sogenannten „Kanzlei“.
Das war ein kleines, quadratisches Zimmer gegenüber vom Ein-
gang, das sonst eigentlich nur für Buchhaltungszwecke benutzt
wurde. Gebetet wurde der aus drei „Gegrüßet seist du Maria“
bestehende „Engel des Herrn“, der in einem auf- und abschwel-
lenden Singsang mit vorarlbergerisch klingender Sprachmelodie
vorgetragen wurde. Über die Bedeutung der Passage „Und das
Wort ist Fleisch geworden und hat unter uns gewohnt“ habe ich
mir jahrelang den Kopf zerbrochen. Die Erwachsenen bei diesem
Ritual versammelt zu sehen, hatte etwas Besonderes, entbehrte
das Alltagsleben doch sonst jeder Feierlichkeit und Entrücktheit.
War das Gebet beendet, schüttelten die Anwesenden das Ent-
rückte ab und gingen wieder ihrer gewohnten Arbeit nach.
In seltenen Augenblicken, in denen es in der Küche still war und
meine Großmutter sich unbeobachtet fühlte, schlug sie die Hände
vors Gesicht und klagte: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du
mich verlassen!“ Als Kind konnte ich mir keinen Reim auf diese
Worte machen. Heute weiß ich, dass sie den frühen Tod ihres
Sohnes Helmut, der mit 19 Jahren an Typhus starb, nie verwinden
konnte.
Im ersten Stock des Hauses gab es neben einem entsprechend
dem Zeitgeist – „Hatten Sie heut´ schon Ihr Badedas?“ – in Pastell-
farben gehaltenen Badezimmer das sogenannte „Fremdenzim-
mer“, das, wie der Name schon sagt, den Gästen des Hauses
18
vorbehalten war. Darin stand ein riesiges Doppelbett, bezogen
mit feinstem, blütenweißem Damast. Der Stellenwert dieses Zim-
mers wurde durch eine Flügeltür und den endlos scheinenden
Gang unterstrichen, der das Zimmer mit dem Vorraum verband.
Den Boden dieses Ganges zierte ein bunter, grober Sisalteppich
mit Längsstreifen, die einen, wenn man den Gang schnell entlang
lief, in eine Art Trance versetzten. So fand die psychedelische Zeit
der 1960er Jahre auch im Hause Sieber ihren Niederschlag.
Ich weiß noch, dass ich einmal im Fremdenzimmer übernachten
durf te. Der Ehre, die das bedeutete, war ich mir durchaus be-
wusst! Leider konnte ich wegen des ungefiltert durch das Fenster
dringenden Straßenlärms, den ich von zu Hause nicht gewöhnt
war, die ganze Nacht kein Auge zudrücken und fühlte mich in der
Früh wie gerädert. Aber die duftende, gestärkte Bettwäsche, die
schwere Federdecke und die feierliche Atmosphäre des Fremden-
zimmers sind mir heute noch präsent.
Da ich als Kind Erwachsene nach Möglichkeit ausblendete, kon-
zentrieren sich meine Erinnerungen auf bodennahe Bilder und
auf Eindrücke wie Gerüche und Geräusche. Heute würde ich das
damalige Treiben in der Sieber´schen Küche gerne als unsicht-
barer Gast beobachten – dazu müsste ich aber als Geist an der
Decke schweben. Denn Sitzplätze waren Mangelware im Reich
meiner Großmutter. •
19
20
Die HerkunftsfamilienHedwig erzählt:
— Schertler
Familie Schertler war eine Wolfurter Bürgerfamilie. Mein Ur-Ur-
Urgroßvater, also der Urgroßvater meiner Mutter, der 1791 gebo-
ren wurde, hatte zehn Kinder. Er war sehr reich und vermachte
jedem seiner Nachkommen 10.000 Gulden. Das soll umgerechnet
so viel gewesen sein wie eine Million Schilling in den fünfziger
Jahren, also viel Geld. Er hatte eine Ziegelei.
Als Bürgerfamilie war es Familie Schertler gewöhnt, jedes Jahr
eine große Reise zu unternehmen. Von diesen Reisen brachten
sie den Kindern schönes Spielzeug mit. So hatten sie einen Herd,
auf dem man richtig kochen konnte, und vielfältiges Geschirr.
Dann aber kam ein Schicksalsschlag: Meine Großmutter, die ich
nie zu Gesicht bekam, erkrankte an Lupus. Da die Familie auf sich
hielt, entschied sie sich anstelle des Bregenzer Arztes, der Hei-
lung versprach, für einen Kuraufenthalt in einem Sanatorium in
Bremen. Das war zur Zeit des Ersten Weltkriegs.
Famlie Schertler 1911Seppl, Mutter Anna Maria,
Ella, Rosa, Julius, Vater Gebhard, Alfred, Agathe und Anna
21
Zu Hause ließ sie sieben Kinder zurück. Noch dazu wurde der Vater
zu den Kaiserjägern eingezogen! Die drei Älteren hatten daraufhin
nicht nur die vier Kleinen zu versorgen, sondern sie mussten sich
auch um die Stickerei und um die Landwirtschaft kümmern, die zu
dem Betrieb gehörte. Die älteste Schwester, Tante Rosa, ging nach
Bregenz in ein Büro arbeiten, Tante Anna war für die Landwirtschaft
und für das Vieh zuständig, und meine Mutter kümmerte sich um
die Hauswirtschaft und um die kleinen Kinder.
Die Behandlung in Bremen schlug nicht an, und so kehrte meine
Großmutter zum Sterben nach Hause zurück. Sie wurde nur 56
Jahre alt. Mein Großvater heiratete nie mehr. Tante Rosa blieb
ledig, nachdem sie Lorenz Böhlers Antrag ausgeschlagen hatte.
Dieser hatte sich, um vertrauenswürdiger auszusehen, einen Bart
wachsen lassen. Meine Tante fand, er sehe damit so grässlich
aus, dass sie nichts von diesem Bewerber wissen wollte. Später
bereute sie sehr, dass sie auf seine Avancen nicht eingegangen
war. Alle anderen Geschwister heirateten und bekamen Kinder.
Meine Mutter besuchte die Bürgerschule und ging anschließend
ins Walsertal nach Schruns in ein Hotel, um kochen zu lernen.
Schertler-Tref fen der Geschwister 1940er Jahre
22
Großvater väterlicherseitsGroßmutter väterlicherseits
Großvater mütterlicher-seits Gebhard Schertler mit Enkelkind
Großmutter mütterlicher-seits Anna Maria Schertler, geborene Gunz
Mama 1921 als Schauspielerin (ganz links)
23
— Sieber
Familie Sieber war seit eh und je eine Bauernfamilie. Leider
brannte auf der Fluh einmal die Kirche mitsamt dem Pfarrhof ab,
so dass uns viele Unterlagen fehlen. Das waren Bauern aus Lei-
denschaft. Sie betrieben einen Bergbauernhof auf ca. 800 Me-
ter Höhe. Keines der Kinder lernte einen Beruf, es war klar, dass
sie in der Landwirtschaft bleiben würden. Die Mädchen erlernten
die Kunst des Stickens. Sie betrieben Hausstickerei, und ihre Auf-
tragsarbeiten wurden an Schweizer Firmen verkauft. Die Männer
mussten fortgehen und sich selbst ihr Auskommen suchen.
Die Eltern meines Vaters waren leidenschaftliche Bauern. Seine
Mutter stammte aus Kennelbach, der Nachbargemeinde von
Wolfurt, der Vater von der Fluh. Papa erzählte, dass sechs Söhne
aus der Familie in den Ersten Weltkrieg ziehen mussten, und dass
seine Mutter, unsere Großmutter, jedem der sechs jeden Monat
ein großes Paket ins Feld schickte. Er erinnerte sich, dass ein gan-
zer Wecken Brot in dem Paket war, und dass er diesen Wecken
jedes Mal auf einmal verschlang, weil er so ausgehungert war.
Diese Wohltat vergaß er seiner Mutter nie. Sie erkrankte später an
einem Venenleiden und starb wie der Vater mit etwa 72 Jahren.
Zwischen den Familien Sieber und Schertler gibt es dreifache Ban-
de: Auf dem heimatlichen Hof blieb Onkel Gregor, der bei der Hoch-
zeit meiner Eltern Tante Anna kennenlernte. Die beiden verliebten
sich und heirateten, und Tante Anna zog zu Gregor auf die Fluh.
Aber es gab noch eine weitere Verbindung! Als Mamas jüngster
Bruder, Onkel Julius, der nach Amerika ausgewandert war, ein-
mal zu Besuch in Vorarlberg war, bekam Tante Anna auf der Fluh
gerade ein Kind. Sie wurde von Hermina, der Tochter von Tante
Cölestina, einer Schwester von Papa, im Kindsbett gepflegt. Dann
heirateten auch diese beiden! Also drei Brüder, drei Schwestern! •
24
Die Anfänge - KnittelfeldRichard erzählt:
Mein Vater stammte aus einer kinderreichen Bergbauernfamilie,
die in Vorarlberg auf der Fluh nahe Bregenz einen Hof bewirt-
schaftete. Da den Heimathof nur ein Sohn übernehmen konnte,
mussten die anderen zusehen, wie sie ihr Auskommen fanden.
Die Höfe in Vorarlberg waren teuer, und so trugen sich viele Bau-
ernsöhne, darunter auch mein Vater, mit dem Gedanken, das
Ländle zu verlassen. In der Steiermark lagen die Preise für Grund
und Boden niedriger, und die Vorarlberger waren als Käufer oder
auch Pächter begehrt, weil sie mehr zahlten als die Einheimischen.
Der Hof in Großlobming bei Knittelfeld war in einer Vorarlberger
Zeitung annonciert gewesen, und mein Vater, der entschlossen
war, sich eine erfolgreiche Zukunft aufzubauen, ging das Wagnis
ein. So zogen meine Eltern im Jahr 1924 von Vorarlberg in die Stei-
ermark. Ende September heirateten sie, und schon eine Woche
später, am 1. Oktober 1924, übernahmen sie die Pacht in der Stei-
ermark. Das Übernahmedatum so kurz vor dem Wintereintrit t war
natürlich ungünstig, da meine Eltern den Hof mit dem Vorhande-
nen, auf das sie keinen Einfluss hatten, bewirtschaften mussten.
Am 27. August 1925 erblickte ich das Licht der Welt.
Die Wirtschaft in Großlobming kam zur Verpachtung, weil sich der
Besitzer – Simon Oberreiter hieß er – mit den Nachbarn nicht ver-
trug und sein Sohn für die Hofübernahme noch zu jung war. Der
Verpächter fragte gleich, ob mein Vater auch Geld habe, um die
Pacht im Voraus zu bezahlen. Der Pachtschilling musste erlegt wer-
den, das war die unabdingbare Voraussetzung. Papas Bruder On-
kel Johann, der Vorarlberg schon 1911 den Rücken gekehrt und sich
in Niederschöckl niedergelassen hatte, stand für das Inventar gut.
25
Wer diesen Pachtvertrag heute liest, bekommt einen Eindruck da-
von, was es damals hieß, Pächter zu sein. Jedenfalls gab mein
Vater an, das nötige Kapital zu besitzen. Da fiel dem Besitzer auf
einmal ein, dass er zum Hof auch eine geeignete Tochter hätte:
„Der passad grod füa mei Jula!“, dachte er laut. Aber Papa ant-
wortete knapp: „In dieser Beziehung bin ich schon versorgt!“
Um anfangen zu können, nahmen meine Eltern einen Kredit bei
einer Verwandten von Mama, der Kronhalde-Wirtin, auf. 10.000
Schweizer Goldkronen waren es, die Zinsen betrugen 20 Prozent.
Die Entscheidung war auf Schweizer Kronen gefallen, weil in Ös-
terreich massive Inflation herrschte. Der Schilling war damals kein
Hartgeld.
Das Geld wurde verwendet, um die Übernahme der Kühe – Mur-
bodner Rinder – zu finanzieren. Mein Vater war überzeugt: Fütter-
te man die Kühe nur richtig, würden sie auch Milch geben. Leider
stellte sich heraus, dass von den zehn Kühen nur zwei brauchbar
waren. Sie waren einfach nicht auf Milch gezüchtet. Obwohl sie
ordentlich an Gewicht zulegten, brachten sie keine Milchleistung.
Die steirischen Bauern verwendeten damals Ochsen als Zugtiere,
auf Milchkühe waren sie nicht spezialisiert. Pferde standen am
höchsten im Kurs, weil man mit ihnen seinen Status zeigen konnte.
„Auf der Straße muss man den Bauern sehen!“, so lautete die
Devise.
In der Steiermark waren offensichtlich keine Milchkühe aufzu-
treiben. Also fuhr mein Vater nach Tirol, um welche zu kaufen.
Unglücklicherweise brachte er von dort nicht nur Kühe, sondern
auch die Maul- und Klauenseuche mit. Das war eine Katastrophe.
Überall mussten Seuchenteppiche ausgelegt werden. Die Milch
durf te nicht mehr ausgeliefert werden, und der Amtstierarzt ord-
nete sogar an, Ross und Wagen zu verbrennen. Niemand durf te
in dieser Zeit den Hof betreten.
26
Als die Maul- und Klauenseuche endlich bewältigt war, gab es ei-
nen neuen Rückschlag: 1927 trat bei den Kühen das seuchenhafte
Verwerfen auf. Der sogenannte Abortus Bang war eine gefürchte-
te Rinderkrankheit. Die Existenz meiner Eltern war gefährdet, und
mein Vater hatte schon Angst, den Hof aufgeben zu müssen.
Doch auch dieses Tief konnte bewältigt werden, und es ging wie-
der aufwärts.
Der Winter des darauffolgenden Jahres 1928 war extrem kalt –
sechs Wochen lang hatte es durchgehend minus 30 Grad! Am
Küchenfenster bildete sich eine 15 Zentimeter dicke Eisschicht,
obwohl wir heizten. Die Hasen kamen vom Wald herunter, um im
Heustadel Zuflucht und Futter zu finden. Ich war ein kleiner Bub
von drei Jahren, aber ich weiß noch genau, wie die Wildhasen in
die Tenne kamen. Dort erschlugen sie die Knechte, aber außer
Haut und Knochen war ohnehin nichts dran an ihnen. In diesem
Winter erfror viel Wild.
Einmal fuhr ich mit meiner Mutter mit dem Zug
nach Vorarlberg. Mama vertrug das Zugfahren
nicht, und in Innsbruck hatte sie endgültig genug.
Ihr war schlecht. Also stiegen wir aus, und Mama
nahm ein Hotelzimmer. In der Nacht bekam ich
plötzlich Durst und langte zum Nachtkästchen hin-
über, wo – wie sich später herausstellte – ein vol-
les Tintenfass stand. Das trank ich gleich aus. Wie
ich danach aussah, kann man sich vorstellen!
Langsam begann die schwere Arbeit meiner Eltern
Früchte zu tragen. Als sich erste wirtschaftliche Er-
folge einstellten, ließen sie sich vom Wagner einen
schönen, bemalten Milchwagen mit ganz spezi-
ellen Speichen bauen. Mit Ölachse! Die brauchte
man nie zu schmieren. Normalerweise musste so
eine Wagenachse täglich geschmiert werden, weil
Richard in Innsbruck
27
sie sonst zu rosten anfing. Die Leute sagten: „Der Sieber kommt
daher wie der Baron Hanstein!“ Dieser Milchwagen war der gan-
ze Stolz meines Vaters. Er kostete damals schon die beachtliche
Summe von 1.000 Schilling.
Über allem aber schwebte das bevorstehende Ende der Pacht,
die ja mit sechs Jahren begrenzt war. So mussten meine Eltern
bereits nach fünf Jahren beginnen, sich nach einem neuen Be-
trieb umzusehen. Ihr Traum war es, als gemachte Leute nach Vor-
arlberg zurückzukehren. Doch dazu sollte es nie kommen.
Das Haus in Großlobming
28
— Das Leben in Knittelfeld
Jeden Tag um drei Uhr in der Früh hieß es für meine Eltern auf-
stehen und die Kühe melken, damit die Milch rechtzeitig nach
Knittelfeld transportiert und dort von Tür zu Tür verkauft werden
konnte. Diesen weiten Weg legte mein Vater, neben dem Wagen
herlaufend, bei jedem Wetter im Stockfinsteren zurück. Als er ein-
mal krank wurde, musste meine Mutter die Kühe allein melken
und die Milch nach Knittelfeld bringen. Das war sicherlich eine
fürchterliche Strapaze für sie, blieb meiner Erinnerung nach aber
die Ausnahme.
— Sprachlose Zeiten
Meine Eltern rackerten den ganzen Tag und hatten kaum Zeit,
sich um mich zu kümmern. Andere Kinder gab es nicht auf dem
Hof, und so musste ich mich mit mir selbst beschäftigen. Ich lern-
te sehr lange nicht sprechen, da niemand Zeit hatte, sich mit mir
zu unterhalten. Als ich schon älter war und meine sprachliche Ent-
wicklung den Eltern Sorgen zu machen begann, brachten sie mich
nach Niederschöckl zu Onkel Johann, der sieben Kinder hatte.
Nach 14 Tagen, als sie mich von diesem „Sprachkurs“ abholten,
war ich zu ihrer Erleichterung eine echte Plaudertasche gewor-
den. Die hatten halt ein gutes Mundwerk in Niederschöckl!
Inzwischen, am 4. Dezember 1928, hatte ich einen Bruder be-
kommen, der auf den Namen Helmut getauft wurde. Der eignete
sich auch nicht gerade als Gesprächspartner. Aber jetzt streckte
ich meine Fühler zu den Nachbarkindern aus. Bei der Familie Bi-
schof durf ten wir sogar auf den Betten herumspringen. Obwohl
ich ein kleines Kind war, staunte ich darüber, dass das nicht ver-
boten war. Es machte mir jedenfalls großen Spaß.
29
Zum Allerschönsten gehörte für mich die Kirschenernte, wenn
mein Vater auf den Baum kletterte und ganze Äste mit Kirschen
herunter schnitt. Bis heute kann ich auf Fleisch und Mehlspeisen
verzichten, aber ohne Obst und Gemüse kann ich nicht sein.
— Eisbäder bei Mondschein
Wenn die Eltern in aller Herrgottsfrüh zum Melken in den Stall
gingen, nahmen sie mich mit, um mich nicht allein im Haus zu-
rückzulassen. Vor dem Stall stand ein Brunntrog, dessen Wasser
im Winter natürlich zugefroren war. Meine Mutter war eine be-
geisterte Kneipp-Anhängerin, was auch mir zugutekam. Nach-
dem sie mich die Treppen hinuntergetragen hatte, hackte sie das
Eis auf und tauchte mich dann flugs in die eisigen Fluten. Frisches
Quellwasser! Danach frottierte sie mich ab, packte mich wieder
ordentlich ein und legte mich zurück ins Bett. Jetzt konnte sie si-
cher sein, dass ich gut schlafen würde. Ich erinnere mich, dass
ich mich heftig gegen diese Eisbäder spreizte. Kein Wunder, dass
ich als Erwachsener mit Wasser nichts mehr zu tun haben wollte!
Einen Hund hatten wir auch, Nero den Ersten. Der war schon auf
dem Hof, als meine Eltern übernahmen. Er sah aus wie ein Bern-
hardiner, hatte aber ein grauweißes Fell. Das war ein mächtiger
Hund, so hoch wie der Herd. Beim Auszug mussten wir ihn zu-
rücklassen, denn es war üblich, dass der Hund am Hof blieb. Er
verfolgte uns noch lange mit seinen Blicken, als wir fortfuhren.
Am Sonntag gingen die Eltern in die Kirche. Meine Mutter war
entsetzt über die Rückständigkeit der Steirer. In Vorarlberg war
man in der damaligen Zeit schon elegant unterwegs. Schließ-
lich war ihre Heimatgemeinde Wolfurt die erste voll elektrifizierte
Stadt Österreichs! Wenn Mama ihre Blicke in der Knittelfelder Kir-
che durch die Bänke schweifen ließ, vermittelten ihr die armselig
30
gekleideten Gestalten, wie sie sagte, das Gefühl, in Sibirien zu
sein.
Nach der Kirche pflegte mein Vater das Pferd bei einem Einkehrg-
asthaus einzustellen. Zuerst kam die Messe, dann das Gasthaus,
so war die festgelegte Reihenfolge. Im Gasthaus unterhielt er sich
mit den Leuten und bahnte auch Geschäfte an. Einmal vereinbarte
er mit dem Fleischhacker den Verkauf von drei Kälbern. Der Preis
wurde festgelegt, die Lieferung für den nächsten Tag vereinbart. Als
mein Vater dann kam, fragte der Fleischhacker: „Was sind das für
Kälber? Und was sollen die kosten?“ „Was wir ausgemacht haben.“
„Geh! Kannst schon wieder heimfahren!“, gab ihm der Fleischha-
cker zurück. Doch mein Vater ließ sich nicht beirren und wandte
sich sofort an einen Rechtsanwalt. Der setzte einen Brief auf, in
dem stand, dass der Fleischhacker die Kälber zum vereinbarten
Preis zu übernehmen hätte. Würde er sich nicht an die Vereinba-
rung halten, könnten sie an Ort und Stelle zu einem beliebigen
Preis verkauft werden, und die Differenz müsse der Fleischhacker
zahlen. Daraufhin gab der sich geschlagen. Laut konnte mein Va-
ter schon werden. Der Fleischhackerchefin fuhr sein Gebrüll so in
die Knochen, dass sie sich vor Schreck kräftig in den Finger schnitt.
Auf dem Hof hatten wir ein Pferd mit einem Fohlen. Die Alte hieß
Fanny und die Kleine Gretl. Mein Vater spannte Fanny zum Mist-
führen zusammen mit dem Stier ein, weil der Mistwagen für das
Pferd allein zu schwer war. Also spannte er einfach den Stier
dazu. Er wusste sich in jeder Situation zu helfen.
Eines Tages wurde unser Fohlen, die Gretl, verkauft. Das kränkte
mich sehr. Ich musste mit ansehen, wie sie, nach allen Regeln
der Kunst an der Mähne und am Schwanz mit rotem und weißem
Krepppapier „aufgemascherlt“, vom Käufer fortgeführt wurde.
Den ganzen Hohlweg entlang schaute ich ihr nach, solange ich
sie sehen konnte. Aber für die Erwachsenen spielte es keine Rolle,
ob ich traurig war oder nicht.
31
— Josef Ritter von Gold
Einmal kam ein Mann zu uns, der nach Arbeit fragte. Da an Ar-
beit ja wahrlich kein Mangel herrschte, wurde er gleich einge-
stellt. Auf die Frage nach seinem Namen antwortete er: „ Josef
Rit ter von Gold!“ Er arbeitete gut, da gab es nichts zu bemän-
geln. Mein Vater meinte, er wolle ihn anmelden, weil im Nach-
barhaus schließlich der Bürgermeister wohnte. Es musste alles
seine Ordnung haben. Aber der Neuankömmling versuchte das
unbedingt zu verhindern. Eines Abends, meine Mutter war gera-
de vor dem Haus, sah sie, wie er plötzlich von Polizisten umringt
wurde. Da sprang er vor aller Augen in die Mur. Ich weiß nicht,
ob sie ihn erwischt haben. Später stellte sich heraus, dass er ein
Raubmörder war! Josef Rit ter von Gold... Bei uns fand er jeden-
falls kein Gold. Insgesamt war er vielleicht 14 Tage am Hof.
— Abschied von Knittelfeld
Als sich die Pachtzeit ihrem Ende zuneigte, wurde es Zeit, nach
einem neuen Hof Ausschau zu halten. Meine Eltern waren natür-
lich daran interessiert, sich in der Nähe der anderen Familienmit-
glieder niederzulassen, die bereits in der Steiermark waren. In
Kapfenberg kannte mein Vater einen Vorarlberger namens Fink,
den er um Rat fragte. Für diesen Standort sprach auch, dass sich
sein Bruder Franzsepp in Winkl angesiedelt hatte, und ein an-
derer Bruder, Gottfried, in Gassing, beides Orte in der Nähe von
Kapfenberg.
Eines Tages schrieb Herr Fink an meinen Vater, die Wirtschaft des
Grafen Stubenberg stünde zur Verpachtung. Daraufhin fuhr Papa
nach Kapfenberg und schaute sich den Betrieb an. Die Sache
schien schwierig, aber machbar.
32
Dann kam der Abschied von Knittelfeld.
Wir mussten das ganze Heu mitnehmen, weil ja der Winter vor der
Tür stand und wir Futter für unsere mittlerweile 30 Kühe brauch-
ten. Das Heu wurde zuerst mit einer Standpresse zu schweren
Ballen gepresst, und dann in einem beeindruckenden Transport
mit Lastwägen von Großlobming nach Kapfenberg gebracht. Fan-
ny führte die Kolonne mit dem Milchwagen an, aber 50 Kilometer
sind ja für ein Pferd keine Entfernung.
So hieß es für meine Eltern nach den Knittelfelder Aufbaujahren in
Kapfenberg noch einmal von vorn beginnen. •
33
Kapfenberg, wir kommen!Richard erzählt:
Bei der Besichtigung der Landwirtschaft des Grafen Stubenberg
fand mein Vater dort drei Pächter bzw. Nutzer vor: Es waren dies
eine Gärtnerei, der bisherige Verwalter und die kinderreiche Fa-
milie Resch, die den Grund nördlich der Straße gepachtet hatte
und dort vielleicht drei oder vier Kühe hielt.
Ausschlaggebend für den Wunsch des Grafen, die Kapfenber-
ger Gründe ganz zu verpachten, war die finanzielle Situation
des Betriebes. Die ständig wechselnden Verwalter arbeiteten so
schlecht, dass alljährlich immer neue Verluste entstanden. Diese
musste der Graf ausgleichen, indem er jeweils viele Festmeter
Holz schlägern ließ. Mit der Verpachtung hatte er zumindest ge-
sicherte Einnahmen und brauchte nicht mehr draufzuzahlen.
Die Pacht des Verwalters lief 1932 aus, und er übernahm eine
kleine Landwirtschaft in Gratkorn. Mit zunehmend trüber Wirt-
schaftslage ging dann 1935 die Gärtnerei in Konkurs. Der Betrieb
war schwer verschuldet und machte kaum noch Geschäft. Über-
all wucherte das Unkraut. Daraufhin kam ein neuer Gärtner aus
Graz, der in Kapfenberg neu durchstarten wollte. Er sondierte die
Lage vielleicht acht oder zehn Tage lang und wurde von unserer
Mutter gut verpflegt. Anscheinend fühlte er sich von der Aufgabe
aber überfordert, denn eines Nachts verschwand er spurlos und
kam nie mehr zurück.
Also blieben wir ab 1935 als einzige Pächter zurück. Wir hatten
damals schon einige Knechte und stolze fünfzig Kühe. Das dürf-
ten uns manche geneidet haben, denn 1937 brachte der Obmann
der Genossenschaft Landforst eine Kontingentierungsvorschrif t
durch, die offenbar direkt auf uns zugeschnitten war. Für ein be-
stimmtes Kontingent bekamen wir 24 Groschen pro Liter Milch, für
34
alles darüber nur noch 12 Groschen. Wir sollten „zurückgestutzt“
werden, doch das ließ sich Papa nicht gefallen.
Er beschloss, dass wir ab sofort unsere eigenen Jungtiere züchten
würden. Die Milch, die wir sonst zu einem Spottpreis hätten abge-
ben müssen, konnten die Kälber trinken. Wir bauten einen zusätz-
lichen Kuhstall und zogen darin unsere späteren Milchkühe auf.
Eines Tages, Anfang 1937, flatterte ein Expressbrief auf Papas
Schreibtisch. Tante Anna, Mamas Schwester, schrieb, der Nach-
barhof in Papas Heimatdorf Fluh, die „Howacht“, würde verstei-
gert. Papa solle doch zuschlagen, so würden zwei Geschwister-
paare in der alten Heimat zusammenkommen. Doch Papa konnte
nicht. Er hatte 100.000 Liter Most im Keller lagern, alle Fässer wa-
ren neu eingerichtet, die Mosterei erst so richtig angelaufen. Er
konnte nicht weg aus Kapfenberg.
Anders sah die Lage bei seinem Bruder Franzsepp in Winkl aus.
Der war viel zu spät ausgewandert und fand sich in der Steier-
mark schlecht zurecht. Er hatte Schulden und wurde von heftigem
Heimweh geplagt. Papa empfahl ihm, die Chance zu nutzen. Er
wollte keinesfalls, dass der Betrieb auf der Fluh in fremde Hände
käme. Doch Franzsepp hatte kein Geld, um das Vadium von zehn
Prozent zu erlegen.
Deshalb kaufte ihm Papa die Wirtschaft in Winkl ab. Wir stellten
12 Kühe hinein, die von einem Schweizer betreut wurden. Da die
Wohnungsnot in Kapfenberg damals groß war, fanden sich auch
sofort sechs oder sieben Parteien als Mieter für das Haus in Winkl.
Wir besaßen zu dieser Zeit bereits ein Pferdefuhrwerk, und Papa
kaufte 1938 in Riegersburg noch ein paar Pferde, unsere Schwar-
zen, dazu. Zu Beginn der Nazizeit hatten wir uns eine große Wirt-
schaft mit rund 60 Kühen aufgebaut. Aber die Zeiten sollten trotz-
dem nicht einfacher werden. •
35
Der erste Tag in Kapfenberg
Als wir ankamen, durf ten wir das ebenerdige Haus gar nicht durch die Tür betreten. Die Frau des Verwalters ließ uns nicht hi-nein. Sie sperrte zu und so mussten wir durch das Fenster in die Stube klettern. Es war fix ausgemacht, dass wir den Betrieb und das Wohnhaus am 1. Oktober übernehmen sollten, aber die Fa-milie des Verwalters wollte zumindest letzteres um jeden Preis verhindern.
Es blieb uns nichts anderes übrig, als im Gasthaus Anzenberger zu übernachten, wo sie ein Fremdenzimmer hatten. Als wir dort ankamen, dachte ich: „Jetzt sind wir im Himmel!“ Dort hingen Luster von der Decke! So etwas Wunderbares hatte ich davor noch nie gesehen. Ich staunte und staunte – genauso stellte ich mir die Pracht des Himmels vor.
Am nächsten Tag wandte sich Papa an den Verwalter und sagte: „Das geht doch nicht! Wir haben das Vieh hier, das wir versorgen müssen. Wir können unmöglich weiter im Gasthaus herumsitzen.“
Schließlich gab der Verwalter klein bei und am 2. Oktober 1930 konnten wir unser damaliges und heutiges Wohnhaus beziehen.
Das alte Haus vor dem Umbau 1957
36
37
Nazizeit— Verhaftung
Im März 1938 kam es zum Einmarsch. Kurz danach wurde unser
Vater verhaftet. Eines Abends warnte uns ein Bekannter, dessen
Sohn von Anfang an bei der SS war: „Herr Sieber“, sagte er, „Sie
stehen auch auf der Liste!“ Doch obwohl Papa sich immer ein-
deutig als „Schwarzer“ zu erkennen gegeben und Hitler als üblen
Kriegstreiber hingestellt hatte, maßen wir dem eigentlich keine
Bedeutung bei.
Am nächsten Tag beobachtete ich interessiert, wie von der Straße
her sechs Mann mit Bajonetten in unsere Richtung marschierten.
Ich dachte mir, endlich, jetzt kommen sie den Fritz, einen der Be-
wohner von Schloss Wieden, holen. Der soff sich fast zu Tode und
schlug seine Frau, die Gret. Er arbeitete nichts, drosch aber brutal
seine Frau. Im Stall bei der grünen Tür gab es ein Loch, durch das
man durchschauen konnte. Ich sah die Polizisten kommen und
war mir sicher, sie würden sich diesen Tunichtgut schnappen. Für
uns Buben wäre das eine kleine Sensation gewesen, das hätten
wir nur zu gern gesehen.
Doch der Trupp Polizisten marschierte am Schloss vorbei und
schnurstracks bei unserer Haustür hinein. Ich konnte gerade noch
mit ihnen ins Haus schlüpfen, neugierig, was sie vorhatten.
Papa saß nach dem Mistführen gerade am Tisch und jausnete.
„Herr Sieber?“ „ Ja.“ Sie hielten sich nicht lange mit Förmlichkeiten
auf: „Herr Sieber, Hausdurchsuchung wegen illegalem Waffenbe-
sitz!“, und „Im Namen des Gesetzes, Sie sind verhaftet!“
38
Hedi stand an der schmalen Seite des Herdes, Mama kochte. Ich
weiß noch, wie trostlos diese Situation für uns war. Mama weinte,
und auch Hedi fing zu weinen an. Dann kam die Hausdurchsu-
chung. Die Polizisten filzten alle Zimmer, in jeden Kasten schauten
sie hinein. Wir gingen ihnen auf Schrit t und Trit t nach. Sie suchten
Waffen, durchwühlten alles, rissen sämtliche Laden auf.
Die Gendarmen im Haus, das war etwas ganz Schlimmes. Unheil
pur. Frisch und Fromm hießen zwei von ihnen! Von dem einen
kannten wir sogar die Familie. Die machten sich jetzt in unserem
Schlafzimmer breit und durchwühlten alles.
Was für ein Eindruck für uns Kinder! Unser großer, starker Va-
ter, unser Beschützer, der uns das Gefühl vermittelte, es könne
uns nichts passieren, weil er auf uns aufpasste... Und Mama,
die ganz verzagt und am Boden zerstört war. Wir waren wie ein
Haufen verschreckte Hühner. Dazu kam noch die Schande, dass
jemand aus der Familie eingesperrt wurde! Eingesperrt konnten
nur Gauner und Verbrecher werden, doch nicht unser Vater!
Der wollte sich nach dem Mistführen noch umziehen. Die Polizis-
ten ließen ihn nicht einmal dabei aus den Augen.
Dann marschierte der ganze Trupp um halb zwölf Uhr Mittag
mitten auf der Hauptstraße in die Stadt hinein. Vorneweg gingen
zwei Polizisten mit aufgepflanztem Bajonett, dann kam Papa und
hinter ihm marschierten wieder vier Polizisten. Hinein in die Stadt,
am Hauptplatz vorbei. Dort sperrten sie ihn ein.
Unser Vater war allerdings nicht der erste, den sie festgenom-
men hatten. Im Kotter traf er auf mehrere bekannte Kapfenberger,
einer von ihnen ein Medizinalrat. Dieser Arzt war ein fürchterli-
cher Feigling, wie Papa später erzählte. „Der Schuschnigg, dieser
Lausbub, hat uns die ganze Zeit belogen!“, soll er gesagt haben.
Jedes Mal, wenn er draußen vor dem Gemeindekotter ein paar
39
Schuhe vorbeigehen sah – mehr konnte man von dort nicht sehen
–, schrie er hinaus, er sei unschuldig. Die anderen Inhaftierten
ärgerten sich sehr über dieses unwürdige Verhalten und drohten
ihm, dass sie ihn ordentlich verdreschen würden, sollte er keine
Ruhe geben.
Als man dem Gott in Weiß zutrug, die ganzen ehemals heimlichen
Nazi würden mit seinem kostbaren Auto durch die Stadt kutschie-
ren, säuselte er: „Sollen nur fahren! Sollen ruhig damit fahren!
Sind ja lauter fesche Burschen. So ein Auto ist ja schließlich zum
Fahren da, nicht zum Stehen.“
Dann jammerte er wieder: „Ich gehe hier herinnen zugrunde und
meine Frau geht daheim zugrunde.“ Sobald er irgendeinen SS-
ler sah, rief er laut: „Fesche Burschen, man schaut sie einfach
gern an, diese feschen Burschen!“ Kommunisten waren auch mit
Papa eingesperrt, doch die ließen sich zu einem solchen Gewin-
sel nicht hinreißen.
Die Verhaftung ging auf das Konto eines Nachbarn. Der Inhaber
der örtlichen Gärtnerei hatte 1935 Konkurs anmelden müssen,
während wir mit unserer Landwirtschaft trotz Wirtschaftskrise
durchkamen. Also dachte er wohl, jetzt als Nazi könnte er dem
Sieber eins auswischen. Ein anderer SS-Mann aus dem Schloss
war ebenfalls an der Aktion beteiligt, doch es war der Gärtner,
der uns anzeigte.
Zum Glück sah Papa einen Polizisten an der Zelle vorbeigehen,
den er kannte. Nur der Name war ihm entfallen. Er war viel früher,
1934 oder 1935, auf der Suche nach Illegalen zu uns gekommen.
Wir hätten aussagen sollen, was sich drüben im Glashaus der
benachbarten Gärtnerei abspielte. Doch Papa wollte niemanden
verpfeifen und gab sich zugeknöpft: „Das weiß ich wirklich nicht.
Am Tag muss ich arbeiten und in der Nacht schlafe ich. Ich küm-
mere mich um nichts, mir ist nichts aufgefallen.“
40
Doch natürlich war er genau im Bilde. An vielen Abenden sah
er illegale Nazi ins Glashaus der Gärtnerei gehen. Dann brannte
dort immer Licht. Er wusste das zwar, unternahm aber nichts. Er
war nur Pächter. Er hätte sie anzeigen können, tat es aber nicht.
Also erklärte Papa dort im Gemeindekotter, einer der Polizisten
von damals versehe immer noch Dienst. Er könne sich zwar nicht
an den Namen erinnern, würde aber beschreiben, wie er aus-
sehe. Daraufhin schickten sie zwei Uniformierte in die Zelle, auf
die die Beschreibung passte. Und einer von ihnen war tatsächlich
dieser Polizist.
„Herr Sieber behauptet, Sie wären 1934 draußen in Schloss Wie-
den gewesen und hätten Einvernahmen durchgeführt. Was hat
Herr Sieber damals gesagt?“ Daraufhin bemühte der Polizist sein
Gedächtnis: „Das ist zwar schon lange her, doch soweit ich mich
erinnere, hat uns Herr Sieber damals nur gesagt, er würde am
Tag arbeiten und in der Nacht schlafen, also könne er nichts wis-
sen.“ Das dürf te ausschlaggebend gewesen sein, dass sie Papa
schon nach 24 Stunden wieder freiließen.
Es war insgesamt schwer damals. Leute, die man von früher
kannte, die man für ehrenwerte Leute hielt, sollte man von ei-
nem Tag auf den anderen verurteilen? Man hielt sie auch später
nicht automatisch für schlecht, nur weil sie eine andere Meinung
hatten. Viele mussten ja auch büßen. Manche blieben allerdings
bis zu ihrem Tod überzeugte Nationalsozialisten und konnten nie
loslassen.
Als „Schwarzer“ war unser Vater geächtet in dieser Zeit. Zwei
Bauernkollegen drohten ihm in Bruck auf der Bezirksbauernkam-
mer – Kreisbauernschaft hieß es damals – ziemlich unverhohlen:
„Wenn erst der Führer den Endsieg errungen hat, werden sie dich
in den Osten verfrachten.“ Aber sie irrten. Sie waren es, die später
beide nach Wolfsberg zur Entnazifizierung kamen.
41
Weil Papa der tüchtigste Milchlieferant der ganzen Gegend war,
brauchten sie ihn. Und weil er aus dem Ersten Weltkrieg eine
kaputte Hand mitgebracht hatte, ließen sie ihn zu Hause. Zum
Volkssturm hätte er trotzdem noch einrücken sollen. Aber schon
wieder hatte er Glück: Er kannte einen gewissen Doktor Spänle
vom Böhlerwerk, der für die Rekrutierung zuständig war. Den hat-
ten unsere Eltern ein oder zweimal zum Essen eingeladen. Nun
ersparte er Papa diesen gefährlichen, unsinnigen Einsatz.
— Wirtschaften in der Nazizeit
In Feldbach kaufte Papa 1938 zwei schwarze Pferde. Mit unserer
Landwirtschaft ging es aufwärts. So hatten wir 1939 schon 100
Rinder, vier Pferde und vielleicht fünfzehn Schweine. Zwei Ross-
knechte, drei Melker, vier Handknechte und eine Hausgehilfin ar-
beiteten bei uns.
Das bedeutet, dass wir zehn, mit Winkl sogar elf Leute angestellt
hatten.
Dann begann im September der Krieg. Ich kann mich noch genau
erinnern, wie Papa vor dem Radio saß, als England und Frank-
reich Hitler den Krieg erklärten. „Das ist jetzt nicht mehr wie im
Familie Sieber 1938
42
Sudetenland, wo nur unsere Gretl2 hat einrücken müssen. Jetzt
ist es ernst und wir müssen schauen, wo wir bleiben. Wir sind in
Kapfenberg nur Pächter und 1942 läuft unser Pachtvertrag aus.
Außer Winkl haben wir nichts Eigenes, aber ein bisschen Geld
haben wir gespart. Jetzt müssen wir etwas kaufen!“
Hinter der Entschlossenheit unseres Vaters stand die Erinnerung
an seinen Onkel Plazidus und wie es diesem im Ersten Weltkrieg
ergangen war. Der Onkel arbeitete als Kammerdiener bei einem
Grafen und ersparte sich dabei so viel Geld, dass er eine gro-
ße Landwirtschaft hätte kaufen können. Doch als er 1922 starb,
konnte mit dem verbliebenen Geld nicht einmal mehr sein Be-
gräbnis bezahlt werden. So galoppierend war die Inflation, das
Geld völlig entwertet.
Also suchte Papa überall. Er beauftragte einen Realitätenvermitt-
ler namens Luttenberger in Gleisdorf mit der Suche. Gemeinsam
schauten sie sich mehrere Landwirtschaften in der Oststeiermark
an. Darunter war auch ein Hof in St. Ruprecht, ein Erbhof, auf dem
zwei alte Frauen lebten. Einer der Erben war Pfarrer in Köflach
und kam daher für die Bewirtschaftung nicht in Frage. Luttenber-
ger meinte, die beiden alten Frauen könnten die Wirtschaft doch
nicht weiterführen. Papa interessierte sich für den Hof und fand,
er sei für die Milchwirtschaft geeignet. Die Immobilie war arron-
diert, Haus und Stall standen in der Mitte, hier konnte man Kühe
halten.
Jetzt war es aber so, dass man in der Nazizeit die Bauernfä-
higkeit nachweisen musste und auch politisch hät te es irgend-
wie passen sollen. Unser Vater war seit jeher als Schwarzer
bekannt, weil er ja immer in die Kirche ging. Er sympathisier te
in keiner Weise mit dem Nationalsozialismus und war in kei-
ner politischen Funktion, während viele andere Bauern plötz-
lich erklär ten, sie wären schon lange vor dem Anschluss Nazi
gewesen.
2 Ein Pferd
43
Deshalb gestaltete sich der Kauf von St. Ruprecht ziemlich kom-
pliziert. Die Behörde verlangte die Zeugnisse von uns drei grö-
ßeren Kindern – Herbert ging noch nicht in die Schule – und wir
mussten alles kopieren lassen. Das wurde in den 1930er Jahren
noch händisch abgeschrieben. Danach schickten wir alle Do-
kumente und Kopien ein. Zur Bescheinigung der Bauernfähig-
keit forschten sie nach, ob vielleicht irgendjemand in der Fami-
lie unter einer Erbkrankheit lit te. Eine Hasenscharte hätte schon
gereicht, schon wäre man aus dem Rennen gewesen. Wenn
damals ein Bauer eine Erbkrankheit hatte, eben vielleicht eine
Hasenscharte, oder wenn in der Familie ein Tschapperl war,
nahm man ihm den Erbhof weg.
Unserem Vater konnten sie die Bauernfähigkeit jedenfalls nicht
absprechen. Anscheinend befand man auch uns Kinder und
die Schulzeugnisse für in Ordnung, sodass uns die Wirtschaft in
St. Ruprecht für 42.000 Reichsmark zugesprochen wurde.
Unser Vater kaufte also die Wirtschaft und stellte erst im Nachhi-
nein plötzlich fest, dass der Zufahrtsweg vom Friedhof hinaus ja
gar kein Rechtsweg war. Die beiden alten Frauen wussten darü-
ber nicht Bescheid. Also wurde vereinbart, einen Teil des Kaufbe-
trages einzubehalten, bis das Wegerecht geklärt wäre, was dann
auch klappte.
Nun kam unser Knecht Michl mit 12 Kühen hinunter nach St. Rup-
recht. Wäre er in Kapfenberg geblieben, hätte er als 1907er Jahr-
gang sofort einrücken müssen. Unten aber war er Betriebsführer,
was auch vom Wehrbezirkskommando Weiz bestätigte wurde.
Allerdings mussten wir jeden Monat neu ansuchen, dass Michl
bleiben konnte. Ein anderer Knecht, Hermann, wurde tatsächlich
sofort eingezogen. Erst als wir erklärten, wir hätten so viele Kühe
und müssten fast ganz Kapfenberg versorgen, durf te er wieder
zurückkommen.
44
— Mistführen mit Forella
Mit 14 Jahren trat ich aus der Schule aus. Wir hatten bereits über
100 Stück Vieh, und im Stall war kein Platz mehr. Also pachteten
wir den Essenko-Stadl, wo jetzt die Kirche zur Heiligen Familie
steht. Nach einer Vereinbarung zwischen Papa und Frau Essenko
bekamen wir auf der Straßenseite einen Stall für uns. Frau Essen-
ko hatte noch vier Kalbinnen, die wir ihr abkaufen konnten, und
zusätzlich stellten wir selbst 12 Kalbinnen dazu hinaus, also hat-
ten wir in diesem Stall insgesamt 16 Kalbinnen.
Ich wurde kurzerhand zum „Betriebsleiter“ dieser Außenstelle er-
nannt, was bedeutete, dass ich die Kühe hüten, füttern und den
Stall ausmisten musste. In der Früh ging zwar einmal ein Knecht
durch zum Füttern, aber gleich darauf war ich dran mit Wässern.
Es gab einen großen Brunntrog, zu dem wir die Kalbinnen hin-
führten. Während sie tranken, musste ich den Stall putzen und
dann den Mist mit der Scheibtruhe wegführen, mindestens 150
Meter weit, weil wir unseren Mist nicht auf den Misthaufen von
Frau Essenko leeren durf ten.
Ein paarmal plagte ich mich mit der Scheibtruhe, dann wurde es
mir zu dumm. Ich schaute mir die Kalbinnen an, deren Charak-
tereigenschaften ich beim Hüten genau beobachtet hatte. Was
ich brauchte, war eine starke und ruhige Kalbin. Unsere Große,
Alma, war sehr schnell und ziemlich wild. Für die, dachte ich mir,
bin ich zu schwach, ich kann sie nicht ziehen.
Also versuchte ich mein Glück mit Forella. Aus Winkl hatte ich mir
einen Kaps beschaff t, einen zweirädrigen Pferdewagen, doch
den wollte ich nicht gleich riskieren. Ich startete einen ersten Test
mit einem großen Stein, den ich Forella ziehen ließ. Als das klapp-
te, spannte ich sie in den Kaps ein – und tatsächlich, sie zog gut.
Ab diesem Zeitpunkt brauchte ich den Mist nur noch in den Kaps
45
einzuschaufeln und schaff te dank Forella alles mit einer einzigen
Fuhre pro Tag. Ich fühlte mich wie ein gemachter Mann.
Die Sache funktionierte wie am Schnürchen, so dass ich über-
legte, ob ich nicht auch noch Alma dazu stellen sollte. Sie ging
fast so gut wie ein Pferd, denn sie war viel größer und schneller
als Forella. Schließlich hatte ich es mit den zwei Kalbinnen beim
Mistführen richtig komfortabel.
Dann begann der Krieg, und unsere drei Knechte mussten ein-
rücken. Auch den Hermann zogen sie ein. Er war Tiroler und
– leider – ein ausgezeichneter Schütze. Papa ärgerte sich sehr,
dass er so gut schoss, obwohl er doch sonst so dumm war. Er
dachte, würde er danebenschießen, käme er schneller wieder
nach Hause.
Ein anderer Knecht, Hans, hatte damals schon eine Schreibma-
schine. Also erklärte ich, ich wollte auch so ein Gerät. Damals
war ich 14. Tatsächlich fuhr Papa unmittelbar nach Kriegsbeginn
hinüber nach Bruck und kaufte unsere Schreibmaschine, die wir
bis heute haben. Sie war das allerletzte Stück, das man ohne Be-
zugschein bekam.
46 46
— St. Ruprecht - als Sommerfrische umstritten
Bereits 1940 und dann noch einmal 1941 kamen Hedi und Herbert
zum Michl nach St. Ruprecht auf „Sommerfrische“. Die beiden fan-
den das grässlich und wissen darüber einiges zu berichten.
Ich selbst war 1941 ganze vier Monate unten und in dieser Zeit
zur Hochzeit unseres Knechtes Michl mit unserer Kusine Laura
eingeladen. Auf diesem Fest bekam ich das erste Mal Wein zu
trinken. Natürlich erwischte ich gleich zu viel. Wir waren zum
Mit tagessen in einem Gasthaus, der Wein schmeckte ganz pas-
sabel, und ich dachte mir nichts. Plötzlich bekam ich das Gefühl,
dringend hinaus zu müssen, aber ich erwischte die Türschnalle
nicht. Irgendwie schaf f te ich es schließlich, doch kaum war ich
im Freien, wurde mir speiübel! Ich übergab mich gleich durch
ein Kanalgit ter.
Als ich aufschaute, stand eine ganze Schulklasse um mich he-
rum und glotzte. Ich schämte mich fürchterlich, raff te mich auf
und rannte in den Pferdestall. Dort musste ich mich am Schwanz
eines Pferdes anhalten, erbrach mich aber trotzdem gleich noch
einmal. Mir war so übel, dass ich gleich ins Bett kroch.
Die Festgemeinschaft kam erst gegen Abend, rechtzeitig zur
Stallarbeit, zurück, und da wollte auch ich aufstehen. Obwohl ich
schon ein bisschen klarer im Kopf war, fühlte ich mich immer noch
miserabel.
Das war 1941. Ich blieb noch über Weihnachten und bis ins neue
Jahr. Am Heiligen Abend goss es wie aus Kübeln, daran erinnere
ich gut. Kurz nach meiner Rückkehr nach Kapfenberg kam schon
Michls und Lauras Tochter Trude auf die Welt. Ich hatte nicht ein-
mal bemerkt, dass Laura schwanger war.
47
Herbert
Mir war sagenhaft fad in St. Ruprecht. Daheim hatte ich die ande-ren Buben zum Spielen und dort keinen Menschen. Also setzte ich mich, frustriert und enttäuscht, wie ich war, auf den Heuboden, um auf Papa zu warten, der sich fürSonntag angesagt hatte.
Stunde um Stunde starrte ich bei einem Guckloch hinüber zum Friedhof und hoff te, er würde es vielleicht doch schon früher schaffen. Irgendwann sah ich ein Ehepaar kommen. Ich rannte den beiden ganz glücklich entgegen, aber leider – falsch gera-ten. Schließlich kam Papa doch, und zwar wie angekündigt. Dank meiner Begeisterung für alles, was mit der Bahn zu tun hatte, kannte ich die Ankunftszeit des Zuges genau.
Von weitem sah ich einen Mann kommen, der ein paar Schritte in die Wiese hinein tat und prüfend eine Handvoll Heu aufhob. Da wusste ich sofort: das ist Papa.
Später gefiel es mir dann schon in St. Ruprecht, aber die ersten paar Tage waren hart.
Hedwig
Im Sommer 1942 hieß es wieder nach St. Ruprecht fahren, nach-dem ich schon im Jahr zuvor meine „Sommerfrische“ dort hatte verbringen müssen. Das war das Grässlichste für mich. Ich weiß noch, dass ich beim Brunntrog neben der Linde auf das Baby aufpassen musste. Am liebsten hätte ich es in den Brunntrog geschmissen, so sehr hasste ich das Babysitten. Wie sterbens-langweilig das war! Aber es half nichts, niemand erlöste mich von meiner Qual.
Es gab in St. Ruprecht absolut nichts Vernünftiges für mich zu tun. Außerdem hatten sie nichts zu lesen dort unten. Ich fand nur die uralten Sonntagsblätter, die die Vorbesitzerin, Frau Hasenhüttl, aufgehoben hatte, sonst war nichts im Haus. Nicht einmal eine Tageszeitung hatten sie abonniert. St. Ruprecht war für ein Kind wie mich wirklich trostlos, das Allerletzte.
48
— Reitkurs mit Hindernissen
Genau an meinem 17. Geburtstag, dem 27. August 1942, musste
ich in der Hauptschule in Kapfenberg zur Musterung. Trotz meiner
zehn Kilo Untergewicht schrieben sie mich tauglich. Doch ich hat-
te noch etwas vor. Ich wollte einen Reitkurs machen.
Als Pferdenarr war ich Abonnent der deutschen Reiterzeitung „Land-
volk im Sattel“. Darin fand ich die Adressen von diversen Reitschu-
len, die ich anschrieb. Mir blieben sechs Wochen Zeit, von 15. Okto-
ber bis 1. Dezember. Auf meine Anfragen erhielt ich Angebote von
drei- und sechswöchigen Kursen. Drei Wochen waren mir zu wenig.
Ich hatte keine Reitstiefel. Deshalb wollte ich wissen, ob ich even-
tuell auch mit Gamaschen kommen könne, mit hohen Schuhen
und ledernen Wickelgamaschen. Die gehörten einem unserer
Rossknechte. Man erlaubte es mir.
Ein Bekannter, der jeden Abend zu uns zum Essen kam, hatte von ei-
nem französischen Gefangenen eine Hose eingehandelt. Er gab sie
mir, eine französische Pumphose aus einem ausgesprochen guten
Stoff. Daraufhin ging ich in die Stadt zum Schneider Lehner und frag-
te, ob er mir aus der Pumphose eine Reithose schneidern könnte.
Unten mussten sie ein Stück braunen Stoff anstückeln, weil der Stoff
nicht reichte, aber ich bekam eine unglaublich robuste Reithose!
Mama schimpfte: „Du wirst doch nicht so blöd sein und nach
Deutschland hinausfahren!“ Sie hielt meine Idee für brandgefähr-
lich. Jedenfalls steckte sie es allen, die zu uns kamen, jeder hätte
mir abraten sollen. Sogar der Bekannte, der mir die Hose gege-
ben hatte, wollte mir mein Vorhaben ausreden.
Ich habe mir die Freude aber nicht nehmen lassen. Egal, was die
anderen sagten: ich kontaktierte die Reitschulen, meldete mich
49
bei einer an und fuhr auch gleich hinaus nach Deutschland. Eine
Bekannte, die damals bei der Bahn arbeitete, schrieb mir die Zug-
verbindungen heraus.
Die Route verlief über das Protektorat Böhmen und Mähren. Dort
wurde der Zug zugesperrt und niemand durf te herein oder hin-
aus. Über Lundenburg ging es aus Österreich hinaus, bei Aus-
sig an der Elbe (Ùsti nad Labem) querte der Zug die deutsche
Grenze.
Ich hatte noch Zeit, mir in Dresden alles anzuschauen. Danach
fuhr ich hinaus zum Jagdschloss Wernsdorf.
Es war nicht unbedingt die gemütlichste Zeit in meinem Leben. Es
regnete wie verrückt, und ich hatte zum ersten Mal richtig Hunger.
Daheim war ich ja ziemlich heikel, und ich aß sicher nicht alles.
Aber in Wernsdorf, da musste ich das Stammgericht essen. Es
gab nur Quark und Spinat. Quark, das war Topfen. Ja, eine Suppe
kochten sie, die ich ohnehin nicht mochte, und Spinat, den ich
bis dahin noch nie auch nur angeschaut hatte. Irgendwann aber
wurde mein Hunger so übermächtig, dass ich sogar Quark und
Spinat aß. Es tat mir nicht gut, denn danach war ich drei Tage lang
krank. Seither habe ich nie mehr in meinem ganzen Leben Spinat
gegessen.
Zu diesem Reitkurs kamen damals Leute aus ganz Deutschland.
Einer der Teilnehmer hieß Hans-Karl von Vocht-Fritz und prahlte:
„Wir haben ein doppeltes Rittergut zu Hause.“ Er trug eine kom-
plette Reiterdress aus Leder, aber das Waschen kannte er nur
vom Hörensagen.
Ein anderer Teilnehmer war winzig klein und aß ständig Zahnpas-
ta. Die verschiedensten Leute traf man dort. Sehr viele kamen von
der Reiter-SA aus Schlesien, aus Ratibor, Katovice und solchen
Orten. Sie waren Oberschlesier und meine Zimmerkollegen.
50
Sie behaupteten, das schönste Deutsch zu sprechen. „Wir spre-
chen wie der Führer!“, sagten sie, nur um dann gleich polnisch
weiterzureden. Ich hatte wenig Vertrauen zu diesen Leuten und
schaute mich um, ob nicht in einem anderen Zimmer ein Platz frei
wäre. Als ich einen fand, wechselte ich sofort. Doch zu spät, sie
hatten mir mein Geld gestohlen. Die halbe Anzahlung hatte ich zu
Beginn leisten müssen, den Rest verwahrte ich in meinem blauen
Rock. Ich hatte meine Markscheine möglichst klein zusammenge-
legt und ganz tief in den Innenrocksack hineingesteckt. Auf ein-
mal greife ich hinein – kein Geld mehr da.
Sofort zeigte ich den Diebstahl an. Ob ich Vermutungen hätte?
Ich sagte gleich: „In meinem Zimmer sind lauter Oberschlesier.“
Ein Gendarm nahm alles auf. Ich konnte meinen Kasten nicht ver-
sperren, weil jemand das Schloss herausgerissen hatte.
Den Rest des Kursbeitrags verweigerte ich dann mit dem Argu-
ment: „Wenn ich meinen Spind nicht richtig zusperren kann, brau-
che ich auch nichts zu zahlen.“
In Wernsdorf machte ich die Prüfung für das deutsche Fahrerab-
zeichen. Doch da ich den Kursbeitrag nicht bezahlt hatte, bekam
ich das Abzeichen nicht. Mir war es egal. •
51
Meine Pferde
Vom Pferdevirus wurde ich 1929 im Alter von vier Jahren ange-steckt, als mein Vater unsere dreijährige Norikerstute Fanny ver-kaufte. Damals wurden die Pferde zum Verkauf mit langen bun-ten Bändern an Mähne und Schweif geschmückt. Für mich war der Tag des Verkaufs aber ein schwarzer Tag. Der Abschied wird mir immer in Erinnerung bleiben.
In der NS-Zeit gab es die Zeitschrif t „Landvolk im Sattel“, in der alle großen Reitschulen Deutschlands vorgestellt wurden. Das war etwas für mich! Nachdem ich alles über die verschiedenen Schulen gelesen hatte, entschied ich für das Jagdschloss Werns-dorf in Sachsen. Dort absolvierte ich meine Reitausbildung.
Nach dem Kriegsende liefen viele herrenlose Pferde herum. Abertausende Heimatvertriebene waren mit ihren Gespannen unterwegs. Man sah oft neugeborene Fohlen, deren Füße zum Schutz der Hufe in Lappen eingewickelt waren. Die Russen hat-ten viele der herrenlos herumlaufenden Pferde rücksichtslos zu-sammengeritten, so dass sie ihre Knie nicht mehr durchstrecken konnten. Ich bekam eine junge schwarze Vollblutstute geschenkt, die mir viel Freude bereitete.
1948 gründete ich die erste steirische Warmblut-Reitergruppe, mit der wir auch in Graz auftraten. Meine Fanny trug mich zum Sieg.
Viele Jahre später fuhr ich zu einer großen Pferdeauktion nach Polen, bei der die Pferde nur in Dollar gehandelt wurden. Einen vierjährigen Schimmel-Wallach, einen großen Anglo-Araber, konnte ich ersteigern, obwohl mir zuvor Reiter aus Schweden und Italien den Preis in die Höhe getrieben hatten. Der Name dieses Pferdes war Index. Im Reitclub Schloss Graschnitz, wo ich seit sei-ner Gründung Mitglied bin, hängt heute noch ein großes Bild von ihm in der Stube.
52
Im Jänner 1991 fuhr ich zur Winterauktion nach Verden in Deutschland. Dort nahm ich Graphita, eine Schimmelstute, ins Visier (ihre Tochter hatte die Staatsprämie erhalten). Graphita war von Ritual trächtig. Die ersten Ritual-Fohlen waren hochprei-sig über die Auktion gegangen. Am selben Tag wurde auch das Wunderpferd E.T. von Hugo Simon versteigert. Unter E.T.s Namen stand: „Springreiter aufgepasst!“
Durch einen Impffehler wurde Graphitas Fohlen tot geboren. Danach wurde Graphita von Loretto B. gedeckt und brachte ein Hengstfohlen zur Welt, das in der Steiermark 35 Punkte erreichte. In Stadl-Paura erregte das Fohlen großes Aufsehen. Gebote bis 120.000 Schilling gab es für den Kleinen. Wegen des toten Foh-lens bekam ich vom Hannover-Verband einen Gutschein über 10% des Kaufpreises für das nächste Pferd. Um diese 10% zu lukrieren, musste ich allerdings tüchtig hineinbeißen!
Ein weiser Mann sagte einst: „Ein Pferd und ein Auto sollen nicht nur zweckmäßig sein, sondern auch schön!“ Perina war ein sehr schönes Fohlen. Fritz Kargl brachte es in die Steiermark. Mit drei Jahren wurde Perina bei Hans Riegler, Oberbereiter der spani-schen Hofreitschule in Wien, ausgebildet. Dort wurde sie auch von dem bekannten Trakhener-Hengst Atlas gedeckt. Bei der Zuchtbuchaufnahme in Graz wurde sie Siegerin. Sie brachte ei-nen Fuchshengst zur Welt, der mit drei Jahren wieder bei Hans Riegler ausgebildet und dann nach Dänemark verkauft wurde.
Das nächste Fohlen von Perina war ein braunes Stutfohlen von Periander, das bei der Fohlenschau in Graz Reservesiegerin wur-de. Als nächstes kam La Paloma zur Welt.
Das letzte Fohlen von Perina stammte von Hofrat. La Paloma wur-de von Conthargos besamt. Ihr Hengstfohlen Condor S. wurde in Graz Sieger unter den springbetonten Fohlen. In Stadl-Paura wurde er gemeinsam mit den dressurbetonten Fohlen vorgestellt, zeigte dort jedoch nicht seine ganzen Qualitäten. Er wurde Achter. Glücklicherweise bekam ich eine Halbschwester des Olympiasie-gers und Weltmeisters Walegro namens La Negra.
Ein altes Sprichwort sagt: „Wer mit Hühnern und Pferden reich wird, wird nie mehr arm!“ Um den Beweis dafür anzutreten, bin ich aber anscheinend noch zu jung.
53
Richard auf der berühmten Mausi
Richard reitet 1951
54
55
Kriegszeit— Arbeitsdienst
Am 13. Jänner 1943 – ich war 18 Jahre alt – musste ich zum Ar-
beitsdienst antreten. Das war gleichzeitig auch die Einberufung.
Ausgestattet mit einem alten hölzernen Koffer, der noch aus dem
Ersten Weltkrieg stammte, rückte ich zusammen mit meinem
Freund Richerl ein. Er und ein weiterer Schulkollege kamen nach
Lebring, ich selbst nach Werndorf.
Wie wir dort traktiert wurden! Gehen war prinzipiell verboten.
Außerhalb der Unterkunft mussten wir uns ausnahmslos im
Laufschrit t bewegen. Unsere Latrinen lagen 300 Meter entfernt,
mitten im Wald. Dazu erhielten wir die Vorschrif t: „Austreten nur
komplett angezogen!“, und das galt natürlich auch in stockfins-
terer Nacht. Wer sich, weil er es eilig hatte, einfach den Mantel
über das Nachthemd zog, bekam eine Woche Strafdienst aufge-
brummt.
Ständig inspizierten die Aufseher die Baracke. Sie wischten mit
der Hand auch über die entlegensten Flächen. Wurden sie fün-
dig, bekamen wir den Dreck gleich ins Gesicht geschmiert. Das
hinterließ schwarze Streifen und sollte uns lächerlich machen. Um
10 Uhr abends wurde „ausgestaubt“. Zur Kontrolle, ob wir genau
gearbeitet hatten, blies ein Arbeitsdienstführer in den Ofen. Er
wartete nur darauf, Ruß aufstieg, denn dann drohte uns Unheil.
Von diesem Arbeitsdienst habe ich bis heute Narben an den Fü-
ßen. Sie stammen von den Schuhfetzen, die wir uns in die Stiefel
stopfen mussten. Reine Schikane.
Danach ging es ins heutige Slowenien nach Sterntal bei Pettau
(Strnišče bei Ptuj). Hitler hatte vor, dort eine große Aluminiumfabrik
56
zu bauen. Dazu sollten wir einen Wald roden und die Stämme
wegtragen – ohne Pferd oder sonstige Hilfsmittel. Jeweils sechs
bis acht Mann nahmen sich einen Baum vor. Wir mussten die
Wurzelstöcke mit einem Dreifuß herausziehen: ausgraben rund-
herum, einhaken und mit einer Ratsche die Stöcke herausarbei-
ten. Zähe Kiefern waren das.
Neben unserem Lager befand sich ein KZ. Die Insassen, die zum
Kanalgraben gezwungen wurden, sahen aus wie der Tod. Man
hatte sie in Serbien und von überall in der Gegend zusammenge-
fangen. Schon damals war uns klar: Wer es wagen sollte, ihnen
Erdäpfel oder etwas anderes zu essen über den Zaun werfen,
wäre selbst gleich der nächste Kandidat fürs KZ. Menschen wur-
den in dieser Zeit wie Vieh behandelt.
Nach fünf Monaten, am 16. Juni 1943, war der Arbeitsdienst be-
endet. Endlich konnte ich nach Hause zurückkehren, wo meine
Arbeitskraft dringend benötigt wurde.
Richard (Zweiter v. r.) beim Arbeitsdienst
57
Das Lager Sterntal
Das Lager Sterntal (auch Sternthal, slowenisch Taborišče Šterntal oder Strnišče) war ein Internierungslager im Gebiet der heutigen Gemeinde Kidričevo bei Ptuj, das während des Zweiten Welt-kriegs als Arbeitslager beim Bau einer Aluminiumfabrik und im Jahre 1945 als zentrales Sammellager bei der Vertreibung der ethnischen Deutschen aus Slowenien diente.
Während des Ersten Weltkriegs entstand hier ein Kriegsgefange-nenlager. Später diente es als Flüchtlingslager für Flüchtlinge aus dem Küstenland, von wo viele Zivilpersonen wegen der Isonzo-Schlachten fliehen mussten. Des Weiteren befand sich auf dem Gelände ein Lazarett, in dem Verwundete der Isonzo-Front ver-sorgt wurden.
1942 richteten die deutschen Besatzungsbehörden ein Arbeits-lager ein, in dem Kriegsgefangene und Zwangsarbeiter für den Bau einer Tonerdefabrik zur Aluminiumproduktion an der Eisen-bahnstrecke Ptuj-Pragersko interniert wurden. Für die notwen-dige Elektrizität war ein Wasserkraftwerk an der Drau vorgese-hen. Neben Gefangenen wirkten am Bau auch reguläre Arbeiter mit. Die Vereinigten Aluminiumwerke (VAW) begannen mit dem Bau der Fabrik 1942, doch konnte das Werk bis Kriegsende nicht vollendet werden. Die Fertigstellung der Aluminiumfabirk (heute Talum) erfolgte erst in den Jahren 1947–1954. Am 15. März 1944 verfügten die Besatzungsbehörden, dass Familienangehörige von Deserteuren zu Zwangsarbeit verpflichtet würden. Das Lager Sterntal, das viele der Betroffenen aufnahm, wurde in Strafson-derdienstpflichtlager Sterntal umbenannt.
Im Mai 1945 errichtete die OZNA unter der Leitung von Aleksan-dar Rankovič auf dem Gebiet des ehemaligen Zwangsarbeiter-lagers ein „Konzentrationslager„ (koncentracijsko taborišče), in das Volksdeutsche aus ganz Slowenien, insbesondere aus der Untersteiermark und der Gottschee gebracht wurden. Daneben wurden dort auch Slowenen sowie Angehörige der ungarischen Minderheit aus Prekmurje festgehalten.
58
Auf Grund von Überfüllung und schlechter Hygiene breiteten sich im Lager Sterntal Krankheiten aus, darunter Ruhr und Typhus. Die Gefangenen waren besonderen körperlichen und seelischen Quälereien ausgesetzt, viele wurden auch erschossen. Unter den Todesopfern waren besonders viele Kleinkinder und Alte. Neben „Altersschwäche„ wurden besonders Diarrhoe und Dysenterie als Todesursache angegeben. Insgesamt sind im Lager Sterntal, das für 2000 Personen bestimmt, aber ständig mit etwa 8.000-12.000 Personen belegt war, zwischen 800 und 1.000 und 4.000 Men-schen von Mai bis Oktober 1945 bzw. bis zu 5.000 Menschen in der Gesamtzeit seines Bestehens umgekommen, jedoch liegen keine genaueren Daten vor.
Im Oktober 1945 wurde das Lager Sterntal nach Intervention des Roten Kreuzes aufgelöst und die Überlebenden – soweit sie nicht in andere Lager kamen – mehrheitlich nach Österreich abgeschoben.
Quelle: http://de.wikipedia.org/wiki/Lager_Sterntal
59
— Was heißt da freiwillig?
Dass ich für das NS-Regime nichts übrig hatte, zeigt eine Ent-
scheidung aus dem Jahr 1943, die die Weichen für mein Leben
in der Kriegszeit stellte. Ich war damals knapp 18. Die körperlich
Größeren unserer Gruppe, der sogenannte erste und zweite Zug,
sollten zum Arbeitsdienst. Kurz vor einer Übung hieß es plötzlich:
„Erster und zweiter Zug im Trainingsanzug in den Tagesraum!“
Wir wussten erst gar nicht, was los war. Offensichtlich sollte die
geplante Übung nicht stattfinden. Also hieß es umziehen, und
dann ging es ab in den Tagesraum. Dort harrten wir der Dinge,
die da kommen sollten. Auf einmal fuhren zwei Schwimmwagen3
vor, die SS war im Anmarsch.
Wir sahen sie sofort: zackige Burschen aus dem
Reich mit Tellermützen. So kamen sie daher. Sie
stürmten in die Baracke und hielten sofort einen
flammenden Vortrag über die Waffen-SS. Was
die Waffen-SS sei, welche grandiosen Aussich-
ten man als SS-Mann nach dem Sieg hätte. Je-
der bekäme eine garantierte Staatsanstellung.
Konkret: „Zuerst vom Arbeitsdienst abrüsten,
dann eine gediegene Ausbildung im Reich, an-
schließend einen Heimaturlaub und danach ab
an die Front“, sagten sie. Zusätzlich lagen in der
Baracke diverse Broschüren auf – Werbung für
die SS-Panzerdivision, die SS-Meldereiter und
die sonstigen Einheiten.
Eine Weile redeten sie so auf uns ein, dann fragten sie abrupt:
„Na, und wie viele melden sich jetzt? Wer will zur SS?“ Zehn von
uns zeigten auf. Einer von ihnen war 1,90 m groß und wog viel-
3 Allradgetriebenes
Amphibienfahrzeug
SS-Werbeplakat
60
leicht 55 kg. Ich dachte: Wenn sie den nehmen, sind sie offenbar
nicht mehr sehr wählerisch.
Aber die SS-Männer achteten nicht auf unsere Verfassung. Sie
herrschten uns an: „Was? Zehn Männer nur? In anderen Abteilun-
gen melden sich die jungen Burschen vollzählig.“
Dann befahlen sie uns, uns split ternackt auszuziehen, und schon
ging es los. Die Freiwilligen saßen bereits hinten, eine ganze Rei-
he, es war schon alles notiert worden. Die SS-ler hatten sämtliche
Daten uns von aufgenommen, die sie brauchten. Wir hätten nur
noch sagen sollen, zu welcher Einheit wir wollten, und natürlich
unterschreiben.
Ich war aufgrund meiner Größe Trupp 2 zugeteilt worden. Die SS-
Leute begannen mit den allergrößten Burschen in Trupp 1 und
arbeiteten sich dann vor. Die Kollegen gaben an, ob sie zur SS-
Panzerdivision, zu den SS-Kradmeldern4, den SS-Meldereitern
oder zu irgendeiner anderen Division wollten. Das wurde notiert,
und dann mussten sie unterschreiben.
Schließlich kam ich an die Reihe. Sie fragten mich: „Zu welcher
Einheit?“ Darauf sagte ich erst einmal gar nichts. Nach einer kur-
zen, peinlichen Pause wollten sie wissen, ob es mir denn gleich
sei, zu welcher Einheit ich käme, weil ich nichts sagte. Darauf ich:
„Nein, ich gehe nicht zur SS.“
Jetzt schauten alle auf mich. Die ganze Reihe wich zurück. Dann
ein scharfes: „Was hören wir da?“ Ich sagte noch einmal: „Ich gehe
nicht zur SS.“ Darauf die scharfe Aufforderung: „Eine Begründung!“
Ich antwortete: „Zur Wehrmacht muss ich sowieso, aber ich gehe
nicht zur SS.“
„Haben Sie Angst vor Blut?“ fragten sie gleich. „Oder wollen Sie
4 Kraftradmelder:
begleiteten Kolon-
nen als Verkehrs-
sicherungsposten
oder übernahmen
Kurierdienste bei
ausgefallenen
Kommunikations-
systemen. Sie
waren mit Kraft-
rädern motorisiert.
61
vielleicht im Hinterland tachinieren, während Familienväter drau-
ßen an der Front sind?“
Ich antwortete immer dasselbe: „Ich gehe nicht zur SS.“
Nach einigem Hin und Her fragten sie mich ganz hinterhältig: „Oder
lassen Sie Ihre Eltern nicht?“ Das wollten sie natürlich herausbrin-
gen. Ich hätte nur zu sagen brauchen: „Nein, die Eltern lassen mich
nicht“, und schon wären Papa und Mama reif gewesen fürs KZ.
Auf einmal wurde es ganz still, und alle schauten mich erwartungs-
voll an. Die Situation wurde zunehmend brenzlig. Und da schoss
mir auf einmal, wie ein Blitz, die einzig richtige Antwort in den Kopf,
eine Gegenfrage: „Ist das jetzt freiwillig, oder ist es Zwang?“
Darauf sie: „Zwang ist es nicht.“
Und ich: „Und freiwillig gehe ich nicht.“
Da sprang ein SS-Mann auf und schrie: „Verschwinde! Solche Leu-
te wie du sind es gar nicht wert, deutsches Brot zu essen!“
Ich packte meinen Trainingsanzug und verließ die Baracke. Hinter
mir rief noch einer her: „Ich hoffe, dass ein Stein vom Dach her-
unterfällt und Sie erschlägt. Sie Krüppel sind es überhaupt nicht
wert, im deutschen Reich zu leben.“ So war das damals.
Mein Freund Richerl war leider zu feig gewesen und hatte schon
unterschrieben. In der Baracke sagten sie dann bewundernd
zu mir: „Du hast dich aber was getraut!“ Die anderen, die sich
schon „freiwillig“ gemeldet hatten, begannen fast zu weinen.
Sie bereuten, dass sie es nicht auch so gemacht hatten wie ich.
Nach meinem Auftrit t unterschrieben allerdings nur noch we-
nige. Die meisten weigerten sich genau wie ich. Sie hatten ge-
sehen, dass es möglich war. Die Stimmung in der Baracke war
62
dementsprechend schlecht. Ich fand allerdings, die Kollegen hät-
ten dort, im Tagesraum, reden müssen, nicht erst im Nachhinein.
— Wehrdienst
Am 29. Oktober 1943 wurde ich nach Leoben beordert, und zwar schon
zum dritten Mal. Beim ersten Termin hatten sie zu viele junge Män-
ner eingezogen, und so durfte ich wieder nach Hause gehen. Beim
zweiten Mal entkam ich dem Militärdienst, indem ich mich wie beiläu-
fig zur Gruppe derjenigen stellte, die überzählig waren. Gut geraten.
In Kapfenberg musste ich mich jedes Mal bei der Kartenstelle und
beim Gemeindeamt abmelden. Am nächsten Tag alles retour, ich
meldete mich wieder an. Kein Wunder, dass sie mich scheel an-
schauten. Kaum war ich weg, kam ich schon wieder zurück.
An diesem 29. Oktober war allerdings bereits die Hälf te der
Männer, die nach Leoben einberufen worden waren, jünger
als ich, Geburtsjahrgang 1926, und so musste ich einrücken.
Wir erhielten eine kurze Ausbildung und sollten dann gleich
zur Truppe. Auf einmal entwickelte sich an meinem Knie ein
Riesenfurunkel. Sie schickten mich ins Revier, wie damals die
Krankenstation beim Militär hieß. Als der Furunkel reif war,
hatte er sieben oder acht hässliche Eiterstellen. Schnell ent-
schlossen bog ich mein Knie ab. Man kann sich unschwer
vorstellen, was dann passierte. Soviel kann ich sagen: Es war
sicher kein Anblick für Weichlinge.
Meine Kollegen waren inzwischen schon nach Flitsch, slowenisch
Bovec, hinunter versetzt worden. Nachdem mein Furunkel aufge-
platzt war, schickten sie mich nach, und so kam ich über den Pre-
dilpass nach Flitsch. Bis Tarvis konnte ich fahren, von dort ging es
zu Fuß weiter.
Richard als Soldat
63
Wir waren in der Region stationiert, in der im Ersten Weltkrieg die
Isonzokämpfe stattgefunden hatten. Flitsch-Tolmein, das sagt ei-
nigen vielleicht auch heute noch etwas. Die zwölf Isonzoschlach-
ten waren ja wirklich schwere Kämpfe. Wir blieben einige Zeit über
in Flitsch. Ich erinnere mich noch an die Verpflegung: Schweins-
braten, Polenta oder auch Gulasch. Die Polenta schnitten sie üb-
rigens mit einer Schnur wie eine Torte. Uns schmeckte es.
Ölsardinen, extrafein
Helmut kam 1943 oder 1944 zunächst nach Wieselburg und muss-te direkt von der Schule aus einrücken. Schon mit 16 Jahren war er beim Wehrdienst in Lunz. Während ich in Rijeka – damals hieß es Fiume und gehörte zu Italien - stationiert war, hatte man ihn ins Wehrertüchtigungslager in Lunz gesteckt.
Eines Tages fand meine Truppe unverhoff t einen geheimen Zu-gang zu Lebensmittelvorräten, genauer gesagt zu Sardinendo-sen, und zwar in rauen Mengen. Die konnten wir sehr gut ge-brauchen. Ich wollte aber auch unbedingt meine Familie daheim an diesem Sardinensegen teilhaben lassen und überlegte lange, wie ich es bewerkstelligen sollte.
Endlich fiel mir ein, wie es gehen konnte. Aus einem Schuhge-schäft besorgte ich mir zwei Schachteln und füllte sie randvoll mit den Dosen. Dann schickte ich eine Schachtel zu Helmut nach Lunz und die zweite nach Hause. Helmut erzählte mir später, er hätte diese erstklassigen Ölsardinen mit den extrafeinen Schwanzerln sehr genossen.
Unser Geheimlieferant war die Marine-Küstenbatterie. Diese be-wahrte ihre gesamten Vorräte für ein halbes Jahr in Dosen auf. Brot, alles, die ganze Verpflegung hatten sie eingedost. Wir wuss-ten, wo sie ihre Sachen lagerten und gingen dann halt „nach-schauen“. Im Krieg nannte man so eine Aktion „organisieren“.
64
— Granatsplitter
Im Sommer 1944 war ich weiter westlich in Italien stationiert. Dort
bekam ich am 17. September einen Granatsplit ter ab, und zwar
von unseren eigenen Leuten. Die deutsche Artillerie hatte zu kurz
geschossen. Sie dachten wohl, die Engländer wären schon da.
Mit einigen anderen stand ich ganz vorn und wurde von ein paar
Split tern getroffen. Die Verletzung bot mir zum Glück einen Vor-
wand, über den Brenner hinaufzukommen.
In Innsbruck ließ ich mir die Haare schneiden. Der Friseur stellte
sofort fest, dass ich Kopfläuse hatte. Als er die Nissen entdeckte,
wich er immer weiter zurück. Die Läuse verwunderten ihn aller-
dings weniger als die Tatsache, dass ich mich so weit vom Bahn-
hof hatte entfernen können. Nun, ich hatte ja genügend Zeit und
konnte mir die Stadt ansehen. So ging ich auch an einem Pferde-
stall vorbei. Er war von einer Bombe getroffen worden, die Pferde
waren verbrannt. Ich erinnere mich noch an den traurigen Anblick
der vier toten aufgeblähten Rösser.
Später, daheim in Kapfenberg, behauptete einer unserer zahl-
reichen Kostgänger, er hätte von mir Kopfläuse bekommen. Das
dürf te wohl passiert sein, bevor sie mich in Graz entlausten.
Denn ich musste ja nach Graz ins Lazarett. Dort war aber damals
alles schon so überfüllt, dass sie mich zu den Ursulinen schickten.
Davor verbrachte ich eine Nacht in der Wehrmachtsunterkunft am
Bahnhof, wo alles gestohlen wurde, was nicht niet- und nagelfest
war. Jedenfalls stellte ich plötzlich fest, dass mir meine Kopfbede-
ckung, eine schöne Mütze, fehlte.
Jetzt war guter Rat teuer. Ohne Mütze konnte ich mich unmöglich
in der Öffentlichkeit bewegen! Eine Mütze mit Wehrmachtsstrei-
fen brauchte man nämlich, weil man sonst sofort aufgeschrieben
65
worden wäre. Es war streng verboten, sich nur mit der Uniform
und ohne Kopfbedeckung auf der Straße zu zeigen. Irgendwo
musste ich eine neue Mütze auftreiben. Also strich ich wie zu-
fällig durch den Raum, um mir Ersatz zu organisieren. Natürlich
passten alle wie die Haftelmacher auf ihre Habseligkeiten auf.
Doch meine Geduld wurde belohnt: Irgendwann drehte sich einer
um, die Mütze in meiner Reichweite. Da schnappte ich sie mir
schnell und verschwand.
Das Stehlen liegt mir wirklich nicht, aber im Krieg galt: „Hilf dir
selbst, dann hilf t dir Gott!“
— Ertappt
Ich verdankte es den Granatsplit tern, dass ich zur Behandlung
heim in die Steiermark kam und danach auf Genesungsurlaub.
Von Graz fuhr ich ständig ohne Erlaubnis nach Kapfenberg und
wieder zurück. Das brachte mir den Beinamen „der ewige Urlau-
ber“ ein. Als Adresse hatte ich das Haus unserer Verwandten in
Niederschöckl angegeben, weil es innerhalb der zulässigen 10
Kilometer von Graz entfernt lag. Es ging ja darum, jederzeit für
die Truppe erreichbar zu sein. Wäre etwas vorgefallen, hätten sie
mich an der angegebenen Adresse verständigt, und ich hätte so-
fort einrücken müssen.
In Wahrheit aber fuhr ich jedes Mal mit dem Zug nach Hause und
nicht nach Niederschöckl. Um glaubhaft zu bleiben, konnte ich
natürlich nicht am Hauptbahnhof aussteigen. Stattdessen nahm
ich die Straßenbahn nach Gösting. Dort war die Gefahr gering,
auf eine Wehrmachtsstreife zu stoßen.
Bevor ich mich in einen Zug wagte, beobachtete ich vom Bahn-
damm aus jeweils ganz genau, aus welchem Waggon die Streife
herausschaute.
66
Damals fuhr mit jedem Zug eine solche Streife mit. Erblickte ich
die Wehrmacht hinten, stieg ich vorn ein, war sie vorn, nahm
ich einen der hinteren Waggons. Im Abteil setzte ich mich dann
immer so, dass ich in die Richtung schauen konnte, aus der die
Streife zu erwarten war.
Ich spähte an jeder Haltestelle hinaus aus dem Personenzug, wie
weit die Soldaten schon vorgerückt waren. Waren sie schon in der
Nähe, also etwa im nächsten Waggon, stieg ich schnell aus und
hinter der Streife wieder ein. So schaff te ich es gezählte sechzehn
Mal von Graz nach Kapfenberg und wieder zurück.
Beim sechzehnten Mal schaute ich mich wie gewohnt um und
sah die Streife von hinten kommen. Daher stieg ich in der Mitte
des Zuges ein. Als sie näher rückten, stand ich auf, um ihnen
auszuweichen. Ein gutes Stück hinter ihnen würde ich wieder ein-
steigen.
Ich betrat also den nächsten Waggon, da sah ich plötzlich die
Streife vor mir. Offenbar fuhren mit diesem Zug gleich zwei Strei-
fen mit. Mein einziger Ausweg war das WC. Die Männer befan-
den sich zu diesem Zeitpunkt vielleicht noch drei bis vier Meter
vor mir entfernt. Alle Fahrgäste wurden genau kontrolliert. Ich ret-
tete mich also in die Toilette. Drinnen blieb ich an der Tür stehen
und horchte. Nach kurzer Zeit trommelten sie mit den Fäusten an
die Tür. „Wie lange dauert das denn noch?“ brüllten sie. Deutsche,
das konnte man an der Aussprache sofort erkennen. So blieb mir
nichts anderes übrig, als aus dem WC herauszukommen wie ein
ertappter Partisan.
Ich trug keinerlei Ausweispapiere bei mir, nichts. Nur einen Be-
handlungsschein vom Grazer Lazarett hatte ich dabei. Für die
Streife machte mich das zum Deserteur.
Ich erklärte, ich sei vom Lazarett aus immer vereinbarungsge-
67
mäß nach Niederschöckl gefahren, doch nun sei meine Therapie
beendet und ich hätte unbedingt noch einmal meine Familie in
Kapfenberg besuchen wollen. Leider hatte ich nichts, um mich
auszuweisen, nicht einmal mein Soldbuch. Das wäre damals ge-
nauso gültig gewesen wie ein Reisepass, doch ich hatte es in
Graz zurücklassen müssen.
Die deutschen Soldaten beschimpften mich heftig und nahmen
mich mit. In Bruck übergaben sie mich dem Bahnhofsoffizier. Vor
dem stand ich da wie ein Sträfling, ein Gefühl, als wäre ich bei der
Geheimpolizei gelandet. Ich schlug meinen Bewachern vor, doch
in Graz anzurufen. Dort würde man ihnen sofort bestätigen, dass
ich tatsächlich in Behandlung war.
Da die Bomben in Graz aber bereits großen Schaden angerichtet
hatten, konnte keine Telefonverbindung mehr hergestellt werden.
Also herrschten sie mich an: „Mit der nächsten Streife fahren Sie
wieder hinunter nach Graz und melden sich heute noch im Laza-
rett!“ Auf meinen Einwand, dass dort nach den Bombeneinschlä-
gen ja nun niemand mehr sei, reagierten sie gar nicht.
„Sie fahren heute noch hinunter und melden sich, fertig.“ Ein Be-
fehl! Dann notierten sie noch auf meinem Behandlungsschein,
dass sie mich erwischt hatten ohne Ausweispapiere, und ließen
mich stehen.
Ich überlegte ein bisschen und verließ dann das Bahnhofsge-
bäude. Draußen riss ich den verräterischen Vermerk von meinem
Behandlungsschein und machte mich sofort zu Fuß auf den Weg
nach Kapfenberg. So konnte ich immerhin noch drei Tage, von
Freitag bis Montag, bei meiner Familie verbringen.
Am Montag fuhr ich tatsächlich nach Graz, holte mein Soldbuch
ab und bekam Genesungsurlaub. Obwohl sie dort wussten, was
vorgefallen war, sagten sie kein Wort. Dabei war die Sache schon
68
längst nach Windischgraz (Okraj Slovenji Gradec) weitergemeldet
worden, wo sich meine Truppe befand.
— Ein Fall für den Nervenarzt
Mein Arzt in Graz war der Sohn des damaligen Leobener Tier-
arztes Dr. Handl. Er hatte irgendwie mitbekommen, dass ich aus
einem Bauernhaus stammte, und bat mich, ihm ein Stück Fleisch
mitzubringen.
Dementsprechend wurde ich in der Folge recht wohlwollend be-
handelt.
Eine Röntgenaufnahme meiner Hand ergab, dass mir überhaupt
nichts fehlte. Es waren keine Split ter zu sehen, und Knochen war
auch keiner verletzt. Ich wollte aber unbedingt noch länger in
Graz bleiben und fragte daher, wie es kommen könne, dass ich
so überhaupt kein Gefühl in den Fingern hätte, wenn mir doch
nichts fehle. Daraufhin schickten sie mich zum Nervenfacharzt.
In Wahrheit hatte ich gar keine Beschwerden, trug aber einen dicken
Verband. Sonst wäre ich ja gar nie heraufgekommen aus Italien.
Bei diesem Nervenfacharzt herrschte ein anderer Ton als im La-
zarett. Man setzte mich in einen Raum, und ich musste warten.
Als Arzt und Helfer hereinkamen, merkte ich sofort, dass mit ih-
nen nicht gut Kirschen essen war. Der Arzt fuhr mich an: „Augen
zu!“. Dann nahm er eine Sicherheitsnadel und begann mich in
die Hand zu stechen. Ich sollte den Schmerz, den er auslöste, als
„stumpf oder spitz“ beschreiben.
Das war nicht ohne! Dieser Sadist stach brutal in meinen Fin-
gern herum. Ich riss mich aber zusammen und sagte fast je-
des Mal „stumpf“. Nur ein paarmal gab ich an, der Schmerz sei
69
spitz gewesen. Der Arzt registrierte genau, bei welchen Fingern
ich stumpf und bei welchen ich spitz gesagt hatte. Einen kleinen
Hammer hatte er auch, mit dem er meine Reflexe prüfte. Er wollte
die Reaktion sehen. Zum Schluss schrieb er drei Finger auf, die
angeblich gefühllos waren. Die Diagnose lautete „Verletzter Spei-
chennerv“. Ich bekam eine Behandlung mit Elektrizität und Mas-
sage verordnet.
Die Ursulinen, bei denen ich untergebracht war, behandelten
meine Hand mit Schwachstrom und massierten mich mit einer
feinen Salbe. Die Schwester forderte mich auf, mich mit der Hand
an der Wand entlang zu hanteln. So wollte sie feststellen, ob die
Finger noch beweglich waren. Außerdem sollte ich ihre Hand
nehmen und fest zusammendrücken.
Davor musste ich noch zum dortigen Arzt. „Geben Sie mir die
Hand“, sagte er. „Und drücken Sie fest zu!“ Er wollte wissen, wie
viel Kraft ich hätte. Aber ich hielt meine Hand so schlapp wie ei-
nen toten Fisch.
Obwohl es bei den Schwestern ganz nett war, fuhr ich natürlich
dauernd nach Hause und arbeitete dort schwer. Auf einmal fiel
einer Schwester auf, was für grobe, schwielige Hände ich hatte.
Sie passten so gar nicht zu der sanften Behandlung, die ich bei
den Ursulinen genoss. Aber das machte nichts mehr, denn zu
diesem Zeitpunkt war der Kriegszirkus ohnehin schon so gut wie
aus und meine Behandlung beendet.
— Auch der längste Krieg hat einmal ein Ende
Am 1. April 1945 hätte ich noch zum Unteroffizierslehrgang nach
Admont kommen sollen. Ich habe keine Ahnung, warum sie mich
in Windischgraz dafür ausgewählt hatten, aber es wäre mir nicht
unrecht gewesen.
70
Unten in Windischgraz befanden wir uns nämlich ständig im aus-
gesprochen gefährlichen Partisaneneinsatz. Von dort wurden
dann die einen an die italienische Front geschickt und die an-
deren nach Russland abkommandiert. Und ausgerechnet mich
teilten sie zusammen mit drei anderen für den Unteroffizierslehr-
gang in Admont ein.
Ich war gleich einverstanden, denn mir war klar, dass der Krieg
nicht mehr lang dauern konnte. Außerdem liegt Admont nicht all-
zu weit von Kapfenberg entfernt. Dorthin verlegt zu werden, war
also sicher nicht verkehrt.
— Alarm in Windischgraz
Allerdings kam es nicht mehr dazu, denn bei uns ertönte am 30.
März, dem Karfreitag 1945, plötzlich mitten in der Nacht Alarm.
Das hieß, wir mussten uns sofort feldmarschmäßig ausrüsten und
aus unseren Schlafquartieren kommen. Dann wurden wir zusam-
mengestellt. Ich war bei den Radfahrern, Aufklärungsabteilung
85. Mein Puch-Rad lief ausgesprochen rund, weil ich es immer
gut in Schuss hielt. Es war mir sehr wichtig, dass das Rad in Ord-
nung war und ja keinen Achter hatte, damit es sich gut treten ließ.
Wir fuhren also von Windischgraz nach Graz. Die Strecke über
Marburg nach Graz bewältigten wir an einem Tag. Am Abend
wurden wir im Brauhaus Puntigam einquartiert und bekamen
dort ein Bier, das wir sehr genossen. Am nächsten Tag ging es
mit dem Rad hinauf auf die Ries, wo wir die Ostertage verbrach-
ten. Wir blieben bis zum Osterdienstag, dem 3. April 1945. Das
war mein Namenstag.
In dieser Nacht wurde Graz so schwer bombardiert, dass man
die Erschütterungen sogar noch auf der Ries deutlich spürte. Wir
71
hatten kaum zu essen. Nur einmal ging ich von der Ries durch den
Wald hinunter ins Tal, wo ich mir eine Eierspeis gönnte.
Am Ostermontag kam eine ganze Schar Hamsterer vorbei, auch
einige Ungarn waren dabei. Unter ihnen entdeckte ich einen gu-
ten alten Bekannten, der bei uns in Kapfenberg ein und aus ging.
Er erkannte mich sofort. „Hast du Hunger?“ fragte er. Ja, ich hatte
wirklich einen Riesenhunger. Wir bekamen ja nichts Gescheites zu
essen. Er schenkte mir einen Laib Brot, von dem schon ein Scher-
zel abgeschnitten war, und ein Papiersackerl mit Grammeln. Die
schmeckten wie Nüsse, einfach köstlich. Den Kollegen gab ich
auch etwas ab. Diese Grammeln waren himmlisch, besser als
jede Torte. Mit welchem Appetit, mit welchem Genuss ich damals
gegessen habe!
— Letzte Kriegstage in der Oststeiermark
Am Abend ging es weiter in die Oststeiermark - nach Weiz, Gleis-
dorf, Ilz und Riegersburg. Auf der Riegersburg waren schon die
Russen, und man hatte Scharfschützen postiert. Dort war der
Volkssturm eingesetzt – Leute mit Behinderungen und HJ-Buben.
Natürlich gab es viele Tote, wie man sich unschwer vorstellen kann.
— Keine Gefangenen
Die SS hatte die Russen im Burgenland von ihrer Armee abge-
schnitten. Also mussten sie sich kämpfend zurückziehen, denn
sie wollten ja wieder mit dem Hinterland Verbindung aufnehmen.
Als wir in Altenmarkt bei Riegersburg in die Häuser gingen, stell-
ten wir fest, dass die Russen fluchtartig aufgebrochen waren. Das
Essen stand noch auf dem Tisch. Es war vielleicht vier Uhr in der
Früh. Sobald es hell wurde, kamen die Frauen aus ihren Verste-
cken im Heu gekrochen.
72
Wir setzten also den zurückweichenden Russen durch den Wald
nach und bildeten dazu eine Schützenkette. Alle sechs, sieben
Meter ging einer von uns. Plötzlich stießen wir auf einen schlafen-
den russischen Soldaten, den sie offenbar zu wecken vergessen
hatten. Ich sehe ihn heute noch vor mir, wie er verwirrt aufstand,
ein großer, fescher Bursch von vielleicht 20 Jahren. Mit hoch er-
hobenen Armen stand er da. Gefangene wurden ja nicht mehr
gemacht. Irgendwo hinter uns verpasste ihm dann einer einen
Genickschuss. Er tat mir so leid. Ich dachte, der arme Kerl hat
doch auch einen Vater und eine Mutter… Wegen nichts und wie-
der nichts, nur weil er verschlafen hat, muss er sterben.
— Danke, Burgi Huber
In Raabau bei Feldbach waren wir im Haus einer gewissen Frau
Burgi Huber einquartiert, und zwar ganz allein. Das Haus befand
sich neben der Bahn und gleich dahinter, direkt an den Geleisen,
waren schon die Russen.
Wir verbrachten in Raabau drei Wochen, in denen uns wenig
abging. Es war schön, die Hühner zu füt tern, die im April f leißig
Eier legten. Das freute mich sehr, denn so konnte ich jeden Tag
Wein-Chaudeau kochen. Die Häuser ringsum waren alle leer,
und man fand dort Zucker, Wein und alles, was man sonst noch
so brauchte. Wir mussten es uns nur nehmen. Unser Aufenthalt
fand aber ein abruptes Ende, als die Russen das Haus zusam-
menschossen.
„Meine Herren, der Krieg ist aus!“
Also hieß es weiterziehen, diesmal nach Norden, nach Groß-
Steinbach bei Ilz. Dort angekommen, stellten wir unsere Räder
ordentlich an einem Baum zusammen. Dann ging es in den Wald
hinaus, in die Stellung. Auf einmal, um halb zwei in der Früh, kam
73
der Oberleutnant, ein Wiener namens Felbenhauer, und erklärte:
„Meine Herren, der Krieg ist aus!“
Nun, das war für uns keine Überraschung mehr, denn wir hatten
ja gehört, dass die Russen bereits auf dem Semmering standen.
Obwohl der Krieg erklärtermaßen aus war, wollten sie uns plötz-
lich geschlossen nach Kärnten schicken. Dabei wussten wir, dass
dort bereits die Engländer waren. Es gab damals eine Menge oft
widersprüchlicher Parolen. Wir nannten sie Scheißhausparolen.
Einmal schnappte der eine irgendwo etwas auf, dann wieder der
andere. Niemand wusste etwas Genaues. Zuerst hieß es, die
Russen würden sich zur ungarischen Grenze zurückziehen. Dann
gab auf einmal der Oberleutnant für uns die Rückzugsparole aus.
Die anderen Einheiten waren motorisiert, doch wir fuhren mit
unseren Rädern. In dem ganzen Durcheinander übernahm ich das
Kommando, weil ich die Strecke schon von früher kannte. Die Fahrt
war sehr riskant. Aus jedem Waldeck schauten SS-Männer heraus,
diese Kettenhunde. Sie waren vom SS-Streifendienst und hinterließen
überall in den Straßengräben Soldaten mit aufgeblähten Bäuchen
und Schildern, auf denen stand: „Wegen Drückebergerei erschossen“.
Das machten sie übrigens auch in Kapfenberg so. In der Volks-
schule in Hafendorf wurden die „Deserteure“ abgeurteilt und
dann auf dem Hügel oben erschossen. Ich kenne jemanden, der
dort wohnte und immer mitbekam, wenn sie in der Nacht vor-
beigingen. Kurz danach hörte er dann die Schüsse. Diese feigen
SS-Hunde erschossen Soldaten, die vielleicht schon den ganzen
Krieg mitgemacht hatten.
Auf dem Kapfenberger Friedhof steht eine Tafel: Für die Opfer
des Faschismus. Wenn ich das lese, werde ich heute noch zornig
wegen der vielen unnötigen Todesopfer. Sogar SS-Leute wurden
damals noch erschossen.
74
Männer, die ihr Leben nicht weiter dem Führer opfern wollten, gab es beinahe in jedem oststeirischen Dorf. Anton Papst aus Söchau hielt sich drei Jahre lang auf seinem kleinen Bauernhof versteckt. Seine Frau musste in der Öffentlichkeit um ihn weinen, um den Verdacht der lokalen Nazigrößen zu zerstreuen. Als Herr Papst nach dem Krieg anlässlich einer Fronleichnamsprozession den „Himmel“ tragen sollte, wurde er wegen seiner Deserteurs-vergangenheit von vielen Söchauern dieser Ehre nicht für würdig befunden.
Frau Maria Lang aus Unterlamm, die ihren Mann versteckte, er-zählte ebenfalls, dass sie sich nach dem Krieg grobe Reden an-hören musste, „weil ich so falsch (unehrlich) war.“ Bei Kriegsen-de wurden viele Deserteure hingerichtet. Der Hatzendorfer Rudi Neubauer erfuhr im Grazer Lazarett, dass die Russen schon in Fehring seien. Er fuhr heim und versteckte sich bei seiner Mutter. Vor den Augen seiner Mutter schossen ihn SS-Angehörige, die ihn aufgestöbert hatten, zuerst in die Hoden, dann in den Kopf. Der vielfache Vater Friedrich Kaspar aus Loiberg und sein Nachbar Johann wollten ihre Familie im Kampfgebiet nicht allein lassen. Sie wurden verraten und in den letzten Kriegstagen in der Reiter-kaserne in Graz hingerichtet.
Quelle: http://korso.at/korso/DStmk/derkrieg.html
75
— Mit dem Rad nach Hause
Ich wusste, auf der Hauptstrecke von Groß-Steinbach über den
Rechberg würden wir den SS-Leuten direkt in die Arme laufen.
Außerdem hatte man uns zwar gesagt, dass sich die Russen zu-
rückziehen würden an die ungarische Grenze, doch wir trauten
der Sache nicht.
Das war alles zu gefährlich. Und wenige Tage, bevor der Krieg tat-
sächlich aus war, wollten wir ganz sicher kein Risiko mehr eingehen.
Deshalb schlug ich vor, die Route über unseren landwirtschaftli-
chen Betrieb in St. Ruprecht an der Raab zu nehmen. Wir verein-
barten, nur in der Nacht zu fahren. Man konnte damals einfach
nicht wissen, was wirklich los war. So sahen wir zu, dass wir auf
schnellstem Wege mit dem Rad in Richtung Nordwesten kamen.
Ein Kollege nahm das Maschinengewehr mit, denn wir wollten
die Waffen so lange wie möglich nicht abgeben.
Als wir frühmorgens in St. Ruprecht ankamen, stießen wir auf
meine Kusine Laura, die gerade in den Stall ging. Sie erkannte
mich zuerst gar nicht, so verstaubt waren wir. Um schneller vo-
ranzukommen, hatten wir uns nämlich auf den unasphaltierten
Straßen hinten an die Autos angehängt. Erst als ich Laura anrede-
te, wusste sie, dass ich es war. „Nur die Augen haben herausge-
blitzt“, sagte sie später.
Bei Laura bekamen wir etwas zu essen und konnten uns endlich
ausschlafen. Danach, mit einer guten Jause im Bauch und einer
Feldflasche voll Most, fuhren wir etwa um fünf mit dem Rad die
Weizklamm hinauf auf den Rechberg.
Was da los war auf dieser Straße! So viel Militär, so viele Flüchtlin-
ge. Die Leute verwendeten alles als Fortbewegungsmittel: Kühe,
76
Esel, Scheibtruhe, Handkarren, egal. Alles war in Bewegung. Auf
der schmalen Straße über den Rechberg ging es zu wie auf einer
Hauptstraße zur Stoßzeit.
Auf dem Rechberg angekommen, schliefen meine Kollegen
gleich wieder ein. Wir waren wirklich erschöpf t. Ich drängte
darauf, sofor t, wenn auch langsam, wieder bergab zu fahren,
um möglichst schnell und heil nach Hause zu kommen. Die
anderen versicherten mir, sie würden bald nachkommen. Ich
selbst aber wollte nicht warten und setzte meine Fahrt for t. Auf
einmal packte mich ebenfalls der Schlaf, und ich stürzte mit
dem Rad einen Abhang hinunter. Davon wachte ich natürlich
wieder auf, klet ter te den Hang hinauf, richtete mein Rad auf
und fuhr weiter.
Die Situation war deshalb so schwierig, weil alle Leute nur dar-
auf warteten, dass jemand einschlief. Dann konnten sie einem
das Fahrrad stehlen und selbst schneller vorankommen. Nach
meinem Sturz wollte ich daher nicht stehenbleiben, f iel aber
kurz darauf vor lauter Müdigkeit schon wieder in den Straßen-
graben.
Es war einfach zu gefährlich. Wie leicht hätte ich beim Einnicken
in ein Auto krachen können! Da half alles nichts, ich musste mich
ausruhen. Leider schliefen hinter jedem Stall, ja sogar hinter je-
dem Heuschober, den ich anpeilte, schon kleinere und größere
Gruppen von Soldaten. Mir lag aber viel daran, allein zu bleiben,
damit niemand mein Rad stehlen konnte.
Irgendwann gab ich die Suche nach einem einsamen Plätzchen
auf, ich konnte einfach nicht mehr. Also zog ich mir meinen Man-
tel an und legte mich mit dem Oberkörper auf das Vorderrad. So
hoff te ich, mein Gefährt schützen zu können. Endlich schlief ich
kurz ein, doch dann wurde mir kalt. Ich stand auf, biss die Zähne
zusammen und fuhr weiter in Richtung Kapfenberg.
77
— Wieder daheim
Mein Gewehr hatte ich bei mir. In Diemlach stieß ich noch kurz vor
meinem Ziel auf eine Gruppe Kommunisten: „Was braucht denn
der noch ein Gewehr?“, fragten sie. Sie wollten es mir herunter-
reißen, doch ich fuhr so schnell ich konnte an ihnen vorbei, als
hätte ich sie nicht gehört. Dieses Gewehr bewahrte ich gut auf
und habe es bis heute.
Endlich, am 9. Mai um halb sechs in der Früh, hatte ich es ge-
schaff t. Meine Mutter, die mich von Weitem sah, fragte: „Was
kommt denn da für ein Soldat?“ So froh ich war, wieder daheim
zu sein, die Sache war noch nicht ausgestanden. Ich musste be-
fürchten, dass mich die Russen als Soldaten erkennen würden.
Also zog ich mich zunächst einmal um und fuhr dann in den Gra-
ben hinein in Richtung St. Ilgen. Dort schlief ich den ganzen Tag
im Wald.
Am Abend wagte ich mich wieder nach Thörl hinaus. Ich
musste die Lage erkunden. Da sah ich, dass die Russen
schon von Mariazell herunter kamen. Jetzt war klar: Wenn
die schon in Mariazell waren, konnte ich geradesogut
nach Hause fahren. Und tatsächlich wimmelte es mittler-
weile von russischen Soldaten. Sie trugen die Haare ganz
kurz geschoren, fast als Glatze, wie es eben üblich war
bei den Russen.
Deshalb ließ ich mir die Haare ebenfalls ganz kurz schneiden. Mit
dieser „Frisur“ sah ich aus wie ein kleiner Bub, zaundürr, wie ich
war. Niemand hätte vermutet, dass ich schon beim Militär gewe-
sen war.
Nur einen Tag nach mir kam auch mein Bruder Helmut heim. Er war
drei Jahre jünger als ich, doch ihn pöbelten die Besatzer ständig an:
Helmut 1943
78
„Du Soldat!“ Wir waren zwar beide gleich groß, doch mit 17 Jahren
brachte er schon 84 kg auf die Waage. Dieses stolze Gewicht habe
ich mein Leben lang nicht erreicht.
— Nie wieder Krieg
Ich bin ja für die EU. In unserer Familie waren mein Sohn Martin
und ich die einzigen, die für die EU stimmten. Damit der Frieden
erhalten bleibt. Ich kann mich noch an den Tag der Abstimmung
erinnern, als ich über die Mürzbrücke zum Wahllokal ging. Noch
immer war ich mir nicht sicher, wie ich mich entscheiden soll-
te. Da drehte ich mich um und sah das Schloss Wieden vor mir
stehen. Plötzlich wusste ich: Wenn dadurch der Frieden erhalten
bleibt in Europa, bin ich für die EU. Wir haben ja mittlerweile ge-
sehen, was in Jugoslawien passiert ist. Wie lang ist das her? Und
es kann immer wieder passieren! •
79
80
Russenzeit— Besatzung
Mama und Papa waren überglücklich, dass es ihre zwei großen
Buben innerhalb nur eines Tages nach Hause geschaff t hatten.
Doch dann ging es auch schon drunter und drüber. Wir konn-
ten plötzlich unsere Kühe nicht mehr austreiben, denn uns blieb
kein einziges Fleckchen Wiese. Die Russen räumten eines unserer
Zimmer aus, stellten überall Baracken auf und lagerten direkt auf
der Wiese hinter dem Haus.
Im Wald schlägerten sie große, vielleicht 15-jährige Fichten, die
sie dort, wo jetzt das Stadion ist, wie Pf löcke einschlugen und
zu einer Allee zusammenstellten. Die Grassoden dazwischen
hoben sie heraus und errichteten so für ihre allabendlichen
Siegesfeiern eine „Straße“. Zu diesem Zweck zer trümmerten
sie weiße, rote und gelbe Glasf laschen und ordneten die Split-
ter zu prächtigen Sowjetsternen an. Was sie nicht bedachten:
Ohne Wurzeln wurden die Bäume nach einiger Zeit dürr und
kahl.
Aus den Baracken der Leute holten sie die Radios heraus, konn-
ten sie aber mangels Stromanschluss nicht in Betrieb nehmen.
Die Russen in Kapfenberg waren größtenteils unzivilisierte Leute.
Angeblich sollen sie die Butter in der Klomuschel eingefrischt
haben. Es ist aber nicht auszuschließen, dass es sich bei dieser
Behauptung um deutsche Propaganda handelt.
Oft gingen sie in unsere Ställe und schnappten sich die nächst-
beste Kuh - weil sie sich nicht auskannten, erwischten sie auch
tragende Tiere. Diese schlachteten sie und fraßen sie an Ort und
Stelle auf. Anders kann man es wirklich nicht nennen.
81
Jeden Tag wurde bis Mitternacht der Sieg gefeiert. Um vier Uhr
in der Früh waren sie dann schon wieder auf den Beinen. Genau
genommen wurde es die ganze Nacht nicht still.
Unser größtes Problem war, dass wir unsere Kühe nicht mehr
austreiben konnten. Wir hatten keine Weiden, kein Heu … Nicht
einmal mehr eine Fuhre Grünfutter gab es. Papa hatte außerdem
Angst, die Russen würden uns die Kühe überhaupt wegnehmen.
Ein paar schlugen sie tatsächlich direkt auf der Wiese nieder –
und zwei Stunden später waren sie auch schon gekocht.
Die russischen Offiziersfrauen sprachen teilweise Deutsch und
forderten: „Die rote Armee braucht Menage!“, womit sie Fleisch
meinten.
In seiner Not sah sich Papa um. Dem damaligen Ramsauer-Päch-
ter erging es gleich wie uns. Auch er hatte keine Weideflächen
mehr. Da kam Papa eines Tages in Graschnitz vorbei und stellte
fest, dass die Russen dort das gesamte Vieh weggetrieben hat-
ten. Der Stall war aber noch vorhanden, und die Koppeln waren
auch da. Also übersiedelten der Ramsauer-Pächter und wir mit
unseren Kühen nach Schloss Graschnitz. Drei Knechte und ein
Dienstmädchen zogen mit und versorgten das Vieh dort.
Jeden Tag mussten wir die Milch nach Kapfenberg hinein führen.
Wir waren stolz darauf, im gesamten Einzugsgebiet der einzige
Betrieb zu sein, der an keinem Tag die Milchlieferungen an die
Genossenschaft ausgesetzt hatte. Alle anderen mussten ihre
Milchlieferung unterbrechen.
Die Russen unterhielten in Schloss Graschnitz ein Lazarett. Be-
hauptet wurde, dort würden lauter Geschlechtskranke behan-
delt. Wir trafen ein Abkommen: Die Lazarettbetreiber nahmen die
Milch, die sie für das Lazarett brauchten, sorgten aber im Gegen-
zug dafür, dass uns kein Vieh wegkam.
82
Die ganze Russenzeit über fuhren wir mit der Milch aus- und ein.
Weil die Russen so viel Beutevieh hin- und hertransportierten –
plötzlich sah man in Kapfenberg ungarische Steppenochsen mit
meterlangen Hörnern –, verbreiteten sich diverse Tierseuchen,
und wir schleppten uns die Maul- und Klauenseuche ein.
Der couragierte Wagenlenker
Von überall im weiten Umkreis hatten wir gehört, die russischen Besatzer würden alle Ställe und Verschläge aufreißen und die Pfer-de mitnehmen. Wir bekamen eine Riesenangst, die Russen hätten es auch auf unsere Tiere abgesehen, und so blieb uns nichts an-deres übrig, als Rösser und Wagen nach Winkl zu bringen.
Helmut und ich machten uns also daran, in einer richtigen Hau-Ruck-Aktion die Pferde möglichst rasch anzuschirren und die Räder auf die Wagen aufzustecken. Das musste blitzschnell ge-schehen, weil die Besatzer ja gleich hinter dem Haus auf unserer Wiese lagerten. Helmut und ich wollten sie überrumpeln und un-seren kostbaren Besitz nach Winkl retten.
Aber natürlich sahen uns die Soldaten sofort und versuchten, auf Helmuts Wagen aufzuspringen. Er fuhr mit den kleinen Pferden, Fanny und Bubi, und mit dem Milchwagen. Die Russen hatten es generell auf die Pferde abgesehen. Helmut stand auf dem Wa-gen. Mit einer Hand musste er lenken, mit der anderen, zur Faust geballt, stieß er links und rechts die anstürmenden Soldaten vom Wagen.
83
Mein Bruder bewies eine unglaubliche Courage den Russen gegenüber, also wirklich! Dabei war er erst 17 Jahre alt. Wir jagten im Galopp in die Stadt hinein, und die Besatzer hingen wie die Trauben auf dem Wagen. Irgendwie schaffte es Helmut trotzdem.
Aber auch die täglichen Milchtransporte von Schloss Graschnitz in die Stadt hinein gestalteten sich äußerst gefährlich. Immer wieder versuchten junge Soldaten, die vollen Milchkannen he-runterzuholen, sodass Helmut den täglichen Weg von Schloss Graschnitz zur Molkerei in vollem Galopp zurücklegen musste.
Einmal bekamen mehrere Russen Helmut zu fassen und befahlen ihm, sie mit dem Pferdewagen nach Kindberg zu bringen. Unter-wegs entschieden sie, er solle danach gleich weiterfahren, über den Semmering und dann wahrscheinlich in Richtung Russland, wenn es nach ihnen gegangen wäre. Von dieser Reise wäre er wohl nie mehr zurückgekommen.
„Einspannen und gleich losfahren!“ So lautete ihr Befehl. Der ganze Wagen voller Russen. Da bekam Helmut es mit der Angst zu tun. Er wusste, dass er sofort etwas unternehmen musste. In Kindberg angekommen, sah er das Schild der Ortskommanda-tur. Er bremste den Wagen ein, sprang hinunter und lief in das Gebäude. Zum Glück gab es dort einen Dolmetscher, mit dessen Hilfe er dem Major seine Lage auseinandersetzte.
Er erklärte, die Wagenbesetzer würden ihn nötigen, mit ihnen über den Semmering zu fahren, dabei müsse er doch mit den Pferden nach Hause. Auf keinen Fall wolle er noch weiter nach Osten fahren. Der Kommandant glaubte ihm, ging hinaus und jagte seine Landsleute vom Wagen. So kam Helmut unversehrt wieder nach Hause.
84
Das war damals eine ganz wilde Zeit. So kamen viele Leute aus
den Konzentrationslagern in Ebensee und Mauthausen nach
Kapfenberg. Hier, bei uns am Bahnhof, wurden die Heimtrans-
porte zusammengestellt. Tag und Nacht schöpften diese armen
Gestalten bei unserem Brunnen hinter dem Haus Wasser. Dort
konnten sie trinken und waschen. In ihren gestreif ten KZ-Unifor-
men sahen sie aus wie Hyänen. Leute aus ganz Europa waren da
und warteten auf die Züge, die sie in ihre Heimat bringen sollten.
Sie erschienen uns wie Gespenster.
Die beiden russischen Zwangsarbeiter, die uns zugeteilt wor-
den waren, verließen uns. Pavel nahm eines unserer Pferde, die
Gretl, mit. Insgesamt waren Arbeitskräfte knapp, obwohl ein neu-
es Dienstmädchen zu uns kam und nach den Kriegswirren auch
zwei Knechte wieder auftauchten.
Die russische Besatzung dauerte nur kurz, hinterließ aber der
einheimischen Bevölkerung und auch den nachfolgenden Eng-
ländern ein regelrechtes Chaos. Allen, die diese Zeit miterlebt
haben, ist sie jedenfalls noch in lebhafter Erinnerung. •
85
1938 - 1944Die nationalsozialistische Regierung forciert den Ausbau der Rüs-tungsindustrie. Zu dem im Thörltal gelegenen Stammwerk wer-den neue Fertigungshallen, das heutige Werk VI, und ein neues Stahlwerk (Werk XII in St. Marein) im breiteren Mürztal gebaut. Die vielen Arbeitskräfte werden in Barackenlagern untergebracht.
1944 - 1945 Zwischen dem 6. Nov. 1944 und dem 10. Mai 1945 zerstören die Bomben der Alliierten Streitkräfte die Werksanlagen und auch Privathäuser. Etwa 200 Todesopfer sind zu beklagen.
9. Mai 1945 Mit dem Kriegsende marschieren 30.000 russische Soldaten in Kapfenberg ein. Der Großteil der noch erhaltenen Industrieanla-gen wird demontiert und abtransportiert. Am 24. Juli lösen briti-sche Soldaten die russische Besatzung ab.
Wiederaufbau Neben dem Wiederaufbau der Infrastruktur ist besonders die Be-reitstellung von Wohnraum für die stark angewachsene Einwoh-nerschaft vordringlich. Viele Familien greifen zur Selbsthilfe und bauen in Eigenregie ihr Eigenheim.
Quelle: Auszug aus der Chronik der Stadt Kapfenberg:
http://www.kapfenberg.gv.at/system/web/zusatzseite.aspx?detailonr=133423800
86
87
Nachkriegszeit— Was bringt die Zukunft?
Als Krieg und Besatzungszeit zu Ende waren, hatten wir eigentlich
allen Grund, glücklich zu sein. Helmut und ich waren unversehrt
nach Hause zurückgekehrt, Papa hatte gar nicht einrücken müs-
sen und es war ihm das beinahe Unmögliche gelungen: Er hatte
die Wirtschaft über die schwierigen Zeiten gerettet – als einzigen
Milchbetrieb in Kapfenberg.
Dafür war uns die Gemeinde durchaus dankbar und auch der Ver-
pächter hätte mehr als genug Grund gehabt, unsere Leistung an-
zuerkennen. Die früher größte Landwirtschaft in Kapfenberg, der
Ramsauer, war gleich zu Beginn des Nationalsozialismus mehr
oder weniger enteignet worden. Auf den Ramsauer-Gründen war
etwa die Hochschwabsiedlung errichtet worden, mit denen das
Regime versuchte, die Arbeiter bei Laune zu halten.
Unser Pachtvertrag war bereits 1942 ausgelaufen und wir hatten
einfach weitergemacht, als ob nichts gewesen wäre.
Die Zeiten waren hart, vor allem
der extrem trockene Sommer
1947. Damals konnten wir mit nur
einem einzigen Pferd das Futter
für 30 Kühe heimführen. Dieses
Futter erwies sich zwar als be-
sonders ausgiebig und nahrhaft,
aber die Menge war völlig un-
zureichend und im Winter wuss-
ten die Leute nicht mehr, was sie
denn füttern sollen.Winter 1946/47: Familie mit Tante Rosa am Küchentisch
88
Damals gab es Zellulose aus Norwegen, und der Obmann der
Landforst meinte, Zellulose sei genauso wertvoll wie ein gutes
Gerstenstroh. Es hätte den gleichen Nährwert. Aber unsere Kühe
wollten dieses Holz nicht fressen. Die Kühe eines befreundeten
Bauern würgten das Zeug zwar hinunter, weil sie offenbar noch
hungriger waren als unsere, aber es dauerte nicht lang und sie
bekamen die Räude.
Irgendwie überstanden wir auch diese Zeit, doch dann traf uns
der schwerste Schlag überhaupt.
— Eine Lücke, die sich niemals schließt
Zu Allerheiligen 1949, Helmut war wieder in Wieselburg, erhielten
wir von dort die Nachricht, unser Bruder sei schwer erkrankt. Er
hatte beim Holzarbeiten verseuchtes Wasser getrunken und war
danach wie viele andere an Typhus erkrankt, doch die Ärzte hat-
ten ihn auf Lungenentzündung behandelt.
Papa und Mama wurden gebeten, zu ihm hinauszufahren. Ich hü-
tete die Kühe auf der Essenko-Wiese, während sich meine Eltern
auf die Reise machten. Zuerst hatten sie Benzin auftreiben müs-
sen für ein Taxi, was alles andere als einfach war zu dieser Zeit.
Die Fahrt ging über Mariazell, Annaberg, Josefberg und Scheibbs
bis Wieselburg. Nach ihrer Ankunft mussten meine Eltern feststel-
len, dass Helmuts Zustand bereits sehr kritisch war.
Sie kehrten nach Hause zurück, völlig am Boden zerstört. Helmut
wurde nach Scheibbs ins Spital überstellt, doch es war schon zu
spät. Papa nahm die beschwerliche Reise ein zweites Mal auf
sich, um Helmut beizustehen in seinen letzten Stunden. Es gab
keine Hoffnung mehr. Sie beteten bis zuletzt. Wie Papa uns später
berichtete, hielt Helmut noch bis halb zwei am Nachmittag des
vierten November durch, dann starb er.
89
Am Abend gelang es Papa irgendwie, unseren späteren Nach-
barn, Herrn Hochörtler, zu verständigen. So gegen acht Uhr klopfte
es an unserer Tür. Herr Hochörtler sagte, er müsse uns die traurige
Nachricht überbringen, dass Helmut gestorben sei.
Das war für unsere Mama ein unfassbarer Schlag! Sie hatte im-
mer große Stücke auf Helmut gehalten. Er war ein kerngesunder
Bub, 1928 auf die Welt gekommen, nie krank gewesen, kräftig
wie ein Bär. In seinem Jahrgang in Wieselburg war er immer der
Stärkste. Aus jeder Rauferei ging er als Sieger hervor. Mama war
außer sich vor Kummer: „Vom Krieg kommt er heim, dann ist er in
Wieselburg und man glaubt, er ist gut aufgehoben und es kann
ihm nichts passieren. Und gerade dort muss er sterben!“
Sie brachten ihn im Sarg auf einem Lastwagen nach Hause, und
es gab ein großes Begräbnis. Aus Wieselburg kam sein gesamter
Jahrgang und begleitete ihn auf dem letzten Weg.
Papa verlangte gegen einigen Widerstand, man möge den Sarg
von der Aufbahrungshalle auf dem Friedhof in die Stadtpfarr-
kirche bringen und dort noch eine Messe lesen. Er konnte sei-
nen Wunsch tatsächlich durchsetzen. Das war das letzte Mal,
dass in Kapfenberg ein Sarg den ganzen Weg vom Friedhof bis
in die Kirche hinunter getragen wurde und dort die Abschieds-
messe gelesen wurde. Die Leute hielten es auch für gefährlich,
weil Helmut Typhus gehabt hatte, obwohl der Sarg verlötet war.
Mama schnit t ihm noch eine Haarlocke ab, die sie lange aufbe-
wahrte.
Unser Bruder starb am 4. November. Am 4. Dezember wäre er 19
Jahre alt geworden. Für unsere Mama begann die schwerste Zeit
ihres Lebens. Tag für Tag ging sie auf den Friedhof, da konnte es
regnen oder schneien, in aller Früh machte sie sich schon auf den
Weg zu seinem Grab. Egal wie viel Arbeit daheim auf sie wartete,
auf den Friedhof musste sie.
90
Zuvor hatten unsere Eltern immer geplant, nach Vorarlberg zu-
rückzugehen. Papas Bruder Franzsepp kehrte 1937 zurück, der
Nachbarpächter Fink 1939, ein weiterer Bekannter 1941. Papa war
daher ständig auf der Suche nach einem passenden Hof. Doch
1947 fasste Mama einen Entschluss. „Helmut ist hier begraben“,
sagte sie, „und ich gehe nicht mehr weg von Kapfenberg.“ •
— Schloss Wieden
Eines Tages erfuhren wir, dass Graf Stubenberg Schloss Wieden,
wo sich unsere Mostkeller befanden, verkaufen wollte. Das Schloss
wäre auch schon im Krieg zu verkaufen gewesen, doch damals woll-
te es niemand haben. Das Gebäude war, wie fotografisch belegt ist,
abbruchreif und es wohnte sozusagen das schlimmste Gesindel
von Kapfenberg in den heruntergekommenen Behausungen. 36
Mieter bezahlten zusammen gerade einmal 480 Schilling an Miete.
Papa ließ die Nachricht vom möglichen Verkauf aber keine Ruhe
und so fuhr er hinunter zum Grafen nach Gutenberg bei Weiz.
Dieser beteuerte ihm, es war zwar von einem Verkauf die Rede
gewesen, aber das Haus bedeute für seine Familie doch so viel,
es sei die Geburtsstätte seines Vaters und er bringe es nicht übers
Herz, dieses traditionsreiche Gebäude zu verkaufen.
Einige Tage später – Papa war damals Gemeinderat und Landes-
kammerrat – flatterte uns die Einladung zur nächsten Gemeinde-
ratssitzung samt Tagesordnung ins Haus. Und darin war unter Punkt
11 oder 12 schwarz auf weiß zu lesen: „Ankauf sämtlicher Stubenber-
gischer Talgründe um den Betrag von 2,1 Millionen Schilling.“ Papa
konnte gar nicht genug staunen, wie das möglich war. Er hätte nie im
Traum gedacht, dass ihm der Graf mitten ins Gesicht lügen würde.
In dieser misslichen Situation wandte sich Papa an den damali-
gen Bürgermeister Scheibengraf. Er erklärte, er sei Pächter, und
91
überhaupt sei der Betrag von 2,1 Millionen viel zu hoch. Es handle
sich um Überschwemmungsgebiet und man könne darauf nicht
bauen. Bei einem Lokalaugenschein musste der Bürgermeister
einsehen, dass der Sieber recht hatte, denn damals, zur Zeit der
Schneeschmelze, standen die Grundstücke, soweit man sehen
konnte, knietief unter Wasser.
Scheibengraf sagte daraufhin den Kauf
ab. Da machte sich der Graf, der das Geld
schon für den Ausbau einer Ruine verplant
hatte, auf den Weg nach Kapfenberg, um
mit Papa zu sprechen. Doch der herrsch-
te ihn an wie einen dummen Schüler: „Ich
habe Ihren Besitz gerettet, Sie hätten jetzt
kein einziges Grundstück mehr zu ver-
kaufen, hätten wir während des Krieges
nicht so viel abgeliefert und so gut gewirt-
schaftet. Ihr gesamter Grund wäre ohne
uns bereits verbaut. Dann wäre es Ihnen genauso so ergangen
wie dem Ramsauer. Der ist eingeschätzt worden, hat für den Qua-
dratmeter vielleicht 40 Pfennig bekommen. Die Nazi haben nicht
lang gefragt, was so ein Grund kostet. Sie haben den Preis fest-
gesetzt und fertig.Nur aufgrund unserer hohen Ablieferungen war
es möglich, dass Sie Ihren Grund erhalten haben. Und jetzt wollen
Sie mich der Gemeinde ausliefern? Unsere Gemeinde verfolgt doch
ein doppeltes Ziel: Erstens wollen sie den Grund haben, zweitens ei-
nen schwarzen Gemeinderat loswerden. Schämen Sie sich! Während
des ganzen Krieges sind Sie untätig geblieben, wenn man davon ab-
sieht, dass der junge Graf oft zu uns gekommen ist und bei uns ge-
jausnet hat. Dass Sie mich so belogen haben, werde ich nie verges-
sen!“ Und so ging es weiter. Aus dem Kauf wurde jedenfalls nichts.
Doch die Gemeinde brauchte Grundstücke und probierte es un-
verdrossen weiter. Also fuhr Papa hinunter zur Landesregierung.
Diese verfasste schließlich einen Brief: Es sei nicht abzusehen,
Das renovier te Schloss Wieden mit Burg 1977
92
wann der Grund zur Verbauung freigegeben werden könne. Er
sei ein Herzstück des landwirtschaftlichen Betriebes, weil sich die
hofnahen Weiden dort befanden.
Die Gemeinde versuchte es nun mit Diplomatie, und zugleich
brauchte Graf Stubenberg das Geld. Papa hielt mit seinen Funkti-
onen – 1948 war er auch kurze Zeit hindurch Landtagsabgeordne-
ter – dagegen und bekam Unterstützung durch die Landeskam-
mer und den Landeshauptmann.
Auf diese Weise erreichten wir schließlich, dass sie uns Schloss
Wieden 1952 auf drei Jahresraten anboten. Wir hatten ja auch kein
Geld für den Kauf. Wir mussten zuerst etwas verkaufenund beka-
men dann Schloss Wieden auf 3 Jahresraten. Als alles durchge-
führt war, mussten wir feststellen, dass der Grund hinter dem Haus
in Wirklichkeit einem ganz anderen Stubenberg gehörte, nicht un-
serem Verkäufer. Es handelte sich um Camillo Stubenberg in St.
Pölten, der gar nicht wusste, dass er in Kapfenberg Besitz hatte.
So blieb uns nichts anderes übrig, als auch noch diesen Grund zu er-
werben, weil unsere Hausmauer sonst zugleich die Grundgrenze ge-
wesen wäre. Wir hätten nicht einmal ums Haus herumgehen können.
Nach langem Hin und Her und nachdem Papa immer wieder bei
der Gemeinde vorgesprochen hatte, gelang es uns sogar noch,
die Grenze begradigen zu lassen und das fehlende Eck von der
Gemeinde zu kaufen. Jetzt besitzen wir mit dem Schloss und der
sonstigen verbauten Fläche hier gerade einmal zwei Hektar.
Zum Glück hatten wir bereits Winkl und St. Ruprecht, sonst wären
wir nicht durchgekommen. Die ganzen Stubenberg-Grundstücke
verkaufte der Graf schließlich scheibchenweise und bekam so
statt der 1,2 Millionen den hübschen Betrag von 5,5 Millionen,
mehr als das Doppelte. Dank der Hochwasserverbauung und
Mürzregulierung waren aus den Flächen ganz passable Bau-
gründe geworden. •
93
Schloss Wieden
Der Name Wieden leitet sich vom Wort widum (lat. Vidualicium) ab. Der Begrif f Widum bezeichnete im Mittelalter ursprünglich größere Ländereien, die der Gattin eines Adeligen, im Fall einer Witwenschaft als Versorgung zugedacht waren.
1739 Anstelle älterer Bauernhöfe errichtet Georg Graf von Stubenberg das heutige Schloss1750 Kaiserin Maria Theresia verbringt die Nacht vom 3. auf den 4. Juli auf Schloss Wieden1782 Auf seiner Reise nach Wien nächtigt hier am 20. März Papst Pius VI1848 Bis zu diesem Jahr ist das Schloss der Sitz des großen Landgerichts sowie der Bezirksherrschaft für das ganze Mürztal und die Hochschwabregion bis nach Mariazell1952 Josef Graf von Stubenberg verkauft das Schloss an Plazidus und Agathe Sieber
Maria Theresia im Schloss Wieden
Kaiserin Maria Theresia war nicht nur durch ihre Reformen prä-sent, sie kam auch persönlich nach Kapfenberg. Anlässlich ihrer Fahrt zum Militärlager nach Pettau reiste die Landesmutter durch Kapfenberg und nahm Quartier im Schloss Wieden. Am 2. Juli 1750 wurden die Landgerichte entlang der Straße von Wien über den Semmering nach Graz und Pettau angewiesen, alle Galgen zu entfernen oder zumindest die daran hängenden Leichen, die auf Pfählen steckenden Köpfe oder die an Räder gehefteten Gliedma-ßen abzunehmen. Man möge der "allerhöchst Kaiserin, bei ohne-dem gesegneten Leib" jede mögliche Aufregung ersparen.
Die Nacht vom 3. auf den 4. Juli 1750 verbrachte die Kaiserin als Gast der Herren von Stubenberg im Schloss Wieden. Sie reiste offensichtlich mit großem Gefolge, da sie Unmengen an Lebens-mittelvorräten herbeischaffen ließ und anordnete, dass:
Bey unserer höchsten Ankunft zu Neu-Wieden genugsamber Vor-rath von allen Victualien, an wohlgemästeten Oxen, Lämmer- und Schöpsenfleisch, gueten Fischen, schönen Krebsen, frischer Butter, Schmalz, Spöckh, Milch Meel, Grünes, allerhand Feder-Wildbräth, gemästete Kapäunls, Hüendl und was sonst immer nöthig und un-ser Controllorgan verlangen wirdet, zu bekommen seyn möge.
94
Unser FamilienalltagHedwig erzählt:
— In Kapfenberg
Bei uns zu Hause herrschte ein reges Leben und Treiben. Da un-
sere Eltern Most verkauften, gingen die Mostkunden nicht nur bei
uns ein und aus, sondern ließen sich auch nieder, ja verbrachten
den Großteil ihrer Freizeit bei uns. Unsere Küche war immer von
fremden Leuten belagert, von Kundschaften verschiedenster Art.
Auch zu den Mahlzeiten waren wir als Familie selten allein. Un-
sere Eltern führten ein offenes, gastfreundliches Haus, in dem es
selbstverständlich war, Gäste zu bewirten – nicht nur ausnahms-
weise, sondern praktisch jeden Tag. Außerdem galt es ja Knechte
und Dienstmädchen zu verköstigen, das waren allein über zehn
Personen.
In den mageren Zeiten musste sich Mama in der Kunst üben, aus
buchstäblich nichts etwas zu machen. Essen spielte bei uns zu
Hause eine wichtige Rolle. Unsere Mutter war eine sehr feinsin-
nige Köchin, die sich hervorragend aufs Würzen verstand. Die
Kochkenntnisse, die sie sich in der Bürgerschule angeeignet hat-
te, kamen nicht nur uns, sondern auch unseren zahllosen Gästen
und Bediensteten zugute.
Wie viel Arbeit das Kochen bereitete, kann man ermessen, wenn
man bedenkt, dass praktisch alles selbst gemacht und herge-
stellt werden musste. Eine Hausfrau begann damals spätestens
um zehn zu kochen, und selbst da hatte sie es eilig, wollte sie
bis zu Mittag fertig sein. Zuerst musste Feuer gemacht werden,
danach alles händisch – jeder Strudel- und Nockerlteig, alles. Es
galt, den großen Herd einzuheizen und auf die richtige Tempe-
ratur zu bringen, die Zutaten herzurichten und zum Teil aus dem
Garten zusammenzusuchen, Teige zu rühren oder zu kneten, Kin-
95
dernasen zu schnäuzen, Mostkunden zu bedienen und den einen
oder anderen Konflikt zu schlichten. Wie meine Mutter das alles
bewältigen konnte, ist mir heute unvorstellbar.
Bei uns wurde fünfmal am Tag gegessen. Zuerst kam das Früh-
stück, zu fast nachtschlafender Zeit. Die Knechte mussten ja sehr
früh aufstehen, speziell im Sommer, wenn gemäht wurde. In der
Früh gab es normalerweise Polentasterz. Der wird zubereitet, in-
dem man Polenta in kochendes Wasser einrührt. Diese Masse
stockt und wird mit einer Gabel zerrissen. Dann erhitzt man in
einer großen, gusseisernen Pfanne Schweineschmalz – gut ist es
auch, wenn Grammeln drin sind -, bis es rauchheiß ist. Das Fett
wird über die Polentamasse geschüttet, das Ganze noch weiter
mit der Gabel zerkleinert und ein bisschen geröstet. Also, die-
ser Sterz ist einfach köstlich! Dazu trank man Kaffee. Das ist ein
anhaltendes Essen, das hart arbeitende Menschen eine Zeitlang
wirklich satt macht.
Am Vormittag bekamen alle eine Jause mit Speck und Wurst, und
bald darauf gab es Mittagessen.
Dreimal pro Woche hatten wir zu Mittag Fleisch, ansonsten ka-
men Mehlspeisen wie Erdäpfelnudeln oder Strudel auf den Tisch.
Suppe gab es jeden Tag, die war wichtig für die Männer. Heute
noch essen die Männer in meiner Familie gern Suppe. Das ist ein
richtiges Männeressen. Im Anschluss an das Mittagessen wurde
gebetet.
Nach der Arbeit am Nachmittag, ungefähr um vier, war Jausen-
zeit. Die Melker kamen früher an die Reihe, denn sie mussten ja
gleich danach in den Stall.
Zum Abendessen um etwa sechs Uhr gab es traditionell gerös-
tete Erdäpfel und Kaffee. Man kann sich vorstellen, was es für die
„Küchenmannschaft“, sprich für Mama, bedeutete, die Zutaten
96
herbeizuschaffen, die Mahlzeiten auf den Tisch bzw. aufs Feld zu
bringen, die Berge von Geschirr abzuwaschen, die dabei anfielen,
und währenddessen ständig die Milch- und Mostkunden zu be-
treuen, die Spuren der erdigen Männerschuhe vom Küchenboden
zu beseitigen, als Klagemauer zu dienen und zusätzlich Personal,
Kinder und Zaungäste zu dirigieren und im Auge zu behalten. Von
Urlaub war natürlich keine Rede, und Ruhephasen gab es höchs-
tens an Sonntagen, und selbst da waren sie knapp bemessen.
Vor dem Mähen standen die Männer schon in aller Herrgottsfrü-
he auf, um die Sensen zu dengeln. Das Gras musste zum Mähen
taunass sein. In großen Gruppen zogen sie dann auf die Wiesen
hinaus. Unter den Knechten herrschte eine eigene Hierarchie.
Es gab Witzbolde und „Grantscherm“, und jeder einzelne hatte
seinen Platz. Es war genau festgelegt, wer jeweils der Erste war.
Bei uns wurde sehr darauf geachtet, dass die Knechte immer gut
und reichlich zu essen bekamen. Wir unterschieden uns darin
stark von den steirischen Bauern, die als recht kluppig galten. Der
Grund war natürlich auch eine gewisse Armut, doch das kann
nicht alles gewesen sein. Schließlich herrschte auch bei uns nicht
gerade Reichtum, aber die Knechte hatten immer Vorrang, auch
vor uns Kindern. Sie mussten zuerst versorgt werden.
Die Küche meiner Mutter war bei den Dienstboten sehr beliebt.
Ihr bestes Gericht waren ihre Leberknödel. Die waren weithin be-
rühmt. Es gab ja damals nicht viel: Neben Fleisch, Mehl und Eiern
hatte man Zwiebeln, aber auch nicht unbeschränkt, dann Thymi-
an, Majoran, Salz, Pfeffer und Zucker, von dem in der damaligen
Küche allerdings wenig verwendet wurde. Man zuckerte eigentlich
nichts außer den Mehlspeisen. Zugleich gab es hervorragende
Mehlspeisen, in denen praktisch kein Zucker war. So machte etwa
Maria, ein Dienstmädchen aus Osttirol, das in den frühen sechzi-
ger Jahren eine Zeitlang bei uns war, Marmeladentascherln aus
Mehl, die in Schweineschmalz herausgebacken wurden. Gefüllt
waren sie mit schwarzer Ribiselmarmelade. Diese Tascherln wa-
97
ren derart gut, dass die meisten anderen Mehlspeisen dagegen
verblassten. Bei uns kam jeden Samstag und Sonntag ein Gu-
gelhupf auf den Tisch, außerdem Tascherln mit unterschiedlichen
Füllungen, Zimtschnecken oder gebackene Mäuse. Irgendetwas
Süßes machte Mama immer, sehr oft aus Germteig.
Einmal passierte es ihr, dass sie versehentlich Essig zum Germteig
gab, ich weiß nicht mehr, anstelle von was. Sie war zuerst ganz
besorgt, weil sie nicht wusste, was aus diesem Teig werden soll-
te. Ihn wegzuwerfen, kam nicht in Frage. Man durf te mit Essen
auf keinen Fall „wüsten“, also verschwenderisch umgehen, dafür
war es zu kostbar. Interessanterweise entpuppte sich gerade die-
ser Germteig aber als der beste aller Zeiten: Er war ungeheuer
feinporig. Seit dieser Zeit wurde der Germteig bei uns immer mit
Essig gemacht!
Auch Semmeln gab es bei uns öfter. In der ersten Zeit wurde das
Brot ja noch daheim gebacken, aber das erwies sich bald als zu
zeitaufwändig und zu kompliziert. Danach kauften wir unser Brot
beim Bäcker. Deshalb hatten wir häufig Semmeln, zum Beispiel
zum Erdäpfelgulasch oder wenn Besuch kam, denn das Weißge-
bäck galt als ein gewisser Luxus. Und so standen natürlich auch
Semmelknödel öfter auf dem Speiseplan.
Bei uns wurde regelmäßig Gemüse gekocht, damals keine Selbst-
verständlichkeit. Mama liebte es, und man kocht ja erfahrungsge-
mäß das, was man selbst gerne isst. Die Knechte hatten mit dem
Gemüse allerdings keine Freude. „Das fressen die Kühe“, sagten
sie. Aber Mama verstand es, ihnen doch so manches gesunde
Grünzeug unterzujubeln. Karfiol, grüne Bohnen, Sauerkraut...
Meine Mutter machte ein sagenhaftes gedünstetes bayerisches
Süßkraut. Die Leibspeise unseres Vaters waren Schweinsbraten
und „Hafaloab“. „So gute Hafaloab bekommt man nirgends“,
pflegte er zu sagen. Mit diesem leicht irreführenden vorarlbergi-
schen Wort wurden große Polentanocken bezeichnet, die mit dem
98
Schweinsbraten mitgeschmort wurden, bis sie vollgesoffen wa-
ren mit Fett und Bratensaft und eine Kruste bekamen. Dann erst
waren sie richtig gut. Diese Nocken, eine Vorarlberger Spezialität
übrigens, waren sein Ein und Alles. Er kam ja weit herum, aber
seine heimatlichen Hafaloab waren ihm heilig. Die Kinder, die zu
uns kamen, kannten dieses Gericht nicht. „Was esst ihr denn da?“
fragen sie uns. „Türkensterznockerln?“
Ein weiteres typisches Essen waren Käsespätzle, die vor allem auf
den Tisch kamen, wenn die Vorarlberger Verwandtschaft Käse
mitbrachte. Dazu wurde Apfelmus gegessen, ein Brauch, der in
steirischen Breiten völlig unbekannt war.
Vieles wurde aus Erdäpfelteig zubereitet, und auch Strudel beka-
men wir oft. Mama machte zum Beispiel zwei verschiedene Sor-
ten Grießsuppe, eine dunkle und eine helle, die sie immer fein
würzte, unter anderem mit Pfeffer. Ich mochte nur zuhause essen.
Woanders schmeckte es mir nicht.
Nicht nur im Ort, auch in der Großfamilie waren wir Mittelpunkt
und Anlaufstelle. Alle Verwandten, die aus Vorarlberg kamen,
aber auch die Mitglieder der erweiterten Familie aus der Steier-
mark, trafen sich bei uns.
99
— Die lästige Nachmittagsjause
Im Sommer, wenn auf dem Feld gearbeitet wurde, mussten wir
den Leuten die Jause bringen. Dort, wo heute der Lidl steht, waren
damals unsere Erdäpfeläcker und ein großer Stadel. Wir hatten
oft 30 Tagwerker, meistens volksdeutsche Frauen. Sie verdienten
sich mit der Feldarbeit eine kleine Zubuße zum kargen Lohn ihrer
Männer. Zusätzlich bekamen sie die Milch günstiger. Deshalb ka-
men sie immer gern zu uns.
Für mich war das „Jausenführen“ der absolute Gräuel: Schon als
Kind vertrug ich die Hitze nur schlecht. Meine Aufgabe war es,
dafür zu sorgen, dass die Knechte um halb vier pünktlich etwas
zu essen und zu trinken bekamen. Dazu musste ich schon um
zwei Uhr von zu Hause aufbrechen. Bis zum Feld hatte ich es weit
mit dem randvollen Leiterwagen – eine ganze Pitsche Most und
Jause für alle! Über den Frauenriegel ging es spürbar bergauf.
Außerdem herrschte um diese Zeit starker Schichtbetrieb und auf
der Straße waren viele Leute. Am frühen Nachmittag hatte die
herunterbrennende Sonne den Asphalt aufgeweicht, so dass der
Leiterwagen immer wieder stecken blieb. Ich musste sehr stark
ziehen und schwitzte furchtbar. Diese Hitze! Ich hasste es, mit der
Jause zu gehen. Meine Brüder halfen auf dem Feld mit und ich
musste für die Verpflegung sorgen. Hatte ich mein Ziel endlich
erreicht, war mir der Appetit gründlich vergangen, und ich ver-
zichtete auf die mir zustehende Jause.
100
Kühe hüten
Wenn mein Vater, der sonst immer laut und kräftig redete, in aller Frühe ganz leise an mein Bett geschlichen kam und mit freundlicher, lieblicher Stimme säuselte: „Aufstehen, Mädi, Kühe halten!“, wusste ich, was es geschlagen hatte. Ich musste in den sauren Apfel beißen, da gab es keine Widerrede.
Aber ich haderte mit meinem Schicksal: Es galt 60 Kühe und ei-nen Stier zu hüten zwischen Bundesstraße und Mürz, wobei die Bundesstraße nicht abgezäunt war, und auch zur Mürz hin war das Gelände offen. In aller Früh barfuß auf der taunassen Wiese, die im Herbst eiskalt war... Gummistiefel hatte ich nicht, und die Alltagsschuhe waren zu teuer für diese schmutzige Arbeit. Noch dazu wussten die Kühe genau, dass in den angrenzenden Gär-ten Leckerbissen wie zum Beispiel Kohlköpfe zu holen waren, und strebten mit einem entsprechenden Eifer in diese Richtung. Auch die Straße hatte eine starke Anziehungskraft auf sie. Die Wiese war groß, und ich musste die ganze Zeit hinter den Kühen her rennen. Trotzdem war mir of t so kalt, dass ich mit meinen bloßen Füßen in eine warme Kuhflade trat, um mich wenigstens ein klei-nes bisschen aufzuwärmen.
Romantisch veranlagt wie ich war, pflückte ich immer die spärli-chen auf der Wiese verbliebenen Blumen. Ich bereitete ihnen ein Grab, damit sie besser über den Winter kämen, oder ich sang, ich kannte ja viele Lieder. Und sehnsüchtig wartete ich auf unseren Knecht Sepp, der irgendwann am Vormittag kam und die Kühe abholte. Die Stunden vergingen wie in Zeitlupe!
Ich verstehe nicht, warum mein Bruder Herbert sagt, das Kühe hüten sei lustig gewesen. Für mich war es alles andere als das. Rückblickend muss ich aber mit Stolz sagen: Kein einziges Mal sind mir die Kühe durchgebrannt! Naja, außer dass sie von Zeit zu Zeit die Gärten heimsuchten…
101
— Feierabend
Die Arbeit endete ungefähr um halb sieben, je nachdem, was zu
tun war. Nur wenn sich ein Gewitter ankündigte, musste alles auf
die Wiese, ganz gleich zu welcher Tageszeit, denn es war unbe-
dingt notwendig, das Heu bei trockenem Wetter einzubringen.
Wer abends Lust hatte, setzte sich vors Haus, um auf der Haus-
bank das Tagesgeschehen zu bereden. Oft kam Papa noch um
zehn Uhr am Abend, im Stockfinsteren, auf eine Idee: „Mädi“,
sagte er dann, „geh und brock mir ein Schüsserl Ribisel!“ oder
„Mach mir noch eine Schüssel Salat!“ Widerrede gab es keine,
und ich erfüllte ihm seinen Wunsch. Meine Freude über diese Auf-
gaben hielt sich allerdings in Grenzen.
Ganz besonders schön war es an den Winterabenden. Nach dem
Essen gingen wir immer in das Zimmer, in dem die Dienstboten
aßen. Dort wurde vom Leben und von der Vergangenheit geredet.
Wir Kinder hörten den Gesprächen aufmerksam zu. Was da ge-
redet wurde, war für uns hoch interessant und wir erfuhren, wie
verschieden sich das Leben für jeden einzelnen anfühlte.
Als eingefleischte Leseratte lebte ich immer ein bisschen gefähr-
lich. Papa schätzte meine Vorliebe für Bücher gar nicht, und wenn
er mich lesend antraf, sagte er immer vorwurfsvoll: „Sie stiert scho
wieder in a Buach eini!“ Ich hörte ihn kein einziges Mal sagen: „Sie
liest“. So versteckte ich mich nach Möglichkeit in einem schumm-
rigen Winkerl zwischen Schubladkasten und Sägespäneofen. Der
Platz war eng, aber gut geschützt. Wenn Papa den Raum betrat,
sah er mich nicht gleich. Erst wenn er weiter ins Zimmer vordrang
und sich dann umdrehte, war ich ertappt. Sobald er mich lesen
sah, fiel ihm gleich eine Arbeit ein für mich.
102
Was das Lesen anbelangte, hatte ich aber zum Glück einen
Schutzengel in Gestalt von Mama. Natürlich musste ich viel arbei-
ten müssen im Vergleich zu dem, was heute die Kinder tun – Tisch
decken und ähnliche Dinge. Vor allem im Sommer war ich schlecht
dran! Da hieß es die ganze Zeit Jause austragen und führen. Aber
sonst konnte ich meine Nischen doch relativ gut verteidigen.
„ Im Osterhasenland“ - Lieblingsbuch von Hedwig
Il l lustration aus dem „Osterhasenland“
103
Mein erstes Buch
Zu Hause las ich schon mit sieben Jahren jeden Tag die Tages-zeitung und den Fortsetzungsroman, so lesehungrig war ich. Das war auch der Grund, warum ich in der Schule so gut war. Ich blätterte immer weit voraus, egal ob im Lesebuch oder im Re-ligionsbuch. Das erste Buch, das ich in die Hände bekam, war mein Lesebuch. Das ist bis heute mein Heiliges Buch, das für mich gleich nach der Bibel kommt.
Aber mein erstes richtiges Buch war das Osterhasenbuch. Zu uns kam manchmal die alte Frau Schlagbauer, die uns die Zeitschrif t „Stadt Gottes“ brachte. Einmal hatte sie etwas ganz Besonderes mit: Das Osterhasenbuch von Erna Maria Waldhof, herausgege-ben von den Steyler Missionaren! Mit seinem matt schimmern-den, bunt gestalteten Einband lag es, nach frisch bedrucktem Papier duftend, vor ihr auf dem Tisch. Ich spürte, wie sich eine ungeheure Sehnsucht meiner bemächtigte. In unserer Familie war es undenkbar, um etwas zu betteln, man hätte sich lieber auf die Zunge gebissen. Und natürlich war Mama auch immer knapp bei Kasse. Geld war Mangelware. Aber in diesem Fall konnte ich nicht anders: „Mama!“, hauchte ich, „dieses Buch hätte ich sooo gern!“ Ich getraute mich kaum zu atmen. Und wirklich: Mama hatte Erbarmen! Sie kaufte mir das Buch. Ich konnte es gar nicht fassen. Kein Kind kann je glücklicher sein als ich es war, als ich diesen Schatz in die Hand gedrückt bekam. Man kann es nicht anders sagen: Ich fraß das Buch. Ich las es hundert, ja vielleicht tausend Mal. Ich vertief te mich in die Geschichten, ich pauste die Bilder ab, ich lebte mit dem Buch. Später las ich es ungezählte Male meinen Kindern und Enkelkindern vor. Das Osterhasenbuch war mein Traum, und ich liebe es heute noch.
104
— Verwandtenbesuch
Schön war es auch immer, wenn Besuch angesagt war. Wir krie-
gen Besuch, hieß es! Das war für uns eine große Freude. Tante
Rosa, Onkel Seppel oder andere Verwandte aus Vorarlberg... wir
fanden diese Anlässe wunderbar. Besonders mochten wir Tante
Rosa, die kinderlose Schwester unserer Mutter, die uns mehre-
re Winter Gesellschaft leistete. 1947 kam sie zum ersten Mal. Ei-
gentlich war sie schon für Jänner 1946 angesagt gewesen, aber
damals stimmte irgendetwas mit ihrem Stempel nicht, und so
musste sie in Mandling an der Grenze zwischen Salzburg und
Steiermark umkehren. Damals war ja noch Besatzungszeit. Beim
nächsten Mal klappte es aber, und in den folgenden Jahren ver-
brachte sie jeweils einige Monate bei uns. Wenn Tante Rosa bei
uns war, nähte sie Pantoffeln aus Stoff, richtig professionell, sie
hatten sogar eine Sohle. Aber auch andere Verwandte aus Wol-
furt besuchten uns oft. Das war für unsere Mutter, die in Kap-
fenberg ja keine persönlichen Beziehungen knüpfte, immer eine
unendliche Freude. •
105
106
107
Hedwigs Erinnerungen—
Eine meiner schönsten Erinnerungen ist, wie wir nach dem Aus-
graben der Erdäpfel auf dem Leiterwagen, der mit den vollen Sä-
cken beladen war, in der Abenddämmerung nach Hause fuhren.
Die Pferde zockelten gemächlich vor sich hin, wir hatten Fackeln
auf dem Wagen. Überall roch es nach Erdäpfelfeuer, es war eine
herbstliche Stimmung, ein Duft, den ich mein Leben lang nicht ver-
gessen werde. Um diese Jahreszeit war es um fünf schon dunkel.
Ebenso unvergesslich ist mir eine Begebenheit, als mein Vater in
der Kriegszeit einmal zu einer Luftschutzinformation musste. Ich
begleitete ihn - warum, weiß ich nicht mehr. Es hatte geschneit,
und wir gingen die menschenleere, verschneite Straße entlang.
An der Seite meines Vaters fühlte ich mich wie in Abrahams Schoß.
In dieser weißen Stille neben dem großen, starken Papa zu ge-
hen, der weiche, frische Schnee... wir unterhielten uns nicht groß,
aber dieses Nach Hause Wandern machte einen unvergesslichen
Eindruck auf mich.
108
Schule— Volksschule
Der Tag meiner Schuleinschreibung war für mich einer der glück-
lichsten Tage meines Lebens. Oh happy day! Dieser Jubelruf
kommt mir in den Sinn, wenn ich an diesen Tag zurückdenke. Ich
kann mich dunkel erinnern, dass es mein Bruder Richard war, der
mit mir zur Schuleinschreibung ging, oder vielleicht war es auch
das Dienstmädchen.
Nach meinen ersten Jahren, in denen ich über weite Strecken „in
Aufbewahrung“ bei alten Frauen gewesen war, empfand ich die
Schule geradezu als Tor zum Himmel. Etwas Aufregenderes hatte
ich noch nie erlebt! Für mich konnte es nichts Schöneres geben.
Ich ging mit einer solchen Begeiste-
rung in die Schule! Der Name meiner
Lehrerin, Frau Brunner, hatte durch
das Attribut „Fräulein“ die gebotene
Bedeutungsschwere. Mein Lesebuch
aus der ersten Klasse war in Kurrent-
schrif t gehalten und mit kunstvollen
Zeichnungen verziert, die mich, die
ich in einer bilderlosen Umgebung
aufwuchs, faszinierten.
Fräulein Brunner, die beste Lehrerin der Welt
109
In dem Buch sieht man zum Beispiel, wie die
Kinder angezogen waren. Man hatte neben der
Alltagskleidung ein Schul- und ein Kirchenge-
wand. Mädchen trugen in der Schule Schürze.
Im Sommer gingen die Kinder oft barfuß. Ich er-
innere mich, dass ich eigentlich immer Schuhe
anhatte. Bei meinem Bruder Richard war das
anders: Er zog sich die Schuhe meistens im Hof
hinterm Haus aus und ging barfuß zur Schule.
Kurz bevor er nach Hause kam, zog er die Schu-
he wieder an. Meine Mutter sah das gar nicht
gern. Sie achtete immer sehr auf die Form, wie
sie es von Vorarlberg her gewöhnt war.
Die erste Klasse war für mich etwas so über-
wältigend Schönes, dass ich gar nicht genug
bekommen konnte. Wie ein Schwamm saugte
ich alles in mich ein.
Noch nie zuvor hatte uns jemand
Geschichten erzählt. Das war et-
was vollkommen Neues für mich.
Dass es so etwas Herrliches gab!
Mein Lesebuch, das ich gefühlte
tausend Mal las, kannte ich in-
und auswendig. Das Religions-
buch ebenfalls. Wir hatten keine
Tafeln mehr, sondern bereits Hef-
te. Ich kam 1937 in die Schule, mit
gerade sechs Jahren. Die Kinder
unmittelbar vor uns hatten noch
Tafeln und Grif fel.
Lesebuch Weihnachts-il lustration
Nazi-Nachtrag im Lesebuch: Als die Nazi
an die Macht kamen, wurde in unser schönes
Lesebuch ganz hinten noch dieses Blat t ein-
gefügt, um uns auf die neuen Zeiten einzu-
stimmen
Lesebuch Cover
110
Ich lernte in Windeseile lesen, denn ich übte ja unermüdlich.
Nichts tat ich lieber. In schulischen Dingen waren wir völlig auf
uns allein gestellt. Unsere Mutter hatte für so etwas keine Zeit. Sie
war über ihre Kräfte hinaus belastet: Zehn Knechte, ein Dienst-
mädchen, vier Kinder, die vielen Kundschaften und all die frem-
den Leute in unserer Küche nahmen sie so in Anspruch, dass sie
kaum zum Atmen kam.
So mussten wir ganz allein zurechtkommen. Am Abend konnte ich
den nächsten Schultag kaum erwarten. So schön war die Schule
für mich. Unbeschreiblich schön.
Am Ende des ersten Schuljahres schrieben wir einen Aufsatz. Das
Thema habe ich vergessen, aber ich weiß noch, dass mein Auf-
satz in der ganzen Schule herumgereicht wurde, weil er so gut
gelungen war.
Leider war nur das erste Schuljahr so schön. Die restlichen drei
Volksschuljahre waren eine einzige Enttäuschung. In der zweiten
Klasse war ich noch in Hafendorf, aber danach wurde ich der
Volksschule Kapfenberg Stadt zugeteilt. Das war das Widerwär-
tigste, was mir passieren konnte.
Vor dem Anschluss war Hafendorf eine eigene Katastralgemein-
de. 1938 erfolgte die Eingemeindung nach Kapfenberg, und wir
mussten in die dortige Schule, direkt neben der Mürz. In der drit-
ten Klasse bekam ich als Lehrerin ein Fräulein Pinter, eine bissige
alte Jungfer. Ihr Unterricht war völlig uninspiriert und langweilig.
Die heimelige erste Klasse mit dem mollig warmen Ofen gegen
dieses zentralgeheizte Gebäude mit dem geistlosen Unterricht
tauschen zu müssen, war für mich wie ein Sturz aus dem Hoch-
haus. Aber damit nicht genug: In der vierten Klasse kam ich vom
Regen unter die Traufe. Unsere Lehrerin, eine Frau Masser, war
glühende Nationalsozialistin. Bei ihr erlebte ich am eigenen Leib,
was Gehirnwäsche ist.
111
Die Hitlerjugend veranstaltete ihre Appelle immer ausgerech-
net auf dem Kirchplatz. Die Posaunen und Trommeln waren
so laut, dass man in der Kirche nicht einmal mehr die Orgel
hören konnte. Wir mussten mit unserem Vater durch die Reihen
der Hitlerjugend hindurch in die Kirche gehen. Er war abso-
lut dagegen, dass wir uns diesem Verein anschlossen – eine
Haltung, die uns Kinder in allerlei unangenehme Situationen
brachte.
Nachdem ich am Sonntag mit meinem Papa durch die Appell-
reihen zur Kirche hatte gehen müssen, bekam ich am Montag in
der Schule postwendend Ärger mit Lehrerin Masser. Vor der gan-
zen Klasse fragte sie mich, warum ich nicht beim Appell gewesen
sei und wer mich denn beeinflussen würde. Ich weiß zwar nicht
mehr, was ich auf diese inquisitorischen Fragen antwortete, kann
mich aber genau erinnern, wie ich diese peinliche montägliche
Befragung hasste.
Ganz ließen sich die Appelle aber nicht vermeiden. Manchmal
wurde man einfach abgeholt, und dann musste man gehen.
Ich erinnere mich übrigens, dass sie gar nicht so schlecht ge-
f ielen. Dabei wurde viel gesungen, und das machte mir Freu-
de. Die Texte der militärischen Lieder verstand ich ohnehin
nicht.
Meinen Bruder Richard versteckte sich bei diesen Anlässen im-
mer. Er verübelte es den Nazi, dass sie unseren Papa gleich nach
dem Anschluss im 38er Jahr eingesperrt hatten, und ließ sich
weder durch ihre Schmeicheleien noch durch ihre Schmähungen
umstimmen.
So waren wir schon in jungen Jahren mit dieser Gehirnwäsche
konfrontiert. In der Schule waren die Nazi-Parolen unser tägliches
Brot. Die meisten Lehrer waren ja Nazi.
112
Vater unser, der du bist, der die alten Weiber frisst!
Der frühe Winter brachte eine böse Gefahr mit sich: den Krampus! Den Nikolaus bekamen wir in unserer Kinderzeit nur ein einziges Mal zu Gesicht, und auch da brachte er keine Geschenke. Aller-dings fanden wir am nächsten Tag einen Teller mit einer Orange, einer kleinen Bensdorp-Schokolade und ein paar Nüssen und Stollwerck.
Der gefürchtetste Krampus war der Rotsohler. Dieser Name wies darauf hin, dass er aus dem Gebiet um die Veitsch kam, das Rotsohl genannt wird. Dass man ihn „Rozulla“ aussprach, unter-strich seine Gefährlichkeit. Er suchte uns nur alle vier Jahre ein-mal heim, aber wehe, wenn er angesagt war! An dem bewussten Abend saßen wir auf dem großen Waschbrett in der Waschküche versammelt, und die Buben führten allerhand große Reden, wie sie es dem Krampus geben würden. Sie hätten die Birkenruten schon eingeweicht! Anstatt zu beten, würden sie dem Krampus ins Gesicht schleudern: „Vater unser, der du bist, der die alten Weiber frisst!“
Doch wenn es dann so weit war, schmolz ihr Mut wie Butter an der Sonne. Der Krampus fackelte nicht lang. Er stürzte auf die Buben zu und schrie sie an: „Beten!“ Da war nicht mehr viel zu hören von den forschen Reden. Kein Mauseloch wäre den Helden zu klein gewesen! Sie versteckten sich am liebsten hinter den Beinen der Knechte in der Stube, oder hinter den Besen.
113
— Kusinen aus Vorarlberg
Meine Kusinen Herlinde, Melitta und ich – die Sorger Elfi war auch
dabei – gingen immer in die Au. Dort waren Bänkchen, auf denen
wir uns niederließen. Sie dienten uns als Ausgangsstation für aller-
lei Raubzüge in die Gärten der Umgebung. Karotten, Kohlrabi und
alle guten Sachen, die uns so schmeckten. Herlinde kann sich heu-
te noch daran erinnern! Das war lustig! Von Mama bekamen wir
Liptauerbrote mit, und damals hatten wir auch schon Paradeiser.
Nach denen waren Herlinde und Melitta total verrückt! Sie leisteten
mir in diesem Jahr den ganzen Sommer über Gesellschaft.
— Hauptschule
In der Hauptschule besserte sich die Lage. Der Direktor, Franz
Schiessl hieß er, war zwar ein leidenschaftlicher Nazi, aber trotz-
dem ein guter Lehrer, der nie jemandem nahetrat, nur weil er
oder sie anderer Meinung war. Ich habe an ihn die besten Er-
innerungen. Außerdem hatte ich in der Hauptschule die beste
Deutschlehrerin aller Zeiten. Leonore Neuburger hieß sie, auch
sie eine überzeugte Nazi-Anhängerin. Ihr verdanke ich alles, was
ich jemals in Deutsch gelernt habe.
1942 wurden zwölf jährige Mädchen gezwungen, solche Aufsätze zu schreiben
114
Auch meine Freundin Else Langmann, die später meine Kinder
unterrichtete, schätzte Frau Neuburger sehr. Diese war nach ih-
rer Pensionierung noch einmal in die Schule zurückgekehrt. Es
herrschte ja Lehrermangel, da viele Männer eingerückt waren
und es auch noch nicht so viele weibliche Lehrkräfte gab.
Jedenfalls hatten wir eine wirklich hervorragende Deutschlehrerin,
und auch Direktor Schiessl nahm seine Arbeit sehr ernst. Ich weiß
noch, dass er uns am Abend häufig in die Schule bestellte, um mit
uns gemeinsam die Sterne zu betrachten. Er hatte ein Teleskop.
Diese astronomischen Übungen interessierten uns brennend.
Ich habe an meine Schulzeit viele gute Erinnerungen. Allerdings
wurde unsere Schule bereits im Herbst 1944, als ich in die vierte
Klasse ging, in ein Lazarett umgewandelt. Man hatte aus Luft-
schutzgründen eine Menge Stollen in den Schlossberg gegraben.
Dort fand noch ein paar Wochen lang ein notdürf tiger Unterricht
statt, der aber auf Dauer nicht zu halten war. Im Berginneren war
es furchtbar stickig, kalt und viel zu finster.
Nach einiger Zeit, im Oktober, wurde der Schulbetrieb dann voll-
ends abgeblasen. Die eingefleischten Nazi glaubten nach wie
vor, Hitler würde über eine Geheimwaffe verfügen, mit der er das
Kriegsgeschehen noch wenden könnte.
Aber zugleich sangen die Leute auch schon Lieder wie: „Es geht
alles vorüber, es geht alles vorbei – nach jedem Dezember kommt
wieder ein Mai.“ Man spürte schon den Untergang der Naziherr-
schaft und den bevorstehenden Aufbruch.
Die Schule endete also abrupt im September 1944, ohne dass wir ein
Abschlusszeugnis bekommen hätten, so dass uns ein volles Schul-
jahr fehlte. Später hieß es, dass diejenigen, die weiter zur Schule ge-
hen wollten, die vierte Klasse wiederholen müssten. Für alle anderen
war das Abschlusszeugnis einfach das Zeugnis der dritten Klasse.
115
In der zweiten vierten Klasse kam ich wieder mit meiner Freundin
Bibi zusammen, nachdem wir zuvor lange Zeit getrennt gewesen
waren. Bibi wohnte außerhalb von Kapfenberg in der Nähe von
Schloss Buchta. Diese zweite vierte Klasse war für mich die reinste
Offenbarung. Wir hatten hervorragende Lehrer, allen voran Hilde
Krainz. Neben ihrer Funktion als Direktorin unterrichtete sie auch
Deutsch und Geografie, Fächer, die mich besonders interessierten.
Wenn sie etwas außerhalb der Klasse zu tun hatte, setzte sie mich
als Vertretung ein, und so durfte ich öfter eine Literaturstunde halten.
Das war für mich der Himmel! Ich hatte eine unglaubliche Freude
an diesen Stunden. Frau Krainz hatte überhaupt das Talent, uns
zu begeistern. Dieser Frau werde ich dankbar sein, solange ich
lebe. Für sie und für Frau Neuburger bete ich täglich.
Ich hätte ja gerne die Lehrerbildungsanstalt besucht, aber das
hätte mein Vater nie erlaubt. Einmal kam Hilde Krainz zu uns nach
Hause, um meine Eltern zu überreden, mich Lehrerin werden zu
lassen. Mein Vater hörte sich ihre Rede in aller Freundlichkeit an,
aber nachdem sie das Haus verlassen hatte, sagte er zu mir:
„Was bruucht a Moatle? Kocha, näha – sie hüratet doch.“
Mein Bruder Helmut war da besser gestellt: Ihn schickte mein Va-
ter nach Wieselburg, damals die einzige landwirtschaftliche Mit-
telschule Österreichs. Mit ihm hatte er große Pläne. Er hatte sich
schon überlegt, was jeder seiner Buben einmal machen sollte.
Dabei ging er natürlich von damaligen Vorstellungen aus. Vor al-
lem sollten sie Bauern werden! Deshalb kaufte er kurz vor dem
Krieg auch vorsorglich den Betrieb in Ruprecht. Er hielt große Stü-
cke auf den Bauernstand. Seiner Meinung nach konnte es gar
nicht genug Bauern geben. Grund und Boden waren für meinen
Vater heilig und sind es auch für mich.
Mit mir hatte er nichts Besonderes vor – als „Moatle“ benötigte ich
seiner Meinung nach ja keine höhere Ausbildung. Ein vereinzeltes
116
Mädchen in der Bubenschar war ihm schon recht – die kleine
Freude gönnte er Mama. Doch später, im Alter – ich weiß noch, er
saß auf der Bank in unserer Küche am Hainweg – sagte er einmal
zu mir: „Jetzt weiß ich erst, dass du das einzige von meinen Kin-
dern bist, das mir nachgeraten ist.“
Dass ich als Kind mit Lob überhäuft wurde, kann ich wirklich nicht
sagen. Vielleicht sind mir die seltenen Komplimente, die ich be-
kam, deshalb noch so gut in Erinnerung. Wir hatten eine Bekann-
te, Frau Spörk, die während des Krieges immer bei uns nähte.
Damals musste ja alles geflickt und geändert werden. Sie kam
immer zu uns, um auf unserer Nähmaschine zu nähen. Eines
Tages sagte sie zu mir: „Aus dir wird noch einmal etwas!“ Das
beeindruckte mich zutiefst. Niemand sonst sagte je etwas so Lo-
bendes zu mir.
Auch für meine ausgezeichneten Zeugnisse bekam ich niemals
Anerkennung oder gar eine Belohnung. Gute Leistungen waren
selbstverständlich! Wenn man etwas Positives über sich selbst
erfahren wollte, musste man zwischen den Zeilen lesen. Manch-
mal erhaschte man das eine oder andere Lob, wenn die Eltern et-
was zu Freunden oder Bekannten sagten. Von Zeit zu Zeit konnte
man den Erwachsenen auch ein wenig Anerkennung entlocken.
Sehr selten wurde zum Beispiel angemerkt, dass ich gut in der
Schule sei, aber wirklich nur sehr selten.
Mein Vater schätzte an mir besonders das Wehrhaf te und mei-
ne verbale Ausdrucksfähigkeit. Die hatte ich nämlich von ihm.
Wenn er sich irgendwo erhob und das Wort ergrif f, hörten ihm
die Leute zu.
117
Der Vater
Ich strickte, als ich noch ein Spielkind war,Mit meiner Mutter fleißig Strümpf und Socken.Der Vater ließ mich volle sieben JahrIn einer engen Bauernschulbank hocken.
Schon früh genug hat seine rauhe HandMich abgewöhnt von Ball und PuppenwiegeEr wollte, dass mein wachsender VerstandSich vor der Zeit zu seiner Arbeit biege.
Und er belehrte mich: die WissenschaftIst Luxusware mit vermehrten Spesen.Der Mensch braucht nichts zu seiner eignen KraftAls Rechenkunst und Schreibekunst und Lesen.
So hielt und hemmte er in strenger ZuchtMir unerbittlich die gespannten FlügelDoch das Geducktsein stärkte ihre Wucht,Und einmal rissen sie sich los vom Zügel.
Aus der Begrenzung, die mich hat umstellt,Ward ich befreit und traumgleich fortgetragen.Ich schaute fernhin auf die kleine WeltUnd dachte oft: Was wird der Vater sagen?
Wie karg verhallte mir sein Spruch im Ohr,Wenn ich erwog die Vielfalt aller Dinge.Und immer kam mir triumphierend vor,Dass ich weit Größeres als er bezwinge.
Nun, wo mein Sinn gemach zur Umkehr taucht, Denk ich, von mancher Eitelkeit genesen:Der harte Vater ist im Recht gewesen.Ich hab mein Lebtag doch nicht mehr gebrauchtAls Rechenkunst und Schreibekunst und Lesen.
Paula Grogger, Gedichte, 1954
118
— Die Zeit im Heim
1945 im Sommer hielten Böhler-Ingenieure sporadisch Unterricht
im Schulhof. Schulräumlichkeiten gab es keine. Bibi und ich mach-
ten die Aufnahmeprüfung in die sogenannte „Entenschule“ in Graz,
eine Hauswirtschaftsschule, die mit Matura abschloss. Elli folgte
uns nach einem Jahr Handelsschule im darauffolgenden Herbst.
1946 kamen wir nach Graz. Nur wer diese Zeit selbst erlebt hat,
hat eine Vorstellung, wie es damals war. Den Leuten war es im
Krieg nicht so schlecht gegangen wie mittelbar danach. Es war
nichts mehr da, was man hätte verwalten können. In Graz war
es nicht anders. Wir kamen in ein Heim, in dem vorher Russen
stationiert gewesen waren bzw. gehaust hatten. Es war alles ka-
Meine Freundin Ell i
119
putt. Wir waren in einem großen Schlafsaal mit 17 Betten unter-
gebracht. Das heißt, von Betten kann man eigentlich nicht reden:
Die unterste Schicht bestand aus einem Bogen Packpapier, dann
folgten die früher üblichen dreiteiligen Matratzen. Zwei mussten
aber reichen - sie wurden der Länge nach aufgelegt. Gekrönt
wurde das Ganze von einer groben Rosshaardecke von der Art,
wie man sie früher für die Pferdefuhrwerke verwendete. Das war
es auch schon. Da alle sehr arm waren, konnte man nur selten
nachhause fahren, zumal ja auch verkehrsmäßig alles im Argen
lag. Der Erziehungsstil im Internat war streng - man spürte noch
den Hauch von Arbeitsdienst und militärischem Kommando. Es
gab alle Arten von Kontrollen, angefangen bei der Fingernägel-
kontrolle in der Früh. Das Essen? In der Früh bekamen wir einen
Heublumentee, da wurden irgendwelche Blüten und Stängel aus-
gekocht. Das Brot musste man mit dem Löffel essen, so bröcke-
lig war es. Ich war in einem relativ guten Ernährungszustand, so
dass ich die magere Küche ganz gut aushielt. Bei anderen war
das nicht so. Wir hatten schreckliches Heimweh.
Die Verpflegung war haarsträubend. Zu Mittag gab es eine Milch-
suppe auf der Grundlage von amerikanischer Trockenmilch, die
roch man schon Hunderte Meter entfernt. Das Heim befand sich
in der Plüddemanngasse in der Nähe des Schillerplatzes, und die
Schule war am Entenplatz. Mir kam es vor, als würde ich in dem
Augenblick, in dem ich aus dem Schultor trat, schon die ange-
brannte Milchsuppe aus dem Heim riechen. Angebrannte Milch
stinkt ja unvorstellbar.
Es gab Mädchen, die schrecklichen Hunger lit ten und bereit wa-
ren, für ein Stückchen Brot jede Dienstleistung zu erbringen. Ich
erinnere mich noch so gut an eine Kameradin aus Eisenerz, die
so lang, dünn und hungrig war. Sie tat mir furchtbar leid, aber ich
hatte ja auch nichts. Dazu kam, dass es so kurz nach dem Krieg
auch zuhause knapp war. Es gab in dieser Zeit nichts zu kaufen.
Wie andere überlebt haben, ich weiß es nicht.
120
Mir war aber nur eines wichtig: Ich schrieb mich in Graz sofort in
eine Bücherei ein, um mir Lesestoff zu besorgen. Das war alles,
was mich interessierte. Mit der Zeit lebten wir uns in Graz gut ein
und waren gern im Internat. Unsere Klassengemeinschaft wuchs
zusammen. Warmes Wasser gab es nur selten, und auch zu den
spärlichen Gelegenheiten kamen wir oft zu spät. Manche Inside-
rinnen wussten früher Bescheid als wir, und so gingen wir häufig
leer aus. Aber da die Nahrung so arm und einfach war, wurde
unsere Kleidung auch kaum schmutzig und roch viel weniger als
heute.
In der Vorratskammer unserer Schulküche gab es eine Kiste mit
Uralt-Teigwaren, die wir zum Kochen verwendeten. Die Makka-
roni mussten wir immer wie der Trompeter von Säckingen immer
durchblasen, denn sie enthielten allerlei Einwohner. Jede einzel-
ne! Aber daran ist niemand gestorben. Wir hatten unendlich viel
Spaß. Es war so, wie wir es heute in Afrika sehen: Die Ärmsten
sind oft die Fröhlichsten! Wir waren zu jedem Spaß aufgelegt und
hatten eine wunderbare Gemeinschaft. In der vierten Klasse fuh-
ren wir dann oft gar nicht nach Hause, auch wenn die Gelegen-
heit dazu bestand.
Aus den spärlichen Zutaten, die wir hatten, kochten wir die eigen-
tümlichsten Gerichte und unterhielten uns dabei königlich. Unse-
re Kochlehrerin wusste immer haargenau, wie viele Kekse eine
gewisse Menge Teig ergab. Alles musste immer strengstens und
genauestens abgewogen werden. Wir mussten genau so viele
Kekse abliefern, wie die Kochlehrerin aufgrund der Teigmenge
errechnet hatte. Das Problem war, dass sich jedes Mädchen am
Ende im Vorbeigehen mindestens einen Keks schnappte, und so
war die herzeigbare Ausbeute zum Schluss eher dürf tig. Unsere
Direktorin Dr. Korbelar war da aber zum Glück nicht so zimperlich.
Ich war eine relativ eifrige Schülerin, abgesehen von gewissen
Fächern wie Nähen oder ganz speziell Weißnähen - für mich der
121
absolute Alptraum. Aber alles andere mochte ich gern. Neben
der Schule befand sich die Kaffeefirma Hornig, wo immer Kaffee
geröstet wurde. Ich mochte damals zwar noch gar keinen Kaffee,
aber der Duft war herrlich. Wenn man aus der Schule kam oder
auch wenn ein Fenster offen stand, duftete alles nach frisch ge-
röstetem Kaffee.
Wir hatten eine sehr strenge Französischprofessorin, die zwar
nur wenig älter war als wir, aber eine absolute Respektperson.
Ihr Name war Frau Dr. Scheel. Sie hatte in Belgien studiert und
war sehr streng. Ich hatte allerdings die Gewohnheit, immer un-
ter der Bank zu lesen. Eines Tages schöpfte Dr. Scheel Verdacht
und erwischte mich. Ich hatte natürlich keine blasse Ahnung, wo-
von sie gerade sprach. Normalerweise war ich nicht schlecht in
Französisch, überhaupt wenn es ums Übersetzen ging. Aber die
Grammatik? Die zählte nicht zu meinen Stärken. Dr. Scheel tadelte
mich streng wegen meines mangelnden Pflichtbewusstseins und
meinte, wenn ich schon selbst nicht daran interessiert sei, etwas
zu lernen, solle ich es wenigstens für meine Eltern tun, die mich
nach Graz schickten und meine Ausbildung bezahlten. Um eine
Ausrede war ich nie verlegen, und so gab ich frech zurück: „Mei-
ne Eltern machen sich aus Noten gar nichts!“ Ich habe heute noch
im Ohr, wie die Feder auf dem Papier ihres Notenbüchleins kratz-
te, als sie die Fünf eintrug. Bei unseren Klassentreffen kommt die
Rede oft heute noch darauf, wie ich Frau Dr. Scheel ein Mundwerk
anhängte.
Wir hatten aber auch andere Lehrer, zum Beispiel Dr. Hansemann,
einen begnadeten Redner. Manche Lehrer gestalteten die Stun-
den so schön, dass es war wie im Märchen, ein Traum. Deutsch
war immer mein Lieblingsfach.
Die Matura verlief dann in Mathematik und Buchhaltung weni-
ger gut, ich musste mündlich noch einmal antreten. Aber Ende
gut, alles gut! Die Maturareise ging nach Kärnten, im Autobus. Ein
122
Tag musste natürlich genügen. Einmal machten wir einen Ausflug
nach Vorau, und im letzten Jahr gab es sogar einen Schulschikurs
in Mariazell! Leider war der Termin erst im März, als es schon
mehr Gras als Schnee gab. Ich hatte zuvor noch nie auf Skiern
gestanden, und die Ausrüstung ließ damals, im Jahr 1950, mehr
als zu wünschen übrig. So stürzte ich und brach mir den linken
Knöchel. An diesem Bruch laboriere ich noch heute, denn das
Mariazeller Krankenhaus war sagenhaft besetzt! Unser Kapfen-
berger Hausarzt, der ja auch nicht gerade an der Sorbonne stu-
diert hatte, lachte nur, als er den Gips sah, und meinte: „Meister
der Gipse!“ Aber dafür war er nachhaltig - ich spüre den Bruch
heute noch! Eine Zeitlang hat mir eine Achterschleife geholfen,
aber heute reicht das nicht mehr.
Wir veranstalten immer noch Klassentreffen. Alle sind genauso
geblieben, wie sie waren! Einige meiner damaligen Kolleginnen
sind schon gestorben, zwei leben im Heim, eine hat multiple Skle-
rose, eine andere Parkinson. Es gibt alle Arten von Schicksalen in
der Klasse, aber die alte Gemeinschaft bleibt aufrecht, solange
wir leben.
— Praxis auf der Rigi
Nach meiner Schulzeit in Graz stellte sich die Frage, was mich mit
meiner Ausbildung nun beginnen sollte. Da ergab sich die Gele-
genheit, in der Schweiz auf der Rigi im Grand Hotel als Hilfsköchin
anzuheuern. Gesagt, getan.
Mit einem riesigen Koffer bewaffnet trat ich mein erstes - und
genau genommen auch letztes – Dienstverhältnis an. Ich musste
alles selbst organisieren – die Zugreise, dann die Fahrt hinauf
auf die Rigi, die Formalitäten. Obwohl ich solche Dinge gar nicht
gewöhnt war, schaff te ich alles.
123
Die Arbeit im Hotel war alles andere als beschaulich. Es hieß fest
zupacken, und die Verpflegung war unter jeder Kritik. Schon zum
Frühstück bekamen wir einen unvorstellbaren Fraß. Das meiste
verschmähte ich. Dafür hielten wir uns heimlich schadlos an den
Köstlichkeiten, die es in der Küche so gab. Himbeeren aus dem
Wallis, Erdbeeren… zu Hause hatten wir keine Himbeeren. Das
waren höchstens Waldfrüchte. Unsere Beute organisierten wir
aus dem sogenannten „Garde-manger“, einem Ort, der seinen
Namen zu Unrecht trug, war er doch nach allen Seiten hin un-
dicht. Ich hatte Zugang zu diesem Hort der Genüsse, weil ich in
der Küche beschäftigt war. Meine Kollegen kooperierten im so-
genannten „Office“. Sie nahmen alle Speisen entgegen, die unbe-
rührt zurück kamen und von uns sofort konfisziert wurden.
Unsere Gruppe bestand aus zwei
Priesterstudenten, Candid und Franz,
und Marie-Therese, einer feinen und
sehr gläubigen Person. Ich bewunder-
te die Briefe, die sie von ihrer Mutter
bekam, weil sie so kultiviert und an-
spruchsvoll waren. An den Abenden
in unseren Zimmern ganz oben unter
dem Dach ließen wir es uns dann gut
gehen. Da breiteten wir alle unter dem
Tag gehamsterten Köstlichkeiten aus
und hielten uns schadlos. Unsere Ar-
beitgeber waren ja der Meinung, wir
bräuchten uns nicht aufzuregen we-
gen der gelbgrün schimmernden, halb
verfaulten Kartof feln, die uns serviert
wurden. Hatten wir nicht im Krieg Hun-
ger gelit ten? Ich sagte ihnen aber, dass wir einen solchen Fraß
auch in unseren schlimmsten Zeiten verschmäht hätten. Zum
Glück hatten wir ja eine Alternative! Aber das brauchten sie nicht
zu wissen.
Zeugnis Hotel Rigi-Kulm
124
In dem Hotel waren außer uns auch Italiener beschäftigt, die aus
sehr einfachen Verhältnissen stammten. Sie wurden furchtbar
schlecht behandelt, wie Tiere.
Am 6. August ist in der Schweiz Nationalfeiertag. Da ging es
hoch her auf der Rigi. Der Küchenchef war schon einige Zeit vor
dem großen Ereignis furchtbar nervös. Wir mussten draußen auf
der Wiese alles zusammenraffen, was wir an Zutaten fanden –
Schnittlauch, Kräuter, Knoblauch. Das ergab dann die sogenann-
te „Potage à la ménagère“. Wenn die Gäste die Entstehungsge-
schichte dieser feinen Suppe gekannt hätten, wären sie sicher
konsterniert gewesen. Damals wuchs auf der Rigi ja alles, kein
Vergleich zu heute. Die Aussicht ist immer noch schön, aber die
Natur? Traurig.
Im zweiten Jahr dauerte mein Aufenthalt auf der Rigi nur sehr
kurz. Ich sollte nämlich die vier Kinder des Hotelchefs hüten, und
diese Aussicht ließ mich so verzweifeln, dass ich Hals über Kopf
abreiste. So fand meine Karriere in der Gastronomie ein frühzei-
tiges Ende.
— Katholische Jugend
Die Zeit meiner Mitgliedschaft bei der katholischen Jugend war
eine lange, wunderschöne Zeit in meinem Leben. In der Nazizeit
war das Publikum in der Kirche ja eher dünn gesät, erst nach dem
Krieg wurde alles wieder aufgebaut. Wir hatten zwei junge Kap-
läne, Narnhofer und Stocker hießen sie, die die Jugend um sich
versammelten und viele Dinge mit uns veranstalteten. Da waren
zum Beispiel die wöchentlichen Heimstunden, in denen wir san-
gen und viele interessante Themen behandelten. Wir waren un-
gefähr 20 oder 30 Personen.
125
Später kam dann ein anderer Kaplan, der nachmalige Pfarrer
Plesnicar, der einen besonderen Draht zur Jugend hatte und un-
geheuer lustig war. Er hatte unzählige Witze auf Lager, sang mit
uns und hielt als begeisterter Bergsteiger einmal im Jahr eine
Bergwoche ab. Daran habe ich meine schönsten Jugenderinne-
rungen, und mir tun alle Kinder leid, die so etwas Schönes nicht
erleben dürfen. Wir waren glücklich, lustig und unbeschwert. Wir
spielten auch Theater. Wenn wir eine Aufführung hatten, war das
Werkshotel immer bis auf den letzten Platz voll! Ich weiß noch,
dass meine Kollegin Everl einmal eine Putzfrau spielte, die den
Text hatte: „Jeder kehr´ vor seiner eig´nen Tür, denn da liegt ge-
nug dafür!“ Da lachten die Leute laut, das gefiel ihnen. Ob sie den
Rat beherzigten, weiß ich aber nicht!
Die Bergwochen waren unvergleichlich. Wenn ich bedenke, was
man heute alles braucht zum Bergsteigen... Damals nahm man
einfach, was man hatte: einen Anorak und halt ein bisschen fes-
tere Schuhe. Wir waren zum Beispiel in den Niederen Tauern, im
Gesäuse und auch auf dem Traunstein. Billig musste es natürlich
hergehen. Unsere Ausgangsorte erreichten wir mit dem Zug, und
dann ging es los. Meistens übernachteten wir in Jugendherber-
gen oder auf Hütten. Die Aufsicht, die wir genossen, empfanden
wir gar nicht als Kontrolle. Wir sangen viel, eine geglückte Mi-
schung zwischen religiösen und weltlichen Liedern.
Das Lustige war, dass Kaplan Plesnicar vor der Bergwoche immer
bei uns zu Hause anrufen musste, ob ich mitfahren dürfe. Und da
war meistens Papa am Telefon. Der rief dann immer: „Agathle!
Darf ´s Mädi mitfahren?!“ Erst wenn Mama bejahte, stimmte auch
er zu. Ich fiel nämlich unter Mamas Ägide, und diese Zuständig-
keit wurde bei uns strikt eingehalten. Keiner pfuschte dem an-
deren ins Revier. Mama sagte jedes Mal ja, auch wenn sie nicht
immer begeistert war. Sie hätte mich ja auch durchaus zu Hause
brauchen können. Aber sie gönnte mir immer meinen Spaß. •
126
127
Herberts Erinnerungen— Drei Jahre und schon mit dabei
Meine ersten bewussten Eindrücke reichen ins Jahr 1936 zurück,
als wir unsere Obstpresse bekamen. Papa hatte sie in Kärnten, in
Pörtschach am Wörthersee, gekauft. Sie wurde in einem eigenen
Waggon mit der Bahn zu uns geschickt. Ich weiß, dass die Knech-
te sie mit dem Pferdegespann und dem Plateauwagen holten.
Dass ich als Dreijähriger schon mitfahren durf te, machte auf mich
einen solchen Eindruck, dass ich mich heute noch daran erinnere.
Diese Presse war so groß, dass man sie nicht auf einmal trans-
portieren konnte. Wir mussten also zweimal fahren, und ich saß
hinten auf dem Wagen. Für die Mosterei verantwortlich war unser
erster Knecht, Michl, ein sehr lebenstüchtiger Mann, der später
meine Kusine heiratete.
— Wilde Reiter
Aus dem Jahr 1937 ist mir ein unheimliches Erlebnis in Erinnerung
geblieben. Meine Schwester Hedwig, Mädi gerufen, ihre Freundin
Annerl und ich gingen ganz allein unten bei der Frauenwiese, wo
unser Pachtgrund lag, einen Weg entlang. Die heutige Werk-VI-
Straße war ja damals noch ein einfacher Fuhrwerksweg und galt
sogar für uns kleine Kinder als ungefährlich. Auf einmal kamen,
wie die wilde Jagd, zwei Reiter direkt auf uns zu galoppiert. Wir
waren uns sicher, sie würden uns jeden Augenblick niederreiten.
Doch unmittelbar vor dem Zusammenstoß schlugen sie plötzlich
einen Haken und rit ten in die Gegenrichtung davon. Wir erfuhren
nie, wer die beiden waren und was sie beabsichtigt hatten, doch
der Schreck saß uns noch lange in den Knochen.
128
Dass Papa 1938 eingesperrt wurde, habe ich atmosphärisch si-
cher mitbekommen, aber ich erinnere mich nicht daran. Innerhalb
der Familie und unter den Dienstboten herrschte, wie ich aus den
Erzählungen in der Familie weiß, große Verzweiflung und Aufre-
gung. Über solche ernsten Dinge wurde damals mit kleinen Kin-
dern nicht gesprochen, sie mussten sich auf alles ihren eigenen
Reim machen.
— Kindheitserinnerungen
Als Kind spielte ich sehr viel mit den anderen Kindern aus dem
Schloss und aus der Umgebung. Der Holzer Friedl, der Sandri
Burli – eigentlich Arthur -, der Zeidler Bruno, der Pichler Fritzi,
der Ecker Rudi, die Holzer Erika... das waren meine Freunde. Wie
spielten zum Beispiel „Der Kaiser schickt Soldaten aus“, „Schnei-
der, Schneider leih ma d‘Scher“ und natürlich Verstecken und Ab-
fangen. Besonders beliebt war das Schlangen ziehen, aber da
hatte ich einmal einen Unfall. Sechs, sieben Kinder liefen hinter-
einander. Vorne waren immer die Starken, die zogen die ganze
Schlange. In den Kurven entstanden da ganz schöne Fliehkräfte.
Einmal – ich war das letzte Kind in der Schlange – flog ich in ei-
ner Kurve hinaus. Es schleuderte mich weit weg, ich stürzte, und
schon spürte ich den stechenden Schmerz in meiner Schulter: Ich
hatte mir das Schlüsselbein gebrochen! Das war in der ersten
Klasse Volksschule. Dann wurde ich eingegipst und musste zwei
Wochen lang Gips tragen.
Im Winter hatten wir es besonders schön: In den Kriegsjahren,
1941 und 1942, gab es dicke Eisplatten bei uns am Hof. Darauf ru-
selten wir den ganzen Tag. Aus der Hochschwabsiedlung kamen
die Kinder herunter, und wir vergaßen die Zeit. Wir ruselten und
ruselten... Es war einfach herrlich. Damals hatten wir die wunder-
barste Unterhaltung, ohne dass es einen Groschen Geld kostete.
129
Wir hatten es einfach lustig, Geld spielte keine Rolle. Es war alles
so ungekünstelt, so ehrlich.
Als ich ungefähr sieben, acht Jahre alt war, musste ich beim
Heuen die Pferde füt tern und die Fliegen verscheuchen, damit
die Tiere ruhig stehen blieben. Da hieß es mitdenken. Ich war
immer voll dabei. Sobald der Wagen weiter fahren sollte, rief
Papa oben auf dem Fuhrwerk „Obacht!“ Die Männer auf dem
Wagen mussten nämlich aufpassen, dass sie nicht herunter-
fielen, wenn es plötzlich einen Ruck machte. Danach sagte ich
„Hüa!“, und es ging ein paar Meter vorwärts. Die Pferde konnte
ich damals schon selbst führen.
Der kleine Rossknecht, Johann Kumpitsch hieß er, mochte mich
gern. Ich erinnere mich gut, als er mir das erste Mal den Auf-
trag gab, den Wagen anzuhängen – also genau gesagt, zwei
Wägen zusammenzuhängen. Ich hat te eine eigene Ket te, die
ich schon vorsorglich aus der kleinen Hütte zu Hause mitge-
bracht hat te. Und dann hängte ich die Wägen zusammen, mit
meiner eigenen Ket te! Der Rossknecht fuhr mit dem Gespann,
und ich beobachtete mit stolzgeschwellter Brust, wie sich die
Ket te spannte und wieder lockerte... Das war meine Ket te, und
sie hielt.
Der Tag, an dem Onkel Seppl mit Herlinde und Melit ta im Juli
1943 auf Besuch kamen, war für mich ein ganz besonderer Tag.
Eine große Vorfreude! Aber vorher ging es zum Heuen. Papa
sagte: „Um vier am Nachmit tag kommt der Johann herein, und
dann spannen wir ein. Der Johann fährt mit den zwei Rössern,
und dir schirr t er den Lutz an. Er fährt mit dem einem Leiter-
wagen, und du fährst mit dem zweiten!“ Was das für mich für
ein wunderbares Gefühl war! Ich konnte es gar nicht erwarten.
Dann ging es die Werk VI-Straße hinaus! Stolzer als ich konnte
kein Kind sein. Ich strahlte wie die Sonne. Eine solche Freude!
Zehn Jahre alt war ich da.
130
— Wen kümmert schon die Schule?
1939 wurde ich eingeschult. Am 1. September war Kriegsbeginn,
am 9. September Schulbeginn. Unser damaliges Dienstmädchen
Resi ging mit mir in die Stadt zum Einschreiben. Das weiß ich noch.
Allerdings wurde ich nur am ersten Tag begleitet. Schon am zweiten
Tag musste ich mich allein zurechtfinden. Das war damals allge-
mein so üblich, niemand dachte sich groß etwas dabei. Anders als
meine Schwester besuchte ich nach der Eingemeindung nicht mehr
die Volksschule in Hafendorf, sondern bereits die in Kapfenberg.
Auf dem Rücken trug ich den sogenannten „Schulerpack“. Nicht
etwa, dass ich zum Schuleintritt eine neue Schultasche bekommen
hätte! Den Schulerpack hatte ich von meinem Bruder Richard ge-
erbt, der ihn bereits acht Jahre lang in Verwendung gehabt hatte.
Es gab sechs Noten, nämlich Sehr Gut, Gut, Befriedigend, Aus-
reichend, Mangelhaft und Nicht Genügend. Schon in der ersten
Klasse hatte ich in Heimatkunde einen Dreier. Das konnte mei-
ne Stimmung aber nicht trüben. In der zweiten Klasse waren wir
jede Menge Buben und insgesamt 57 Schüler! Schon am Ende
der ersten Klasse hatten wir gehört, dass viele Südtiroler nach
Kapfenberg gekommen waren. Die Deutschsprachigen wurden ja
von dort ausgesiedelt, und plötzlich hatten wir in meiner Klasse
drei Brüder aus Südtirol – Anton, Alois und Robert Auer. Zu meiner
Zeit saßen in den Klassen immer auch ältere Schüler, die schon
ein- oder mehrmals sitzengeblieben waren.
Meine Lehrerin in der drit ten Klasse, Margarethe Reiter, war mir
sehr sympathisch. Ich war damals in der Schule, die mich spä-
ter wenig kümmerte, gar nicht schlecht. Während ich im Unter-
richt saß, dachte ich aber meistens schon darüber nach, was am
Nachmittag daheim an landwirtschaftlichen Arbeiten anstand.
Dafür konnte ich mich wirklich begeistern.
131
— Das Leben daheim
Anders als meine Schwester hütete ich die Kühe mit großer
Freude. Das war für mich wirklich nicht schlimm! Aber eine an-
spruchsvolle Aufgabe für ein kleines Kind war es schon. Auch die
Jause führte ich gerne aus. Dazu engagierte ich meistens einen
Freund, Bruno, Friedl oder einen anderen. Gemeinsam vertrieben
wir uns die Zeit, so dass sie wie im Flug verging. Aber pünktlich
mussten wir schon sein! Ungefähr um halb vier war Jausenzeit.
Am schönsten fand ich es, dass sich nach der Arbeit alle hinsetz-
ten und jausneten. Der Most wurde ausgeschenkt, und man saß
beisammen und unterhielt sich. Das war sehr gemütlich.
Ganz besonders schöne Erinnerungen habe ich an die Winter-
abende. Nach dem Essen gingen wir immer in das Zimmer, in
dem die Dienstboten versammelt waren. Dort wurde geredet vom
Leben und von der Vergangenheit. Da hörten wir Kinder sehr gern
zu. Das Leben fühlt sich für jeden ganz anders an, so viel entnah-
men wir diesen Gesprächen.
Eine schöne Erinnerung habe ich auch daran, dass unser Knecht
Blas mir einmal auf einer Schießbude einen Hund schoss. Er
schoss gern, und zwar erfolgreich! Den Hund schenkte er mir.
Was hätte er mit einem Stoffhund auch anfangen sollen?
— Meine Träume
Als Kind wünschte ich mir sehnsüchtig Ski. Früher schrieben die
Kinder ja Wunschbriefe ans Christkind, und ich glaubte als Kind da-
ran, dass das Christkind durch das Fenster schweben und meinen
Brief abholen würde. Also vertraute ich meinen innigen Wunsch
dem Papier an und stellte den Brief aufrecht auf die Konsole über
132
der Vertäfelung beim Küchentisch. Da prangte er nun und wartete
darauf, abgeholt zu werden! Mein Freund Bruno Zeidler, der schon
vor mir zur Feder gegriffen hatte, meldete am nächsten Tag Voll-
zug. Sein Brief befand sich bereits an der richtigen Adresse. Und
meiner? Der stand noch immer unberührt auf der Konsole.
Jeden Morgen stürzte ich in die Küche – mein erster Blick galt
der Konsole. Dort stand mein Brief wie ein weißes Mahnmal
verlorener Träume. Mit der Zeit wurde ich richtig melancholisch.
Aber eines Morgens war er verschwunden! Endlich hatte ihn das
Christkind geholt! Und tatsächlich: Unter dem Baum lagen die
ersehnten Ski. Skischuhe gab es natürlich keine, man fuhr mit
den gewöhnlichen Schuhen, die der Osterhase bereits freundli-
cherweise beigesteuert hatte. Allerdings nur in der Fantasie! Wir
hatten natürlich vom Osterhasen gehört, in Vorarlberg kam der
angeblich, aber so sehr wir auch suchten und alles umdrehten,
Nest fanden wir keines.
Ich träumte immer davon, Lokomotivführer zu werden. Die Bahn
interessiert mich auch heute noch. Oft gehe ich hinauf zum Bahn-
hof, schaue mir die Schienen an, was für ein Baujahr, die Schwel-
len, die Waggons. Damals gab es auf jedem Zug mehrere Brem-
ser, die auf den Waggons eigene Hütterln hatten, die zirka so groß
waren wie ein Klo. Im Winter erlitten sie oft schwere Erfrierungen,
die Hütterln waren ja nicht zu erheizen auf den stundenlangen
Fahrten. In der Lok saß auf der rechten Seite der Lokomotivführer,
der bediente nur die Hebel, und neben ihm der Heizer. Der musste
mit kurzen Zwischenpausen ständig heizen. Das waren fürchterli-
che Arbeitsbedingungen: auf der einen Seite die Hitze neben der
Feuerung, auf der anderen die kalte Außenluft. Die Lokomotive war
ja damals nicht geschlossen, sondern an der Seite offen. An den
Stationen hielt der Lokomotivführer immer den Kopf hinaus, um zu
sehen, wann der Fahrdienstleiter das Zeichen gab. Er wartete, bis
der letzte Passagier eingestiegen war. Dann gab der Fahrdienst-
leiter mit seinem roten Signal das Zeichen zum Abfahren.
133
— Meine Firmung
Eine meiner schönsten Kindheitserinnerungen habe ich an den
Tag, an dem mir Helmut Matscheko, unser Hausfleischhauer, ver-
sprach, mit mir zur Firmung zu gehen. Ich hatte so eine riesige,
so eine ungeheure Freude! Schon der Tag, an dem er die Zusage
machte, war für mich ein Freudenfest.
Es wurde in der Familie ja schon eine Zeitlang darüber geredet,
dass in diesem Jahr meine Firmung anstünde, und es wurde
überlegt, wer mein Firmpate werden sollte. Normalerweise wur-
de für solche Fälle immer ein Onkel herangezogen. Doch als ei-
nes Sonntags nach der Kirche der Matscheko zu uns auf Besuch
kam, fragte ihn Papa, ob er mit mir zur Firmung gehen würde.
Der Angesprochene stimmte gleich zu. Dann wollte Papa wissen,
wohin er denn mit mir fahren würde? Das Gebräuchliche war da-
mals Graz, eventuell noch Mariazell. Aber mein zukünftiger Firm-
pate wischte diese Vorschläge gleich vom Tisch: „Na“, sagte er,
„mia foahn auf Wean!“ Mein Gott! Hatte ich eine Freude! Nach
Wien fahren! Mit dem Zug fahren! So weit fahren! Also! Vor mir tat
sich der Himmel auf.
Neben dem Tisch in der Küche, an dem wir
saßen, gab es eine hölzerne Fensterbank.
Dort hockte ich nun ständig, die Füße an-
gezogen, und schaute nur noch hinauf zum
Bahnhof. Wenn ein Zug vorbeibrauste, fuhr
ich im Geist mit nach Wien. Auf der Koh-
lenrutsche gab es eine Tafel mit allerhand
Aufschriften, und Wien stand auch dabei.
Der Matscheko verstand es so gut, mir
eine Freude zu machen! Vorher stellte er
134
schon ein Programm auf, was wir in Wien alles angehen würden.
Vorgesehen war unter anderem ein Besuch im Prater, von dem
ich ja keine Ahnung hatte. Ich dachte, dort würde irgendetwas
gebraten. Vom Watschenmann erzählte er mir auch. „Do muasst
aufpassn“, sagte er. „Der haut z´ruck aa!“ Spannend machte er es.
So eine Freude! Der Matscheko war genau der Richtige.
Der Rest der Familie kam auch mit auf die Reise, weil meine
Schwester Hedi in diesem Jahr ebenfalls gefirmt wurde. Nach
Wien durf te sie aber nur, weil der Matscheko mit mir fuhr, sonst
hätte sie mit Graz oder Mariazell Vorlieb nehmen müssen. In
Wien waren die restlichen Familienmitglieder aber woanders ein-
quartiert als ich.
Es war dann wirklich so schön, wie ich es mir erträumt hatte. Am
Pfingstfreitag, dem 11. Juni 1943, einen Tag nach meinem zehnten
Geburtstag, war es so weit. Um drei Uhr Nachmittag ging es los
mit dem Schnellzug. Ich habe noch den Widerhall im Ohr, den der
Zug auf der langen geraden Strecke bei Neunkirchen gab, wie er
da hinaus dampfte durch den Kiefernwald.
Um viertel acht kamen wir in Wien an, das weiß ich noch gut.
Ein Schwager vom Matscheko, bei dem wir untergebracht wer-
den sollten, holte uns vom Bahnhof ab. Gratzei hieß er. Mit seiner
Schnabelkappe erwartete er uns am Südbahnhof.
Die anderen Familienmitglieder fuhren in den sechzehnten Bezirk
in die Säulengasse, und für mich ging es in den neunten Bezirk in
die Alpengasse 2. Der Schwager wurde vom Matscheko Fritz-On-
kel gerufen, und seine Frau Mitzi-Tant. Bei dieser Familie schliefen
wir, und dort wurde auch gekocht und gegessen. Das waren or-
dentliche Leute, da gibt es nichts.
Der nächste Tag, der Pfingstsamstag, war zu meiner Enttäuschung
ein Regentag. Die Verwandten vom Matscheko hatten einen
135
Schrebergarten, zu dem fuhren wir hinaus mit der Tramway. Dort
hatten sie ein Gartenhütterl. Am Nachmittag ging es dann in den
Prater. So eine riesige Berg- und Talbahn! Uuuund mir wurde
schlecht! Zu allem Überfluss goss es wie aus Kübeln...
Am Abend besuchten wir dann ein Lokal, das wohl in der Nähe
vom Prater gewesen sein wird. Dort waren schon Soldaten in Uni-
form zu sehen, die offensichtlich auf Urlaub waren. Die beein-
druckten mich sehr. Nach dem Restaurant ging es bei strömen-
dem Regen nach Hause.
Aber der nächste Tag, der Pfingstsonntag, war ein herrlicher
Tag! Schon in der Früh weckte mich die strahlend helle Sonne.
Das stimmte mich erwartungsfroh und machte mir gleich gute
Laune! Wir fuhren zum Stephansdom, wo uns die anderen Fami-
lienmitglieder erwarteten. So viele Leute, und
Hunderte Firmlinge! Ich war tief beeindruckt.
Vor dem Tor wartete schon eine lange Kolon-
ne auf Einlass. Der Matscheko hat te einen In-
validenausweis vom Ersten Weltkrieg, und so
wurden wir vorgelassen. Ich war der zweite
Firmling in der Reihe, und meine Schwester
stand gleich neben mir! Wir wurden von Kar-
dinal Innitzer, Theodor Innitzer, gefirmt. Mädi
hat te ihren begünstigten Standplatz nur dem
Invalidenausweis vom Matscheko zu verdan-
ken. Wegen diesem Ausweis wurde die ganze
Familie vorgewunken.
Den Nachmittag verbrachten wir dann in Schön-
brunn und im Tiergarten. Einfach super! Am
Pfingstmontag fuhren wir wieder nach Hause.
Familie Sieber am 12. Juni 1943, einen Tag vor der Firmung.
Der Vater wollte die Familie noch einmal vollständig versammelt
sehen, da niemand wissen konnte, was die Zukunf t bringen würde.
136
— Endlich Motorisiert
Papa kaufte uns 1950 auf unser Drängen hin ein Motorrad, eine
belgische FN 350. Ich hatte noch keinen Führerschein, also „gehör-
te“ die Maschine zunächst Richard und ich durfte nur auf dem Sozi-
us mitfahren. Natürlich war ich auch manchmal ohne Führerschein
unterwegs, aber es wäre falsch zu sagen, dass dieses Motorrad
mir gehört hätte. Wie später das Auto bekamen wir es gemeinsam.
Leider konnten wir nicht allzu oft damit fahren. Das Getriebe hatte
eine Schwachstelle, und Reparaturen dauerten damals ewig. Im
Rückblick war das vielleicht sogar ein Glück. Wäre die Maschine
immer problemlos gefahren, wer weiß, ob wir nicht einen Unfall
gebaut hätten.
Aber 1953 machte mir unser Hausmechaniker Gabriel den Vor-
schlag, wir könnten doch einmal nach Kärnten zum Baden fahren.
Für mich war das eine große Sache, ungefähr so, als würde man
heute nach Amerika fliegen. Wir machten sogar vorher noch einen
Der wilde Herbert auf seiner Maschine 1953
137
Schwimmkurs. Das Kapfenberger Hallenbad war gerade neu er-
öffnet worden. Hedi und ich meldeten uns an. Vielleicht sechs
oder sieben Mal besuchten wir so eine Kursstunde, und zwar
schon um sechs Uhr morgens, bevor der reguläre Betrieb losging.
Gelernt haben wir dabei so gut wie nichts, aber etwa einen Mo-
nat später brachen wir mit zwei Motorrädern auf nach Kärnten.
Ich hatte die Schuster Elli auf meiner Maschine und der Gabri-
el die Mädi. Am 12. Juli 1953, einem schönen Hochsommertag,
brachen wir auf. Unsere Route verlief über Graz, die Pack und
Völkermarkt nach Klagenfurt. Dort gönnten wir uns am Wörther-
see ein Mit tagessen. Unser Ziel war der Faakersee. Hedi und
ich konnten praktisch nicht schwimmen. Wir gingen daher auch
kaum ins Wasser, nur gerade so viel, dass wir nass wurden. Elli
dagegen bewegte sich wie ein Fisch im Wasser. Gabriel auch,
allerdings nicht ganz so gut wie Elli. Die beiden schwammen
weit hinaus auf eine Insel. Den Heimweg nahmen wir über Vil-
lach. Von dort ging es nach Feldkirchen und Neumarkt zurück in
die Steiermark.
Wegen der damaligen Verkehrsverhältnisse war das eine richtig
weite Tour. Heute sind die Straßen so glatt wie ein Teppich, da-
mals stieß man überall auf Bodenwellen. Die Strecke über den
Grif fen war noch eine Schotterstraße und man kam wirklich nur
mühsam voran.
— Obstholen mit dem Dodge
Im Herbst 1953 kauften wir einen gebrauchten Lastwagen von
den englischen Besatzern, einen amerikanischen Dodge. Am
Schirmitzbühel fand ein Abverkauf des gesamten Geräts, das die
Engländer nicht mitnehmen wollten, statt. Sie wollten das Zeug
loswerden.
138
Der Lastwagen musste ein bisschen hergerichtet werden. Gabriel
reparierte ihn daheim motorisch immerhin so weit, dass er wie-
der einwandfrei lief.
Also fuhren wir damit nach St. Ruprecht. Das war Papas Idee,
weil die Mostpresserei schon voll angelaufen war. Mit einem LKW
konnten wir unser Pressobst selbst kaufen und auch gleich heim-
führen. Allerdings ging diese Rechnung nicht auf.
Wir machten uns mit einem eigenen einachsigen Anhänger auf
den Weg – Papa, Herr Hochörtler und ich. Unser Plan war, nach
St. Ruprecht zu fahren, Obst zu holen und auch von den Nachbarn
Obst zu kaufen, bis wir das Auto voll hätten.
Gleich zu Beginn, über den Hügel bei Jassing hinauf, konnte der
LKW die ganze Last nicht mehr ziehen. Irgendwie wurde er heiß
und blieb stehen. Er war offenbar noch nicht wirklich in Schuss,
denn eigentlich hätte er das leicht schaffen müssen. Die Situation
war brenzlig: Wir mussten in Windeseile aus dem Auto kommen
und etwas unterlegen, denn der schwere LKW begann schon zu-
rückzurutschen. Zum Glück lag gerade neben dem Auto ein Wur-
zelstock, der sich perfekt für unsere Zwecke eignete. Dann blieb
uns nichts anderes übrig, als eine halbe oder dreiviertel Stunde
zu warten, bis sich der Motor abgekühlt hatte. Schließlich voll-
brachten wir das Kunststück, direkt in der Steigung wieder weg-
zukommen, und weiter ging die Fahrt.
Leider hatten wir auf dem Rückweg, und zwar mitten in der Heine-
straße in Graz, einen Platten. Die Reifen waren nach dem ganzen
Krieg nicht mehr die besten. In Gratkorn folgte die nächste Panne
und letztlich mussten wir LKW und Anhänger stehenlassen und per
Autostopp nach Hause fahren, wo wir erst um Mitternacht ankamen.
Am nächsten Tag kehrten wir dann mit dem alten Traktor samt
Anhänger zurück nach Gratkorn. Zuerst mussten wir mühsam al-
139
les umladen und dann ging es los. Dieser Traktor schaff te es doch
tatsächlich, alles, das ganze Fuhrwerk, herauf nach Kapfenberg
zu schleppen. Würden wir das heute versuchen, hätten wir sofort
die Polizei am Hals und kämen garantiert nicht weit. Wir hatten
damals den Traktor, den Traktoranhänger mit der ganzen Ladung,
den LKW und den LKW-Anhänger. Für den Traktor war das ohne-
hin schon Schwerstarbeit, aber wir mussten auch noch mit dem
ganzen langen Zug durch das enge Frohnleiten durch, dann über
die Holzbrücke und durch eine Haarnadelkurve bergauf.
Mein Interesse für Geografie rührt aus der Zeit her, als plötzlich
meine Brüder fortgingen. Helmut war in Wieselburg, Richard beim
Militär. Hedi und ich blieben allein zurück, aber Hedi hatte immer
ihren eigenen Bereich. Sie war gut in der Schule und las für ihr
Leben gern. Mir war damals oft langweilig und so begann ich,
am Abend den Atlas zu studieren. Das tat ich aus freien Stücken,
niemand hatte mich dazu ermuntert. Es machte mir einfach Spaß,
eine reine Interessenssache.
140
— Rückblick
Wenn ich auf mein Leben zurückschaue, finde ich es schön. Viel
Arbeit gab es immer, vor allem, als wir noch keine Melkmaschine
hatten. Anfang der 50-er Jahre hätte ich mir gewünscht, zu den
Sommerfesten gehen zu können, die alle 14 Tage beim E-Werk
stattfanden. So viele Leute, so viel Jugend! Ich wäre halt auch
gern dort gewesen. Aber ich musste am Abend immer die Kühe
eintreiben und die Stallarbeit erledigen. Und danach noch einmal
hinunter zu gehen... da war es ja schon spät.
Als ich in Bruck die Fahrschule besuchte, sah ich am frühen
Abend oft junge Leute auf der Straße beieinander stehen und sich
unterhalten. Dass es das gibt, dachte ich mir. Für so etwas hatte
ich keine Zeit. Gemütlich zusammensitzen – das gab es kaum.
Sobald es vier war, hieß es für mich aufstehen, in den Stall ge-
hen. Die angenehme Atmosphäre geselliger Zusammenkünfte zu
genießen – davon hätte ich mir auf jeden Fall mehr gewünscht.
Nach dem Krieg war der bäuerliche Berufsstand hoch angesehen.
Schließlich hatten die Bauern immer zu essen und versorgten die an-
deren. Man war stolz auf seine Arbeit, aber alles andere kam zu kurz.
Als wir dieses eine Mal mit dem Motorrad nach Kärnten fuhren
– was das für ein Aufwand war, dass ich fahren konnte. Damals
hatten wir noch keine Melkmaschine. Der kurze Ausflug war fast
nicht zu bewerkstelligen. Alle mussten zusammenhelfen, um mir
diese Freude zu ermöglichen.
Bei uns lief es so: Aufstehen, die Gummistiefel anziehen, und am
Abend vor dem Schlafengehen die Gummistiefel ausziehen. So
war es. Ohne Übertreibung. Immer nur Arbeit, keine Freizeit. Das
bedaure ich. •
141
142
Hedwig und Herbert über Ihre Eltern— Hedwig: Meine Mutter
Wenn ich an meine Mutter denke, habe ich das Bild eines Ka-
chelofens vor mir. Obwohl sie unendlich viel Arbeit hatte, war sie
der Ruhepol in unserer Familie. Sie selber war wortkarg, hörte
aber jedem zu und redete nie schlecht über andere. Laut lachen
hörte man sie selten, aber verhalten schmunzeln konnte man
sie öf ter sehen.
Ich als ihre einzige Tochter möchte ihr ein besonderes Denk-
mal setzen: Sie war es, die meine überbordende Lesefreude in
mehrfacher Weise förderte: Wenn mein Vater, der von höherer
Bildung gar nichts hielt, mit energischen Schrit ten das Haus
durchmaß, um mich in meinen dunklen Verstecken aufzustöbern
und zu irgendeiner Arbeit einzuteilen, verriet sie mich nicht und
ließ mich gewähren.
In meiner Volksschulzeit gab es bei uns zu Hause außer der
„Kleinen Zeitung“, der „Stadt Gottes“, dem „Vorarlberger Volks-
kalender“ und natürlich dem Religions- und Lesebuch nichts
Brauchbares zu lesen. So sah ich mich im zarten Alter von sie-
ben Jahren gezwungen, den täglichen Fortsetzungsroman in
der Zeitung zu lesen! Dass mir meine Mutter, obwohl sie im-
mer sehr knapp bei Kasse war, mein erstes „richtiges“ Buch, das
„Osterhasenland“, kauf te, werde ich ihr nie vergessen. Es war
viele Jahre lang mein wertvollster Besitz. Meine Liebe zur Spra-
che hat sich übrigens auf die nächste Generation übertragen –
jedes meiner fünf Kinder hat einen Beruf ergrif fen, der entweder
mit Sprache oder mit Musik zu tun hat.
143
— Tierliebe
Meine Mutter war sehr tierlieb.
Wenn bei uns ein Schwein ge-
schlachtet wurde, hielt sie sich mit
beiden Händen die Ohren zu.
Beim Essenko-Stadel wurden im-
mer Rinder vom Fleischhauer vor
dem Schlachten „zwischengela-
gert“. Sie wurden ausgehungert,
damit sie leichter und damit billi-
ger wurden. Das Brüllen drang bis
zu uns. Das machte meine Mutter
verrückt. Sie, die nie außer Haus
ging, zog sich am Abend an, ging
dorthin und verlangte, dass die
Tiere gefüttert wurden. Sie konnte
Tierleid nicht ertragen.
Auch die täglichen Geschehnisse auf dem Bauernhof, wo ja oft
Tiere geschlachtet wurden, hielt sie schwer aus.
— Hedwig: Mein Vater
Mein Vater war wie ein Hausdach: groß, ausladend, kraftvoll und
wortgewaltig. Er strahlte für uns Sicherheit und Geborgenheit aus.
Obwohl er in seiner Vorarlberger Heimat nur eine zweiklassige
Volksschule besucht hatte, verfügte er über alle Kenntnisse und
Fähigkeiten, die er für ein erfolgreiches Leben brauchte. Er war der
geborene Redner, energiegeladen, vernunftbegabt und weitbli-
144
ckend. Die politischen Ereignisse seiner Zeit schätzte er mit seinem
messerscharfen Verstand von Anfang an realistisch ein. Als Kleri-
kaler lehnte er den Nationalsozialismus zutiefst ab, richtete seine
wirtschaftlichen Entscheidungen aber trotzdem an den politischen
Gegebenheiten aus: Er wusste, dass in schweren Zeiten Grund und
Boden das einzige war, was zählte. So kaufte er noch kurz vor Aus-
bruch des Krieges eine Wirtschaft in St. Ruprecht an der Raab.
Er war nicht nur der geborene Unternehmer, sondern auch für die
erweiterte Familie Helfer in allen Nöten. Immer wieder half er ei-
nem seiner Brüder aus einer Notlage. Kinder liebte er. Unser Hof
war ständig von Heerscharen von Nachbarskindern belagert, die
ihm nie im Weg waren.
Mein Vater war neben seinem politischen Engagement von gan-
zem Herzen Bauer und Viehzüchter. Immer wieder sagte er, dass
er, hätte er noch einmal die Wahlmöglichkeit, immer wieder den-
selben Beruf ergreifen würde.
— Herbert: Meine Mutter
Meine Mutter war sehr ausgeglichen, eine gute Zuhörerin. Sie
war freundlich zu den Leuten, aber ernst. Das gekünstelte Lachen
war ihre Sache nicht. Sie wurde allgemein geschätzt, und die Leu-
te hatten Respekt vor ihr.
Zu uns Kindern war sie gut, wenn ihr auch die Hand locker saß.
Man musste sich schon in Acht nehmen, dass man nicht ein paar
ausfasste – aber nie ins Gesicht. Wenn es arg war, konnte sie
schon einmal zum Kochlöffel greifen.
Sie klagte und stöhnte nie über die viele Arbeit. Jahrelang trug sie
den Most in der schweren Holzpitsche – 16 Liter fasste die – über
145
die steile Kellerstiege nach oben. Insgesamt müssen es zig tau-
send Liter gewesen sein.
In den knapp 60 Jahren, die sie in der Steiermark verbrachte, be-
suchte sie ungefähr alle zehn Jahre ihre alte Heimat, nach der sie
immer Sehnsucht hatte. Nach dem Tod meines Bruders Helmut
ging sie unzählige Male auf sein Grab und richtete es schön. Im
Alter sagte sie oft, dass sie Helmut, wenn sie es könnte, nicht
mehr zurückholen würde – wer wisse schon, was ihm erspart ge-
blieben sei.
Gegen Sonntagsausflüge – besonders mit meinem Vater – hatte
sie nichts einzuwenden. Dazu meinte sie öfter, ein Ausflug ohne
Einkehren sei kein Ausflug.
1939, im letzten Abdruck vor dem Krieg, bekam sie ein eigenes
Fahrrad. Es war ein Rad der Marke Steyr, sehr schön, mit Netz,
mit dem sie ein „mords Heil“ hatte. Sie fuhr damit immer zur Früh-
messe in die Stadtkirche. Einmal besuchte sie uns mit dem Rad
auf dem Feld beim Heuen. 1944 fuhren Mama und Papa mit dem
Rad nach Marein, um Familie Sojer aufzusuchen, und 1945 statte-
ten Mama und ich unseren Schweizerleuten in Schloss Graschnitz
einen Besuch ab. Solche Ausflüge waren damals Ereignisse, die
sich tief in die Erinnerung eingruben.
— Herbert: Mein Vater
Mein Vater war geprägt von seiner Position in der Herkunftsfa-
milie. Er wusste schon früh, dass er sich seine eigene Existenz
würde schaffen müssen. Dabei kamen ihm seine Grundkenntnis-
se in der Vieh- und Milchwirtschaft zugute, die in der Zeit seiner
Jugend in Vorarlberg ja schon viel fortschrit tlicher war als in der
Steiermark.
146
Er hatte einen scharfen praktischen Verstand und konnte auch
größere Zusammenhänge überblicken. Die Leute hatte Res-
pekt vor ihm, auch die Dienstboten. Er drückte sich nicht vor der
schweren Arbeit und war sehr genau. Besonders wichtig war ihm,
seine Zahlungen pünktlich zu leisten und alles bis ins Letzte zu
verwerten.
Der Sonntag war ihm heilig: An
diesem Tag wurde – außer im
Stall – nur in Ausnahmefällen
gearbeitet. An Sonntagnachmit-
tagen, wenn im Stall alles ruhig
war, sah man ihn oft eine Stun-
de und länger den Gang auf
und abgehen und nachdenken.
Er liebte die Musik und besaß
eine Mundharmonika, die er an
den Abenden gern hervorzog.
In jungen Jahren war er auch
Mitglied der Schuhplattler in
Göß bei Leoben. Im Sommer,
wenn sich die Arbeit staute, war
er nervös, im Winter hingegen
ruhig und gemütlich.
Grif f ihn jemand an, wurde er zum Kämpfer. Er hasste Ungerech-
tigkeit und ließ sich nichts gefallen.
Wenn Besuch aus der vorarlbergerischen Verwandtschaft ange-
sagt war, freute er sich sehr. Auch gegen Ausflüge mit dem Auto
und die damit verbundene Einkehr hatte er nichts einzuwenden.
Zu uns Kindern war er gut. Nur selten – sehr selten – rutschte
ihm die Hand aus. Er machte auch Ausflüge mit uns. Ich erinnere
mich, dass er mit meinem Bruder Helmut und mir am Pfingst-
147
montag des Jahres 1944 mit dem Fahrrad in die Fölz fuhr, wo wir
Familie Greitner besuchten.
In der Vorkriegszeit und auch danach fand er besonderes Ver-
gnügen daran, nach Tirol zu fahren, um auf den Viehmärkten
Kühe zu kaufen. •
148
Das Leben ist doch mehr als nur ArbeitRichard erzählt:
— Sprachprobleme
Als ich nach Kapfenberg kam, war ich ein kleiner Bub von fünf
Jahren. Zuhause redeten wir vorarlbergerisch, und die steirischen
Kinder verstanden mich nicht. Sie sagten zu mir: „Mei, red´st du
schiach!“ Wir sagten zum Kaffeehäferl zum Beispiel „Beckele“,
ein Zuckerl war ein „Kömmle“ und so weiter. Auch unser Essen
rief Verwunderung hervor. „Was isst du denn da? Türkensterzno-
ckerln?“ Mama hatte „Hafaloab“ gemacht, na—Türkensterzno-
ckerln halt nach ihrer Meinung. Das waren große Nocken aus Ku-
kuruz, die im Fett vom Schweinsbraten herausgebraten wurden,
bis sie eine Kruste bekamen. Die Steirerbuben kannten so etwas
nicht.
— Einlieger
In jeder Gemeinde gab es sogenannte Einlieger. Das waren die
alten Bauernknechte, wenn sie arbeitsunfähig waren. Damit sie
nicht der Gemeinde zur Last fielen, wurden sie auf verschiede-
ne Bauernhöfe aufgeteilt. Der eine musste sie 14 Tage behalten,
der andere drei Wochen. Ob sie etwas zu essen bekamen, wur-
de aber nicht kontrolliert. Einer dieser Einlieger, die uns zugeteilt
wurden, hieß Benedikt. Manchmal kamen Kollegen und fragten
nach ihm: „Is der Diktl nix da?“ Der Diktl…! Der hatte Schuhe…
man kann sich nicht vorstellen, wie oft diese Schuhe geflickt wur-
den, wie die Sohlen ausschauten, und oben… Ein Wunder, dass
sie überhaupt am Fuß hielten.
149
— Schnellfeuerhosen
Nebenan, ebenfalls als Pächter, wohnte eine Familie mit 14 Kindern
auf Zimmer, Küche, Kabinett. Jeweils vier Kinder mussten sich ein
Bett teilen. Da lagen sie wie die Sardinen, zwei kreuz und zwei
quer. So wurde ihnen nicht kalt! Matratzen gab es nicht, sie muss-
ten sich mit Strohsäcken behelfen. Zu Mittag war die Ausspeisung.
Die Mutter stand am Herd und teilte das Essen aus. Jedes Kind
hatte eine Schale und einen Löffel, und damit fassten sie die Ver-
pflegung aus. Kraut, Knödel, Erdäpfel... Fleisch bekamen sie eher
selten zu sehen. In der Küche fanden nicht alle Platz. Nachdem sie
sich ihre Ration geholt hatten, schwärmten sie mit der Schale in der
Hand aus – ein paar auf die Stiege, ein paar in den Garten, andere
auf den Misthaufen, zumindest im Sommer. Praktischerweise hat-
ten sie eine sogenannte „Leib-und-Seel-Hose“ an, auch „Schnell-
feuerhose“ genannt, durch die sie das, was oben hinein kam, ohne
viel Scherereien nach unten hin wieder abgeben konnten.
Jedenfalls boten sie ein buntes Bild, wie sie da in der Landschaft
verteilt ihr Mittagessen löffelten. Die Frau des Verwalters, eine
Sudetendeutsche, die auf sich hielt, verklebte ihr Fenster, das Blick
auf die Wohnung der Familie bot, mit Zeitungspapier. Sie sagte,
sie könne es nicht mit ansehen, wie es bei denen zuginge. „Nix
Kultura!“, meinte sie indigniert.
— Nicht jede Schottergrube ist eine Goldgrube
Es gab noch einen weiteren Pächter, einen Gärtner, der star-
ker Alkoholiker war. Auch er hatte viele Kinder. Die Familie kam
aus Leibnitz in der Südsteiermark. Alle Mitglieder dieser Familie
schauten ein bisschen zu tief ins Glas. Einmal ging der Pfarrer,
der seinerseits auch gern einmal einspritzte, unter ihrem Fenster
150
vorbei. Da schrie die Alte vom ersten Stock herunter: „Na Pfarrer,
woast scho wieder saufen?“ Darauf er: „Hoid die Goschn, du oide
Schodagruam!“ Weil sie so viele Nierensteine hatte.
— Morgenstund hat Gold im Mund
Derselbe Gärtner hatte zwei Lehrbuben. Er schlief im ersten Stock,
die Buben unten. Der Gärtner, der sich ungern bewegte, war ein
findiger Mann. Er bohrte oben im ersten Stock ein Loch durch die
Decke, durch das er einen Strick hinunter ließ, an dem er eine
Kuhglocke befestigt hatte. Wenn bei ihm oben um vier der Wecker
rasselte, riss er an dem Strick, und unten bimmelte die Kuhglo-
cke. Das war das Signal für die Buben: Raus aus den Federn! Vor
den Leuten, die Pflanzen kaufen kamen, stellte er sie immer her:
„Na, ihr Lausbuben, habt ihr euch schon wieder nicht gewaschen
heute?“ Dann mussten sie sich draußen, wo der Kirschbaum war,
beim Brunntrog vor allen Leuten waschen.
— Die Kuh, die durch das Fenster sprang
Im Jahr 1934 brannte bei unserem Onkel Gottfried im Mürztal der
Stadel ab, und das nicht zum ersten Mal. Schon zwei Jahre da-
vor war der Stall ein Raub der Flammen geworden, aber damals
hatte man ihn gleich wieder aufgebaut. 1934 ereignete sich dann
noch einmal dieselbe Katastrophe.
Jedenfalls bat uns Onkel Gottfried, seine Kühe bei uns unterzu-
bringen, weil er selbst keinen Platz mehr für sie hatte. Mein Vater
half seinen Geschwistern immer gern aus und natürlich nahmen
wir ihm ein paar Tiere ab, vielleicht vier oder fünf. Eine dieser
Kühe hieß Trudi. Sie war eine gute Kuh, die damals schon 25 Liter
151
Milch gab. Das muss man sich vorstellen, nur von Gras und Was-
ser, die Tiere bekamen ja sonst nichts, kein Kraftfutter.
Trudi fühlte sich von Anfang an nicht wohl bei uns, sie war unru-
hig und scheu. Wahrscheinlich wünschte sie sich in ihren eigenen
Stall zurück. Die Knechte passten auf die fremden Tiere immer
besonders gut auf. Nachdem sie die Kühe in den Stall hineinge-
lassen hatten, machten sie sofort die Tore zu. Dann hängten sie
sie der Reihe nach an.
Eines Tages, die Kühe sind schon alle im Stall, rennt die Trudi auf
einmal davon, den Mistgang entlang, und springt beim offenen
Fenster hinaus. Gelenkig wie ein Hirsch! Die Kuh springt also hi-
naus, galoppiert hinunter durch den Schlosshof, beim Durchgang
hinaus, auf die Straße. Das wäre für sich schon eine kleine Sen-
sation, aber genau in diesem Augenblick kommt auch noch ein
Auto daher.
Dass so etwas passieren konnte, damals im 34er Jahr, wo es ja
fast keine Autos gab!
Dieses Auto – ein eleganter Bentley – fuhr vom Stadtzentrum in
Richtung Mürztal hinauf. Die Kuh machte einen Hupfer, hinauf
aufs Auto, und hing dann oben auf dem Wagen wie eine Knack-
wurst. Vorn am Kühler, auf der Motorhaube. So fuhr sie mit, bis
das Auto zum Stehen kam.
Mein Vater saß währenddessen ahnungslos am Küchentisch und
jausnete. Plötzlich stürmte ein Mann zur Küchentür herein. Er trug
einen weißen Mantel, rot gesprenkelt mit Blutflecken. Wie sich he-
rausstellte, war es der Apotheker vom Semmering. Er hatte sich
die Finger aufgeschnitten, als Windschutzscheibe bei dem Unfall
zerbrach. „Sind Sie der Besitzer dieser Rinder?“ fuhr diese selt-
same Erscheinung meinen Vater an. „Ja – warum, was ist denn
los?“ „Na schauen Sie mich an, wie ich aussehe!“ zischte er ganz
152
empört. „Was Ihre Kuh gemacht hat! Sie müssen für den ganzen
Schaden aufkommen!“
Papa war ganz verblüff t: „Was ist denn passiert, ich weiß ja gar
nichts?“ Also ging er hinaus in den Stall, um sich ein Bild von
der Lage zu machen. Da stand schon ein verdutzter Knecht, der
ihm erzählte: „Ja, die Trudi ist beim Fenster hinaus gesprungen!“
Gleich setzten sich einige Knechte in Bewegung und trieben die
Ausreißerin wieder in den Stall zurück.
Mein Vater holte danach den Tierarzt, der die Kuh untersuchte.
Wie durch ein Wunder hatte sie nur eine Schramme an der Seite
abbekommen, sonst fehlte ihr nichts.
Zum Glück hatte einer der Mieter in Schloss Wieden den Unfall
beobachtet und erklärte uns, aus dem Fenster gebeugt, unaufge-
fordert: „Der Autofahrer war ja viel zu schnell unterwegs!“
153
Es folgten einige Verhandlungen. Mein Vater beauftragte einen
Rechtsanwalt. Unser Problem war, dass wir damals keine Haftpflicht-
versicherung hatten. Das Unfallauto wurde sofort nach Wiener Neu-
stadt überstellt, denn dort gab es eine Bentley-Vertragswerkstätte.
Dann kam der eigentliche Prozess – drei Verhandlungen. Unser
Zeuge wurde gefragt, wie er denn behaupten könne, dass der
Autofahrer zu schnell unterwegs gewesen sei. Er wurde auf die
Probe gestellt: Wie schnell fährt ein Schnellzug? Seine Antwort:
Naja, ca. 80, 90! Und ein Personenzug? So 50, 60, meinte er. Und
ein Lastenzug? Ungefähr 40, 50! Also mussten sie ihn ernst neh-
men, weil er offenbar Geschwindigkeiten einschätzen konnte.
Die letzte Verhandlung fand bei uns an vor Ort statt, ein Lokalau-
genschein. Der Richter, die Gerichtskommission, die Sachverstän-
digen, alle waren da. Außerdem noch Schreibpersonal, wie es
halt ist bei einer Verhandlung.
Im Stall sahen sie sich alles an und rekonstruierten den Ablauf.
Und dann sprach der Richter, gleich dort, neben den Kühen, das
Urteil: „Dem Besitzer des Rindes kann keine Fahrlässigkeit nach-
gewiesen werden! Die Türen waren verschlossen, und dass eine
Kuh aus dem Fenster springt, das war noch nie da!“
Damit waren wir freigesprochen. Der Apotheker musste alles
zahlen. Die Gerichtskosten, die Reparatur seines Autos… ja, die
Kuh nicht, denn der fehlte zum Glück nichts. Und der Tierarzt stell-
te für die kleine Schramme keine Rechnung.
Ich muss schon sagen, wir hatten damals großes Glück. Wäre
der Prozess anders ausgegangen, hätten wir vielleicht zehn oder
fünfzehn Kühe verkaufen müssen. Eine Kuh kostete zu dieser Zeit
rund 500 Schilling, das hätten wir nicht leicht gestemmt.
154
— Der Scheiß-Elektra
Unser Onkel Johann vom Niederschöckel, einer von Papas Brü-
dern, hatte sieben Kinder. Die Jüngste, Rosi, ein fesches Mäd-
chen, hätte auf einen großen Bauernhof einheiraten können.
Sie fühlte sich aber nicht wohl dabei, weil ihr die Aussteuer, die
sie von zu Hause bekam, als zu gering erschien. Mit einem so
dünnen Konto traute sie sich nicht auf den großen Hof. Später
bewarb sich ein Sudetendeutscher um sie. Der erschien dem
Onkel aber viel zu wenig. Weil er kein Bauer war, sondern „nur“
Elektriker. Er besaß keinen Grund und Boden, und darauf kam
es an. Wer kein Bauer war, der hatte nichts! Das war damals
die gängige Meinung. „Ah, der Scheiß-Elektra!“ pflegte der On-
kel mit einer wegwerfenden Handbewegung zu sagen, wenn
von dem Bewerber die Rede war. Dabei war er Elektrikermeis-
ter! Rosi heiratete ihn trotzdem, und es ging ihr gut mit ihm. Als
Elektrikergattin musste sie längst nicht so viel arbeiten wie auf
einem Bauernhof!
— Reinlich muss man sein!
In der Hitlerzeit wurden die Schulbuben dazu angehalten, sich
nützlich zu machen. So musste ich einer Bewohnerin von Schloss
Wieden Kohlen bringen von der Kohlenrutsche. Also klopfte ich
bei ihr an. Sie war ein dunkelhäutiges, verhutzeltes Weibchen,
ganz schwarz im Gesicht. Mit dem Wasser ging sie anscheinend
eher sparsam um. „Grüß Gott“, sagte ich. „Habt ihr vielleicht Ju-
tesäcke?“ „Jaja“, antwortete sie, „ich hab schon welche!“ Die Sä-
cke hingen neben ihrem Bett über einer Kommode. Oben drauf
hatten es sich ein paar Hühner bequem gemacht, die sie in der
Wohnung hielt. Jetzt sah die Frau des Hauses, dass Hühnerdreck
auf den Säcken klebte. Sie hinüber, packt ein Küchenmesser und
155
schabt mit der Bemerkung: „Reinlich muss man sein!“ die Häuf-
chen feinsäuberlich von den Säcken.
— Mei Greterl, de fliagt wia a Geier!
Auch andere Parteien im Schloss hielten Federvieh in den Woh-
nungen. Stubenküken sozusagen! Eine Bewohnerin hielt große
Stücke auf ihre Hühner, die alle einen Namen trugen: „Mei Gre-
terl“, pflegte sie mit stolzgeschwellter Brust zu sagen: „Mei Gre-
terl! De fliagt wia a Geier!“
— Fix gemolken
Einmal hatten wir einen Melker (oder wie man damals in Öster-
reich sagte, einen „Schweizer“) namens Karl Gierke. Er kam aus
Ostdeutschland und war eine Zeitlang bei den Briten gewesen.
Da er nicht nach Hause konnte, arbeitete er ein Jahr lang bei uns.
Er pflegte zu sagen: „Das ging mal fix!“ Deshalb riefen wir ihn Fix.
Er hatte immer Freundinnen, die er heimlich mit Milch versorg-
te. Eines Morgens, bevor er abreiste, kam ich in den Stall zum
Melken. Als Traudl und Trudl – normalerweise verlässliche Milch-
spenderinnen – an der Reihe waren, musste ich feststellen, dass
ihre Euter leer waren. Der Fix war beim Fenster hereingestiegen
und hatte sie ausgemolken! Er kannte sie ja. Er nahm die, die
leicht zu melken waren und viel Milch hatten.
Ein paar Mal ging das so. Immer die leeren Euter in der Früh!
Am Abend gaben sie wieder normal Milch. Ich dachte mir: „Sind
sie krank oder was?“ Dass es gerade die zwei waren, die keine
Milch gaben, das war schon auf fällig. Also beschlossen Papa
und ich, einmal in der Früh im Stall zu warten. Wir setzten uns
156
links und rechts vom Fenster auf den Boden, damit er uns nicht
sah. Dann warteten wir und warteten. Der Mond schien zum
Fenster herein...
Aber wir warteten vergeblich auf den Fix. Unser Knecht Peperl
hatte ihm offensichtlich schon gesteckt, dass er nicht mehr zu
kommen brauchte.
Doch auf einmal hörte ich etwas. Als ich beim Fenster hinaus-
schaute, erkannte ich eine Frau aus dem Schloss, die gerade Prü-
gel aus unserem Holzstoß riss. Stibitzte, könnte man auch sagen.
So rief ich zum Fenster hinaus: „Morgen, Frau Nachbarin!“ Um
halb zwei in der Früh. Aber schlagfertig war sie. „Die Prügel hab
ich gestern Nacht zum Holzstoß dazu gelehnt“, erklärte sie. Wenn
diese Schlossbewohnerin mit anderen im Schlosshof zum Streiten
kam und sie ihren Wortschatz ausgeschöpft hatte, drehte sie sich
einfach um, hob den Rock und zeigte ihrem Gegenüber das, was
darunter war – eine Unterhose jedenfalls nicht. •
157
158
Unsere Familie
Familienbewusstsein ist einer der Werte, die wir von unseren
Eltern mitbekommen haben. Sie haben die Großfamilie zusam-
mengehalten, und wir „Kinder" – keines jünger als 80 – führen
diese Tradition fort. Vor allem aber sind wir unendlich froh und
glücklich, einander zu haben. Fast täglich führen wir Gespräche,
besuchen einander und tauschen uns über unsere Freuden und
Leiden aus.
Mit diesem Buch haben wir jetzt kleine Ausschnitte unseres Le-
bens, die sich doch zu einem wunderbaren Ganzen fügen, vor
uns liegen. Wir sind froh und dankbar, gemeinsam zurückblicken
zu können, und hoffen, dass wir einander noch möglichst lange
erhalten bleiben!
Richard Sieber, Hedwig Weinhandl, Herbert Sieber
Dezember 2013
—
Impressum
„Eine Vorarlberger Familie in Kapfenberg
– Die Sieber-Geschwister“
HERAUSGEBER
schreib-mein-leben
www.schreib-mein-leben.at
AUTORINNEN
Regina Berger und Annemarie Pumpernig
GESTALTUNG UND LAyOUT
D M B O - Studio für Gestaltung
www.dmbo.de
Dezember 2013
Recommended