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Eine Vorarlberger Familie in der Steiermark Die Sieber-Geschwister

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Eine Vorarlberger Familie in der Steiermark

Die Sieber-Geschwister

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Regina, älteste Tochter von Hedwig

— Meine Brücke in eine längst vergangene Welt

Plazidus Sieber, mein Großvater, kam am 11. Februar 1894 als

fünfzehntes von achtzehn Kindern auf der Fluh, einem Bergdorf

über Bregenz in Vorarlberg, zur Welt. Ein gleichnamiger Bruder

war ebenso wie neun weitere Geschwister früh verstorben. Die

Eltern bewirtschafteten einen Bauernhof, von dem klar war, dass

ihn nur ein Sohn erben würde. So musste sich mein Großvater mit

der Idee anfreunden, seine Heimat zu verlassen und anderswo

sein Glück zu suchen.

Der junge Plazidus war, so sagt man, ausgesprochen lebens-

und unternehmungslustig. Er spielte Mundharmonika und scheu-

te keine Mühe, um Tanzveranstaltungen im Tal zu besuchen – per

pedes, versteht sich. Auf sein Äußeres soll er großen Wert gelegt

haben, was ihm, wie ich gehört habe, sehr zugute kam, als er um

meine Großmutter warb.

Dabei wäre es um ein Haar nichts geworden mit den beiden.

Kurz vor der Hochzeit lernte er nämlich eine andere Frau kennen,

die ihm für seine wirtschaftlichen Vorhaben besser geeignet er-

schien. Als Ehrenmann hielt er jedoch das Eheversprechen, das

er meiner Großmutter gegeben hatte, – eine kluge Entscheidung,

wie sich herausstellen sollte. Die beiden waren nicht nur in prakti-

schen Dingen ein ideales Paar, das allen Widrigkeiten des Lebens

trotzte.

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Bauer trifft Fräulein

Nach der Schule perfektioniert Agathe ihre Kochausbildung im Gasthaus einer Kusine, wo sie sich auch manchmal als Kellnerin betätigt. Eines Tages, sie bedient gerade im Garten, spaziert zufällig der junge Plazidus bei der Gartentür herein. Mit seinem Spazierstock und seinem modernen Girardi-Hut ist er eine elegante Erscheinung. Wie es seiner leutseligen Art entspricht, verwickelt er die junge Kellnerin in ein angeregtes Gespräch. Plötzlich naht ein Gewitter – da muss sich Agathe beeilen, die Wäsche abzunehmen! Zwangslage ist Zwangs-lage, da heißt es Hand anlegen. So tut Plazidus etwas, was er noch nie in seinem Leben getan hat und auch nie mehr tun wird: Er hilf t beim Abnehmen der Wäsche!

Später fragt Agathe ihre Kusine, wer denn dieser feine Herr gewesen sei? Daraufhin erfährt sie drei Dinge, die ihr ganz und gar nicht in den Kram passen: Erstens – er heißt Plazidus! Wie kann man nur so heißen? Zweitens – er ist Bauer! Als Wol-furter Bürgertochter ist Agathe durchaus standesbewusst. Sie möchte alles, nur keinen Bauern. Drittens – er kommt von der Fluh! Gigritzpatschen ist eine Großstadt dagegen.

Plazidus hat jedoch hochfliegende Pläne. Er wird sich außer-halb der engeren Heimat eine Existenz aufbauen. Sein Ehr-geiz und sein Geschick sind weithin bekannt. Natürlich weiß er, dass viel harte Arbeit auf ihn wartet. Ob ein zartes Persön-chen wie Agathe da die Richtige ist?

Aber Plazidus ist Agathes große Liebe, gleich wo er herkommt oder wie er heißt. Und er hat ihr die Ehe versprochen, auch wenn in Lauterach vielleicht besser geeignete Frauen zu fin-den wären. Er hält Wort und heiratet sie. Zum Glück, denn mit Agathe trif f t er eine ausgezeichnete Wahl. Die beiden führen eine gute Ehe und sind einander bis an ihr Lebensende liebe-voll zugetan.

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Meine Großmutter Agathe Schertler wurde am 22. Februar 1897

in Wolfurt als drit tes von acht Kindern einer Bürgerfamilie gebo-

ren, von denen sieben das Erwachsenenalter erreichten. Ihre El-

tern betrieben neben der damals üblichen kleinen Landwirtschaft

eine Stickerei, die später Großonkel Seppl und danach dessen

Tochter Rosemarie übernahm. Agathes Mutter, Anna Maria, ver-

starb nach langem Leiden früh an Lupus, und so musste der Va-

ter, Gebhard Schertler, die Kinder gemeinsam mit seinen älteren

Töchtern Rosa und Anna allein durchbringen.

Anders als ihr späterer Mann, der seine hervorragenden praktischen

Kenntnisse, vor allem das geschickte Rechnen, allein dem Dorflehrer

verdankte, besuchte meine Großmutter die Bürgerschule und vertief-

te ihre Ausbildung später in einem Hotel in Schruns. Dort erwarb sie

hervorragende Kochkenntnisse, die den Hof der Siebers zu einem ge-

suchten Arbeitsplatz für Knechte und Dienstmädchen machen sollten.

Meine eigenen frühesten Eindrücke und Erinnerungen an „daheim

drinnen“, wie meine Mutter ihr Elternhaus nannte, reichen in eine

Zeit zurück, in der es die Familie Sieber bereits „geschaff t“ hatte.

Oft wurde über den Umbau des Wohnhauses gesprochen, das

man in den fünfziger Jahren aufgestockt hatte. Das neue Haus

verfügte nun über ein prestigeträchtiges „Fremdenzimmer“, das

nur über einen langen Gang erreichbar war. Gemeinsam mit mei-

ner Schwester durf te ich in diesem Zimmer, das normalerweise

den Vorarlberger Gästen vorbehalten war, ein paarmal übernach-

ten. Manchmal glaube ich, dass meine heutige Reiselust durch

diese „auswärtigen“ Übernachtungen erstmals geweckt wurde.

Ich erinnere mich an die dicken, straffen und blütenweiß bezoge-

nen Polster und an den grandiosen Blick in der Früh, der über die

roten Pelargonien vor dem Fenster auf die Straße darunter zum

gegenüber liegenden Schlossberg führte. Auch das lindgrüne Ba-

dezimmer und der strenge Duft, ja sogar die braune Flasche des

Rasierwassers meiner beiden Onkel sind mir noch ganz präsent.

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Spazierten wir mit unserer Mutter von unserer Wohnung in Hafen-

dorf oder sonntags von der Kirche aus zu den Großeltern, kamen

wir am Schloss Wieden vorbei. Das vor der Renovierung stark

baufällige Schloss, das mein Großvater von den Grafen Stuben-

berg seines Kellers wegen als Mostlager zu den landwirtschaftli-

chen Gründen dazu gekauft hatte, erschien mir als Kind wunder-

bar geheimnisvoll, und ich erblickte darin einen klaren Hinweis

auf den Wohlstand der Familie Sieber.

So wurde uns erzählt, dass Maria Theresia und

Papst Pius VI1 auf der Durchreise hier Halt ge-

macht hatten. Der Klang dieser Namen und die

ehrfurchtsvollen Ausführungen meines Vaters,

der die Handwerkskunst früherer Generationen

bewunderte, weil sie ohne moderne Technik sta-

tische Probleme gemeistert und riesige Dach-

stühle nur mit Holznägeln gezimmert hatten,

verstärkten die Faszination.

Kamen wir dagegen mit dem Auto, parkten wir

hinter dem Haus und gelangten durch einen ge-

schwungenen Torbogen mit schmiedeeisernem

Gitter zum Wohnhaus – auch das ein erheben-

der Anblick für ein kleines Kind.

Das tägliche Leben bei den Siebers war nicht ganz so geheimnis-

voll und vornehm. Ständig standen alle Türen offen, und im Winter

erwies sich auch das renovierte Wohnhaus noch als zugige Zim-

merflucht, die wenig Gemütlichkeit aufkommen ließ.

1 1750 Maria Theresia mit Gefolge auf dem Weg zur Garnison in Pettau

1782 Pius VI auf dem Weg zu Josef II, mit dem er wegen der Auflösung

vieler Klöster verhandeln wollte

Blick durch den Torbogen auf das – damals schon

renovier te – Schloss Wieden

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Dafür herrschte in der warmen Küche ein ständiges Kommen

und Gehen, denn meine Großmutter führte ein bekanntermaßen

gastfreundliches Haus. Ich versuchte schon früh möglichst viel

von den Gesprächen zu erhaschen, konnte mir auf viele Erzäh-

lungen allerdings keinen Reim machen.

Ein heimeliger Ruhepol in all dem Trubel war unsere

kinderlose Großtante Rosa aus Vorarlberg, die mehre-

re Winter in Kapfenberg verbrachte. Ich sehe sie noch

ganz deutlich vor mir, angenehm mollig, in einem

grauen Rock und rosa Wollpullover. Sie nahm uns auf

den Schoß und spielte mit uns „Böckle, Böckle, ditsch“.

Dieses Spiel bestand in nichts anderem, als dass man

die Köpfe nach Ziegenbockart fest aneinander stieß.

Sieger war, wer es länger aushielt, und – Tante Rosa

muss pädagogisch begabt gewesen sein – das waren

immer wir.

Auf der Bank vor der Küche versammelten sich nach

der Arbeit oder auch am Wochenende ärmere Schicht-

arbeiter, die sich zwar kein Bier, wohl aber den bekannt guten

Sieber-Apfelmost leisten konnten. Die Einnahmen daraus gehör-

ten meiner Großmutter. Sie bewahrte sie in einer Schale in einem

damals unerhört modernen Nirosta-Küchenschrank auf. Als Kind

hatte ich immer den starken Eindruck, sollte sich jemand, und sei

es mein Großvater, an diesen Münzen vergreifen, würde es ihn

oder sie die schlimmen Finger oder gleich die ganze Hand kosten.

Die Mostkundschaft war einerseits wunderbar aufregend, weil

die – aus der Sicht eines Vorschulkindes – steinalten Männer von

so fremdartigen Dingen wie vom Böhler-Werk und ihrer schweren

Arbeit am Hochofen redeten und wohl auch die eine oder an-

dere private Komödie oder Tragödie ausplauderten. Andererseits

fürchtete ich mich panisch vor denselben Leuten, sobald sie be-

trunken zur Straße hinunter torkelten. Als einmal einer der Trun-

Tante Rosa 1948

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kenbolde auf diesem Weg, von dem mich zum Glück ein Zaun

und eine dichte Hecke trennten, im Rausch umfiel und einfach

liegenblieb, getraute ich mich stundenlang nicht, mein Versteck

unter einem Ribiselstrauch zu verlassen, bis ich mir endlich ein

Herz fasste und davonrannte.

Mein Großvater muss schon länger unter einem unerkannten Dia-

betes gelit ten haben. Jedenfalls erscheint er mir in meiner Erinne-

rung, bevor er in den zurückgezogenen Dämmerzustand abglit t,

der damals schlicht Verkalkung genannt wurde, als ziemlich cho-

lerisch. Ich weiß noch, dass er mehrmals seine längst erwach-

senen Söhne anschrie, was nicht auf beide denselben Eindruck

machte. Der Generationenkonflikt war zu Beginn der sechziger

Jahre zwar längst noch nicht in der Provinz angekommen, doch

der „zivile Widerstand“ meines Onkels Richard, der das Leben ins-

gesamt nicht allzu ernst zu nehmen schien, beeindruckte mich als

Kind tief.

Onkel Richard lieferte uns laufend Munition gegen all die lästigen

Erwachsenen, die, sobald wir den Windeln entwachsen waren,

mit dem „Ernst des Lebens“, sprich der Schule, drohten. Als wir

später „Florentine“ von James Krüss lasen, münzte ich das Groß-

muttergedicht gleich auf Onkel Richard um:

Den Duf t dieser Phloxhecke habe ich als Kind geliebtMit meinen Schwestern Annemarie und Veronika

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„Wer so einen pfundigen Onkel hat,

der lacht auch mit Seife im Mund.

Nur wohnt er am anderen Ende der Stadt

und das ist zum Weinen ein Grund.“

Mein Onkel Helmut, der schon zehn Jahre vor meiner Geburt an

Typhus gestorben war, schien trotzdem irgendwie ständig prä-

sent zu sein. So sieht man meine Großmutter auf kaum einem

Foto aus der Zeit nach seinem Tod entspannt lachen oder auch

nur lächeln. Sie und ihr Mann hatten ihren Lebenstraum, als ge-

machte Leute nach Vorarlberg zurückzukehren, mit ihrem Sohn in

Kapfenberg begraben müssen.

Dank Onkel Herbert war immer für Unterhaltung und Zeitver-

treib gesorgt. Er war sehr an Geografie interessiert und auch

wirklich beschlagen auf diesem Gebiet. In seinen Quizstunden

über Länder und Hauptstädte, Gebirgszüge und Flüsse konnte

man leicht die quälenden Turnübungen vergessen, bei denen

er uns zum Springen nötigte – nicht etwa möglichst weit oder

über ein Hindernis. Nein, er wollte, dass wir mit unseren kur-

zen Beinen aus dem Stand vom Boden auf einen Sessel hüpf ten.

Wer weiß, ohne die ganze schwere Arbeit auf dem Bauernhof

hätte er, der immer wissen wollte, wer denn nun am schnells-

ten, stärksten und mutigsten sei, vielleicht selbst den einen oder

anderen Rekord aufgestellt. Rekordverdächtig ist jedenfalls eine

sportlich anspruchsvolle Radtour bis nach Norddeutschland, mit

der er seine jungen Neffen an den Rand ihrer Leistungsfähigkeit

brachte.

In besonders angenehmer Erinnerung habe ich die üppigen

Vorräte im Hause Sieber. Sie waren in einer Zeit, in der wirklich

noch jeder Groschen umgedreht werden musste, beileibe keine

Selbstverständlichkeit. Auch bei uns daheim im Töllergraben war

damals noch eher Schmalhans Küchenmeister, während meine

Großmutter of fenbar schon aus dem Vollen schöpfen konnte.

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Zu den Essgewohnheiten im Hause Sieber fällt mir ein Reim aus

einem meiner liebsten Kinderbücher, Försterei Waldeslust, ein:

„So kocht sie die Kartoffelklöße

stets in Kanonenkugelgröße.

Und nur ein ganz gesunder Magen

kann solche schwere Kost vertragen.“

Allerdings kamen keine Kartoffelknödel, sondern hauptsächlich

Fleischgerichte auf den Tisch, und zwar nur vom Schwein oder

Rind. Hühner galten in der Familie als unappetitlich und wur-

den nur als Eierlieferanten akzeptiert. Mit dem Federvieh wollte

sich niemand abgeben, und darauf legte man Wert! Nur Onkel

Richard erbarmte sich der gackernden Meute. Er züchtete sogar

eine ganz spezielle, schwarze Rasse, die selbst meinem Groß-

vater Respekt abnötigte. Auf den Teller schaff ten es aber auch

diese Aristo-Hühner nie, sondern wurden wie alle anderen nach

gebührender Eierspende an bedürftige Interessenten verschenkt.

Die üppigen Fleischgerichte hatte ich übrigens meinem Großva-

ter zu verdanken, der sich in seiner Jugend aus dem herrschen-

den Mangel heraus selbst versprochen hatte, er werde einmal so

wirtschaften, dass immer genügend Fleisch auf den Tisch käme.

Bei Siebers gab es nicht viel zu lesen, doch die Familie hatte einen

Bauernkalender abonniert, in dem unter anderem die politischen

Größen der Zeit abgebildet und beschrieben waren. Über Chru-

schtschow und Churchill, Adenauer und De Gaulle war ich daher

schon lange vor meinem Schuleintrit t genauestens im Bilde.

Das Radio in der „Kanzlei“, einem kleinen Raum neben der Küche,

spielte ebenfalls eine wichtige Rolle in meinem Kinderleben. Dar-

aus erfuhren wir 1963 von drei Todesfällen, die die Erwachsenen

offenbar tief erschütterten: Bundespräsident Schärf starb im Mai,

Johannes XXIII im Juni und John F. Kennedy im November dieses

selben Jahres. Vor allem das Ableben des Papstes und des „guten“

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US-Präsidenten warf in der Familie die bange Frage auf, wie es mit

der Welt wohl weitergehen würde.

Heute frage ich mich manchmal, woher dieses Gefühl meiner frü-

hen Jahre stammte, durch die Zugehörigkeit zur Familie Sieber

etwas Besonderes zu sein. Meine Großeltern kamen noch aus

einer anderen, längst vergangenen Welt. Mag sein, dass ich ihre

Denkweisen und Beweggründe nicht verstehen konnte, doch sie

beeindruckten mich durch ihre Ernsthaftigkeit und ihren sorgfälti-

gen Umgang mit Menschen und Dingen. Das vermittelte mir als

Kind ein starkes Gefühl der Sicherheit und Geborgenheit.

Annemarie, zweitälteste Tochter von Hedwig

— Daham drin

„Daham drin“ – so nannte unsere Mutter ihr Elternhaus.

Für uns, ihre drei erstgeborenen Töchter, verbarg sich in diesem

Ausdruck eine zweifache Botschaft: Das „Daham“ unserer Mutter

war nicht die damalige Wohnung der Familie Weinhandl am Töl-

lergraben 3, sondern ihr Elternhaus in der Wiener Straße 69. Das

„drin“ markierte das Zentrum der Welt, das Schwarze der Ziel-

scheibe, die heimatliche Höhle, in die sie uns täglich schleppte.

Dort konnte sie, die das Gefühl hatte, zu früh Mutter geworden zu

sein, die Kinder der Großmutter anvertrauen und selbst wieder

zur Tochter werden.

Tagtäglich legten wir mit unserer Mutter den halbstündigen Weg

nach „daham drin“ zu Fuß zurück. Ich weiß noch, wie ich verträumt

und immer zu langsam neben dem Kinderwagen, in dem meine

jüngere Schwester Veronika thronte, herzockelte, auf der anderen

Seite meine „große“ Schwester Regina, die der Welt schon damals

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mit wacher Aufmerksamkeit begegnete und sich auf Fakten und

Geschehnisse ihren klugen Reim machte.

„Daham drin“ erwartete uns ein buntes, lautes Treiben mit viel-

fältigen Geräuschen, Gerüchen und Ritualen. So unterschiedlich

wir die Atmosphäre auch wahrgenommen haben mögen, einige

Eindrücke liegen doch über allem. Einer der prägendsten war si-

cher unsere Großmutter in der Küche, die pausenlos Mostkunden

bediente, Kaffee kochte und Jausen „richtete“ und ihre Enkelinnen

mit einem freundlich-distanzierten, nicht einer gewissen Hinter-

gründigkeit entbehrenden Interesse wahrnahm.

Wir durf ten ihr langes graues Haar, das sie normalerweise zu

einem Knoten aufgesteckt trug, zu immer neuen, verwegenen

Frisuren türmen, die sie, sobald sie sich von ihrem Platz neben

dem Herd mit seinen matt spiegelnden Rändern erhob, mit einem

Federstreich und leicht peinlich berührtem Blick wieder zunichte-

machte. Unsere Kämmattacken erduldete sie ergeben und in sich

versunken. Vielleicht dienten sie ihr in ihrem hektischen Alltag als

willkommene Meditationspausen, als Entschuldigung dafür, kurz

innezuhalten und die Welt zu betrachten.

Großmama mit meiner Schwester Martina 1966

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Das Reich unserer Großmutter war die Küche. Sie war die Herrin

über die Mostkassa – eine Schüssel mit Kleingeld, die sie – etwas

über unserer Augenhöhe – in einem Nirostaschrank aufbewahr-

te. Wir liebten es, das Geld zu zählen und mit den Händen in dem

Berg von Schilling- und Groschenmünzen zu wühlen. Es waren so-

gar Fünf- und manchmal auch Zehn-Schilling-Stücke darunter! Da

niemand auf die Idee kam, die Kinder an diesem Mostgeldschatz

zu beteiligen, kam ich nicht umhin, die Sache selbst in die Hand

zu nehmen: In einem unbeobachteten Augenblick schnappte ich

mir eine Handvoll Münzen, versteckte sie unter dem Polster auf

der Küchenbank und meldete dann aufgeregt meinen „Fund“. Ich

durf te ihn zwar behalten, aber richtig froh wurde ich nicht damit:

Die Erwachsenen warfen sich vielsagende Blicke zu, und mich be-

schlich das Gefühl, mir die heiße Ware unehrenhaft angeeignet

zu haben. Nicht ernst genommen zu werden, hinterließ bei mir

ein flaues Gefühl.

Das Mostfass mit seinem stets tropfenden Zapfhahn stand auf ei-

nem Tisch neben der Eingangstür. Die Mostkunden kamen entwe-

der mit großen Flaschen, in die der begehrte, säuerlich riechende

Saft abgefüllt wurde, oder sie bekamen Krügel in die Hand ge-

drückt und ließen sich auf der Bank vor dem Haus nieder. Gegen-

über von dieser Bank befand sich ein niedriges Steinmäuerchen,

und wenn der Platz auf der Bank nicht reichte, breitete sich die

Gesellschaft dorthin aus. Auch Stehplätze waren durchaus be-

gehrt. An diesem Ort wurden die Neuigkeiten aus der Umgebung

abgehandelt. Wir Kinder beobachteten die Szene am liebsten aus

dem Hintergrund, denn wenn wir uns zeigten, konnten wir leicht

zum Ziel des sprichwörtlichen Sieber´schen Stolzes werden, und

das war uns doch etwas unangenehm.

Unser Großvater, der absolute Chef im Hause Sieber, war der

Herr der Jause. Die Plätze an seiner Seite während dieser Mahl-

zeit waren heiß begehrt. Vor sich auf dem Tisch ein Holzbrett mit

Speck, Wurst, Emmentaler Käse und manchmal sogar Essiggur-

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ken, verteilte er seine Schätze großzügig. Dabei schnitt er immer

ein Stück Speck, Käse, Wurst oder Brot ab und hielt es einem dann

gleich mit dem Messer hin. Beim Speck hatten wir es weniger

auf das „Weiße“ abgesehen, das er uns nach Möglichkeit unterju-

belte, sondern auf das „Rote“. Zwischen unserem Großvater und

uns herrschte ein ständiges Gerangel um das „Rote“. Er achtete

darauf, dass wir nicht nur Speck und Käse aßen, sondern auch

Brot. Vom Most durf ten wir auch kosten, doch der stieß, herb und

sauer wie er war, bei uns zwar auf Interesse, aber auf wenig Be-

geisterung.

Vor dem Haus gab es einen Keller, der von einer schweren, eben

in den Boden eingelassenen roten Eisentür verschlossen wurde,

die hochgezogen und abgestützt werden musste. Dieses unter-

irdische Gelass, in dem die Mostfässer und die sogenannten

Mostbluzer aufbewahrt wurden, war für uns Kinder verbotenes

Terrain und übte daher eine starke Anziehungskraft auf uns aus.

Aus ihm quollen säuerliche, kühle Gerüche, und wenn die Groß-

mutter oder die Bedienstete ihr Vorhaben dort vollendet hatten,

schloss sich die Tür, in deren Nähe wir uns nicht begeben durf ten,

wenn sie geöffnet war, von Neuem. Diese Unterwelt, in der heute

die Zeit stillsteht, übte auf uns Kinder eine große Faszination aus,

zumal wir sie nie erkunden durf ten.

Anders verhielt es sich mit der Heukammer. Trat man aus der

Haustür, konnte man gleich links durch eine runde Tür in den Stall

schlüpfen. Dort empfingen einen der herrlich warme Stallgeruch,

das Schnauben, Mahlen und Stampfen der Kühe, das schreckhaf-

te Grunzen der immer futtergierigen Schweine und – das Wich-

tigste – die duftende Heukammer, in der sich bestimmt ein Nest

mit jungen Katzen versteckte. Da galt es, stundenlang reglos zu

verharren und die Katzenmutter während ihrer Besorgungen zu

beschatten, um schließlich triumphierend die Katzenkinder – so-

fern sie noch klein genug waren – in Beschlag zu nehmen. Wir

mussten dabei vorsichtig vorgehen, denn ihre Sicherheit war stets

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gefährdet. Auf dem Hof gab es zu viele Katzen, und wenn die

Männer ihrer früh genug habhaft wurden, beförderten sie sie

ohne viel Aufhebens ins Jenseits. Nicht bedroht von einem solchen

Schicksal war der legendäre Kater Lothar, der sich noch in späten

Jahren an einen neuen Namen gewöhnen musste, nachdem er

bei uns Zeit seines Lebens als „Lotte“ firmiert hatte. Eines Tages

teilte uns Onkel Richard nämlich mit, dass es sich bei unserer Lot-

te in Wahrheit um einen Kater handelte. Lothar genoss höchstes

Ansehen, weil er im biblischen Alter von über tausend Jahren mit

nur einem Zahn im Maul angeblich noch Ratten fing.

Zentrum des Stalls war eine große, kalte Milchtonne aus Blech,

in die die dampfende Milch mit Eimern geschüttet wurde. Sie ver-

strömte einen warmen, süßlichen Geruch, der sich mit dem Blech-

geruch zu einer eigenartigen Mischung verband. Immer wurden

auch die Katzen aus diesem Reichtum bedient, und wenn sie sich

den Bauch vollgeschlagen hatten, warteten in den dunklen Ecken

schon die Igel auf ihre Chance.

Im Stall tummelten sich neben uns drei Mädchen auch immer Kin-

der aus der Nachbarschaft oder aus dem Schloss, die gar nicht so

vornehm waren, wie ihre Wohnadresse vermuten ließ. So war es

für einige Buben ein beliebter Zeitvertreib, sich auf den Misthau-

fen zu stellen und ihren Blaseninhalt in einem möglichst hohen

und weiten Bogen in der Umgebung zu verteilen. Meine Schwes-

tern und ich konnten mit solchen exotischen Kunststücken natür-

lich nicht aufwarten und begnügten uns mit der Zuschauerrolle.

Wir waren während dieser Vorführungen aber alles andere als

untätig und feuerten die Protagonisten nach Kräften an.

Zum Küchenreich unserer Großmutter gehörte auch die soge-

nannte „Speis“, ein länglicher, dunkler Raum mit Steinboden, in

dem so geheimnisvolle Dinge wie eingelegte Eier aufbewahrt

wurden. Bleich und grünlich schimmernd ruhten sie in einem Rie-

senglas in ihrer Sole. Dass sie jemals auf den Tisch gekommen

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wären, ist mir nicht erinnerlich. In der Speis herrschte, anders als

in der Küche, eine kühle, sakrale Stille. Wir durf ten diesen Raum,

in dem sich Köstlichkeiten wie Joghurt in dunkelbraunen Glas-

flaschen mit Aluminiumverschluss und andere geheimnisvolle

Gläser und Flaschen verbargen, nur in Begleitung unserer Groß-

mutter betreten, die allzu neugierige Fragen oder gar Handgreif-

lichkeiten mit Bestimmtheit abwehrte.

Nach dem Mittagessen versammelten sich die Erwachsenen zum

Beten in der Küche, manchmal auch in der sogenannten „Kanzlei“.

Das war ein kleines, quadratisches Zimmer gegenüber vom Ein-

gang, das sonst eigentlich nur für Buchhaltungszwecke benutzt

wurde. Gebetet wurde der aus drei „Gegrüßet seist du Maria“

bestehende „Engel des Herrn“, der in einem auf- und abschwel-

lenden Singsang mit vorarlbergerisch klingender Sprachmelodie

vorgetragen wurde. Über die Bedeutung der Passage „Und das

Wort ist Fleisch geworden und hat unter uns gewohnt“ habe ich

mir jahrelang den Kopf zerbrochen. Die Erwachsenen bei diesem

Ritual versammelt zu sehen, hatte etwas Besonderes, entbehrte

das Alltagsleben doch sonst jeder Feierlichkeit und Entrücktheit.

War das Gebet beendet, schüttelten die Anwesenden das Ent-

rückte ab und gingen wieder ihrer gewohnten Arbeit nach.

In seltenen Augenblicken, in denen es in der Küche still war und

meine Großmutter sich unbeobachtet fühlte, schlug sie die Hände

vors Gesicht und klagte: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du

mich verlassen!“ Als Kind konnte ich mir keinen Reim auf diese

Worte machen. Heute weiß ich, dass sie den frühen Tod ihres

Sohnes Helmut, der mit 19 Jahren an Typhus starb, nie verwinden

konnte.

Im ersten Stock des Hauses gab es neben einem entsprechend

dem Zeitgeist – „Hatten Sie heut´ schon Ihr Badedas?“ – in Pastell-

farben gehaltenen Badezimmer das sogenannte „Fremdenzim-

mer“, das, wie der Name schon sagt, den Gästen des Hauses

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vorbehalten war. Darin stand ein riesiges Doppelbett, bezogen

mit feinstem, blütenweißem Damast. Der Stellenwert dieses Zim-

mers wurde durch eine Flügeltür und den endlos scheinenden

Gang unterstrichen, der das Zimmer mit dem Vorraum verband.

Den Boden dieses Ganges zierte ein bunter, grober Sisalteppich

mit Längsstreifen, die einen, wenn man den Gang schnell entlang

lief, in eine Art Trance versetzten. So fand die psychedelische Zeit

der 1960er Jahre auch im Hause Sieber ihren Niederschlag.

Ich weiß noch, dass ich einmal im Fremdenzimmer übernachten

durf te. Der Ehre, die das bedeutete, war ich mir durchaus be-

wusst! Leider konnte ich wegen des ungefiltert durch das Fenster

dringenden Straßenlärms, den ich von zu Hause nicht gewöhnt

war, die ganze Nacht kein Auge zudrücken und fühlte mich in der

Früh wie gerädert. Aber die duftende, gestärkte Bettwäsche, die

schwere Federdecke und die feierliche Atmosphäre des Fremden-

zimmers sind mir heute noch präsent.

Da ich als Kind Erwachsene nach Möglichkeit ausblendete, kon-

zentrieren sich meine Erinnerungen auf bodennahe Bilder und

auf Eindrücke wie Gerüche und Geräusche. Heute würde ich das

damalige Treiben in der Sieber´schen Küche gerne als unsicht-

barer Gast beobachten – dazu müsste ich aber als Geist an der

Decke schweben. Denn Sitzplätze waren Mangelware im Reich

meiner Großmutter. •

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Die HerkunftsfamilienHedwig erzählt:

— Schertler

Familie Schertler war eine Wolfurter Bürgerfamilie. Mein Ur-Ur-

Urgroßvater, also der Urgroßvater meiner Mutter, der 1791 gebo-

ren wurde, hatte zehn Kinder. Er war sehr reich und vermachte

jedem seiner Nachkommen 10.000 Gulden. Das soll umgerechnet

so viel gewesen sein wie eine Million Schilling in den fünfziger

Jahren, also viel Geld. Er hatte eine Ziegelei.

Als Bürgerfamilie war es Familie Schertler gewöhnt, jedes Jahr

eine große Reise zu unternehmen. Von diesen Reisen brachten

sie den Kindern schönes Spielzeug mit. So hatten sie einen Herd,

auf dem man richtig kochen konnte, und vielfältiges Geschirr.

Dann aber kam ein Schicksalsschlag: Meine Großmutter, die ich

nie zu Gesicht bekam, erkrankte an Lupus. Da die Familie auf sich

hielt, entschied sie sich anstelle des Bregenzer Arztes, der Hei-

lung versprach, für einen Kuraufenthalt in einem Sanatorium in

Bremen. Das war zur Zeit des Ersten Weltkriegs.

Famlie Schertler 1911Seppl, Mutter Anna Maria,

Ella, Rosa, Julius, Vater Gebhard, Alfred, Agathe und Anna

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Zu Hause ließ sie sieben Kinder zurück. Noch dazu wurde der Vater

zu den Kaiserjägern eingezogen! Die drei Älteren hatten daraufhin

nicht nur die vier Kleinen zu versorgen, sondern sie mussten sich

auch um die Stickerei und um die Landwirtschaft kümmern, die zu

dem Betrieb gehörte. Die älteste Schwester, Tante Rosa, ging nach

Bregenz in ein Büro arbeiten, Tante Anna war für die Landwirtschaft

und für das Vieh zuständig, und meine Mutter kümmerte sich um

die Hauswirtschaft und um die kleinen Kinder.

Die Behandlung in Bremen schlug nicht an, und so kehrte meine

Großmutter zum Sterben nach Hause zurück. Sie wurde nur 56

Jahre alt. Mein Großvater heiratete nie mehr. Tante Rosa blieb

ledig, nachdem sie Lorenz Böhlers Antrag ausgeschlagen hatte.

Dieser hatte sich, um vertrauenswürdiger auszusehen, einen Bart

wachsen lassen. Meine Tante fand, er sehe damit so grässlich

aus, dass sie nichts von diesem Bewerber wissen wollte. Später

bereute sie sehr, dass sie auf seine Avancen nicht eingegangen

war. Alle anderen Geschwister heirateten und bekamen Kinder.

Meine Mutter besuchte die Bürgerschule und ging anschließend

ins Walsertal nach Schruns in ein Hotel, um kochen zu lernen.

Schertler-Tref fen der Geschwister 1940er Jahre

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Großvater väterlicherseitsGroßmutter väterlicherseits

Großvater mütterlicher-seits Gebhard Schertler mit Enkelkind

Großmutter mütterlicher-seits Anna Maria Schertler, geborene Gunz

Mama 1921 als Schauspielerin (ganz links)

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— Sieber

Familie Sieber war seit eh und je eine Bauernfamilie. Leider

brannte auf der Fluh einmal die Kirche mitsamt dem Pfarrhof ab,

so dass uns viele Unterlagen fehlen. Das waren Bauern aus Lei-

denschaft. Sie betrieben einen Bergbauernhof auf ca. 800 Me-

ter Höhe. Keines der Kinder lernte einen Beruf, es war klar, dass

sie in der Landwirtschaft bleiben würden. Die Mädchen erlernten

die Kunst des Stickens. Sie betrieben Hausstickerei, und ihre Auf-

tragsarbeiten wurden an Schweizer Firmen verkauft. Die Männer

mussten fortgehen und sich selbst ihr Auskommen suchen.

Die Eltern meines Vaters waren leidenschaftliche Bauern. Seine

Mutter stammte aus Kennelbach, der Nachbargemeinde von

Wolfurt, der Vater von der Fluh. Papa erzählte, dass sechs Söhne

aus der Familie in den Ersten Weltkrieg ziehen mussten, und dass

seine Mutter, unsere Großmutter, jedem der sechs jeden Monat

ein großes Paket ins Feld schickte. Er erinnerte sich, dass ein gan-

zer Wecken Brot in dem Paket war, und dass er diesen Wecken

jedes Mal auf einmal verschlang, weil er so ausgehungert war.

Diese Wohltat vergaß er seiner Mutter nie. Sie erkrankte später an

einem Venenleiden und starb wie der Vater mit etwa 72 Jahren.

Zwischen den Familien Sieber und Schertler gibt es dreifache Ban-

de: Auf dem heimatlichen Hof blieb Onkel Gregor, der bei der Hoch-

zeit meiner Eltern Tante Anna kennenlernte. Die beiden verliebten

sich und heirateten, und Tante Anna zog zu Gregor auf die Fluh.

Aber es gab noch eine weitere Verbindung! Als Mamas jüngster

Bruder, Onkel Julius, der nach Amerika ausgewandert war, ein-

mal zu Besuch in Vorarlberg war, bekam Tante Anna auf der Fluh

gerade ein Kind. Sie wurde von Hermina, der Tochter von Tante

Cölestina, einer Schwester von Papa, im Kindsbett gepflegt. Dann

heirateten auch diese beiden! Also drei Brüder, drei Schwestern! •

Page 24: Sml referenzbuch 01

24

Die Anfänge - KnittelfeldRichard erzählt:

Mein Vater stammte aus einer kinderreichen Bergbauernfamilie,

die in Vorarlberg auf der Fluh nahe Bregenz einen Hof bewirt-

schaftete. Da den Heimathof nur ein Sohn übernehmen konnte,

mussten die anderen zusehen, wie sie ihr Auskommen fanden.

Die Höfe in Vorarlberg waren teuer, und so trugen sich viele Bau-

ernsöhne, darunter auch mein Vater, mit dem Gedanken, das

Ländle zu verlassen. In der Steiermark lagen die Preise für Grund

und Boden niedriger, und die Vorarlberger waren als Käufer oder

auch Pächter begehrt, weil sie mehr zahlten als die Einheimischen.

Der Hof in Großlobming bei Knittelfeld war in einer Vorarlberger

Zeitung annonciert gewesen, und mein Vater, der entschlossen

war, sich eine erfolgreiche Zukunft aufzubauen, ging das Wagnis

ein. So zogen meine Eltern im Jahr 1924 von Vorarlberg in die Stei-

ermark. Ende September heirateten sie, und schon eine Woche

später, am 1. Oktober 1924, übernahmen sie die Pacht in der Stei-

ermark. Das Übernahmedatum so kurz vor dem Wintereintrit t war

natürlich ungünstig, da meine Eltern den Hof mit dem Vorhande-

nen, auf das sie keinen Einfluss hatten, bewirtschaften mussten.

Am 27. August 1925 erblickte ich das Licht der Welt.

Die Wirtschaft in Großlobming kam zur Verpachtung, weil sich der

Besitzer – Simon Oberreiter hieß er – mit den Nachbarn nicht ver-

trug und sein Sohn für die Hofübernahme noch zu jung war. Der

Verpächter fragte gleich, ob mein Vater auch Geld habe, um die

Pacht im Voraus zu bezahlen. Der Pachtschilling musste erlegt wer-

den, das war die unabdingbare Voraussetzung. Papas Bruder On-

kel Johann, der Vorarlberg schon 1911 den Rücken gekehrt und sich

in Niederschöckl niedergelassen hatte, stand für das Inventar gut.

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25

Wer diesen Pachtvertrag heute liest, bekommt einen Eindruck da-

von, was es damals hieß, Pächter zu sein. Jedenfalls gab mein

Vater an, das nötige Kapital zu besitzen. Da fiel dem Besitzer auf

einmal ein, dass er zum Hof auch eine geeignete Tochter hätte:

„Der passad grod füa mei Jula!“, dachte er laut. Aber Papa ant-

wortete knapp: „In dieser Beziehung bin ich schon versorgt!“

Um anfangen zu können, nahmen meine Eltern einen Kredit bei

einer Verwandten von Mama, der Kronhalde-Wirtin, auf. 10.000

Schweizer Goldkronen waren es, die Zinsen betrugen 20 Prozent.

Die Entscheidung war auf Schweizer Kronen gefallen, weil in Ös-

terreich massive Inflation herrschte. Der Schilling war damals kein

Hartgeld.

Das Geld wurde verwendet, um die Übernahme der Kühe – Mur-

bodner Rinder – zu finanzieren. Mein Vater war überzeugt: Fütter-

te man die Kühe nur richtig, würden sie auch Milch geben. Leider

stellte sich heraus, dass von den zehn Kühen nur zwei brauchbar

waren. Sie waren einfach nicht auf Milch gezüchtet. Obwohl sie

ordentlich an Gewicht zulegten, brachten sie keine Milchleistung.

Die steirischen Bauern verwendeten damals Ochsen als Zugtiere,

auf Milchkühe waren sie nicht spezialisiert. Pferde standen am

höchsten im Kurs, weil man mit ihnen seinen Status zeigen konnte.

„Auf der Straße muss man den Bauern sehen!“, so lautete die

Devise.

In der Steiermark waren offensichtlich keine Milchkühe aufzu-

treiben. Also fuhr mein Vater nach Tirol, um welche zu kaufen.

Unglücklicherweise brachte er von dort nicht nur Kühe, sondern

auch die Maul- und Klauenseuche mit. Das war eine Katastrophe.

Überall mussten Seuchenteppiche ausgelegt werden. Die Milch

durf te nicht mehr ausgeliefert werden, und der Amtstierarzt ord-

nete sogar an, Ross und Wagen zu verbrennen. Niemand durf te

in dieser Zeit den Hof betreten.

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Als die Maul- und Klauenseuche endlich bewältigt war, gab es ei-

nen neuen Rückschlag: 1927 trat bei den Kühen das seuchenhafte

Verwerfen auf. Der sogenannte Abortus Bang war eine gefürchte-

te Rinderkrankheit. Die Existenz meiner Eltern war gefährdet, und

mein Vater hatte schon Angst, den Hof aufgeben zu müssen.

Doch auch dieses Tief konnte bewältigt werden, und es ging wie-

der aufwärts.

Der Winter des darauffolgenden Jahres 1928 war extrem kalt –

sechs Wochen lang hatte es durchgehend minus 30 Grad! Am

Küchenfenster bildete sich eine 15 Zentimeter dicke Eisschicht,

obwohl wir heizten. Die Hasen kamen vom Wald herunter, um im

Heustadel Zuflucht und Futter zu finden. Ich war ein kleiner Bub

von drei Jahren, aber ich weiß noch genau, wie die Wildhasen in

die Tenne kamen. Dort erschlugen sie die Knechte, aber außer

Haut und Knochen war ohnehin nichts dran an ihnen. In diesem

Winter erfror viel Wild.

Einmal fuhr ich mit meiner Mutter mit dem Zug

nach Vorarlberg. Mama vertrug das Zugfahren

nicht, und in Innsbruck hatte sie endgültig genug.

Ihr war schlecht. Also stiegen wir aus, und Mama

nahm ein Hotelzimmer. In der Nacht bekam ich

plötzlich Durst und langte zum Nachtkästchen hin-

über, wo – wie sich später herausstellte – ein vol-

les Tintenfass stand. Das trank ich gleich aus. Wie

ich danach aussah, kann man sich vorstellen!

Langsam begann die schwere Arbeit meiner Eltern

Früchte zu tragen. Als sich erste wirtschaftliche Er-

folge einstellten, ließen sie sich vom Wagner einen

schönen, bemalten Milchwagen mit ganz spezi-

ellen Speichen bauen. Mit Ölachse! Die brauchte

man nie zu schmieren. Normalerweise musste so

eine Wagenachse täglich geschmiert werden, weil

Richard in Innsbruck

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27

sie sonst zu rosten anfing. Die Leute sagten: „Der Sieber kommt

daher wie der Baron Hanstein!“ Dieser Milchwagen war der gan-

ze Stolz meines Vaters. Er kostete damals schon die beachtliche

Summe von 1.000 Schilling.

Über allem aber schwebte das bevorstehende Ende der Pacht,

die ja mit sechs Jahren begrenzt war. So mussten meine Eltern

bereits nach fünf Jahren beginnen, sich nach einem neuen Be-

trieb umzusehen. Ihr Traum war es, als gemachte Leute nach Vor-

arlberg zurückzukehren. Doch dazu sollte es nie kommen.

Das Haus in Großlobming

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— Das Leben in Knittelfeld

Jeden Tag um drei Uhr in der Früh hieß es für meine Eltern auf-

stehen und die Kühe melken, damit die Milch rechtzeitig nach

Knittelfeld transportiert und dort von Tür zu Tür verkauft werden

konnte. Diesen weiten Weg legte mein Vater, neben dem Wagen

herlaufend, bei jedem Wetter im Stockfinsteren zurück. Als er ein-

mal krank wurde, musste meine Mutter die Kühe allein melken

und die Milch nach Knittelfeld bringen. Das war sicherlich eine

fürchterliche Strapaze für sie, blieb meiner Erinnerung nach aber

die Ausnahme.

— Sprachlose Zeiten

Meine Eltern rackerten den ganzen Tag und hatten kaum Zeit,

sich um mich zu kümmern. Andere Kinder gab es nicht auf dem

Hof, und so musste ich mich mit mir selbst beschäftigen. Ich lern-

te sehr lange nicht sprechen, da niemand Zeit hatte, sich mit mir

zu unterhalten. Als ich schon älter war und meine sprachliche Ent-

wicklung den Eltern Sorgen zu machen begann, brachten sie mich

nach Niederschöckl zu Onkel Johann, der sieben Kinder hatte.

Nach 14 Tagen, als sie mich von diesem „Sprachkurs“ abholten,

war ich zu ihrer Erleichterung eine echte Plaudertasche gewor-

den. Die hatten halt ein gutes Mundwerk in Niederschöckl!

Inzwischen, am 4. Dezember 1928, hatte ich einen Bruder be-

kommen, der auf den Namen Helmut getauft wurde. Der eignete

sich auch nicht gerade als Gesprächspartner. Aber jetzt streckte

ich meine Fühler zu den Nachbarkindern aus. Bei der Familie Bi-

schof durf ten wir sogar auf den Betten herumspringen. Obwohl

ich ein kleines Kind war, staunte ich darüber, dass das nicht ver-

boten war. Es machte mir jedenfalls großen Spaß.

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Zum Allerschönsten gehörte für mich die Kirschenernte, wenn

mein Vater auf den Baum kletterte und ganze Äste mit Kirschen

herunter schnitt. Bis heute kann ich auf Fleisch und Mehlspeisen

verzichten, aber ohne Obst und Gemüse kann ich nicht sein.

— Eisbäder bei Mondschein

Wenn die Eltern in aller Herrgottsfrüh zum Melken in den Stall

gingen, nahmen sie mich mit, um mich nicht allein im Haus zu-

rückzulassen. Vor dem Stall stand ein Brunntrog, dessen Wasser

im Winter natürlich zugefroren war. Meine Mutter war eine be-

geisterte Kneipp-Anhängerin, was auch mir zugutekam. Nach-

dem sie mich die Treppen hinuntergetragen hatte, hackte sie das

Eis auf und tauchte mich dann flugs in die eisigen Fluten. Frisches

Quellwasser! Danach frottierte sie mich ab, packte mich wieder

ordentlich ein und legte mich zurück ins Bett. Jetzt konnte sie si-

cher sein, dass ich gut schlafen würde. Ich erinnere mich, dass

ich mich heftig gegen diese Eisbäder spreizte. Kein Wunder, dass

ich als Erwachsener mit Wasser nichts mehr zu tun haben wollte!

Einen Hund hatten wir auch, Nero den Ersten. Der war schon auf

dem Hof, als meine Eltern übernahmen. Er sah aus wie ein Bern-

hardiner, hatte aber ein grauweißes Fell. Das war ein mächtiger

Hund, so hoch wie der Herd. Beim Auszug mussten wir ihn zu-

rücklassen, denn es war üblich, dass der Hund am Hof blieb. Er

verfolgte uns noch lange mit seinen Blicken, als wir fortfuhren.

Am Sonntag gingen die Eltern in die Kirche. Meine Mutter war

entsetzt über die Rückständigkeit der Steirer. In Vorarlberg war

man in der damaligen Zeit schon elegant unterwegs. Schließ-

lich war ihre Heimatgemeinde Wolfurt die erste voll elektrifizierte

Stadt Österreichs! Wenn Mama ihre Blicke in der Knittelfelder Kir-

che durch die Bänke schweifen ließ, vermittelten ihr die armselig

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gekleideten Gestalten, wie sie sagte, das Gefühl, in Sibirien zu

sein.

Nach der Kirche pflegte mein Vater das Pferd bei einem Einkehrg-

asthaus einzustellen. Zuerst kam die Messe, dann das Gasthaus,

so war die festgelegte Reihenfolge. Im Gasthaus unterhielt er sich

mit den Leuten und bahnte auch Geschäfte an. Einmal vereinbarte

er mit dem Fleischhacker den Verkauf von drei Kälbern. Der Preis

wurde festgelegt, die Lieferung für den nächsten Tag vereinbart. Als

mein Vater dann kam, fragte der Fleischhacker: „Was sind das für

Kälber? Und was sollen die kosten?“ „Was wir ausgemacht haben.“

„Geh! Kannst schon wieder heimfahren!“, gab ihm der Fleischha-

cker zurück. Doch mein Vater ließ sich nicht beirren und wandte

sich sofort an einen Rechtsanwalt. Der setzte einen Brief auf, in

dem stand, dass der Fleischhacker die Kälber zum vereinbarten

Preis zu übernehmen hätte. Würde er sich nicht an die Vereinba-

rung halten, könnten sie an Ort und Stelle zu einem beliebigen

Preis verkauft werden, und die Differenz müsse der Fleischhacker

zahlen. Daraufhin gab der sich geschlagen. Laut konnte mein Va-

ter schon werden. Der Fleischhackerchefin fuhr sein Gebrüll so in

die Knochen, dass sie sich vor Schreck kräftig in den Finger schnitt.

Auf dem Hof hatten wir ein Pferd mit einem Fohlen. Die Alte hieß

Fanny und die Kleine Gretl. Mein Vater spannte Fanny zum Mist-

führen zusammen mit dem Stier ein, weil der Mistwagen für das

Pferd allein zu schwer war. Also spannte er einfach den Stier

dazu. Er wusste sich in jeder Situation zu helfen.

Eines Tages wurde unser Fohlen, die Gretl, verkauft. Das kränkte

mich sehr. Ich musste mit ansehen, wie sie, nach allen Regeln

der Kunst an der Mähne und am Schwanz mit rotem und weißem

Krepppapier „aufgemascherlt“, vom Käufer fortgeführt wurde.

Den ganzen Hohlweg entlang schaute ich ihr nach, solange ich

sie sehen konnte. Aber für die Erwachsenen spielte es keine Rolle,

ob ich traurig war oder nicht.

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— Josef Ritter von Gold

Einmal kam ein Mann zu uns, der nach Arbeit fragte. Da an Ar-

beit ja wahrlich kein Mangel herrschte, wurde er gleich einge-

stellt. Auf die Frage nach seinem Namen antwortete er: „ Josef

Rit ter von Gold!“ Er arbeitete gut, da gab es nichts zu bemän-

geln. Mein Vater meinte, er wolle ihn anmelden, weil im Nach-

barhaus schließlich der Bürgermeister wohnte. Es musste alles

seine Ordnung haben. Aber der Neuankömmling versuchte das

unbedingt zu verhindern. Eines Abends, meine Mutter war gera-

de vor dem Haus, sah sie, wie er plötzlich von Polizisten umringt

wurde. Da sprang er vor aller Augen in die Mur. Ich weiß nicht,

ob sie ihn erwischt haben. Später stellte sich heraus, dass er ein

Raubmörder war! Josef Rit ter von Gold... Bei uns fand er jeden-

falls kein Gold. Insgesamt war er vielleicht 14 Tage am Hof.

— Abschied von Knittelfeld

Als sich die Pachtzeit ihrem Ende zuneigte, wurde es Zeit, nach

einem neuen Hof Ausschau zu halten. Meine Eltern waren natür-

lich daran interessiert, sich in der Nähe der anderen Familienmit-

glieder niederzulassen, die bereits in der Steiermark waren. In

Kapfenberg kannte mein Vater einen Vorarlberger namens Fink,

den er um Rat fragte. Für diesen Standort sprach auch, dass sich

sein Bruder Franzsepp in Winkl angesiedelt hatte, und ein an-

derer Bruder, Gottfried, in Gassing, beides Orte in der Nähe von

Kapfenberg.

Eines Tages schrieb Herr Fink an meinen Vater, die Wirtschaft des

Grafen Stubenberg stünde zur Verpachtung. Daraufhin fuhr Papa

nach Kapfenberg und schaute sich den Betrieb an. Die Sache

schien schwierig, aber machbar.

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Dann kam der Abschied von Knittelfeld.

Wir mussten das ganze Heu mitnehmen, weil ja der Winter vor der

Tür stand und wir Futter für unsere mittlerweile 30 Kühe brauch-

ten. Das Heu wurde zuerst mit einer Standpresse zu schweren

Ballen gepresst, und dann in einem beeindruckenden Transport

mit Lastwägen von Großlobming nach Kapfenberg gebracht. Fan-

ny führte die Kolonne mit dem Milchwagen an, aber 50 Kilometer

sind ja für ein Pferd keine Entfernung.

So hieß es für meine Eltern nach den Knittelfelder Aufbaujahren in

Kapfenberg noch einmal von vorn beginnen. •

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Kapfenberg, wir kommen!Richard erzählt:

Bei der Besichtigung der Landwirtschaft des Grafen Stubenberg

fand mein Vater dort drei Pächter bzw. Nutzer vor: Es waren dies

eine Gärtnerei, der bisherige Verwalter und die kinderreiche Fa-

milie Resch, die den Grund nördlich der Straße gepachtet hatte

und dort vielleicht drei oder vier Kühe hielt.

Ausschlaggebend für den Wunsch des Grafen, die Kapfenber-

ger Gründe ganz zu verpachten, war die finanzielle Situation

des Betriebes. Die ständig wechselnden Verwalter arbeiteten so

schlecht, dass alljährlich immer neue Verluste entstanden. Diese

musste der Graf ausgleichen, indem er jeweils viele Festmeter

Holz schlägern ließ. Mit der Verpachtung hatte er zumindest ge-

sicherte Einnahmen und brauchte nicht mehr draufzuzahlen.

Die Pacht des Verwalters lief 1932 aus, und er übernahm eine

kleine Landwirtschaft in Gratkorn. Mit zunehmend trüber Wirt-

schaftslage ging dann 1935 die Gärtnerei in Konkurs. Der Betrieb

war schwer verschuldet und machte kaum noch Geschäft. Über-

all wucherte das Unkraut. Daraufhin kam ein neuer Gärtner aus

Graz, der in Kapfenberg neu durchstarten wollte. Er sondierte die

Lage vielleicht acht oder zehn Tage lang und wurde von unserer

Mutter gut verpflegt. Anscheinend fühlte er sich von der Aufgabe

aber überfordert, denn eines Nachts verschwand er spurlos und

kam nie mehr zurück.

Also blieben wir ab 1935 als einzige Pächter zurück. Wir hatten

damals schon einige Knechte und stolze fünfzig Kühe. Das dürf-

ten uns manche geneidet haben, denn 1937 brachte der Obmann

der Genossenschaft Landforst eine Kontingentierungsvorschrif t

durch, die offenbar direkt auf uns zugeschnitten war. Für ein be-

stimmtes Kontingent bekamen wir 24 Groschen pro Liter Milch, für

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alles darüber nur noch 12 Groschen. Wir sollten „zurückgestutzt“

werden, doch das ließ sich Papa nicht gefallen.

Er beschloss, dass wir ab sofort unsere eigenen Jungtiere züchten

würden. Die Milch, die wir sonst zu einem Spottpreis hätten abge-

ben müssen, konnten die Kälber trinken. Wir bauten einen zusätz-

lichen Kuhstall und zogen darin unsere späteren Milchkühe auf.

Eines Tages, Anfang 1937, flatterte ein Expressbrief auf Papas

Schreibtisch. Tante Anna, Mamas Schwester, schrieb, der Nach-

barhof in Papas Heimatdorf Fluh, die „Howacht“, würde verstei-

gert. Papa solle doch zuschlagen, so würden zwei Geschwister-

paare in der alten Heimat zusammenkommen. Doch Papa konnte

nicht. Er hatte 100.000 Liter Most im Keller lagern, alle Fässer wa-

ren neu eingerichtet, die Mosterei erst so richtig angelaufen. Er

konnte nicht weg aus Kapfenberg.

Anders sah die Lage bei seinem Bruder Franzsepp in Winkl aus.

Der war viel zu spät ausgewandert und fand sich in der Steier-

mark schlecht zurecht. Er hatte Schulden und wurde von heftigem

Heimweh geplagt. Papa empfahl ihm, die Chance zu nutzen. Er

wollte keinesfalls, dass der Betrieb auf der Fluh in fremde Hände

käme. Doch Franzsepp hatte kein Geld, um das Vadium von zehn

Prozent zu erlegen.

Deshalb kaufte ihm Papa die Wirtschaft in Winkl ab. Wir stellten

12 Kühe hinein, die von einem Schweizer betreut wurden. Da die

Wohnungsnot in Kapfenberg damals groß war, fanden sich auch

sofort sechs oder sieben Parteien als Mieter für das Haus in Winkl.

Wir besaßen zu dieser Zeit bereits ein Pferdefuhrwerk, und Papa

kaufte 1938 in Riegersburg noch ein paar Pferde, unsere Schwar-

zen, dazu. Zu Beginn der Nazizeit hatten wir uns eine große Wirt-

schaft mit rund 60 Kühen aufgebaut. Aber die Zeiten sollten trotz-

dem nicht einfacher werden. •

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Der erste Tag in Kapfenberg

Als wir ankamen, durf ten wir das ebenerdige Haus gar nicht durch die Tür betreten. Die Frau des Verwalters ließ uns nicht hi-nein. Sie sperrte zu und so mussten wir durch das Fenster in die Stube klettern. Es war fix ausgemacht, dass wir den Betrieb und das Wohnhaus am 1. Oktober übernehmen sollten, aber die Fa-milie des Verwalters wollte zumindest letzteres um jeden Preis verhindern.

Es blieb uns nichts anderes übrig, als im Gasthaus Anzenberger zu übernachten, wo sie ein Fremdenzimmer hatten. Als wir dort ankamen, dachte ich: „Jetzt sind wir im Himmel!“ Dort hingen Luster von der Decke! So etwas Wunderbares hatte ich davor noch nie gesehen. Ich staunte und staunte – genauso stellte ich mir die Pracht des Himmels vor.

Am nächsten Tag wandte sich Papa an den Verwalter und sagte: „Das geht doch nicht! Wir haben das Vieh hier, das wir versorgen müssen. Wir können unmöglich weiter im Gasthaus herumsitzen.“

Schließlich gab der Verwalter klein bei und am 2. Oktober 1930 konnten wir unser damaliges und heutiges Wohnhaus beziehen.

Das alte Haus vor dem Umbau 1957

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Nazizeit— Verhaftung

Im März 1938 kam es zum Einmarsch. Kurz danach wurde unser

Vater verhaftet. Eines Abends warnte uns ein Bekannter, dessen

Sohn von Anfang an bei der SS war: „Herr Sieber“, sagte er, „Sie

stehen auch auf der Liste!“ Doch obwohl Papa sich immer ein-

deutig als „Schwarzer“ zu erkennen gegeben und Hitler als üblen

Kriegstreiber hingestellt hatte, maßen wir dem eigentlich keine

Bedeutung bei.

Am nächsten Tag beobachtete ich interessiert, wie von der Straße

her sechs Mann mit Bajonetten in unsere Richtung marschierten.

Ich dachte mir, endlich, jetzt kommen sie den Fritz, einen der Be-

wohner von Schloss Wieden, holen. Der soff sich fast zu Tode und

schlug seine Frau, die Gret. Er arbeitete nichts, drosch aber brutal

seine Frau. Im Stall bei der grünen Tür gab es ein Loch, durch das

man durchschauen konnte. Ich sah die Polizisten kommen und

war mir sicher, sie würden sich diesen Tunichtgut schnappen. Für

uns Buben wäre das eine kleine Sensation gewesen, das hätten

wir nur zu gern gesehen.

Doch der Trupp Polizisten marschierte am Schloss vorbei und

schnurstracks bei unserer Haustür hinein. Ich konnte gerade noch

mit ihnen ins Haus schlüpfen, neugierig, was sie vorhatten.

Papa saß nach dem Mistführen gerade am Tisch und jausnete.

„Herr Sieber?“ „ Ja.“ Sie hielten sich nicht lange mit Förmlichkeiten

auf: „Herr Sieber, Hausdurchsuchung wegen illegalem Waffenbe-

sitz!“, und „Im Namen des Gesetzes, Sie sind verhaftet!“

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Hedi stand an der schmalen Seite des Herdes, Mama kochte. Ich

weiß noch, wie trostlos diese Situation für uns war. Mama weinte,

und auch Hedi fing zu weinen an. Dann kam die Hausdurchsu-

chung. Die Polizisten filzten alle Zimmer, in jeden Kasten schauten

sie hinein. Wir gingen ihnen auf Schrit t und Trit t nach. Sie suchten

Waffen, durchwühlten alles, rissen sämtliche Laden auf.

Die Gendarmen im Haus, das war etwas ganz Schlimmes. Unheil

pur. Frisch und Fromm hießen zwei von ihnen! Von dem einen

kannten wir sogar die Familie. Die machten sich jetzt in unserem

Schlafzimmer breit und durchwühlten alles.

Was für ein Eindruck für uns Kinder! Unser großer, starker Va-

ter, unser Beschützer, der uns das Gefühl vermittelte, es könne

uns nichts passieren, weil er auf uns aufpasste... Und Mama,

die ganz verzagt und am Boden zerstört war. Wir waren wie ein

Haufen verschreckte Hühner. Dazu kam noch die Schande, dass

jemand aus der Familie eingesperrt wurde! Eingesperrt konnten

nur Gauner und Verbrecher werden, doch nicht unser Vater!

Der wollte sich nach dem Mistführen noch umziehen. Die Polizis-

ten ließen ihn nicht einmal dabei aus den Augen.

Dann marschierte der ganze Trupp um halb zwölf Uhr Mittag

mitten auf der Hauptstraße in die Stadt hinein. Vorneweg gingen

zwei Polizisten mit aufgepflanztem Bajonett, dann kam Papa und

hinter ihm marschierten wieder vier Polizisten. Hinein in die Stadt,

am Hauptplatz vorbei. Dort sperrten sie ihn ein.

Unser Vater war allerdings nicht der erste, den sie festgenom-

men hatten. Im Kotter traf er auf mehrere bekannte Kapfenberger,

einer von ihnen ein Medizinalrat. Dieser Arzt war ein fürchterli-

cher Feigling, wie Papa später erzählte. „Der Schuschnigg, dieser

Lausbub, hat uns die ganze Zeit belogen!“, soll er gesagt haben.

Jedes Mal, wenn er draußen vor dem Gemeindekotter ein paar

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Schuhe vorbeigehen sah – mehr konnte man von dort nicht sehen

–, schrie er hinaus, er sei unschuldig. Die anderen Inhaftierten

ärgerten sich sehr über dieses unwürdige Verhalten und drohten

ihm, dass sie ihn ordentlich verdreschen würden, sollte er keine

Ruhe geben.

Als man dem Gott in Weiß zutrug, die ganzen ehemals heimlichen

Nazi würden mit seinem kostbaren Auto durch die Stadt kutschie-

ren, säuselte er: „Sollen nur fahren! Sollen ruhig damit fahren!

Sind ja lauter fesche Burschen. So ein Auto ist ja schließlich zum

Fahren da, nicht zum Stehen.“

Dann jammerte er wieder: „Ich gehe hier herinnen zugrunde und

meine Frau geht daheim zugrunde.“ Sobald er irgendeinen SS-

ler sah, rief er laut: „Fesche Burschen, man schaut sie einfach

gern an, diese feschen Burschen!“ Kommunisten waren auch mit

Papa eingesperrt, doch die ließen sich zu einem solchen Gewin-

sel nicht hinreißen.

Die Verhaftung ging auf das Konto eines Nachbarn. Der Inhaber

der örtlichen Gärtnerei hatte 1935 Konkurs anmelden müssen,

während wir mit unserer Landwirtschaft trotz Wirtschaftskrise

durchkamen. Also dachte er wohl, jetzt als Nazi könnte er dem

Sieber eins auswischen. Ein anderer SS-Mann aus dem Schloss

war ebenfalls an der Aktion beteiligt, doch es war der Gärtner,

der uns anzeigte.

Zum Glück sah Papa einen Polizisten an der Zelle vorbeigehen,

den er kannte. Nur der Name war ihm entfallen. Er war viel früher,

1934 oder 1935, auf der Suche nach Illegalen zu uns gekommen.

Wir hätten aussagen sollen, was sich drüben im Glashaus der

benachbarten Gärtnerei abspielte. Doch Papa wollte niemanden

verpfeifen und gab sich zugeknöpft: „Das weiß ich wirklich nicht.

Am Tag muss ich arbeiten und in der Nacht schlafe ich. Ich küm-

mere mich um nichts, mir ist nichts aufgefallen.“

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Doch natürlich war er genau im Bilde. An vielen Abenden sah

er illegale Nazi ins Glashaus der Gärtnerei gehen. Dann brannte

dort immer Licht. Er wusste das zwar, unternahm aber nichts. Er

war nur Pächter. Er hätte sie anzeigen können, tat es aber nicht.

Also erklärte Papa dort im Gemeindekotter, einer der Polizisten

von damals versehe immer noch Dienst. Er könne sich zwar nicht

an den Namen erinnern, würde aber beschreiben, wie er aus-

sehe. Daraufhin schickten sie zwei Uniformierte in die Zelle, auf

die die Beschreibung passte. Und einer von ihnen war tatsächlich

dieser Polizist.

„Herr Sieber behauptet, Sie wären 1934 draußen in Schloss Wie-

den gewesen und hätten Einvernahmen durchgeführt. Was hat

Herr Sieber damals gesagt?“ Daraufhin bemühte der Polizist sein

Gedächtnis: „Das ist zwar schon lange her, doch soweit ich mich

erinnere, hat uns Herr Sieber damals nur gesagt, er würde am

Tag arbeiten und in der Nacht schlafen, also könne er nichts wis-

sen.“ Das dürf te ausschlaggebend gewesen sein, dass sie Papa

schon nach 24 Stunden wieder freiließen.

Es war insgesamt schwer damals. Leute, die man von früher

kannte, die man für ehrenwerte Leute hielt, sollte man von ei-

nem Tag auf den anderen verurteilen? Man hielt sie auch später

nicht automatisch für schlecht, nur weil sie eine andere Meinung

hatten. Viele mussten ja auch büßen. Manche blieben allerdings

bis zu ihrem Tod überzeugte Nationalsozialisten und konnten nie

loslassen.

Als „Schwarzer“ war unser Vater geächtet in dieser Zeit. Zwei

Bauernkollegen drohten ihm in Bruck auf der Bezirksbauernkam-

mer – Kreisbauernschaft hieß es damals – ziemlich unverhohlen:

„Wenn erst der Führer den Endsieg errungen hat, werden sie dich

in den Osten verfrachten.“ Aber sie irrten. Sie waren es, die später

beide nach Wolfsberg zur Entnazifizierung kamen.

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Weil Papa der tüchtigste Milchlieferant der ganzen Gegend war,

brauchten sie ihn. Und weil er aus dem Ersten Weltkrieg eine

kaputte Hand mitgebracht hatte, ließen sie ihn zu Hause. Zum

Volkssturm hätte er trotzdem noch einrücken sollen. Aber schon

wieder hatte er Glück: Er kannte einen gewissen Doktor Spänle

vom Böhlerwerk, der für die Rekrutierung zuständig war. Den hat-

ten unsere Eltern ein oder zweimal zum Essen eingeladen. Nun

ersparte er Papa diesen gefährlichen, unsinnigen Einsatz.

— Wirtschaften in der Nazizeit

In Feldbach kaufte Papa 1938 zwei schwarze Pferde. Mit unserer

Landwirtschaft ging es aufwärts. So hatten wir 1939 schon 100

Rinder, vier Pferde und vielleicht fünfzehn Schweine. Zwei Ross-

knechte, drei Melker, vier Handknechte und eine Hausgehilfin ar-

beiteten bei uns.

Das bedeutet, dass wir zehn, mit Winkl sogar elf Leute angestellt

hatten.

Dann begann im September der Krieg. Ich kann mich noch genau

erinnern, wie Papa vor dem Radio saß, als England und Frank-

reich Hitler den Krieg erklärten. „Das ist jetzt nicht mehr wie im

Familie Sieber 1938

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Sudetenland, wo nur unsere Gretl2 hat einrücken müssen. Jetzt

ist es ernst und wir müssen schauen, wo wir bleiben. Wir sind in

Kapfenberg nur Pächter und 1942 läuft unser Pachtvertrag aus.

Außer Winkl haben wir nichts Eigenes, aber ein bisschen Geld

haben wir gespart. Jetzt müssen wir etwas kaufen!“

Hinter der Entschlossenheit unseres Vaters stand die Erinnerung

an seinen Onkel Plazidus und wie es diesem im Ersten Weltkrieg

ergangen war. Der Onkel arbeitete als Kammerdiener bei einem

Grafen und ersparte sich dabei so viel Geld, dass er eine gro-

ße Landwirtschaft hätte kaufen können. Doch als er 1922 starb,

konnte mit dem verbliebenen Geld nicht einmal mehr sein Be-

gräbnis bezahlt werden. So galoppierend war die Inflation, das

Geld völlig entwertet.

Also suchte Papa überall. Er beauftragte einen Realitätenvermitt-

ler namens Luttenberger in Gleisdorf mit der Suche. Gemeinsam

schauten sie sich mehrere Landwirtschaften in der Oststeiermark

an. Darunter war auch ein Hof in St. Ruprecht, ein Erbhof, auf dem

zwei alte Frauen lebten. Einer der Erben war Pfarrer in Köflach

und kam daher für die Bewirtschaftung nicht in Frage. Luttenber-

ger meinte, die beiden alten Frauen könnten die Wirtschaft doch

nicht weiterführen. Papa interessierte sich für den Hof und fand,

er sei für die Milchwirtschaft geeignet. Die Immobilie war arron-

diert, Haus und Stall standen in der Mitte, hier konnte man Kühe

halten.

Jetzt war es aber so, dass man in der Nazizeit die Bauernfä-

higkeit nachweisen musste und auch politisch hät te es irgend-

wie passen sollen. Unser Vater war seit jeher als Schwarzer

bekannt, weil er ja immer in die Kirche ging. Er sympathisier te

in keiner Weise mit dem Nationalsozialismus und war in kei-

ner politischen Funktion, während viele andere Bauern plötz-

lich erklär ten, sie wären schon lange vor dem Anschluss Nazi

gewesen.

2 Ein Pferd

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43

Deshalb gestaltete sich der Kauf von St. Ruprecht ziemlich kom-

pliziert. Die Behörde verlangte die Zeugnisse von uns drei grö-

ßeren Kindern – Herbert ging noch nicht in die Schule – und wir

mussten alles kopieren lassen. Das wurde in den 1930er Jahren

noch händisch abgeschrieben. Danach schickten wir alle Do-

kumente und Kopien ein. Zur Bescheinigung der Bauernfähig-

keit forschten sie nach, ob vielleicht irgendjemand in der Fami-

lie unter einer Erbkrankheit lit te. Eine Hasenscharte hätte schon

gereicht, schon wäre man aus dem Rennen gewesen. Wenn

damals ein Bauer eine Erbkrankheit hatte, eben vielleicht eine

Hasenscharte, oder wenn in der Familie ein Tschapperl war,

nahm man ihm den Erbhof weg.

Unserem Vater konnten sie die Bauernfähigkeit jedenfalls nicht

absprechen. Anscheinend befand man auch uns Kinder und

die Schulzeugnisse für in Ordnung, sodass uns die Wirtschaft in

St. Ruprecht für 42.000 Reichsmark zugesprochen wurde.

Unser Vater kaufte also die Wirtschaft und stellte erst im Nachhi-

nein plötzlich fest, dass der Zufahrtsweg vom Friedhof hinaus ja

gar kein Rechtsweg war. Die beiden alten Frauen wussten darü-

ber nicht Bescheid. Also wurde vereinbart, einen Teil des Kaufbe-

trages einzubehalten, bis das Wegerecht geklärt wäre, was dann

auch klappte.

Nun kam unser Knecht Michl mit 12 Kühen hinunter nach St. Rup-

recht. Wäre er in Kapfenberg geblieben, hätte er als 1907er Jahr-

gang sofort einrücken müssen. Unten aber war er Betriebsführer,

was auch vom Wehrbezirkskommando Weiz bestätigte wurde.

Allerdings mussten wir jeden Monat neu ansuchen, dass Michl

bleiben konnte. Ein anderer Knecht, Hermann, wurde tatsächlich

sofort eingezogen. Erst als wir erklärten, wir hätten so viele Kühe

und müssten fast ganz Kapfenberg versorgen, durf te er wieder

zurückkommen.

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44

— Mistführen mit Forella

Mit 14 Jahren trat ich aus der Schule aus. Wir hatten bereits über

100 Stück Vieh, und im Stall war kein Platz mehr. Also pachteten

wir den Essenko-Stadl, wo jetzt die Kirche zur Heiligen Familie

steht. Nach einer Vereinbarung zwischen Papa und Frau Essenko

bekamen wir auf der Straßenseite einen Stall für uns. Frau Essen-

ko hatte noch vier Kalbinnen, die wir ihr abkaufen konnten, und

zusätzlich stellten wir selbst 12 Kalbinnen dazu hinaus, also hat-

ten wir in diesem Stall insgesamt 16 Kalbinnen.

Ich wurde kurzerhand zum „Betriebsleiter“ dieser Außenstelle er-

nannt, was bedeutete, dass ich die Kühe hüten, füttern und den

Stall ausmisten musste. In der Früh ging zwar einmal ein Knecht

durch zum Füttern, aber gleich darauf war ich dran mit Wässern.

Es gab einen großen Brunntrog, zu dem wir die Kalbinnen hin-

führten. Während sie tranken, musste ich den Stall putzen und

dann den Mist mit der Scheibtruhe wegführen, mindestens 150

Meter weit, weil wir unseren Mist nicht auf den Misthaufen von

Frau Essenko leeren durf ten.

Ein paarmal plagte ich mich mit der Scheibtruhe, dann wurde es

mir zu dumm. Ich schaute mir die Kalbinnen an, deren Charak-

tereigenschaften ich beim Hüten genau beobachtet hatte. Was

ich brauchte, war eine starke und ruhige Kalbin. Unsere Große,

Alma, war sehr schnell und ziemlich wild. Für die, dachte ich mir,

bin ich zu schwach, ich kann sie nicht ziehen.

Also versuchte ich mein Glück mit Forella. Aus Winkl hatte ich mir

einen Kaps beschaff t, einen zweirädrigen Pferdewagen, doch

den wollte ich nicht gleich riskieren. Ich startete einen ersten Test

mit einem großen Stein, den ich Forella ziehen ließ. Als das klapp-

te, spannte ich sie in den Kaps ein – und tatsächlich, sie zog gut.

Ab diesem Zeitpunkt brauchte ich den Mist nur noch in den Kaps

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45

einzuschaufeln und schaff te dank Forella alles mit einer einzigen

Fuhre pro Tag. Ich fühlte mich wie ein gemachter Mann.

Die Sache funktionierte wie am Schnürchen, so dass ich über-

legte, ob ich nicht auch noch Alma dazu stellen sollte. Sie ging

fast so gut wie ein Pferd, denn sie war viel größer und schneller

als Forella. Schließlich hatte ich es mit den zwei Kalbinnen beim

Mistführen richtig komfortabel.

Dann begann der Krieg, und unsere drei Knechte mussten ein-

rücken. Auch den Hermann zogen sie ein. Er war Tiroler und

– leider – ein ausgezeichneter Schütze. Papa ärgerte sich sehr,

dass er so gut schoss, obwohl er doch sonst so dumm war. Er

dachte, würde er danebenschießen, käme er schneller wieder

nach Hause.

Ein anderer Knecht, Hans, hatte damals schon eine Schreibma-

schine. Also erklärte ich, ich wollte auch so ein Gerät. Damals

war ich 14. Tatsächlich fuhr Papa unmittelbar nach Kriegsbeginn

hinüber nach Bruck und kaufte unsere Schreibmaschine, die wir

bis heute haben. Sie war das allerletzte Stück, das man ohne Be-

zugschein bekam.

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46 46

— St. Ruprecht - als Sommerfrische umstritten

Bereits 1940 und dann noch einmal 1941 kamen Hedi und Herbert

zum Michl nach St. Ruprecht auf „Sommerfrische“. Die beiden fan-

den das grässlich und wissen darüber einiges zu berichten.

Ich selbst war 1941 ganze vier Monate unten und in dieser Zeit

zur Hochzeit unseres Knechtes Michl mit unserer Kusine Laura

eingeladen. Auf diesem Fest bekam ich das erste Mal Wein zu

trinken. Natürlich erwischte ich gleich zu viel. Wir waren zum

Mit tagessen in einem Gasthaus, der Wein schmeckte ganz pas-

sabel, und ich dachte mir nichts. Plötzlich bekam ich das Gefühl,

dringend hinaus zu müssen, aber ich erwischte die Türschnalle

nicht. Irgendwie schaf f te ich es schließlich, doch kaum war ich

im Freien, wurde mir speiübel! Ich übergab mich gleich durch

ein Kanalgit ter.

Als ich aufschaute, stand eine ganze Schulklasse um mich he-

rum und glotzte. Ich schämte mich fürchterlich, raff te mich auf

und rannte in den Pferdestall. Dort musste ich mich am Schwanz

eines Pferdes anhalten, erbrach mich aber trotzdem gleich noch

einmal. Mir war so übel, dass ich gleich ins Bett kroch.

Die Festgemeinschaft kam erst gegen Abend, rechtzeitig zur

Stallarbeit, zurück, und da wollte auch ich aufstehen. Obwohl ich

schon ein bisschen klarer im Kopf war, fühlte ich mich immer noch

miserabel.

Das war 1941. Ich blieb noch über Weihnachten und bis ins neue

Jahr. Am Heiligen Abend goss es wie aus Kübeln, daran erinnere

ich gut. Kurz nach meiner Rückkehr nach Kapfenberg kam schon

Michls und Lauras Tochter Trude auf die Welt. Ich hatte nicht ein-

mal bemerkt, dass Laura schwanger war.

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Herbert

Mir war sagenhaft fad in St. Ruprecht. Daheim hatte ich die ande-ren Buben zum Spielen und dort keinen Menschen. Also setzte ich mich, frustriert und enttäuscht, wie ich war, auf den Heuboden, um auf Papa zu warten, der sich fürSonntag angesagt hatte.

Stunde um Stunde starrte ich bei einem Guckloch hinüber zum Friedhof und hoff te, er würde es vielleicht doch schon früher schaffen. Irgendwann sah ich ein Ehepaar kommen. Ich rannte den beiden ganz glücklich entgegen, aber leider – falsch gera-ten. Schließlich kam Papa doch, und zwar wie angekündigt. Dank meiner Begeisterung für alles, was mit der Bahn zu tun hatte, kannte ich die Ankunftszeit des Zuges genau.

Von weitem sah ich einen Mann kommen, der ein paar Schritte in die Wiese hinein tat und prüfend eine Handvoll Heu aufhob. Da wusste ich sofort: das ist Papa.

Später gefiel es mir dann schon in St. Ruprecht, aber die ersten paar Tage waren hart.

Hedwig

Im Sommer 1942 hieß es wieder nach St. Ruprecht fahren, nach-dem ich schon im Jahr zuvor meine „Sommerfrische“ dort hatte verbringen müssen. Das war das Grässlichste für mich. Ich weiß noch, dass ich beim Brunntrog neben der Linde auf das Baby aufpassen musste. Am liebsten hätte ich es in den Brunntrog geschmissen, so sehr hasste ich das Babysitten. Wie sterbens-langweilig das war! Aber es half nichts, niemand erlöste mich von meiner Qual.

Es gab in St. Ruprecht absolut nichts Vernünftiges für mich zu tun. Außerdem hatten sie nichts zu lesen dort unten. Ich fand nur die uralten Sonntagsblätter, die die Vorbesitzerin, Frau Hasenhüttl, aufgehoben hatte, sonst war nichts im Haus. Nicht einmal eine Tageszeitung hatten sie abonniert. St. Ruprecht war für ein Kind wie mich wirklich trostlos, das Allerletzte.

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— Reitkurs mit Hindernissen

Genau an meinem 17. Geburtstag, dem 27. August 1942, musste

ich in der Hauptschule in Kapfenberg zur Musterung. Trotz meiner

zehn Kilo Untergewicht schrieben sie mich tauglich. Doch ich hat-

te noch etwas vor. Ich wollte einen Reitkurs machen.

Als Pferdenarr war ich Abonnent der deutschen Reiterzeitung „Land-

volk im Sattel“. Darin fand ich die Adressen von diversen Reitschu-

len, die ich anschrieb. Mir blieben sechs Wochen Zeit, von 15. Okto-

ber bis 1. Dezember. Auf meine Anfragen erhielt ich Angebote von

drei- und sechswöchigen Kursen. Drei Wochen waren mir zu wenig.

Ich hatte keine Reitstiefel. Deshalb wollte ich wissen, ob ich even-

tuell auch mit Gamaschen kommen könne, mit hohen Schuhen

und ledernen Wickelgamaschen. Die gehörten einem unserer

Rossknechte. Man erlaubte es mir.

Ein Bekannter, der jeden Abend zu uns zum Essen kam, hatte von ei-

nem französischen Gefangenen eine Hose eingehandelt. Er gab sie

mir, eine französische Pumphose aus einem ausgesprochen guten

Stoff. Daraufhin ging ich in die Stadt zum Schneider Lehner und frag-

te, ob er mir aus der Pumphose eine Reithose schneidern könnte.

Unten mussten sie ein Stück braunen Stoff anstückeln, weil der Stoff

nicht reichte, aber ich bekam eine unglaublich robuste Reithose!

Mama schimpfte: „Du wirst doch nicht so blöd sein und nach

Deutschland hinausfahren!“ Sie hielt meine Idee für brandgefähr-

lich. Jedenfalls steckte sie es allen, die zu uns kamen, jeder hätte

mir abraten sollen. Sogar der Bekannte, der mir die Hose gege-

ben hatte, wollte mir mein Vorhaben ausreden.

Ich habe mir die Freude aber nicht nehmen lassen. Egal, was die

anderen sagten: ich kontaktierte die Reitschulen, meldete mich

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bei einer an und fuhr auch gleich hinaus nach Deutschland. Eine

Bekannte, die damals bei der Bahn arbeitete, schrieb mir die Zug-

verbindungen heraus.

Die Route verlief über das Protektorat Böhmen und Mähren. Dort

wurde der Zug zugesperrt und niemand durf te herein oder hin-

aus. Über Lundenburg ging es aus Österreich hinaus, bei Aus-

sig an der Elbe (Ùsti nad Labem) querte der Zug die deutsche

Grenze.

Ich hatte noch Zeit, mir in Dresden alles anzuschauen. Danach

fuhr ich hinaus zum Jagdschloss Wernsdorf.

Es war nicht unbedingt die gemütlichste Zeit in meinem Leben. Es

regnete wie verrückt, und ich hatte zum ersten Mal richtig Hunger.

Daheim war ich ja ziemlich heikel, und ich aß sicher nicht alles.

Aber in Wernsdorf, da musste ich das Stammgericht essen. Es

gab nur Quark und Spinat. Quark, das war Topfen. Ja, eine Suppe

kochten sie, die ich ohnehin nicht mochte, und Spinat, den ich

bis dahin noch nie auch nur angeschaut hatte. Irgendwann aber

wurde mein Hunger so übermächtig, dass ich sogar Quark und

Spinat aß. Es tat mir nicht gut, denn danach war ich drei Tage lang

krank. Seither habe ich nie mehr in meinem ganzen Leben Spinat

gegessen.

Zu diesem Reitkurs kamen damals Leute aus ganz Deutschland.

Einer der Teilnehmer hieß Hans-Karl von Vocht-Fritz und prahlte:

„Wir haben ein doppeltes Rittergut zu Hause.“ Er trug eine kom-

plette Reiterdress aus Leder, aber das Waschen kannte er nur

vom Hörensagen.

Ein anderer Teilnehmer war winzig klein und aß ständig Zahnpas-

ta. Die verschiedensten Leute traf man dort. Sehr viele kamen von

der Reiter-SA aus Schlesien, aus Ratibor, Katovice und solchen

Orten. Sie waren Oberschlesier und meine Zimmerkollegen.

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Sie behaupteten, das schönste Deutsch zu sprechen. „Wir spre-

chen wie der Führer!“, sagten sie, nur um dann gleich polnisch

weiterzureden. Ich hatte wenig Vertrauen zu diesen Leuten und

schaute mich um, ob nicht in einem anderen Zimmer ein Platz frei

wäre. Als ich einen fand, wechselte ich sofort. Doch zu spät, sie

hatten mir mein Geld gestohlen. Die halbe Anzahlung hatte ich zu

Beginn leisten müssen, den Rest verwahrte ich in meinem blauen

Rock. Ich hatte meine Markscheine möglichst klein zusammenge-

legt und ganz tief in den Innenrocksack hineingesteckt. Auf ein-

mal greife ich hinein – kein Geld mehr da.

Sofort zeigte ich den Diebstahl an. Ob ich Vermutungen hätte?

Ich sagte gleich: „In meinem Zimmer sind lauter Oberschlesier.“

Ein Gendarm nahm alles auf. Ich konnte meinen Kasten nicht ver-

sperren, weil jemand das Schloss herausgerissen hatte.

Den Rest des Kursbeitrags verweigerte ich dann mit dem Argu-

ment: „Wenn ich meinen Spind nicht richtig zusperren kann, brau-

che ich auch nichts zu zahlen.“

In Wernsdorf machte ich die Prüfung für das deutsche Fahrerab-

zeichen. Doch da ich den Kursbeitrag nicht bezahlt hatte, bekam

ich das Abzeichen nicht. Mir war es egal. •

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Meine Pferde

Vom Pferdevirus wurde ich 1929 im Alter von vier Jahren ange-steckt, als mein Vater unsere dreijährige Norikerstute Fanny ver-kaufte. Damals wurden die Pferde zum Verkauf mit langen bun-ten Bändern an Mähne und Schweif geschmückt. Für mich war der Tag des Verkaufs aber ein schwarzer Tag. Der Abschied wird mir immer in Erinnerung bleiben.

In der NS-Zeit gab es die Zeitschrif t „Landvolk im Sattel“, in der alle großen Reitschulen Deutschlands vorgestellt wurden. Das war etwas für mich! Nachdem ich alles über die verschiedenen Schulen gelesen hatte, entschied ich für das Jagdschloss Werns-dorf in Sachsen. Dort absolvierte ich meine Reitausbildung.

Nach dem Kriegsende liefen viele herrenlose Pferde herum. Abertausende Heimatvertriebene waren mit ihren Gespannen unterwegs. Man sah oft neugeborene Fohlen, deren Füße zum Schutz der Hufe in Lappen eingewickelt waren. Die Russen hat-ten viele der herrenlos herumlaufenden Pferde rücksichtslos zu-sammengeritten, so dass sie ihre Knie nicht mehr durchstrecken konnten. Ich bekam eine junge schwarze Vollblutstute geschenkt, die mir viel Freude bereitete.

1948 gründete ich die erste steirische Warmblut-Reitergruppe, mit der wir auch in Graz auftraten. Meine Fanny trug mich zum Sieg.

Viele Jahre später fuhr ich zu einer großen Pferdeauktion nach Polen, bei der die Pferde nur in Dollar gehandelt wurden. Einen vierjährigen Schimmel-Wallach, einen großen Anglo-Araber, konnte ich ersteigern, obwohl mir zuvor Reiter aus Schweden und Italien den Preis in die Höhe getrieben hatten. Der Name dieses Pferdes war Index. Im Reitclub Schloss Graschnitz, wo ich seit sei-ner Gründung Mitglied bin, hängt heute noch ein großes Bild von ihm in der Stube.

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Im Jänner 1991 fuhr ich zur Winterauktion nach Verden in Deutschland. Dort nahm ich Graphita, eine Schimmelstute, ins Visier (ihre Tochter hatte die Staatsprämie erhalten). Graphita war von Ritual trächtig. Die ersten Ritual-Fohlen waren hochprei-sig über die Auktion gegangen. Am selben Tag wurde auch das Wunderpferd E.T. von Hugo Simon versteigert. Unter E.T.s Namen stand: „Springreiter aufgepasst!“

Durch einen Impffehler wurde Graphitas Fohlen tot geboren. Danach wurde Graphita von Loretto B. gedeckt und brachte ein Hengstfohlen zur Welt, das in der Steiermark 35 Punkte erreichte. In Stadl-Paura erregte das Fohlen großes Aufsehen. Gebote bis 120.000 Schilling gab es für den Kleinen. Wegen des toten Foh-lens bekam ich vom Hannover-Verband einen Gutschein über 10% des Kaufpreises für das nächste Pferd. Um diese 10% zu lukrieren, musste ich allerdings tüchtig hineinbeißen!

Ein weiser Mann sagte einst: „Ein Pferd und ein Auto sollen nicht nur zweckmäßig sein, sondern auch schön!“ Perina war ein sehr schönes Fohlen. Fritz Kargl brachte es in die Steiermark. Mit drei Jahren wurde Perina bei Hans Riegler, Oberbereiter der spani-schen Hofreitschule in Wien, ausgebildet. Dort wurde sie auch von dem bekannten Trakhener-Hengst Atlas gedeckt. Bei der Zuchtbuchaufnahme in Graz wurde sie Siegerin. Sie brachte ei-nen Fuchshengst zur Welt, der mit drei Jahren wieder bei Hans Riegler ausgebildet und dann nach Dänemark verkauft wurde.

Das nächste Fohlen von Perina war ein braunes Stutfohlen von Periander, das bei der Fohlenschau in Graz Reservesiegerin wur-de. Als nächstes kam La Paloma zur Welt.

Das letzte Fohlen von Perina stammte von Hofrat. La Paloma wur-de von Conthargos besamt. Ihr Hengstfohlen Condor S. wurde in Graz Sieger unter den springbetonten Fohlen. In Stadl-Paura wurde er gemeinsam mit den dressurbetonten Fohlen vorgestellt, zeigte dort jedoch nicht seine ganzen Qualitäten. Er wurde Achter. Glücklicherweise bekam ich eine Halbschwester des Olympiasie-gers und Weltmeisters Walegro namens La Negra.

Ein altes Sprichwort sagt: „Wer mit Hühnern und Pferden reich wird, wird nie mehr arm!“ Um den Beweis dafür anzutreten, bin ich aber anscheinend noch zu jung.

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Richard auf der berühmten Mausi

Richard reitet 1951

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Kriegszeit— Arbeitsdienst

Am 13. Jänner 1943 – ich war 18 Jahre alt – musste ich zum Ar-

beitsdienst antreten. Das war gleichzeitig auch die Einberufung.

Ausgestattet mit einem alten hölzernen Koffer, der noch aus dem

Ersten Weltkrieg stammte, rückte ich zusammen mit meinem

Freund Richerl ein. Er und ein weiterer Schulkollege kamen nach

Lebring, ich selbst nach Werndorf.

Wie wir dort traktiert wurden! Gehen war prinzipiell verboten.

Außerhalb der Unterkunft mussten wir uns ausnahmslos im

Laufschrit t bewegen. Unsere Latrinen lagen 300 Meter entfernt,

mitten im Wald. Dazu erhielten wir die Vorschrif t: „Austreten nur

komplett angezogen!“, und das galt natürlich auch in stockfins-

terer Nacht. Wer sich, weil er es eilig hatte, einfach den Mantel

über das Nachthemd zog, bekam eine Woche Strafdienst aufge-

brummt.

Ständig inspizierten die Aufseher die Baracke. Sie wischten mit

der Hand auch über die entlegensten Flächen. Wurden sie fün-

dig, bekamen wir den Dreck gleich ins Gesicht geschmiert. Das

hinterließ schwarze Streifen und sollte uns lächerlich machen. Um

10 Uhr abends wurde „ausgestaubt“. Zur Kontrolle, ob wir genau

gearbeitet hatten, blies ein Arbeitsdienstführer in den Ofen. Er

wartete nur darauf, Ruß aufstieg, denn dann drohte uns Unheil.

Von diesem Arbeitsdienst habe ich bis heute Narben an den Fü-

ßen. Sie stammen von den Schuhfetzen, die wir uns in die Stiefel

stopfen mussten. Reine Schikane.

Danach ging es ins heutige Slowenien nach Sterntal bei Pettau

(Strnišče bei Ptuj). Hitler hatte vor, dort eine große Aluminiumfabrik

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zu bauen. Dazu sollten wir einen Wald roden und die Stämme

wegtragen – ohne Pferd oder sonstige Hilfsmittel. Jeweils sechs

bis acht Mann nahmen sich einen Baum vor. Wir mussten die

Wurzelstöcke mit einem Dreifuß herausziehen: ausgraben rund-

herum, einhaken und mit einer Ratsche die Stöcke herausarbei-

ten. Zähe Kiefern waren das.

Neben unserem Lager befand sich ein KZ. Die Insassen, die zum

Kanalgraben gezwungen wurden, sahen aus wie der Tod. Man

hatte sie in Serbien und von überall in der Gegend zusammenge-

fangen. Schon damals war uns klar: Wer es wagen sollte, ihnen

Erdäpfel oder etwas anderes zu essen über den Zaun werfen,

wäre selbst gleich der nächste Kandidat fürs KZ. Menschen wur-

den in dieser Zeit wie Vieh behandelt.

Nach fünf Monaten, am 16. Juni 1943, war der Arbeitsdienst be-

endet. Endlich konnte ich nach Hause zurückkehren, wo meine

Arbeitskraft dringend benötigt wurde.

Richard (Zweiter v. r.) beim Arbeitsdienst

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Das Lager Sterntal

Das Lager Sterntal (auch Sternthal, slowenisch Taborišče Šterntal oder Strnišče) war ein Internierungslager im Gebiet der heutigen Gemeinde Kidričevo bei Ptuj, das während des Zweiten Welt-kriegs als Arbeitslager beim Bau einer Aluminiumfabrik und im Jahre 1945 als zentrales Sammellager bei der Vertreibung der ethnischen Deutschen aus Slowenien diente.

Während des Ersten Weltkriegs entstand hier ein Kriegsgefange-nenlager. Später diente es als Flüchtlingslager für Flüchtlinge aus dem Küstenland, von wo viele Zivilpersonen wegen der Isonzo-Schlachten fliehen mussten. Des Weiteren befand sich auf dem Gelände ein Lazarett, in dem Verwundete der Isonzo-Front ver-sorgt wurden.

1942 richteten die deutschen Besatzungsbehörden ein Arbeits-lager ein, in dem Kriegsgefangene und Zwangsarbeiter für den Bau einer Tonerdefabrik zur Aluminiumproduktion an der Eisen-bahnstrecke Ptuj-Pragersko interniert wurden. Für die notwen-dige Elektrizität war ein Wasserkraftwerk an der Drau vorgese-hen. Neben Gefangenen wirkten am Bau auch reguläre Arbeiter mit. Die Vereinigten Aluminiumwerke (VAW) begannen mit dem Bau der Fabrik 1942, doch konnte das Werk bis Kriegsende nicht vollendet werden. Die Fertigstellung der Aluminiumfabirk (heute Talum) erfolgte erst in den Jahren 1947–1954. Am 15. März 1944 verfügten die Besatzungsbehörden, dass Familienangehörige von Deserteuren zu Zwangsarbeit verpflichtet würden. Das Lager Sterntal, das viele der Betroffenen aufnahm, wurde in Strafson-derdienstpflichtlager Sterntal umbenannt.

Im Mai 1945 errichtete die OZNA unter der Leitung von Aleksan-dar Rankovič auf dem Gebiet des ehemaligen Zwangsarbeiter-lagers ein „Konzentrationslager„ (koncentracijsko taborišče), in das Volksdeutsche aus ganz Slowenien, insbesondere aus der Untersteiermark und der Gottschee gebracht wurden. Daneben wurden dort auch Slowenen sowie Angehörige der ungarischen Minderheit aus Prekmurje festgehalten.

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Auf Grund von Überfüllung und schlechter Hygiene breiteten sich im Lager Sterntal Krankheiten aus, darunter Ruhr und Typhus. Die Gefangenen waren besonderen körperlichen und seelischen Quälereien ausgesetzt, viele wurden auch erschossen. Unter den Todesopfern waren besonders viele Kleinkinder und Alte. Neben „Altersschwäche„ wurden besonders Diarrhoe und Dysenterie als Todesursache angegeben. Insgesamt sind im Lager Sterntal, das für 2000 Personen bestimmt, aber ständig mit etwa 8.000-12.000 Personen belegt war, zwischen 800 und 1.000 und 4.000 Men-schen von Mai bis Oktober 1945 bzw. bis zu 5.000 Menschen in der Gesamtzeit seines Bestehens umgekommen, jedoch liegen keine genaueren Daten vor.

Im Oktober 1945 wurde das Lager Sterntal nach Intervention des Roten Kreuzes aufgelöst und die Überlebenden – soweit sie nicht in andere Lager kamen – mehrheitlich nach Österreich abgeschoben.

Quelle: http://de.wikipedia.org/wiki/Lager_Sterntal

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— Was heißt da freiwillig?

Dass ich für das NS-Regime nichts übrig hatte, zeigt eine Ent-

scheidung aus dem Jahr 1943, die die Weichen für mein Leben

in der Kriegszeit stellte. Ich war damals knapp 18. Die körperlich

Größeren unserer Gruppe, der sogenannte erste und zweite Zug,

sollten zum Arbeitsdienst. Kurz vor einer Übung hieß es plötzlich:

„Erster und zweiter Zug im Trainingsanzug in den Tagesraum!“

Wir wussten erst gar nicht, was los war. Offensichtlich sollte die

geplante Übung nicht stattfinden. Also hieß es umziehen, und

dann ging es ab in den Tagesraum. Dort harrten wir der Dinge,

die da kommen sollten. Auf einmal fuhren zwei Schwimmwagen3

vor, die SS war im Anmarsch.

Wir sahen sie sofort: zackige Burschen aus dem

Reich mit Tellermützen. So kamen sie daher. Sie

stürmten in die Baracke und hielten sofort einen

flammenden Vortrag über die Waffen-SS. Was

die Waffen-SS sei, welche grandiosen Aussich-

ten man als SS-Mann nach dem Sieg hätte. Je-

der bekäme eine garantierte Staatsanstellung.

Konkret: „Zuerst vom Arbeitsdienst abrüsten,

dann eine gediegene Ausbildung im Reich, an-

schließend einen Heimaturlaub und danach ab

an die Front“, sagten sie. Zusätzlich lagen in der

Baracke diverse Broschüren auf – Werbung für

die SS-Panzerdivision, die SS-Meldereiter und

die sonstigen Einheiten.

Eine Weile redeten sie so auf uns ein, dann fragten sie abrupt:

„Na, und wie viele melden sich jetzt? Wer will zur SS?“ Zehn von

uns zeigten auf. Einer von ihnen war 1,90 m groß und wog viel-

3 Allradgetriebenes

Amphibienfahrzeug

SS-Werbeplakat

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leicht 55 kg. Ich dachte: Wenn sie den nehmen, sind sie offenbar

nicht mehr sehr wählerisch.

Aber die SS-Männer achteten nicht auf unsere Verfassung. Sie

herrschten uns an: „Was? Zehn Männer nur? In anderen Abteilun-

gen melden sich die jungen Burschen vollzählig.“

Dann befahlen sie uns, uns split ternackt auszuziehen, und schon

ging es los. Die Freiwilligen saßen bereits hinten, eine ganze Rei-

he, es war schon alles notiert worden. Die SS-ler hatten sämtliche

Daten uns von aufgenommen, die sie brauchten. Wir hätten nur

noch sagen sollen, zu welcher Einheit wir wollten, und natürlich

unterschreiben.

Ich war aufgrund meiner Größe Trupp 2 zugeteilt worden. Die SS-

Leute begannen mit den allergrößten Burschen in Trupp 1 und

arbeiteten sich dann vor. Die Kollegen gaben an, ob sie zur SS-

Panzerdivision, zu den SS-Kradmeldern4, den SS-Meldereitern

oder zu irgendeiner anderen Division wollten. Das wurde notiert,

und dann mussten sie unterschreiben.

Schließlich kam ich an die Reihe. Sie fragten mich: „Zu welcher

Einheit?“ Darauf sagte ich erst einmal gar nichts. Nach einer kur-

zen, peinlichen Pause wollten sie wissen, ob es mir denn gleich

sei, zu welcher Einheit ich käme, weil ich nichts sagte. Darauf ich:

„Nein, ich gehe nicht zur SS.“

Jetzt schauten alle auf mich. Die ganze Reihe wich zurück. Dann

ein scharfes: „Was hören wir da?“ Ich sagte noch einmal: „Ich gehe

nicht zur SS.“ Darauf die scharfe Aufforderung: „Eine Begründung!“

Ich antwortete: „Zur Wehrmacht muss ich sowieso, aber ich gehe

nicht zur SS.“

„Haben Sie Angst vor Blut?“ fragten sie gleich. „Oder wollen Sie

4 Kraftradmelder:

begleiteten Kolon-

nen als Verkehrs-

sicherungsposten

oder übernahmen

Kurierdienste bei

ausgefallenen

Kommunikations-

systemen. Sie

waren mit Kraft-

rädern motorisiert.

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vielleicht im Hinterland tachinieren, während Familienväter drau-

ßen an der Front sind?“

Ich antwortete immer dasselbe: „Ich gehe nicht zur SS.“

Nach einigem Hin und Her fragten sie mich ganz hinterhältig: „Oder

lassen Sie Ihre Eltern nicht?“ Das wollten sie natürlich herausbrin-

gen. Ich hätte nur zu sagen brauchen: „Nein, die Eltern lassen mich

nicht“, und schon wären Papa und Mama reif gewesen fürs KZ.

Auf einmal wurde es ganz still, und alle schauten mich erwartungs-

voll an. Die Situation wurde zunehmend brenzlig. Und da schoss

mir auf einmal, wie ein Blitz, die einzig richtige Antwort in den Kopf,

eine Gegenfrage: „Ist das jetzt freiwillig, oder ist es Zwang?“

Darauf sie: „Zwang ist es nicht.“

Und ich: „Und freiwillig gehe ich nicht.“

Da sprang ein SS-Mann auf und schrie: „Verschwinde! Solche Leu-

te wie du sind es gar nicht wert, deutsches Brot zu essen!“

Ich packte meinen Trainingsanzug und verließ die Baracke. Hinter

mir rief noch einer her: „Ich hoffe, dass ein Stein vom Dach her-

unterfällt und Sie erschlägt. Sie Krüppel sind es überhaupt nicht

wert, im deutschen Reich zu leben.“ So war das damals.

Mein Freund Richerl war leider zu feig gewesen und hatte schon

unterschrieben. In der Baracke sagten sie dann bewundernd

zu mir: „Du hast dich aber was getraut!“ Die anderen, die sich

schon „freiwillig“ gemeldet hatten, begannen fast zu weinen.

Sie bereuten, dass sie es nicht auch so gemacht hatten wie ich.

Nach meinem Auftrit t unterschrieben allerdings nur noch we-

nige. Die meisten weigerten sich genau wie ich. Sie hatten ge-

sehen, dass es möglich war. Die Stimmung in der Baracke war

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dementsprechend schlecht. Ich fand allerdings, die Kollegen hät-

ten dort, im Tagesraum, reden müssen, nicht erst im Nachhinein.

— Wehrdienst

Am 29. Oktober 1943 wurde ich nach Leoben beordert, und zwar schon

zum dritten Mal. Beim ersten Termin hatten sie zu viele junge Män-

ner eingezogen, und so durfte ich wieder nach Hause gehen. Beim

zweiten Mal entkam ich dem Militärdienst, indem ich mich wie beiläu-

fig zur Gruppe derjenigen stellte, die überzählig waren. Gut geraten.

In Kapfenberg musste ich mich jedes Mal bei der Kartenstelle und

beim Gemeindeamt abmelden. Am nächsten Tag alles retour, ich

meldete mich wieder an. Kein Wunder, dass sie mich scheel an-

schauten. Kaum war ich weg, kam ich schon wieder zurück.

An diesem 29. Oktober war allerdings bereits die Hälf te der

Männer, die nach Leoben einberufen worden waren, jünger

als ich, Geburtsjahrgang 1926, und so musste ich einrücken.

Wir erhielten eine kurze Ausbildung und sollten dann gleich

zur Truppe. Auf einmal entwickelte sich an meinem Knie ein

Riesenfurunkel. Sie schickten mich ins Revier, wie damals die

Krankenstation beim Militär hieß. Als der Furunkel reif war,

hatte er sieben oder acht hässliche Eiterstellen. Schnell ent-

schlossen bog ich mein Knie ab. Man kann sich unschwer

vorstellen, was dann passierte. Soviel kann ich sagen: Es war

sicher kein Anblick für Weichlinge.

Meine Kollegen waren inzwischen schon nach Flitsch, slowenisch

Bovec, hinunter versetzt worden. Nachdem mein Furunkel aufge-

platzt war, schickten sie mich nach, und so kam ich über den Pre-

dilpass nach Flitsch. Bis Tarvis konnte ich fahren, von dort ging es

zu Fuß weiter.

Richard als Soldat

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63

Wir waren in der Region stationiert, in der im Ersten Weltkrieg die

Isonzokämpfe stattgefunden hatten. Flitsch-Tolmein, das sagt ei-

nigen vielleicht auch heute noch etwas. Die zwölf Isonzoschlach-

ten waren ja wirklich schwere Kämpfe. Wir blieben einige Zeit über

in Flitsch. Ich erinnere mich noch an die Verpflegung: Schweins-

braten, Polenta oder auch Gulasch. Die Polenta schnitten sie üb-

rigens mit einer Schnur wie eine Torte. Uns schmeckte es.

Ölsardinen, extrafein

Helmut kam 1943 oder 1944 zunächst nach Wieselburg und muss-te direkt von der Schule aus einrücken. Schon mit 16 Jahren war er beim Wehrdienst in Lunz. Während ich in Rijeka – damals hieß es Fiume und gehörte zu Italien - stationiert war, hatte man ihn ins Wehrertüchtigungslager in Lunz gesteckt.

Eines Tages fand meine Truppe unverhoff t einen geheimen Zu-gang zu Lebensmittelvorräten, genauer gesagt zu Sardinendo-sen, und zwar in rauen Mengen. Die konnten wir sehr gut ge-brauchen. Ich wollte aber auch unbedingt meine Familie daheim an diesem Sardinensegen teilhaben lassen und überlegte lange, wie ich es bewerkstelligen sollte.

Endlich fiel mir ein, wie es gehen konnte. Aus einem Schuhge-schäft besorgte ich mir zwei Schachteln und füllte sie randvoll mit den Dosen. Dann schickte ich eine Schachtel zu Helmut nach Lunz und die zweite nach Hause. Helmut erzählte mir später, er hätte diese erstklassigen Ölsardinen mit den extrafeinen Schwanzerln sehr genossen.

Unser Geheimlieferant war die Marine-Küstenbatterie. Diese be-wahrte ihre gesamten Vorräte für ein halbes Jahr in Dosen auf. Brot, alles, die ganze Verpflegung hatten sie eingedost. Wir wuss-ten, wo sie ihre Sachen lagerten und gingen dann halt „nach-schauen“. Im Krieg nannte man so eine Aktion „organisieren“.

Page 64: Sml referenzbuch 01

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— Granatsplitter

Im Sommer 1944 war ich weiter westlich in Italien stationiert. Dort

bekam ich am 17. September einen Granatsplit ter ab, und zwar

von unseren eigenen Leuten. Die deutsche Artillerie hatte zu kurz

geschossen. Sie dachten wohl, die Engländer wären schon da.

Mit einigen anderen stand ich ganz vorn und wurde von ein paar

Split tern getroffen. Die Verletzung bot mir zum Glück einen Vor-

wand, über den Brenner hinaufzukommen.

In Innsbruck ließ ich mir die Haare schneiden. Der Friseur stellte

sofort fest, dass ich Kopfläuse hatte. Als er die Nissen entdeckte,

wich er immer weiter zurück. Die Läuse verwunderten ihn aller-

dings weniger als die Tatsache, dass ich mich so weit vom Bahn-

hof hatte entfernen können. Nun, ich hatte ja genügend Zeit und

konnte mir die Stadt ansehen. So ging ich auch an einem Pferde-

stall vorbei. Er war von einer Bombe getroffen worden, die Pferde

waren verbrannt. Ich erinnere mich noch an den traurigen Anblick

der vier toten aufgeblähten Rösser.

Später, daheim in Kapfenberg, behauptete einer unserer zahl-

reichen Kostgänger, er hätte von mir Kopfläuse bekommen. Das

dürf te wohl passiert sein, bevor sie mich in Graz entlausten.

Denn ich musste ja nach Graz ins Lazarett. Dort war aber damals

alles schon so überfüllt, dass sie mich zu den Ursulinen schickten.

Davor verbrachte ich eine Nacht in der Wehrmachtsunterkunft am

Bahnhof, wo alles gestohlen wurde, was nicht niet- und nagelfest

war. Jedenfalls stellte ich plötzlich fest, dass mir meine Kopfbede-

ckung, eine schöne Mütze, fehlte.

Jetzt war guter Rat teuer. Ohne Mütze konnte ich mich unmöglich

in der Öffentlichkeit bewegen! Eine Mütze mit Wehrmachtsstrei-

fen brauchte man nämlich, weil man sonst sofort aufgeschrieben

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65

worden wäre. Es war streng verboten, sich nur mit der Uniform

und ohne Kopfbedeckung auf der Straße zu zeigen. Irgendwo

musste ich eine neue Mütze auftreiben. Also strich ich wie zu-

fällig durch den Raum, um mir Ersatz zu organisieren. Natürlich

passten alle wie die Haftelmacher auf ihre Habseligkeiten auf.

Doch meine Geduld wurde belohnt: Irgendwann drehte sich einer

um, die Mütze in meiner Reichweite. Da schnappte ich sie mir

schnell und verschwand.

Das Stehlen liegt mir wirklich nicht, aber im Krieg galt: „Hilf dir

selbst, dann hilf t dir Gott!“

— Ertappt

Ich verdankte es den Granatsplit tern, dass ich zur Behandlung

heim in die Steiermark kam und danach auf Genesungsurlaub.

Von Graz fuhr ich ständig ohne Erlaubnis nach Kapfenberg und

wieder zurück. Das brachte mir den Beinamen „der ewige Urlau-

ber“ ein. Als Adresse hatte ich das Haus unserer Verwandten in

Niederschöckl angegeben, weil es innerhalb der zulässigen 10

Kilometer von Graz entfernt lag. Es ging ja darum, jederzeit für

die Truppe erreichbar zu sein. Wäre etwas vorgefallen, hätten sie

mich an der angegebenen Adresse verständigt, und ich hätte so-

fort einrücken müssen.

In Wahrheit aber fuhr ich jedes Mal mit dem Zug nach Hause und

nicht nach Niederschöckl. Um glaubhaft zu bleiben, konnte ich

natürlich nicht am Hauptbahnhof aussteigen. Stattdessen nahm

ich die Straßenbahn nach Gösting. Dort war die Gefahr gering,

auf eine Wehrmachtsstreife zu stoßen.

Bevor ich mich in einen Zug wagte, beobachtete ich vom Bahn-

damm aus jeweils ganz genau, aus welchem Waggon die Streife

herausschaute.

Page 66: Sml referenzbuch 01

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Damals fuhr mit jedem Zug eine solche Streife mit. Erblickte ich

die Wehrmacht hinten, stieg ich vorn ein, war sie vorn, nahm

ich einen der hinteren Waggons. Im Abteil setzte ich mich dann

immer so, dass ich in die Richtung schauen konnte, aus der die

Streife zu erwarten war.

Ich spähte an jeder Haltestelle hinaus aus dem Personenzug, wie

weit die Soldaten schon vorgerückt waren. Waren sie schon in der

Nähe, also etwa im nächsten Waggon, stieg ich schnell aus und

hinter der Streife wieder ein. So schaff te ich es gezählte sechzehn

Mal von Graz nach Kapfenberg und wieder zurück.

Beim sechzehnten Mal schaute ich mich wie gewohnt um und

sah die Streife von hinten kommen. Daher stieg ich in der Mitte

des Zuges ein. Als sie näher rückten, stand ich auf, um ihnen

auszuweichen. Ein gutes Stück hinter ihnen würde ich wieder ein-

steigen.

Ich betrat also den nächsten Waggon, da sah ich plötzlich die

Streife vor mir. Offenbar fuhren mit diesem Zug gleich zwei Strei-

fen mit. Mein einziger Ausweg war das WC. Die Männer befan-

den sich zu diesem Zeitpunkt vielleicht noch drei bis vier Meter

vor mir entfernt. Alle Fahrgäste wurden genau kontrolliert. Ich ret-

tete mich also in die Toilette. Drinnen blieb ich an der Tür stehen

und horchte. Nach kurzer Zeit trommelten sie mit den Fäusten an

die Tür. „Wie lange dauert das denn noch?“ brüllten sie. Deutsche,

das konnte man an der Aussprache sofort erkennen. So blieb mir

nichts anderes übrig, als aus dem WC herauszukommen wie ein

ertappter Partisan.

Ich trug keinerlei Ausweispapiere bei mir, nichts. Nur einen Be-

handlungsschein vom Grazer Lazarett hatte ich dabei. Für die

Streife machte mich das zum Deserteur.

Ich erklärte, ich sei vom Lazarett aus immer vereinbarungsge-

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mäß nach Niederschöckl gefahren, doch nun sei meine Therapie

beendet und ich hätte unbedingt noch einmal meine Familie in

Kapfenberg besuchen wollen. Leider hatte ich nichts, um mich

auszuweisen, nicht einmal mein Soldbuch. Das wäre damals ge-

nauso gültig gewesen wie ein Reisepass, doch ich hatte es in

Graz zurücklassen müssen.

Die deutschen Soldaten beschimpften mich heftig und nahmen

mich mit. In Bruck übergaben sie mich dem Bahnhofsoffizier. Vor

dem stand ich da wie ein Sträfling, ein Gefühl, als wäre ich bei der

Geheimpolizei gelandet. Ich schlug meinen Bewachern vor, doch

in Graz anzurufen. Dort würde man ihnen sofort bestätigen, dass

ich tatsächlich in Behandlung war.

Da die Bomben in Graz aber bereits großen Schaden angerichtet

hatten, konnte keine Telefonverbindung mehr hergestellt werden.

Also herrschten sie mich an: „Mit der nächsten Streife fahren Sie

wieder hinunter nach Graz und melden sich heute noch im Laza-

rett!“ Auf meinen Einwand, dass dort nach den Bombeneinschlä-

gen ja nun niemand mehr sei, reagierten sie gar nicht.

„Sie fahren heute noch hinunter und melden sich, fertig.“ Ein Be-

fehl! Dann notierten sie noch auf meinem Behandlungsschein,

dass sie mich erwischt hatten ohne Ausweispapiere, und ließen

mich stehen.

Ich überlegte ein bisschen und verließ dann das Bahnhofsge-

bäude. Draußen riss ich den verräterischen Vermerk von meinem

Behandlungsschein und machte mich sofort zu Fuß auf den Weg

nach Kapfenberg. So konnte ich immerhin noch drei Tage, von

Freitag bis Montag, bei meiner Familie verbringen.

Am Montag fuhr ich tatsächlich nach Graz, holte mein Soldbuch

ab und bekam Genesungsurlaub. Obwohl sie dort wussten, was

vorgefallen war, sagten sie kein Wort. Dabei war die Sache schon

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längst nach Windischgraz (Okraj Slovenji Gradec) weitergemeldet

worden, wo sich meine Truppe befand.

— Ein Fall für den Nervenarzt

Mein Arzt in Graz war der Sohn des damaligen Leobener Tier-

arztes Dr. Handl. Er hatte irgendwie mitbekommen, dass ich aus

einem Bauernhaus stammte, und bat mich, ihm ein Stück Fleisch

mitzubringen.

Dementsprechend wurde ich in der Folge recht wohlwollend be-

handelt.

Eine Röntgenaufnahme meiner Hand ergab, dass mir überhaupt

nichts fehlte. Es waren keine Split ter zu sehen, und Knochen war

auch keiner verletzt. Ich wollte aber unbedingt noch länger in

Graz bleiben und fragte daher, wie es kommen könne, dass ich

so überhaupt kein Gefühl in den Fingern hätte, wenn mir doch

nichts fehle. Daraufhin schickten sie mich zum Nervenfacharzt.

In Wahrheit hatte ich gar keine Beschwerden, trug aber einen dicken

Verband. Sonst wäre ich ja gar nie heraufgekommen aus Italien.

Bei diesem Nervenfacharzt herrschte ein anderer Ton als im La-

zarett. Man setzte mich in einen Raum, und ich musste warten.

Als Arzt und Helfer hereinkamen, merkte ich sofort, dass mit ih-

nen nicht gut Kirschen essen war. Der Arzt fuhr mich an: „Augen

zu!“. Dann nahm er eine Sicherheitsnadel und begann mich in

die Hand zu stechen. Ich sollte den Schmerz, den er auslöste, als

„stumpf oder spitz“ beschreiben.

Das war nicht ohne! Dieser Sadist stach brutal in meinen Fin-

gern herum. Ich riss mich aber zusammen und sagte fast je-

des Mal „stumpf“. Nur ein paarmal gab ich an, der Schmerz sei

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spitz gewesen. Der Arzt registrierte genau, bei welchen Fingern

ich stumpf und bei welchen ich spitz gesagt hatte. Einen kleinen

Hammer hatte er auch, mit dem er meine Reflexe prüfte. Er wollte

die Reaktion sehen. Zum Schluss schrieb er drei Finger auf, die

angeblich gefühllos waren. Die Diagnose lautete „Verletzter Spei-

chennerv“. Ich bekam eine Behandlung mit Elektrizität und Mas-

sage verordnet.

Die Ursulinen, bei denen ich untergebracht war, behandelten

meine Hand mit Schwachstrom und massierten mich mit einer

feinen Salbe. Die Schwester forderte mich auf, mich mit der Hand

an der Wand entlang zu hanteln. So wollte sie feststellen, ob die

Finger noch beweglich waren. Außerdem sollte ich ihre Hand

nehmen und fest zusammendrücken.

Davor musste ich noch zum dortigen Arzt. „Geben Sie mir die

Hand“, sagte er. „Und drücken Sie fest zu!“ Er wollte wissen, wie

viel Kraft ich hätte. Aber ich hielt meine Hand so schlapp wie ei-

nen toten Fisch.

Obwohl es bei den Schwestern ganz nett war, fuhr ich natürlich

dauernd nach Hause und arbeitete dort schwer. Auf einmal fiel

einer Schwester auf, was für grobe, schwielige Hände ich hatte.

Sie passten so gar nicht zu der sanften Behandlung, die ich bei

den Ursulinen genoss. Aber das machte nichts mehr, denn zu

diesem Zeitpunkt war der Kriegszirkus ohnehin schon so gut wie

aus und meine Behandlung beendet.

— Auch der längste Krieg hat einmal ein Ende

Am 1. April 1945 hätte ich noch zum Unteroffizierslehrgang nach

Admont kommen sollen. Ich habe keine Ahnung, warum sie mich

in Windischgraz dafür ausgewählt hatten, aber es wäre mir nicht

unrecht gewesen.

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Unten in Windischgraz befanden wir uns nämlich ständig im aus-

gesprochen gefährlichen Partisaneneinsatz. Von dort wurden

dann die einen an die italienische Front geschickt und die an-

deren nach Russland abkommandiert. Und ausgerechnet mich

teilten sie zusammen mit drei anderen für den Unteroffizierslehr-

gang in Admont ein.

Ich war gleich einverstanden, denn mir war klar, dass der Krieg

nicht mehr lang dauern konnte. Außerdem liegt Admont nicht all-

zu weit von Kapfenberg entfernt. Dorthin verlegt zu werden, war

also sicher nicht verkehrt.

— Alarm in Windischgraz

Allerdings kam es nicht mehr dazu, denn bei uns ertönte am 30.

März, dem Karfreitag 1945, plötzlich mitten in der Nacht Alarm.

Das hieß, wir mussten uns sofort feldmarschmäßig ausrüsten und

aus unseren Schlafquartieren kommen. Dann wurden wir zusam-

mengestellt. Ich war bei den Radfahrern, Aufklärungsabteilung

85. Mein Puch-Rad lief ausgesprochen rund, weil ich es immer

gut in Schuss hielt. Es war mir sehr wichtig, dass das Rad in Ord-

nung war und ja keinen Achter hatte, damit es sich gut treten ließ.

Wir fuhren also von Windischgraz nach Graz. Die Strecke über

Marburg nach Graz bewältigten wir an einem Tag. Am Abend

wurden wir im Brauhaus Puntigam einquartiert und bekamen

dort ein Bier, das wir sehr genossen. Am nächsten Tag ging es

mit dem Rad hinauf auf die Ries, wo wir die Ostertage verbrach-

ten. Wir blieben bis zum Osterdienstag, dem 3. April 1945. Das

war mein Namenstag.

In dieser Nacht wurde Graz so schwer bombardiert, dass man

die Erschütterungen sogar noch auf der Ries deutlich spürte. Wir

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hatten kaum zu essen. Nur einmal ging ich von der Ries durch den

Wald hinunter ins Tal, wo ich mir eine Eierspeis gönnte.

Am Ostermontag kam eine ganze Schar Hamsterer vorbei, auch

einige Ungarn waren dabei. Unter ihnen entdeckte ich einen gu-

ten alten Bekannten, der bei uns in Kapfenberg ein und aus ging.

Er erkannte mich sofort. „Hast du Hunger?“ fragte er. Ja, ich hatte

wirklich einen Riesenhunger. Wir bekamen ja nichts Gescheites zu

essen. Er schenkte mir einen Laib Brot, von dem schon ein Scher-

zel abgeschnitten war, und ein Papiersackerl mit Grammeln. Die

schmeckten wie Nüsse, einfach köstlich. Den Kollegen gab ich

auch etwas ab. Diese Grammeln waren himmlisch, besser als

jede Torte. Mit welchem Appetit, mit welchem Genuss ich damals

gegessen habe!

— Letzte Kriegstage in der Oststeiermark

Am Abend ging es weiter in die Oststeiermark - nach Weiz, Gleis-

dorf, Ilz und Riegersburg. Auf der Riegersburg waren schon die

Russen, und man hatte Scharfschützen postiert. Dort war der

Volkssturm eingesetzt – Leute mit Behinderungen und HJ-Buben.

Natürlich gab es viele Tote, wie man sich unschwer vorstellen kann.

— Keine Gefangenen

Die SS hatte die Russen im Burgenland von ihrer Armee abge-

schnitten. Also mussten sie sich kämpfend zurückziehen, denn

sie wollten ja wieder mit dem Hinterland Verbindung aufnehmen.

Als wir in Altenmarkt bei Riegersburg in die Häuser gingen, stell-

ten wir fest, dass die Russen fluchtartig aufgebrochen waren. Das

Essen stand noch auf dem Tisch. Es war vielleicht vier Uhr in der

Früh. Sobald es hell wurde, kamen die Frauen aus ihren Verste-

cken im Heu gekrochen.

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Wir setzten also den zurückweichenden Russen durch den Wald

nach und bildeten dazu eine Schützenkette. Alle sechs, sieben

Meter ging einer von uns. Plötzlich stießen wir auf einen schlafen-

den russischen Soldaten, den sie offenbar zu wecken vergessen

hatten. Ich sehe ihn heute noch vor mir, wie er verwirrt aufstand,

ein großer, fescher Bursch von vielleicht 20 Jahren. Mit hoch er-

hobenen Armen stand er da. Gefangene wurden ja nicht mehr

gemacht. Irgendwo hinter uns verpasste ihm dann einer einen

Genickschuss. Er tat mir so leid. Ich dachte, der arme Kerl hat

doch auch einen Vater und eine Mutter… Wegen nichts und wie-

der nichts, nur weil er verschlafen hat, muss er sterben.

— Danke, Burgi Huber

In Raabau bei Feldbach waren wir im Haus einer gewissen Frau

Burgi Huber einquartiert, und zwar ganz allein. Das Haus befand

sich neben der Bahn und gleich dahinter, direkt an den Geleisen,

waren schon die Russen.

Wir verbrachten in Raabau drei Wochen, in denen uns wenig

abging. Es war schön, die Hühner zu füt tern, die im April f leißig

Eier legten. Das freute mich sehr, denn so konnte ich jeden Tag

Wein-Chaudeau kochen. Die Häuser ringsum waren alle leer,

und man fand dort Zucker, Wein und alles, was man sonst noch

so brauchte. Wir mussten es uns nur nehmen. Unser Aufenthalt

fand aber ein abruptes Ende, als die Russen das Haus zusam-

menschossen.

„Meine Herren, der Krieg ist aus!“

Also hieß es weiterziehen, diesmal nach Norden, nach Groß-

Steinbach bei Ilz. Dort angekommen, stellten wir unsere Räder

ordentlich an einem Baum zusammen. Dann ging es in den Wald

hinaus, in die Stellung. Auf einmal, um halb zwei in der Früh, kam

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der Oberleutnant, ein Wiener namens Felbenhauer, und erklärte:

„Meine Herren, der Krieg ist aus!“

Nun, das war für uns keine Überraschung mehr, denn wir hatten

ja gehört, dass die Russen bereits auf dem Semmering standen.

Obwohl der Krieg erklärtermaßen aus war, wollten sie uns plötz-

lich geschlossen nach Kärnten schicken. Dabei wussten wir, dass

dort bereits die Engländer waren. Es gab damals eine Menge oft

widersprüchlicher Parolen. Wir nannten sie Scheißhausparolen.

Einmal schnappte der eine irgendwo etwas auf, dann wieder der

andere. Niemand wusste etwas Genaues. Zuerst hieß es, die

Russen würden sich zur ungarischen Grenze zurückziehen. Dann

gab auf einmal der Oberleutnant für uns die Rückzugsparole aus.

Die anderen Einheiten waren motorisiert, doch wir fuhren mit

unseren Rädern. In dem ganzen Durcheinander übernahm ich das

Kommando, weil ich die Strecke schon von früher kannte. Die Fahrt

war sehr riskant. Aus jedem Waldeck schauten SS-Männer heraus,

diese Kettenhunde. Sie waren vom SS-Streifendienst und hinterließen

überall in den Straßengräben Soldaten mit aufgeblähten Bäuchen

und Schildern, auf denen stand: „Wegen Drückebergerei erschossen“.

Das machten sie übrigens auch in Kapfenberg so. In der Volks-

schule in Hafendorf wurden die „Deserteure“ abgeurteilt und

dann auf dem Hügel oben erschossen. Ich kenne jemanden, der

dort wohnte und immer mitbekam, wenn sie in der Nacht vor-

beigingen. Kurz danach hörte er dann die Schüsse. Diese feigen

SS-Hunde erschossen Soldaten, die vielleicht schon den ganzen

Krieg mitgemacht hatten.

Auf dem Kapfenberger Friedhof steht eine Tafel: Für die Opfer

des Faschismus. Wenn ich das lese, werde ich heute noch zornig

wegen der vielen unnötigen Todesopfer. Sogar SS-Leute wurden

damals noch erschossen.

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Männer, die ihr Leben nicht weiter dem Führer opfern wollten, gab es beinahe in jedem oststeirischen Dorf. Anton Papst aus Söchau hielt sich drei Jahre lang auf seinem kleinen Bauernhof versteckt. Seine Frau musste in der Öffentlichkeit um ihn weinen, um den Verdacht der lokalen Nazigrößen zu zerstreuen. Als Herr Papst nach dem Krieg anlässlich einer Fronleichnamsprozession den „Himmel“ tragen sollte, wurde er wegen seiner Deserteurs-vergangenheit von vielen Söchauern dieser Ehre nicht für würdig befunden.

Frau Maria Lang aus Unterlamm, die ihren Mann versteckte, er-zählte ebenfalls, dass sie sich nach dem Krieg grobe Reden an-hören musste, „weil ich so falsch (unehrlich) war.“ Bei Kriegsen-de wurden viele Deserteure hingerichtet. Der Hatzendorfer Rudi Neubauer erfuhr im Grazer Lazarett, dass die Russen schon in Fehring seien. Er fuhr heim und versteckte sich bei seiner Mutter. Vor den Augen seiner Mutter schossen ihn SS-Angehörige, die ihn aufgestöbert hatten, zuerst in die Hoden, dann in den Kopf. Der vielfache Vater Friedrich Kaspar aus Loiberg und sein Nachbar Johann wollten ihre Familie im Kampfgebiet nicht allein lassen. Sie wurden verraten und in den letzten Kriegstagen in der Reiter-kaserne in Graz hingerichtet.

Quelle: http://korso.at/korso/DStmk/derkrieg.html

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— Mit dem Rad nach Hause

Ich wusste, auf der Hauptstrecke von Groß-Steinbach über den

Rechberg würden wir den SS-Leuten direkt in die Arme laufen.

Außerdem hatte man uns zwar gesagt, dass sich die Russen zu-

rückziehen würden an die ungarische Grenze, doch wir trauten

der Sache nicht.

Das war alles zu gefährlich. Und wenige Tage, bevor der Krieg tat-

sächlich aus war, wollten wir ganz sicher kein Risiko mehr eingehen.

Deshalb schlug ich vor, die Route über unseren landwirtschaftli-

chen Betrieb in St. Ruprecht an der Raab zu nehmen. Wir verein-

barten, nur in der Nacht zu fahren. Man konnte damals einfach

nicht wissen, was wirklich los war. So sahen wir zu, dass wir auf

schnellstem Wege mit dem Rad in Richtung Nordwesten kamen.

Ein Kollege nahm das Maschinengewehr mit, denn wir wollten

die Waffen so lange wie möglich nicht abgeben.

Als wir frühmorgens in St. Ruprecht ankamen, stießen wir auf

meine Kusine Laura, die gerade in den Stall ging. Sie erkannte

mich zuerst gar nicht, so verstaubt waren wir. Um schneller vo-

ranzukommen, hatten wir uns nämlich auf den unasphaltierten

Straßen hinten an die Autos angehängt. Erst als ich Laura anrede-

te, wusste sie, dass ich es war. „Nur die Augen haben herausge-

blitzt“, sagte sie später.

Bei Laura bekamen wir etwas zu essen und konnten uns endlich

ausschlafen. Danach, mit einer guten Jause im Bauch und einer

Feldflasche voll Most, fuhren wir etwa um fünf mit dem Rad die

Weizklamm hinauf auf den Rechberg.

Was da los war auf dieser Straße! So viel Militär, so viele Flüchtlin-

ge. Die Leute verwendeten alles als Fortbewegungsmittel: Kühe,

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Esel, Scheibtruhe, Handkarren, egal. Alles war in Bewegung. Auf

der schmalen Straße über den Rechberg ging es zu wie auf einer

Hauptstraße zur Stoßzeit.

Auf dem Rechberg angekommen, schliefen meine Kollegen

gleich wieder ein. Wir waren wirklich erschöpf t. Ich drängte

darauf, sofor t, wenn auch langsam, wieder bergab zu fahren,

um möglichst schnell und heil nach Hause zu kommen. Die

anderen versicherten mir, sie würden bald nachkommen. Ich

selbst aber wollte nicht warten und setzte meine Fahrt for t. Auf

einmal packte mich ebenfalls der Schlaf, und ich stürzte mit

dem Rad einen Abhang hinunter. Davon wachte ich natürlich

wieder auf, klet ter te den Hang hinauf, richtete mein Rad auf

und fuhr weiter.

Die Situation war deshalb so schwierig, weil alle Leute nur dar-

auf warteten, dass jemand einschlief. Dann konnten sie einem

das Fahrrad stehlen und selbst schneller vorankommen. Nach

meinem Sturz wollte ich daher nicht stehenbleiben, f iel aber

kurz darauf vor lauter Müdigkeit schon wieder in den Straßen-

graben.

Es war einfach zu gefährlich. Wie leicht hätte ich beim Einnicken

in ein Auto krachen können! Da half alles nichts, ich musste mich

ausruhen. Leider schliefen hinter jedem Stall, ja sogar hinter je-

dem Heuschober, den ich anpeilte, schon kleinere und größere

Gruppen von Soldaten. Mir lag aber viel daran, allein zu bleiben,

damit niemand mein Rad stehlen konnte.

Irgendwann gab ich die Suche nach einem einsamen Plätzchen

auf, ich konnte einfach nicht mehr. Also zog ich mir meinen Man-

tel an und legte mich mit dem Oberkörper auf das Vorderrad. So

hoff te ich, mein Gefährt schützen zu können. Endlich schlief ich

kurz ein, doch dann wurde mir kalt. Ich stand auf, biss die Zähne

zusammen und fuhr weiter in Richtung Kapfenberg.

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— Wieder daheim

Mein Gewehr hatte ich bei mir. In Diemlach stieß ich noch kurz vor

meinem Ziel auf eine Gruppe Kommunisten: „Was braucht denn

der noch ein Gewehr?“, fragten sie. Sie wollten es mir herunter-

reißen, doch ich fuhr so schnell ich konnte an ihnen vorbei, als

hätte ich sie nicht gehört. Dieses Gewehr bewahrte ich gut auf

und habe es bis heute.

Endlich, am 9. Mai um halb sechs in der Früh, hatte ich es ge-

schaff t. Meine Mutter, die mich von Weitem sah, fragte: „Was

kommt denn da für ein Soldat?“ So froh ich war, wieder daheim

zu sein, die Sache war noch nicht ausgestanden. Ich musste be-

fürchten, dass mich die Russen als Soldaten erkennen würden.

Also zog ich mich zunächst einmal um und fuhr dann in den Gra-

ben hinein in Richtung St. Ilgen. Dort schlief ich den ganzen Tag

im Wald.

Am Abend wagte ich mich wieder nach Thörl hinaus. Ich

musste die Lage erkunden. Da sah ich, dass die Russen

schon von Mariazell herunter kamen. Jetzt war klar: Wenn

die schon in Mariazell waren, konnte ich geradesogut

nach Hause fahren. Und tatsächlich wimmelte es mittler-

weile von russischen Soldaten. Sie trugen die Haare ganz

kurz geschoren, fast als Glatze, wie es eben üblich war

bei den Russen.

Deshalb ließ ich mir die Haare ebenfalls ganz kurz schneiden. Mit

dieser „Frisur“ sah ich aus wie ein kleiner Bub, zaundürr, wie ich

war. Niemand hätte vermutet, dass ich schon beim Militär gewe-

sen war.

Nur einen Tag nach mir kam auch mein Bruder Helmut heim. Er war

drei Jahre jünger als ich, doch ihn pöbelten die Besatzer ständig an:

Helmut 1943

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„Du Soldat!“ Wir waren zwar beide gleich groß, doch mit 17 Jahren

brachte er schon 84 kg auf die Waage. Dieses stolze Gewicht habe

ich mein Leben lang nicht erreicht.

— Nie wieder Krieg

Ich bin ja für die EU. In unserer Familie waren mein Sohn Martin

und ich die einzigen, die für die EU stimmten. Damit der Frieden

erhalten bleibt. Ich kann mich noch an den Tag der Abstimmung

erinnern, als ich über die Mürzbrücke zum Wahllokal ging. Noch

immer war ich mir nicht sicher, wie ich mich entscheiden soll-

te. Da drehte ich mich um und sah das Schloss Wieden vor mir

stehen. Plötzlich wusste ich: Wenn dadurch der Frieden erhalten

bleibt in Europa, bin ich für die EU. Wir haben ja mittlerweile ge-

sehen, was in Jugoslawien passiert ist. Wie lang ist das her? Und

es kann immer wieder passieren! •

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Russenzeit— Besatzung

Mama und Papa waren überglücklich, dass es ihre zwei großen

Buben innerhalb nur eines Tages nach Hause geschaff t hatten.

Doch dann ging es auch schon drunter und drüber. Wir konn-

ten plötzlich unsere Kühe nicht mehr austreiben, denn uns blieb

kein einziges Fleckchen Wiese. Die Russen räumten eines unserer

Zimmer aus, stellten überall Baracken auf und lagerten direkt auf

der Wiese hinter dem Haus.

Im Wald schlägerten sie große, vielleicht 15-jährige Fichten, die

sie dort, wo jetzt das Stadion ist, wie Pf löcke einschlugen und

zu einer Allee zusammenstellten. Die Grassoden dazwischen

hoben sie heraus und errichteten so für ihre allabendlichen

Siegesfeiern eine „Straße“. Zu diesem Zweck zer trümmerten

sie weiße, rote und gelbe Glasf laschen und ordneten die Split-

ter zu prächtigen Sowjetsternen an. Was sie nicht bedachten:

Ohne Wurzeln wurden die Bäume nach einiger Zeit dürr und

kahl.

Aus den Baracken der Leute holten sie die Radios heraus, konn-

ten sie aber mangels Stromanschluss nicht in Betrieb nehmen.

Die Russen in Kapfenberg waren größtenteils unzivilisierte Leute.

Angeblich sollen sie die Butter in der Klomuschel eingefrischt

haben. Es ist aber nicht auszuschließen, dass es sich bei dieser

Behauptung um deutsche Propaganda handelt.

Oft gingen sie in unsere Ställe und schnappten sich die nächst-

beste Kuh - weil sie sich nicht auskannten, erwischten sie auch

tragende Tiere. Diese schlachteten sie und fraßen sie an Ort und

Stelle auf. Anders kann man es wirklich nicht nennen.

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Jeden Tag wurde bis Mitternacht der Sieg gefeiert. Um vier Uhr

in der Früh waren sie dann schon wieder auf den Beinen. Genau

genommen wurde es die ganze Nacht nicht still.

Unser größtes Problem war, dass wir unsere Kühe nicht mehr

austreiben konnten. Wir hatten keine Weiden, kein Heu … Nicht

einmal mehr eine Fuhre Grünfutter gab es. Papa hatte außerdem

Angst, die Russen würden uns die Kühe überhaupt wegnehmen.

Ein paar schlugen sie tatsächlich direkt auf der Wiese nieder –

und zwei Stunden später waren sie auch schon gekocht.

Die russischen Offiziersfrauen sprachen teilweise Deutsch und

forderten: „Die rote Armee braucht Menage!“, womit sie Fleisch

meinten.

In seiner Not sah sich Papa um. Dem damaligen Ramsauer-Päch-

ter erging es gleich wie uns. Auch er hatte keine Weideflächen

mehr. Da kam Papa eines Tages in Graschnitz vorbei und stellte

fest, dass die Russen dort das gesamte Vieh weggetrieben hat-

ten. Der Stall war aber noch vorhanden, und die Koppeln waren

auch da. Also übersiedelten der Ramsauer-Pächter und wir mit

unseren Kühen nach Schloss Graschnitz. Drei Knechte und ein

Dienstmädchen zogen mit und versorgten das Vieh dort.

Jeden Tag mussten wir die Milch nach Kapfenberg hinein führen.

Wir waren stolz darauf, im gesamten Einzugsgebiet der einzige

Betrieb zu sein, der an keinem Tag die Milchlieferungen an die

Genossenschaft ausgesetzt hatte. Alle anderen mussten ihre

Milchlieferung unterbrechen.

Die Russen unterhielten in Schloss Graschnitz ein Lazarett. Be-

hauptet wurde, dort würden lauter Geschlechtskranke behan-

delt. Wir trafen ein Abkommen: Die Lazarettbetreiber nahmen die

Milch, die sie für das Lazarett brauchten, sorgten aber im Gegen-

zug dafür, dass uns kein Vieh wegkam.

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Die ganze Russenzeit über fuhren wir mit der Milch aus- und ein.

Weil die Russen so viel Beutevieh hin- und hertransportierten –

plötzlich sah man in Kapfenberg ungarische Steppenochsen mit

meterlangen Hörnern –, verbreiteten sich diverse Tierseuchen,

und wir schleppten uns die Maul- und Klauenseuche ein.

Der couragierte Wagenlenker

Von überall im weiten Umkreis hatten wir gehört, die russischen Besatzer würden alle Ställe und Verschläge aufreißen und die Pfer-de mitnehmen. Wir bekamen eine Riesenangst, die Russen hätten es auch auf unsere Tiere abgesehen, und so blieb uns nichts an-deres übrig, als Rösser und Wagen nach Winkl zu bringen.

Helmut und ich machten uns also daran, in einer richtigen Hau-Ruck-Aktion die Pferde möglichst rasch anzuschirren und die Räder auf die Wagen aufzustecken. Das musste blitzschnell ge-schehen, weil die Besatzer ja gleich hinter dem Haus auf unserer Wiese lagerten. Helmut und ich wollten sie überrumpeln und un-seren kostbaren Besitz nach Winkl retten.

Aber natürlich sahen uns die Soldaten sofort und versuchten, auf Helmuts Wagen aufzuspringen. Er fuhr mit den kleinen Pferden, Fanny und Bubi, und mit dem Milchwagen. Die Russen hatten es generell auf die Pferde abgesehen. Helmut stand auf dem Wa-gen. Mit einer Hand musste er lenken, mit der anderen, zur Faust geballt, stieß er links und rechts die anstürmenden Soldaten vom Wagen.

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Mein Bruder bewies eine unglaubliche Courage den Russen gegenüber, also wirklich! Dabei war er erst 17 Jahre alt. Wir jagten im Galopp in die Stadt hinein, und die Besatzer hingen wie die Trauben auf dem Wagen. Irgendwie schaffte es Helmut trotzdem.

Aber auch die täglichen Milchtransporte von Schloss Graschnitz in die Stadt hinein gestalteten sich äußerst gefährlich. Immer wieder versuchten junge Soldaten, die vollen Milchkannen he-runterzuholen, sodass Helmut den täglichen Weg von Schloss Graschnitz zur Molkerei in vollem Galopp zurücklegen musste.

Einmal bekamen mehrere Russen Helmut zu fassen und befahlen ihm, sie mit dem Pferdewagen nach Kindberg zu bringen. Unter-wegs entschieden sie, er solle danach gleich weiterfahren, über den Semmering und dann wahrscheinlich in Richtung Russland, wenn es nach ihnen gegangen wäre. Von dieser Reise wäre er wohl nie mehr zurückgekommen.

„Einspannen und gleich losfahren!“ So lautete ihr Befehl. Der ganze Wagen voller Russen. Da bekam Helmut es mit der Angst zu tun. Er wusste, dass er sofort etwas unternehmen musste. In Kindberg angekommen, sah er das Schild der Ortskommanda-tur. Er bremste den Wagen ein, sprang hinunter und lief in das Gebäude. Zum Glück gab es dort einen Dolmetscher, mit dessen Hilfe er dem Major seine Lage auseinandersetzte.

Er erklärte, die Wagenbesetzer würden ihn nötigen, mit ihnen über den Semmering zu fahren, dabei müsse er doch mit den Pferden nach Hause. Auf keinen Fall wolle er noch weiter nach Osten fahren. Der Kommandant glaubte ihm, ging hinaus und jagte seine Landsleute vom Wagen. So kam Helmut unversehrt wieder nach Hause.

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Das war damals eine ganz wilde Zeit. So kamen viele Leute aus

den Konzentrationslagern in Ebensee und Mauthausen nach

Kapfenberg. Hier, bei uns am Bahnhof, wurden die Heimtrans-

porte zusammengestellt. Tag und Nacht schöpften diese armen

Gestalten bei unserem Brunnen hinter dem Haus Wasser. Dort

konnten sie trinken und waschen. In ihren gestreif ten KZ-Unifor-

men sahen sie aus wie Hyänen. Leute aus ganz Europa waren da

und warteten auf die Züge, die sie in ihre Heimat bringen sollten.

Sie erschienen uns wie Gespenster.

Die beiden russischen Zwangsarbeiter, die uns zugeteilt wor-

den waren, verließen uns. Pavel nahm eines unserer Pferde, die

Gretl, mit. Insgesamt waren Arbeitskräfte knapp, obwohl ein neu-

es Dienstmädchen zu uns kam und nach den Kriegswirren auch

zwei Knechte wieder auftauchten.

Die russische Besatzung dauerte nur kurz, hinterließ aber der

einheimischen Bevölkerung und auch den nachfolgenden Eng-

ländern ein regelrechtes Chaos. Allen, die diese Zeit miterlebt

haben, ist sie jedenfalls noch in lebhafter Erinnerung. •

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1938 - 1944Die nationalsozialistische Regierung forciert den Ausbau der Rüs-tungsindustrie. Zu dem im Thörltal gelegenen Stammwerk wer-den neue Fertigungshallen, das heutige Werk VI, und ein neues Stahlwerk (Werk XII in St. Marein) im breiteren Mürztal gebaut. Die vielen Arbeitskräfte werden in Barackenlagern untergebracht.

1944 - 1945 Zwischen dem 6. Nov. 1944 und dem 10. Mai 1945 zerstören die Bomben der Alliierten Streitkräfte die Werksanlagen und auch Privathäuser. Etwa 200 Todesopfer sind zu beklagen.

9. Mai 1945 Mit dem Kriegsende marschieren 30.000 russische Soldaten in Kapfenberg ein. Der Großteil der noch erhaltenen Industrieanla-gen wird demontiert und abtransportiert. Am 24. Juli lösen briti-sche Soldaten die russische Besatzung ab.

Wiederaufbau Neben dem Wiederaufbau der Infrastruktur ist besonders die Be-reitstellung von Wohnraum für die stark angewachsene Einwoh-nerschaft vordringlich. Viele Familien greifen zur Selbsthilfe und bauen in Eigenregie ihr Eigenheim.

Quelle: Auszug aus der Chronik der Stadt Kapfenberg:

http://www.kapfenberg.gv.at/system/web/zusatzseite.aspx?detailonr=133423800

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Nachkriegszeit— Was bringt die Zukunft?

Als Krieg und Besatzungszeit zu Ende waren, hatten wir eigentlich

allen Grund, glücklich zu sein. Helmut und ich waren unversehrt

nach Hause zurückgekehrt, Papa hatte gar nicht einrücken müs-

sen und es war ihm das beinahe Unmögliche gelungen: Er hatte

die Wirtschaft über die schwierigen Zeiten gerettet – als einzigen

Milchbetrieb in Kapfenberg.

Dafür war uns die Gemeinde durchaus dankbar und auch der Ver-

pächter hätte mehr als genug Grund gehabt, unsere Leistung an-

zuerkennen. Die früher größte Landwirtschaft in Kapfenberg, der

Ramsauer, war gleich zu Beginn des Nationalsozialismus mehr

oder weniger enteignet worden. Auf den Ramsauer-Gründen war

etwa die Hochschwabsiedlung errichtet worden, mit denen das

Regime versuchte, die Arbeiter bei Laune zu halten.

Unser Pachtvertrag war bereits 1942 ausgelaufen und wir hatten

einfach weitergemacht, als ob nichts gewesen wäre.

Die Zeiten waren hart, vor allem

der extrem trockene Sommer

1947. Damals konnten wir mit nur

einem einzigen Pferd das Futter

für 30 Kühe heimführen. Dieses

Futter erwies sich zwar als be-

sonders ausgiebig und nahrhaft,

aber die Menge war völlig un-

zureichend und im Winter wuss-

ten die Leute nicht mehr, was sie

denn füttern sollen.Winter 1946/47: Familie mit Tante Rosa am Küchentisch

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Damals gab es Zellulose aus Norwegen, und der Obmann der

Landforst meinte, Zellulose sei genauso wertvoll wie ein gutes

Gerstenstroh. Es hätte den gleichen Nährwert. Aber unsere Kühe

wollten dieses Holz nicht fressen. Die Kühe eines befreundeten

Bauern würgten das Zeug zwar hinunter, weil sie offenbar noch

hungriger waren als unsere, aber es dauerte nicht lang und sie

bekamen die Räude.

Irgendwie überstanden wir auch diese Zeit, doch dann traf uns

der schwerste Schlag überhaupt.

— Eine Lücke, die sich niemals schließt

Zu Allerheiligen 1949, Helmut war wieder in Wieselburg, erhielten

wir von dort die Nachricht, unser Bruder sei schwer erkrankt. Er

hatte beim Holzarbeiten verseuchtes Wasser getrunken und war

danach wie viele andere an Typhus erkrankt, doch die Ärzte hat-

ten ihn auf Lungenentzündung behandelt.

Papa und Mama wurden gebeten, zu ihm hinauszufahren. Ich hü-

tete die Kühe auf der Essenko-Wiese, während sich meine Eltern

auf die Reise machten. Zuerst hatten sie Benzin auftreiben müs-

sen für ein Taxi, was alles andere als einfach war zu dieser Zeit.

Die Fahrt ging über Mariazell, Annaberg, Josefberg und Scheibbs

bis Wieselburg. Nach ihrer Ankunft mussten meine Eltern feststel-

len, dass Helmuts Zustand bereits sehr kritisch war.

Sie kehrten nach Hause zurück, völlig am Boden zerstört. Helmut

wurde nach Scheibbs ins Spital überstellt, doch es war schon zu

spät. Papa nahm die beschwerliche Reise ein zweites Mal auf

sich, um Helmut beizustehen in seinen letzten Stunden. Es gab

keine Hoffnung mehr. Sie beteten bis zuletzt. Wie Papa uns später

berichtete, hielt Helmut noch bis halb zwei am Nachmittag des

vierten November durch, dann starb er.

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Am Abend gelang es Papa irgendwie, unseren späteren Nach-

barn, Herrn Hochörtler, zu verständigen. So gegen acht Uhr klopfte

es an unserer Tür. Herr Hochörtler sagte, er müsse uns die traurige

Nachricht überbringen, dass Helmut gestorben sei.

Das war für unsere Mama ein unfassbarer Schlag! Sie hatte im-

mer große Stücke auf Helmut gehalten. Er war ein kerngesunder

Bub, 1928 auf die Welt gekommen, nie krank gewesen, kräftig

wie ein Bär. In seinem Jahrgang in Wieselburg war er immer der

Stärkste. Aus jeder Rauferei ging er als Sieger hervor. Mama war

außer sich vor Kummer: „Vom Krieg kommt er heim, dann ist er in

Wieselburg und man glaubt, er ist gut aufgehoben und es kann

ihm nichts passieren. Und gerade dort muss er sterben!“

Sie brachten ihn im Sarg auf einem Lastwagen nach Hause, und

es gab ein großes Begräbnis. Aus Wieselburg kam sein gesamter

Jahrgang und begleitete ihn auf dem letzten Weg.

Papa verlangte gegen einigen Widerstand, man möge den Sarg

von der Aufbahrungshalle auf dem Friedhof in die Stadtpfarr-

kirche bringen und dort noch eine Messe lesen. Er konnte sei-

nen Wunsch tatsächlich durchsetzen. Das war das letzte Mal,

dass in Kapfenberg ein Sarg den ganzen Weg vom Friedhof bis

in die Kirche hinunter getragen wurde und dort die Abschieds-

messe gelesen wurde. Die Leute hielten es auch für gefährlich,

weil Helmut Typhus gehabt hatte, obwohl der Sarg verlötet war.

Mama schnit t ihm noch eine Haarlocke ab, die sie lange aufbe-

wahrte.

Unser Bruder starb am 4. November. Am 4. Dezember wäre er 19

Jahre alt geworden. Für unsere Mama begann die schwerste Zeit

ihres Lebens. Tag für Tag ging sie auf den Friedhof, da konnte es

regnen oder schneien, in aller Früh machte sie sich schon auf den

Weg zu seinem Grab. Egal wie viel Arbeit daheim auf sie wartete,

auf den Friedhof musste sie.

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Zuvor hatten unsere Eltern immer geplant, nach Vorarlberg zu-

rückzugehen. Papas Bruder Franzsepp kehrte 1937 zurück, der

Nachbarpächter Fink 1939, ein weiterer Bekannter 1941. Papa war

daher ständig auf der Suche nach einem passenden Hof. Doch

1947 fasste Mama einen Entschluss. „Helmut ist hier begraben“,

sagte sie, „und ich gehe nicht mehr weg von Kapfenberg.“ •

— Schloss Wieden

Eines Tages erfuhren wir, dass Graf Stubenberg Schloss Wieden,

wo sich unsere Mostkeller befanden, verkaufen wollte. Das Schloss

wäre auch schon im Krieg zu verkaufen gewesen, doch damals woll-

te es niemand haben. Das Gebäude war, wie fotografisch belegt ist,

abbruchreif und es wohnte sozusagen das schlimmste Gesindel

von Kapfenberg in den heruntergekommenen Behausungen. 36

Mieter bezahlten zusammen gerade einmal 480 Schilling an Miete.

Papa ließ die Nachricht vom möglichen Verkauf aber keine Ruhe

und so fuhr er hinunter zum Grafen nach Gutenberg bei Weiz.

Dieser beteuerte ihm, es war zwar von einem Verkauf die Rede

gewesen, aber das Haus bedeute für seine Familie doch so viel,

es sei die Geburtsstätte seines Vaters und er bringe es nicht übers

Herz, dieses traditionsreiche Gebäude zu verkaufen.

Einige Tage später – Papa war damals Gemeinderat und Landes-

kammerrat – flatterte uns die Einladung zur nächsten Gemeinde-

ratssitzung samt Tagesordnung ins Haus. Und darin war unter Punkt

11 oder 12 schwarz auf weiß zu lesen: „Ankauf sämtlicher Stubenber-

gischer Talgründe um den Betrag von 2,1 Millionen Schilling.“ Papa

konnte gar nicht genug staunen, wie das möglich war. Er hätte nie im

Traum gedacht, dass ihm der Graf mitten ins Gesicht lügen würde.

In dieser misslichen Situation wandte sich Papa an den damali-

gen Bürgermeister Scheibengraf. Er erklärte, er sei Pächter, und

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überhaupt sei der Betrag von 2,1 Millionen viel zu hoch. Es handle

sich um Überschwemmungsgebiet und man könne darauf nicht

bauen. Bei einem Lokalaugenschein musste der Bürgermeister

einsehen, dass der Sieber recht hatte, denn damals, zur Zeit der

Schneeschmelze, standen die Grundstücke, soweit man sehen

konnte, knietief unter Wasser.

Scheibengraf sagte daraufhin den Kauf

ab. Da machte sich der Graf, der das Geld

schon für den Ausbau einer Ruine verplant

hatte, auf den Weg nach Kapfenberg, um

mit Papa zu sprechen. Doch der herrsch-

te ihn an wie einen dummen Schüler: „Ich

habe Ihren Besitz gerettet, Sie hätten jetzt

kein einziges Grundstück mehr zu ver-

kaufen, hätten wir während des Krieges

nicht so viel abgeliefert und so gut gewirt-

schaftet. Ihr gesamter Grund wäre ohne

uns bereits verbaut. Dann wäre es Ihnen genauso so ergangen

wie dem Ramsauer. Der ist eingeschätzt worden, hat für den Qua-

dratmeter vielleicht 40 Pfennig bekommen. Die Nazi haben nicht

lang gefragt, was so ein Grund kostet. Sie haben den Preis fest-

gesetzt und fertig.Nur aufgrund unserer hohen Ablieferungen war

es möglich, dass Sie Ihren Grund erhalten haben. Und jetzt wollen

Sie mich der Gemeinde ausliefern? Unsere Gemeinde verfolgt doch

ein doppeltes Ziel: Erstens wollen sie den Grund haben, zweitens ei-

nen schwarzen Gemeinderat loswerden. Schämen Sie sich! Während

des ganzen Krieges sind Sie untätig geblieben, wenn man davon ab-

sieht, dass der junge Graf oft zu uns gekommen ist und bei uns ge-

jausnet hat. Dass Sie mich so belogen haben, werde ich nie verges-

sen!“ Und so ging es weiter. Aus dem Kauf wurde jedenfalls nichts.

Doch die Gemeinde brauchte Grundstücke und probierte es un-

verdrossen weiter. Also fuhr Papa hinunter zur Landesregierung.

Diese verfasste schließlich einen Brief: Es sei nicht abzusehen,

Das renovier te Schloss Wieden mit Burg 1977

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wann der Grund zur Verbauung freigegeben werden könne. Er

sei ein Herzstück des landwirtschaftlichen Betriebes, weil sich die

hofnahen Weiden dort befanden.

Die Gemeinde versuchte es nun mit Diplomatie, und zugleich

brauchte Graf Stubenberg das Geld. Papa hielt mit seinen Funkti-

onen – 1948 war er auch kurze Zeit hindurch Landtagsabgeordne-

ter – dagegen und bekam Unterstützung durch die Landeskam-

mer und den Landeshauptmann.

Auf diese Weise erreichten wir schließlich, dass sie uns Schloss

Wieden 1952 auf drei Jahresraten anboten. Wir hatten ja auch kein

Geld für den Kauf. Wir mussten zuerst etwas verkaufenund beka-

men dann Schloss Wieden auf 3 Jahresraten. Als alles durchge-

führt war, mussten wir feststellen, dass der Grund hinter dem Haus

in Wirklichkeit einem ganz anderen Stubenberg gehörte, nicht un-

serem Verkäufer. Es handelte sich um Camillo Stubenberg in St.

Pölten, der gar nicht wusste, dass er in Kapfenberg Besitz hatte.

So blieb uns nichts anderes übrig, als auch noch diesen Grund zu er-

werben, weil unsere Hausmauer sonst zugleich die Grundgrenze ge-

wesen wäre. Wir hätten nicht einmal ums Haus herumgehen können.

Nach langem Hin und Her und nachdem Papa immer wieder bei

der Gemeinde vorgesprochen hatte, gelang es uns sogar noch,

die Grenze begradigen zu lassen und das fehlende Eck von der

Gemeinde zu kaufen. Jetzt besitzen wir mit dem Schloss und der

sonstigen verbauten Fläche hier gerade einmal zwei Hektar.

Zum Glück hatten wir bereits Winkl und St. Ruprecht, sonst wären

wir nicht durchgekommen. Die ganzen Stubenberg-Grundstücke

verkaufte der Graf schließlich scheibchenweise und bekam so

statt der 1,2 Millionen den hübschen Betrag von 5,5 Millionen,

mehr als das Doppelte. Dank der Hochwasserverbauung und

Mürzregulierung waren aus den Flächen ganz passable Bau-

gründe geworden. •

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Schloss Wieden

Der Name Wieden leitet sich vom Wort widum (lat. Vidualicium) ab. Der Begrif f Widum bezeichnete im Mittelalter ursprünglich größere Ländereien, die der Gattin eines Adeligen, im Fall einer Witwenschaft als Versorgung zugedacht waren.

1739 Anstelle älterer Bauernhöfe errichtet Georg Graf von Stubenberg das heutige Schloss1750 Kaiserin Maria Theresia verbringt die Nacht vom 3. auf den 4. Juli auf Schloss Wieden1782 Auf seiner Reise nach Wien nächtigt hier am 20. März Papst Pius VI1848 Bis zu diesem Jahr ist das Schloss der Sitz des großen Landgerichts sowie der Bezirksherrschaft für das ganze Mürztal und die Hochschwabregion bis nach Mariazell1952 Josef Graf von Stubenberg verkauft das Schloss an Plazidus und Agathe Sieber

Maria Theresia im Schloss Wieden

Kaiserin Maria Theresia war nicht nur durch ihre Reformen prä-sent, sie kam auch persönlich nach Kapfenberg. Anlässlich ihrer Fahrt zum Militärlager nach Pettau reiste die Landesmutter durch Kapfenberg und nahm Quartier im Schloss Wieden. Am 2. Juli 1750 wurden die Landgerichte entlang der Straße von Wien über den Semmering nach Graz und Pettau angewiesen, alle Galgen zu entfernen oder zumindest die daran hängenden Leichen, die auf Pfählen steckenden Köpfe oder die an Räder gehefteten Gliedma-ßen abzunehmen. Man möge der "allerhöchst Kaiserin, bei ohne-dem gesegneten Leib" jede mögliche Aufregung ersparen.

Die Nacht vom 3. auf den 4. Juli 1750 verbrachte die Kaiserin als Gast der Herren von Stubenberg im Schloss Wieden. Sie reiste offensichtlich mit großem Gefolge, da sie Unmengen an Lebens-mittelvorräten herbeischaffen ließ und anordnete, dass:

Bey unserer höchsten Ankunft zu Neu-Wieden genugsamber Vor-rath von allen Victualien, an wohlgemästeten Oxen, Lämmer- und Schöpsenfleisch, gueten Fischen, schönen Krebsen, frischer Butter, Schmalz, Spöckh, Milch Meel, Grünes, allerhand Feder-Wildbräth, gemästete Kapäunls, Hüendl und was sonst immer nöthig und un-ser Controllorgan verlangen wirdet, zu bekommen seyn möge.

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Unser FamilienalltagHedwig erzählt:

— In Kapfenberg

Bei uns zu Hause herrschte ein reges Leben und Treiben. Da un-

sere Eltern Most verkauften, gingen die Mostkunden nicht nur bei

uns ein und aus, sondern ließen sich auch nieder, ja verbrachten

den Großteil ihrer Freizeit bei uns. Unsere Küche war immer von

fremden Leuten belagert, von Kundschaften verschiedenster Art.

Auch zu den Mahlzeiten waren wir als Familie selten allein. Un-

sere Eltern führten ein offenes, gastfreundliches Haus, in dem es

selbstverständlich war, Gäste zu bewirten – nicht nur ausnahms-

weise, sondern praktisch jeden Tag. Außerdem galt es ja Knechte

und Dienstmädchen zu verköstigen, das waren allein über zehn

Personen.

In den mageren Zeiten musste sich Mama in der Kunst üben, aus

buchstäblich nichts etwas zu machen. Essen spielte bei uns zu

Hause eine wichtige Rolle. Unsere Mutter war eine sehr feinsin-

nige Köchin, die sich hervorragend aufs Würzen verstand. Die

Kochkenntnisse, die sie sich in der Bürgerschule angeeignet hat-

te, kamen nicht nur uns, sondern auch unseren zahllosen Gästen

und Bediensteten zugute.

Wie viel Arbeit das Kochen bereitete, kann man ermessen, wenn

man bedenkt, dass praktisch alles selbst gemacht und herge-

stellt werden musste. Eine Hausfrau begann damals spätestens

um zehn zu kochen, und selbst da hatte sie es eilig, wollte sie

bis zu Mittag fertig sein. Zuerst musste Feuer gemacht werden,

danach alles händisch – jeder Strudel- und Nockerlteig, alles. Es

galt, den großen Herd einzuheizen und auf die richtige Tempe-

ratur zu bringen, die Zutaten herzurichten und zum Teil aus dem

Garten zusammenzusuchen, Teige zu rühren oder zu kneten, Kin-

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dernasen zu schnäuzen, Mostkunden zu bedienen und den einen

oder anderen Konflikt zu schlichten. Wie meine Mutter das alles

bewältigen konnte, ist mir heute unvorstellbar.

Bei uns wurde fünfmal am Tag gegessen. Zuerst kam das Früh-

stück, zu fast nachtschlafender Zeit. Die Knechte mussten ja sehr

früh aufstehen, speziell im Sommer, wenn gemäht wurde. In der

Früh gab es normalerweise Polentasterz. Der wird zubereitet, in-

dem man Polenta in kochendes Wasser einrührt. Diese Masse

stockt und wird mit einer Gabel zerrissen. Dann erhitzt man in

einer großen, gusseisernen Pfanne Schweineschmalz – gut ist es

auch, wenn Grammeln drin sind -, bis es rauchheiß ist. Das Fett

wird über die Polentamasse geschüttet, das Ganze noch weiter

mit der Gabel zerkleinert und ein bisschen geröstet. Also, die-

ser Sterz ist einfach köstlich! Dazu trank man Kaffee. Das ist ein

anhaltendes Essen, das hart arbeitende Menschen eine Zeitlang

wirklich satt macht.

Am Vormittag bekamen alle eine Jause mit Speck und Wurst, und

bald darauf gab es Mittagessen.

Dreimal pro Woche hatten wir zu Mittag Fleisch, ansonsten ka-

men Mehlspeisen wie Erdäpfelnudeln oder Strudel auf den Tisch.

Suppe gab es jeden Tag, die war wichtig für die Männer. Heute

noch essen die Männer in meiner Familie gern Suppe. Das ist ein

richtiges Männeressen. Im Anschluss an das Mittagessen wurde

gebetet.

Nach der Arbeit am Nachmittag, ungefähr um vier, war Jausen-

zeit. Die Melker kamen früher an die Reihe, denn sie mussten ja

gleich danach in den Stall.

Zum Abendessen um etwa sechs Uhr gab es traditionell gerös-

tete Erdäpfel und Kaffee. Man kann sich vorstellen, was es für die

„Küchenmannschaft“, sprich für Mama, bedeutete, die Zutaten

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herbeizuschaffen, die Mahlzeiten auf den Tisch bzw. aufs Feld zu

bringen, die Berge von Geschirr abzuwaschen, die dabei anfielen,

und währenddessen ständig die Milch- und Mostkunden zu be-

treuen, die Spuren der erdigen Männerschuhe vom Küchenboden

zu beseitigen, als Klagemauer zu dienen und zusätzlich Personal,

Kinder und Zaungäste zu dirigieren und im Auge zu behalten. Von

Urlaub war natürlich keine Rede, und Ruhephasen gab es höchs-

tens an Sonntagen, und selbst da waren sie knapp bemessen.

Vor dem Mähen standen die Männer schon in aller Herrgottsfrü-

he auf, um die Sensen zu dengeln. Das Gras musste zum Mähen

taunass sein. In großen Gruppen zogen sie dann auf die Wiesen

hinaus. Unter den Knechten herrschte eine eigene Hierarchie.

Es gab Witzbolde und „Grantscherm“, und jeder einzelne hatte

seinen Platz. Es war genau festgelegt, wer jeweils der Erste war.

Bei uns wurde sehr darauf geachtet, dass die Knechte immer gut

und reichlich zu essen bekamen. Wir unterschieden uns darin

stark von den steirischen Bauern, die als recht kluppig galten. Der

Grund war natürlich auch eine gewisse Armut, doch das kann

nicht alles gewesen sein. Schließlich herrschte auch bei uns nicht

gerade Reichtum, aber die Knechte hatten immer Vorrang, auch

vor uns Kindern. Sie mussten zuerst versorgt werden.

Die Küche meiner Mutter war bei den Dienstboten sehr beliebt.

Ihr bestes Gericht waren ihre Leberknödel. Die waren weithin be-

rühmt. Es gab ja damals nicht viel: Neben Fleisch, Mehl und Eiern

hatte man Zwiebeln, aber auch nicht unbeschränkt, dann Thymi-

an, Majoran, Salz, Pfeffer und Zucker, von dem in der damaligen

Küche allerdings wenig verwendet wurde. Man zuckerte eigentlich

nichts außer den Mehlspeisen. Zugleich gab es hervorragende

Mehlspeisen, in denen praktisch kein Zucker war. So machte etwa

Maria, ein Dienstmädchen aus Osttirol, das in den frühen sechzi-

ger Jahren eine Zeitlang bei uns war, Marmeladentascherln aus

Mehl, die in Schweineschmalz herausgebacken wurden. Gefüllt

waren sie mit schwarzer Ribiselmarmelade. Diese Tascherln wa-

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ren derart gut, dass die meisten anderen Mehlspeisen dagegen

verblassten. Bei uns kam jeden Samstag und Sonntag ein Gu-

gelhupf auf den Tisch, außerdem Tascherln mit unterschiedlichen

Füllungen, Zimtschnecken oder gebackene Mäuse. Irgendetwas

Süßes machte Mama immer, sehr oft aus Germteig.

Einmal passierte es ihr, dass sie versehentlich Essig zum Germteig

gab, ich weiß nicht mehr, anstelle von was. Sie war zuerst ganz

besorgt, weil sie nicht wusste, was aus diesem Teig werden soll-

te. Ihn wegzuwerfen, kam nicht in Frage. Man durf te mit Essen

auf keinen Fall „wüsten“, also verschwenderisch umgehen, dafür

war es zu kostbar. Interessanterweise entpuppte sich gerade die-

ser Germteig aber als der beste aller Zeiten: Er war ungeheuer

feinporig. Seit dieser Zeit wurde der Germteig bei uns immer mit

Essig gemacht!

Auch Semmeln gab es bei uns öfter. In der ersten Zeit wurde das

Brot ja noch daheim gebacken, aber das erwies sich bald als zu

zeitaufwändig und zu kompliziert. Danach kauften wir unser Brot

beim Bäcker. Deshalb hatten wir häufig Semmeln, zum Beispiel

zum Erdäpfelgulasch oder wenn Besuch kam, denn das Weißge-

bäck galt als ein gewisser Luxus. Und so standen natürlich auch

Semmelknödel öfter auf dem Speiseplan.

Bei uns wurde regelmäßig Gemüse gekocht, damals keine Selbst-

verständlichkeit. Mama liebte es, und man kocht ja erfahrungsge-

mäß das, was man selbst gerne isst. Die Knechte hatten mit dem

Gemüse allerdings keine Freude. „Das fressen die Kühe“, sagten

sie. Aber Mama verstand es, ihnen doch so manches gesunde

Grünzeug unterzujubeln. Karfiol, grüne Bohnen, Sauerkraut...

Meine Mutter machte ein sagenhaftes gedünstetes bayerisches

Süßkraut. Die Leibspeise unseres Vaters waren Schweinsbraten

und „Hafaloab“. „So gute Hafaloab bekommt man nirgends“,

pflegte er zu sagen. Mit diesem leicht irreführenden vorarlbergi-

schen Wort wurden große Polentanocken bezeichnet, die mit dem

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Schweinsbraten mitgeschmort wurden, bis sie vollgesoffen wa-

ren mit Fett und Bratensaft und eine Kruste bekamen. Dann erst

waren sie richtig gut. Diese Nocken, eine Vorarlberger Spezialität

übrigens, waren sein Ein und Alles. Er kam ja weit herum, aber

seine heimatlichen Hafaloab waren ihm heilig. Die Kinder, die zu

uns kamen, kannten dieses Gericht nicht. „Was esst ihr denn da?“

fragen sie uns. „Türkensterznockerln?“

Ein weiteres typisches Essen waren Käsespätzle, die vor allem auf

den Tisch kamen, wenn die Vorarlberger Verwandtschaft Käse

mitbrachte. Dazu wurde Apfelmus gegessen, ein Brauch, der in

steirischen Breiten völlig unbekannt war.

Vieles wurde aus Erdäpfelteig zubereitet, und auch Strudel beka-

men wir oft. Mama machte zum Beispiel zwei verschiedene Sor-

ten Grießsuppe, eine dunkle und eine helle, die sie immer fein

würzte, unter anderem mit Pfeffer. Ich mochte nur zuhause essen.

Woanders schmeckte es mir nicht.

Nicht nur im Ort, auch in der Großfamilie waren wir Mittelpunkt

und Anlaufstelle. Alle Verwandten, die aus Vorarlberg kamen,

aber auch die Mitglieder der erweiterten Familie aus der Steier-

mark, trafen sich bei uns.

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— Die lästige Nachmittagsjause

Im Sommer, wenn auf dem Feld gearbeitet wurde, mussten wir

den Leuten die Jause bringen. Dort, wo heute der Lidl steht, waren

damals unsere Erdäpfeläcker und ein großer Stadel. Wir hatten

oft 30 Tagwerker, meistens volksdeutsche Frauen. Sie verdienten

sich mit der Feldarbeit eine kleine Zubuße zum kargen Lohn ihrer

Männer. Zusätzlich bekamen sie die Milch günstiger. Deshalb ka-

men sie immer gern zu uns.

Für mich war das „Jausenführen“ der absolute Gräuel: Schon als

Kind vertrug ich die Hitze nur schlecht. Meine Aufgabe war es,

dafür zu sorgen, dass die Knechte um halb vier pünktlich etwas

zu essen und zu trinken bekamen. Dazu musste ich schon um

zwei Uhr von zu Hause aufbrechen. Bis zum Feld hatte ich es weit

mit dem randvollen Leiterwagen – eine ganze Pitsche Most und

Jause für alle! Über den Frauenriegel ging es spürbar bergauf.

Außerdem herrschte um diese Zeit starker Schichtbetrieb und auf

der Straße waren viele Leute. Am frühen Nachmittag hatte die

herunterbrennende Sonne den Asphalt aufgeweicht, so dass der

Leiterwagen immer wieder stecken blieb. Ich musste sehr stark

ziehen und schwitzte furchtbar. Diese Hitze! Ich hasste es, mit der

Jause zu gehen. Meine Brüder halfen auf dem Feld mit und ich

musste für die Verpflegung sorgen. Hatte ich mein Ziel endlich

erreicht, war mir der Appetit gründlich vergangen, und ich ver-

zichtete auf die mir zustehende Jause.

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Kühe hüten

Wenn mein Vater, der sonst immer laut und kräftig redete, in aller Frühe ganz leise an mein Bett geschlichen kam und mit freundlicher, lieblicher Stimme säuselte: „Aufstehen, Mädi, Kühe halten!“, wusste ich, was es geschlagen hatte. Ich musste in den sauren Apfel beißen, da gab es keine Widerrede.

Aber ich haderte mit meinem Schicksal: Es galt 60 Kühe und ei-nen Stier zu hüten zwischen Bundesstraße und Mürz, wobei die Bundesstraße nicht abgezäunt war, und auch zur Mürz hin war das Gelände offen. In aller Früh barfuß auf der taunassen Wiese, die im Herbst eiskalt war... Gummistiefel hatte ich nicht, und die Alltagsschuhe waren zu teuer für diese schmutzige Arbeit. Noch dazu wussten die Kühe genau, dass in den angrenzenden Gär-ten Leckerbissen wie zum Beispiel Kohlköpfe zu holen waren, und strebten mit einem entsprechenden Eifer in diese Richtung. Auch die Straße hatte eine starke Anziehungskraft auf sie. Die Wiese war groß, und ich musste die ganze Zeit hinter den Kühen her rennen. Trotzdem war mir of t so kalt, dass ich mit meinen bloßen Füßen in eine warme Kuhflade trat, um mich wenigstens ein klei-nes bisschen aufzuwärmen.

Romantisch veranlagt wie ich war, pflückte ich immer die spärli-chen auf der Wiese verbliebenen Blumen. Ich bereitete ihnen ein Grab, damit sie besser über den Winter kämen, oder ich sang, ich kannte ja viele Lieder. Und sehnsüchtig wartete ich auf unseren Knecht Sepp, der irgendwann am Vormittag kam und die Kühe abholte. Die Stunden vergingen wie in Zeitlupe!

Ich verstehe nicht, warum mein Bruder Herbert sagt, das Kühe hüten sei lustig gewesen. Für mich war es alles andere als das. Rückblickend muss ich aber mit Stolz sagen: Kein einziges Mal sind mir die Kühe durchgebrannt! Naja, außer dass sie von Zeit zu Zeit die Gärten heimsuchten…

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— Feierabend

Die Arbeit endete ungefähr um halb sieben, je nachdem, was zu

tun war. Nur wenn sich ein Gewitter ankündigte, musste alles auf

die Wiese, ganz gleich zu welcher Tageszeit, denn es war unbe-

dingt notwendig, das Heu bei trockenem Wetter einzubringen.

Wer abends Lust hatte, setzte sich vors Haus, um auf der Haus-

bank das Tagesgeschehen zu bereden. Oft kam Papa noch um

zehn Uhr am Abend, im Stockfinsteren, auf eine Idee: „Mädi“,

sagte er dann, „geh und brock mir ein Schüsserl Ribisel!“ oder

„Mach mir noch eine Schüssel Salat!“ Widerrede gab es keine,

und ich erfüllte ihm seinen Wunsch. Meine Freude über diese Auf-

gaben hielt sich allerdings in Grenzen.

Ganz besonders schön war es an den Winterabenden. Nach dem

Essen gingen wir immer in das Zimmer, in dem die Dienstboten

aßen. Dort wurde vom Leben und von der Vergangenheit geredet.

Wir Kinder hörten den Gesprächen aufmerksam zu. Was da ge-

redet wurde, war für uns hoch interessant und wir erfuhren, wie

verschieden sich das Leben für jeden einzelnen anfühlte.

Als eingefleischte Leseratte lebte ich immer ein bisschen gefähr-

lich. Papa schätzte meine Vorliebe für Bücher gar nicht, und wenn

er mich lesend antraf, sagte er immer vorwurfsvoll: „Sie stiert scho

wieder in a Buach eini!“ Ich hörte ihn kein einziges Mal sagen: „Sie

liest“. So versteckte ich mich nach Möglichkeit in einem schumm-

rigen Winkerl zwischen Schubladkasten und Sägespäneofen. Der

Platz war eng, aber gut geschützt. Wenn Papa den Raum betrat,

sah er mich nicht gleich. Erst wenn er weiter ins Zimmer vordrang

und sich dann umdrehte, war ich ertappt. Sobald er mich lesen

sah, fiel ihm gleich eine Arbeit ein für mich.

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Was das Lesen anbelangte, hatte ich aber zum Glück einen

Schutzengel in Gestalt von Mama. Natürlich musste ich viel arbei-

ten müssen im Vergleich zu dem, was heute die Kinder tun – Tisch

decken und ähnliche Dinge. Vor allem im Sommer war ich schlecht

dran! Da hieß es die ganze Zeit Jause austragen und führen. Aber

sonst konnte ich meine Nischen doch relativ gut verteidigen.

„ Im Osterhasenland“ - Lieblingsbuch von Hedwig

Il l lustration aus dem „Osterhasenland“

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Mein erstes Buch

Zu Hause las ich schon mit sieben Jahren jeden Tag die Tages-zeitung und den Fortsetzungsroman, so lesehungrig war ich. Das war auch der Grund, warum ich in der Schule so gut war. Ich blätterte immer weit voraus, egal ob im Lesebuch oder im Re-ligionsbuch. Das erste Buch, das ich in die Hände bekam, war mein Lesebuch. Das ist bis heute mein Heiliges Buch, das für mich gleich nach der Bibel kommt.

Aber mein erstes richtiges Buch war das Osterhasenbuch. Zu uns kam manchmal die alte Frau Schlagbauer, die uns die Zeitschrif t „Stadt Gottes“ brachte. Einmal hatte sie etwas ganz Besonderes mit: Das Osterhasenbuch von Erna Maria Waldhof, herausgege-ben von den Steyler Missionaren! Mit seinem matt schimmern-den, bunt gestalteten Einband lag es, nach frisch bedrucktem Papier duftend, vor ihr auf dem Tisch. Ich spürte, wie sich eine ungeheure Sehnsucht meiner bemächtigte. In unserer Familie war es undenkbar, um etwas zu betteln, man hätte sich lieber auf die Zunge gebissen. Und natürlich war Mama auch immer knapp bei Kasse. Geld war Mangelware. Aber in diesem Fall konnte ich nicht anders: „Mama!“, hauchte ich, „dieses Buch hätte ich sooo gern!“ Ich getraute mich kaum zu atmen. Und wirklich: Mama hatte Erbarmen! Sie kaufte mir das Buch. Ich konnte es gar nicht fassen. Kein Kind kann je glücklicher sein als ich es war, als ich diesen Schatz in die Hand gedrückt bekam. Man kann es nicht anders sagen: Ich fraß das Buch. Ich las es hundert, ja vielleicht tausend Mal. Ich vertief te mich in die Geschichten, ich pauste die Bilder ab, ich lebte mit dem Buch. Später las ich es ungezählte Male meinen Kindern und Enkelkindern vor. Das Osterhasenbuch war mein Traum, und ich liebe es heute noch.

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— Verwandtenbesuch

Schön war es auch immer, wenn Besuch angesagt war. Wir krie-

gen Besuch, hieß es! Das war für uns eine große Freude. Tante

Rosa, Onkel Seppel oder andere Verwandte aus Vorarlberg... wir

fanden diese Anlässe wunderbar. Besonders mochten wir Tante

Rosa, die kinderlose Schwester unserer Mutter, die uns mehre-

re Winter Gesellschaft leistete. 1947 kam sie zum ersten Mal. Ei-

gentlich war sie schon für Jänner 1946 angesagt gewesen, aber

damals stimmte irgendetwas mit ihrem Stempel nicht, und so

musste sie in Mandling an der Grenze zwischen Salzburg und

Steiermark umkehren. Damals war ja noch Besatzungszeit. Beim

nächsten Mal klappte es aber, und in den folgenden Jahren ver-

brachte sie jeweils einige Monate bei uns. Wenn Tante Rosa bei

uns war, nähte sie Pantoffeln aus Stoff, richtig professionell, sie

hatten sogar eine Sohle. Aber auch andere Verwandte aus Wol-

furt besuchten uns oft. Das war für unsere Mutter, die in Kap-

fenberg ja keine persönlichen Beziehungen knüpfte, immer eine

unendliche Freude. •

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Hedwigs Erinnerungen—

Eine meiner schönsten Erinnerungen ist, wie wir nach dem Aus-

graben der Erdäpfel auf dem Leiterwagen, der mit den vollen Sä-

cken beladen war, in der Abenddämmerung nach Hause fuhren.

Die Pferde zockelten gemächlich vor sich hin, wir hatten Fackeln

auf dem Wagen. Überall roch es nach Erdäpfelfeuer, es war eine

herbstliche Stimmung, ein Duft, den ich mein Leben lang nicht ver-

gessen werde. Um diese Jahreszeit war es um fünf schon dunkel.

Ebenso unvergesslich ist mir eine Begebenheit, als mein Vater in

der Kriegszeit einmal zu einer Luftschutzinformation musste. Ich

begleitete ihn - warum, weiß ich nicht mehr. Es hatte geschneit,

und wir gingen die menschenleere, verschneite Straße entlang.

An der Seite meines Vaters fühlte ich mich wie in Abrahams Schoß.

In dieser weißen Stille neben dem großen, starken Papa zu ge-

hen, der weiche, frische Schnee... wir unterhielten uns nicht groß,

aber dieses Nach Hause Wandern machte einen unvergesslichen

Eindruck auf mich.

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Schule— Volksschule

Der Tag meiner Schuleinschreibung war für mich einer der glück-

lichsten Tage meines Lebens. Oh happy day! Dieser Jubelruf

kommt mir in den Sinn, wenn ich an diesen Tag zurückdenke. Ich

kann mich dunkel erinnern, dass es mein Bruder Richard war, der

mit mir zur Schuleinschreibung ging, oder vielleicht war es auch

das Dienstmädchen.

Nach meinen ersten Jahren, in denen ich über weite Strecken „in

Aufbewahrung“ bei alten Frauen gewesen war, empfand ich die

Schule geradezu als Tor zum Himmel. Etwas Aufregenderes hatte

ich noch nie erlebt! Für mich konnte es nichts Schöneres geben.

Ich ging mit einer solchen Begeiste-

rung in die Schule! Der Name meiner

Lehrerin, Frau Brunner, hatte durch

das Attribut „Fräulein“ die gebotene

Bedeutungsschwere. Mein Lesebuch

aus der ersten Klasse war in Kurrent-

schrif t gehalten und mit kunstvollen

Zeichnungen verziert, die mich, die

ich in einer bilderlosen Umgebung

aufwuchs, faszinierten.

Fräulein Brunner, die beste Lehrerin der Welt

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In dem Buch sieht man zum Beispiel, wie die

Kinder angezogen waren. Man hatte neben der

Alltagskleidung ein Schul- und ein Kirchenge-

wand. Mädchen trugen in der Schule Schürze.

Im Sommer gingen die Kinder oft barfuß. Ich er-

innere mich, dass ich eigentlich immer Schuhe

anhatte. Bei meinem Bruder Richard war das

anders: Er zog sich die Schuhe meistens im Hof

hinterm Haus aus und ging barfuß zur Schule.

Kurz bevor er nach Hause kam, zog er die Schu-

he wieder an. Meine Mutter sah das gar nicht

gern. Sie achtete immer sehr auf die Form, wie

sie es von Vorarlberg her gewöhnt war.

Die erste Klasse war für mich etwas so über-

wältigend Schönes, dass ich gar nicht genug

bekommen konnte. Wie ein Schwamm saugte

ich alles in mich ein.

Noch nie zuvor hatte uns jemand

Geschichten erzählt. Das war et-

was vollkommen Neues für mich.

Dass es so etwas Herrliches gab!

Mein Lesebuch, das ich gefühlte

tausend Mal las, kannte ich in-

und auswendig. Das Religions-

buch ebenfalls. Wir hatten keine

Tafeln mehr, sondern bereits Hef-

te. Ich kam 1937 in die Schule, mit

gerade sechs Jahren. Die Kinder

unmittelbar vor uns hatten noch

Tafeln und Grif fel.

Lesebuch Weihnachts-il lustration

Nazi-Nachtrag im Lesebuch: Als die Nazi

an die Macht kamen, wurde in unser schönes

Lesebuch ganz hinten noch dieses Blat t ein-

gefügt, um uns auf die neuen Zeiten einzu-

stimmen

Lesebuch Cover

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Ich lernte in Windeseile lesen, denn ich übte ja unermüdlich.

Nichts tat ich lieber. In schulischen Dingen waren wir völlig auf

uns allein gestellt. Unsere Mutter hatte für so etwas keine Zeit. Sie

war über ihre Kräfte hinaus belastet: Zehn Knechte, ein Dienst-

mädchen, vier Kinder, die vielen Kundschaften und all die frem-

den Leute in unserer Küche nahmen sie so in Anspruch, dass sie

kaum zum Atmen kam.

So mussten wir ganz allein zurechtkommen. Am Abend konnte ich

den nächsten Schultag kaum erwarten. So schön war die Schule

für mich. Unbeschreiblich schön.

Am Ende des ersten Schuljahres schrieben wir einen Aufsatz. Das

Thema habe ich vergessen, aber ich weiß noch, dass mein Auf-

satz in der ganzen Schule herumgereicht wurde, weil er so gut

gelungen war.

Leider war nur das erste Schuljahr so schön. Die restlichen drei

Volksschuljahre waren eine einzige Enttäuschung. In der zweiten

Klasse war ich noch in Hafendorf, aber danach wurde ich der

Volksschule Kapfenberg Stadt zugeteilt. Das war das Widerwär-

tigste, was mir passieren konnte.

Vor dem Anschluss war Hafendorf eine eigene Katastralgemein-

de. 1938 erfolgte die Eingemeindung nach Kapfenberg, und wir

mussten in die dortige Schule, direkt neben der Mürz. In der drit-

ten Klasse bekam ich als Lehrerin ein Fräulein Pinter, eine bissige

alte Jungfer. Ihr Unterricht war völlig uninspiriert und langweilig.

Die heimelige erste Klasse mit dem mollig warmen Ofen gegen

dieses zentralgeheizte Gebäude mit dem geistlosen Unterricht

tauschen zu müssen, war für mich wie ein Sturz aus dem Hoch-

haus. Aber damit nicht genug: In der vierten Klasse kam ich vom

Regen unter die Traufe. Unsere Lehrerin, eine Frau Masser, war

glühende Nationalsozialistin. Bei ihr erlebte ich am eigenen Leib,

was Gehirnwäsche ist.

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Die Hitlerjugend veranstaltete ihre Appelle immer ausgerech-

net auf dem Kirchplatz. Die Posaunen und Trommeln waren

so laut, dass man in der Kirche nicht einmal mehr die Orgel

hören konnte. Wir mussten mit unserem Vater durch die Reihen

der Hitlerjugend hindurch in die Kirche gehen. Er war abso-

lut dagegen, dass wir uns diesem Verein anschlossen – eine

Haltung, die uns Kinder in allerlei unangenehme Situationen

brachte.

Nachdem ich am Sonntag mit meinem Papa durch die Appell-

reihen zur Kirche hatte gehen müssen, bekam ich am Montag in

der Schule postwendend Ärger mit Lehrerin Masser. Vor der gan-

zen Klasse fragte sie mich, warum ich nicht beim Appell gewesen

sei und wer mich denn beeinflussen würde. Ich weiß zwar nicht

mehr, was ich auf diese inquisitorischen Fragen antwortete, kann

mich aber genau erinnern, wie ich diese peinliche montägliche

Befragung hasste.

Ganz ließen sich die Appelle aber nicht vermeiden. Manchmal

wurde man einfach abgeholt, und dann musste man gehen.

Ich erinnere mich übrigens, dass sie gar nicht so schlecht ge-

f ielen. Dabei wurde viel gesungen, und das machte mir Freu-

de. Die Texte der militärischen Lieder verstand ich ohnehin

nicht.

Meinen Bruder Richard versteckte sich bei diesen Anlässen im-

mer. Er verübelte es den Nazi, dass sie unseren Papa gleich nach

dem Anschluss im 38er Jahr eingesperrt hatten, und ließ sich

weder durch ihre Schmeicheleien noch durch ihre Schmähungen

umstimmen.

So waren wir schon in jungen Jahren mit dieser Gehirnwäsche

konfrontiert. In der Schule waren die Nazi-Parolen unser tägliches

Brot. Die meisten Lehrer waren ja Nazi.

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Vater unser, der du bist, der die alten Weiber frisst!

Der frühe Winter brachte eine böse Gefahr mit sich: den Krampus! Den Nikolaus bekamen wir in unserer Kinderzeit nur ein einziges Mal zu Gesicht, und auch da brachte er keine Geschenke. Aller-dings fanden wir am nächsten Tag einen Teller mit einer Orange, einer kleinen Bensdorp-Schokolade und ein paar Nüssen und Stollwerck.

Der gefürchtetste Krampus war der Rotsohler. Dieser Name wies darauf hin, dass er aus dem Gebiet um die Veitsch kam, das Rotsohl genannt wird. Dass man ihn „Rozulla“ aussprach, unter-strich seine Gefährlichkeit. Er suchte uns nur alle vier Jahre ein-mal heim, aber wehe, wenn er angesagt war! An dem bewussten Abend saßen wir auf dem großen Waschbrett in der Waschküche versammelt, und die Buben führten allerhand große Reden, wie sie es dem Krampus geben würden. Sie hätten die Birkenruten schon eingeweicht! Anstatt zu beten, würden sie dem Krampus ins Gesicht schleudern: „Vater unser, der du bist, der die alten Weiber frisst!“

Doch wenn es dann so weit war, schmolz ihr Mut wie Butter an der Sonne. Der Krampus fackelte nicht lang. Er stürzte auf die Buben zu und schrie sie an: „Beten!“ Da war nicht mehr viel zu hören von den forschen Reden. Kein Mauseloch wäre den Helden zu klein gewesen! Sie versteckten sich am liebsten hinter den Beinen der Knechte in der Stube, oder hinter den Besen.

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— Kusinen aus Vorarlberg

Meine Kusinen Herlinde, Melitta und ich – die Sorger Elfi war auch

dabei – gingen immer in die Au. Dort waren Bänkchen, auf denen

wir uns niederließen. Sie dienten uns als Ausgangsstation für aller-

lei Raubzüge in die Gärten der Umgebung. Karotten, Kohlrabi und

alle guten Sachen, die uns so schmeckten. Herlinde kann sich heu-

te noch daran erinnern! Das war lustig! Von Mama bekamen wir

Liptauerbrote mit, und damals hatten wir auch schon Paradeiser.

Nach denen waren Herlinde und Melitta total verrückt! Sie leisteten

mir in diesem Jahr den ganzen Sommer über Gesellschaft.

— Hauptschule

In der Hauptschule besserte sich die Lage. Der Direktor, Franz

Schiessl hieß er, war zwar ein leidenschaftlicher Nazi, aber trotz-

dem ein guter Lehrer, der nie jemandem nahetrat, nur weil er

oder sie anderer Meinung war. Ich habe an ihn die besten Er-

innerungen. Außerdem hatte ich in der Hauptschule die beste

Deutschlehrerin aller Zeiten. Leonore Neuburger hieß sie, auch

sie eine überzeugte Nazi-Anhängerin. Ihr verdanke ich alles, was

ich jemals in Deutsch gelernt habe.

1942 wurden zwölf jährige Mädchen gezwungen, solche Aufsätze zu schreiben

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Auch meine Freundin Else Langmann, die später meine Kinder

unterrichtete, schätzte Frau Neuburger sehr. Diese war nach ih-

rer Pensionierung noch einmal in die Schule zurückgekehrt. Es

herrschte ja Lehrermangel, da viele Männer eingerückt waren

und es auch noch nicht so viele weibliche Lehrkräfte gab.

Jedenfalls hatten wir eine wirklich hervorragende Deutschlehrerin,

und auch Direktor Schiessl nahm seine Arbeit sehr ernst. Ich weiß

noch, dass er uns am Abend häufig in die Schule bestellte, um mit

uns gemeinsam die Sterne zu betrachten. Er hatte ein Teleskop.

Diese astronomischen Übungen interessierten uns brennend.

Ich habe an meine Schulzeit viele gute Erinnerungen. Allerdings

wurde unsere Schule bereits im Herbst 1944, als ich in die vierte

Klasse ging, in ein Lazarett umgewandelt. Man hatte aus Luft-

schutzgründen eine Menge Stollen in den Schlossberg gegraben.

Dort fand noch ein paar Wochen lang ein notdürf tiger Unterricht

statt, der aber auf Dauer nicht zu halten war. Im Berginneren war

es furchtbar stickig, kalt und viel zu finster.

Nach einiger Zeit, im Oktober, wurde der Schulbetrieb dann voll-

ends abgeblasen. Die eingefleischten Nazi glaubten nach wie

vor, Hitler würde über eine Geheimwaffe verfügen, mit der er das

Kriegsgeschehen noch wenden könnte.

Aber zugleich sangen die Leute auch schon Lieder wie: „Es geht

alles vorüber, es geht alles vorbei – nach jedem Dezember kommt

wieder ein Mai.“ Man spürte schon den Untergang der Naziherr-

schaft und den bevorstehenden Aufbruch.

Die Schule endete also abrupt im September 1944, ohne dass wir ein

Abschlusszeugnis bekommen hätten, so dass uns ein volles Schul-

jahr fehlte. Später hieß es, dass diejenigen, die weiter zur Schule ge-

hen wollten, die vierte Klasse wiederholen müssten. Für alle anderen

war das Abschlusszeugnis einfach das Zeugnis der dritten Klasse.

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In der zweiten vierten Klasse kam ich wieder mit meiner Freundin

Bibi zusammen, nachdem wir zuvor lange Zeit getrennt gewesen

waren. Bibi wohnte außerhalb von Kapfenberg in der Nähe von

Schloss Buchta. Diese zweite vierte Klasse war für mich die reinste

Offenbarung. Wir hatten hervorragende Lehrer, allen voran Hilde

Krainz. Neben ihrer Funktion als Direktorin unterrichtete sie auch

Deutsch und Geografie, Fächer, die mich besonders interessierten.

Wenn sie etwas außerhalb der Klasse zu tun hatte, setzte sie mich

als Vertretung ein, und so durfte ich öfter eine Literaturstunde halten.

Das war für mich der Himmel! Ich hatte eine unglaubliche Freude

an diesen Stunden. Frau Krainz hatte überhaupt das Talent, uns

zu begeistern. Dieser Frau werde ich dankbar sein, solange ich

lebe. Für sie und für Frau Neuburger bete ich täglich.

Ich hätte ja gerne die Lehrerbildungsanstalt besucht, aber das

hätte mein Vater nie erlaubt. Einmal kam Hilde Krainz zu uns nach

Hause, um meine Eltern zu überreden, mich Lehrerin werden zu

lassen. Mein Vater hörte sich ihre Rede in aller Freundlichkeit an,

aber nachdem sie das Haus verlassen hatte, sagte er zu mir:

„Was bruucht a Moatle? Kocha, näha – sie hüratet doch.“

Mein Bruder Helmut war da besser gestellt: Ihn schickte mein Va-

ter nach Wieselburg, damals die einzige landwirtschaftliche Mit-

telschule Österreichs. Mit ihm hatte er große Pläne. Er hatte sich

schon überlegt, was jeder seiner Buben einmal machen sollte.

Dabei ging er natürlich von damaligen Vorstellungen aus. Vor al-

lem sollten sie Bauern werden! Deshalb kaufte er kurz vor dem

Krieg auch vorsorglich den Betrieb in Ruprecht. Er hielt große Stü-

cke auf den Bauernstand. Seiner Meinung nach konnte es gar

nicht genug Bauern geben. Grund und Boden waren für meinen

Vater heilig und sind es auch für mich.

Mit mir hatte er nichts Besonderes vor – als „Moatle“ benötigte ich

seiner Meinung nach ja keine höhere Ausbildung. Ein vereinzeltes

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Mädchen in der Bubenschar war ihm schon recht – die kleine

Freude gönnte er Mama. Doch später, im Alter – ich weiß noch, er

saß auf der Bank in unserer Küche am Hainweg – sagte er einmal

zu mir: „Jetzt weiß ich erst, dass du das einzige von meinen Kin-

dern bist, das mir nachgeraten ist.“

Dass ich als Kind mit Lob überhäuft wurde, kann ich wirklich nicht

sagen. Vielleicht sind mir die seltenen Komplimente, die ich be-

kam, deshalb noch so gut in Erinnerung. Wir hatten eine Bekann-

te, Frau Spörk, die während des Krieges immer bei uns nähte.

Damals musste ja alles geflickt und geändert werden. Sie kam

immer zu uns, um auf unserer Nähmaschine zu nähen. Eines

Tages sagte sie zu mir: „Aus dir wird noch einmal etwas!“ Das

beeindruckte mich zutiefst. Niemand sonst sagte je etwas so Lo-

bendes zu mir.

Auch für meine ausgezeichneten Zeugnisse bekam ich niemals

Anerkennung oder gar eine Belohnung. Gute Leistungen waren

selbstverständlich! Wenn man etwas Positives über sich selbst

erfahren wollte, musste man zwischen den Zeilen lesen. Manch-

mal erhaschte man das eine oder andere Lob, wenn die Eltern et-

was zu Freunden oder Bekannten sagten. Von Zeit zu Zeit konnte

man den Erwachsenen auch ein wenig Anerkennung entlocken.

Sehr selten wurde zum Beispiel angemerkt, dass ich gut in der

Schule sei, aber wirklich nur sehr selten.

Mein Vater schätzte an mir besonders das Wehrhaf te und mei-

ne verbale Ausdrucksfähigkeit. Die hatte ich nämlich von ihm.

Wenn er sich irgendwo erhob und das Wort ergrif f, hörten ihm

die Leute zu.

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Der Vater

Ich strickte, als ich noch ein Spielkind war,Mit meiner Mutter fleißig Strümpf und Socken.Der Vater ließ mich volle sieben JahrIn einer engen Bauernschulbank hocken.

Schon früh genug hat seine rauhe HandMich abgewöhnt von Ball und PuppenwiegeEr wollte, dass mein wachsender VerstandSich vor der Zeit zu seiner Arbeit biege.

Und er belehrte mich: die WissenschaftIst Luxusware mit vermehrten Spesen.Der Mensch braucht nichts zu seiner eignen KraftAls Rechenkunst und Schreibekunst und Lesen.

So hielt und hemmte er in strenger ZuchtMir unerbittlich die gespannten FlügelDoch das Geducktsein stärkte ihre Wucht,Und einmal rissen sie sich los vom Zügel.

Aus der Begrenzung, die mich hat umstellt,Ward ich befreit und traumgleich fortgetragen.Ich schaute fernhin auf die kleine WeltUnd dachte oft: Was wird der Vater sagen?

Wie karg verhallte mir sein Spruch im Ohr,Wenn ich erwog die Vielfalt aller Dinge.Und immer kam mir triumphierend vor,Dass ich weit Größeres als er bezwinge.

Nun, wo mein Sinn gemach zur Umkehr taucht, Denk ich, von mancher Eitelkeit genesen:Der harte Vater ist im Recht gewesen.Ich hab mein Lebtag doch nicht mehr gebrauchtAls Rechenkunst und Schreibekunst und Lesen.

Paula Grogger, Gedichte, 1954

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— Die Zeit im Heim

1945 im Sommer hielten Böhler-Ingenieure sporadisch Unterricht

im Schulhof. Schulräumlichkeiten gab es keine. Bibi und ich mach-

ten die Aufnahmeprüfung in die sogenannte „Entenschule“ in Graz,

eine Hauswirtschaftsschule, die mit Matura abschloss. Elli folgte

uns nach einem Jahr Handelsschule im darauffolgenden Herbst.

1946 kamen wir nach Graz. Nur wer diese Zeit selbst erlebt hat,

hat eine Vorstellung, wie es damals war. Den Leuten war es im

Krieg nicht so schlecht gegangen wie mittelbar danach. Es war

nichts mehr da, was man hätte verwalten können. In Graz war

es nicht anders. Wir kamen in ein Heim, in dem vorher Russen

stationiert gewesen waren bzw. gehaust hatten. Es war alles ka-

Meine Freundin Ell i

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putt. Wir waren in einem großen Schlafsaal mit 17 Betten unter-

gebracht. Das heißt, von Betten kann man eigentlich nicht reden:

Die unterste Schicht bestand aus einem Bogen Packpapier, dann

folgten die früher üblichen dreiteiligen Matratzen. Zwei mussten

aber reichen - sie wurden der Länge nach aufgelegt. Gekrönt

wurde das Ganze von einer groben Rosshaardecke von der Art,

wie man sie früher für die Pferdefuhrwerke verwendete. Das war

es auch schon. Da alle sehr arm waren, konnte man nur selten

nachhause fahren, zumal ja auch verkehrsmäßig alles im Argen

lag. Der Erziehungsstil im Internat war streng - man spürte noch

den Hauch von Arbeitsdienst und militärischem Kommando. Es

gab alle Arten von Kontrollen, angefangen bei der Fingernägel-

kontrolle in der Früh. Das Essen? In der Früh bekamen wir einen

Heublumentee, da wurden irgendwelche Blüten und Stängel aus-

gekocht. Das Brot musste man mit dem Löffel essen, so bröcke-

lig war es. Ich war in einem relativ guten Ernährungszustand, so

dass ich die magere Küche ganz gut aushielt. Bei anderen war

das nicht so. Wir hatten schreckliches Heimweh.

Die Verpflegung war haarsträubend. Zu Mittag gab es eine Milch-

suppe auf der Grundlage von amerikanischer Trockenmilch, die

roch man schon Hunderte Meter entfernt. Das Heim befand sich

in der Plüddemanngasse in der Nähe des Schillerplatzes, und die

Schule war am Entenplatz. Mir kam es vor, als würde ich in dem

Augenblick, in dem ich aus dem Schultor trat, schon die ange-

brannte Milchsuppe aus dem Heim riechen. Angebrannte Milch

stinkt ja unvorstellbar.

Es gab Mädchen, die schrecklichen Hunger lit ten und bereit wa-

ren, für ein Stückchen Brot jede Dienstleistung zu erbringen. Ich

erinnere mich noch so gut an eine Kameradin aus Eisenerz, die

so lang, dünn und hungrig war. Sie tat mir furchtbar leid, aber ich

hatte ja auch nichts. Dazu kam, dass es so kurz nach dem Krieg

auch zuhause knapp war. Es gab in dieser Zeit nichts zu kaufen.

Wie andere überlebt haben, ich weiß es nicht.

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Mir war aber nur eines wichtig: Ich schrieb mich in Graz sofort in

eine Bücherei ein, um mir Lesestoff zu besorgen. Das war alles,

was mich interessierte. Mit der Zeit lebten wir uns in Graz gut ein

und waren gern im Internat. Unsere Klassengemeinschaft wuchs

zusammen. Warmes Wasser gab es nur selten, und auch zu den

spärlichen Gelegenheiten kamen wir oft zu spät. Manche Inside-

rinnen wussten früher Bescheid als wir, und so gingen wir häufig

leer aus. Aber da die Nahrung so arm und einfach war, wurde

unsere Kleidung auch kaum schmutzig und roch viel weniger als

heute.

In der Vorratskammer unserer Schulküche gab es eine Kiste mit

Uralt-Teigwaren, die wir zum Kochen verwendeten. Die Makka-

roni mussten wir immer wie der Trompeter von Säckingen immer

durchblasen, denn sie enthielten allerlei Einwohner. Jede einzel-

ne! Aber daran ist niemand gestorben. Wir hatten unendlich viel

Spaß. Es war so, wie wir es heute in Afrika sehen: Die Ärmsten

sind oft die Fröhlichsten! Wir waren zu jedem Spaß aufgelegt und

hatten eine wunderbare Gemeinschaft. In der vierten Klasse fuh-

ren wir dann oft gar nicht nach Hause, auch wenn die Gelegen-

heit dazu bestand.

Aus den spärlichen Zutaten, die wir hatten, kochten wir die eigen-

tümlichsten Gerichte und unterhielten uns dabei königlich. Unse-

re Kochlehrerin wusste immer haargenau, wie viele Kekse eine

gewisse Menge Teig ergab. Alles musste immer strengstens und

genauestens abgewogen werden. Wir mussten genau so viele

Kekse abliefern, wie die Kochlehrerin aufgrund der Teigmenge

errechnet hatte. Das Problem war, dass sich jedes Mädchen am

Ende im Vorbeigehen mindestens einen Keks schnappte, und so

war die herzeigbare Ausbeute zum Schluss eher dürf tig. Unsere

Direktorin Dr. Korbelar war da aber zum Glück nicht so zimperlich.

Ich war eine relativ eifrige Schülerin, abgesehen von gewissen

Fächern wie Nähen oder ganz speziell Weißnähen - für mich der

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absolute Alptraum. Aber alles andere mochte ich gern. Neben

der Schule befand sich die Kaffeefirma Hornig, wo immer Kaffee

geröstet wurde. Ich mochte damals zwar noch gar keinen Kaffee,

aber der Duft war herrlich. Wenn man aus der Schule kam oder

auch wenn ein Fenster offen stand, duftete alles nach frisch ge-

röstetem Kaffee.

Wir hatten eine sehr strenge Französischprofessorin, die zwar

nur wenig älter war als wir, aber eine absolute Respektperson.

Ihr Name war Frau Dr. Scheel. Sie hatte in Belgien studiert und

war sehr streng. Ich hatte allerdings die Gewohnheit, immer un-

ter der Bank zu lesen. Eines Tages schöpfte Dr. Scheel Verdacht

und erwischte mich. Ich hatte natürlich keine blasse Ahnung, wo-

von sie gerade sprach. Normalerweise war ich nicht schlecht in

Französisch, überhaupt wenn es ums Übersetzen ging. Aber die

Grammatik? Die zählte nicht zu meinen Stärken. Dr. Scheel tadelte

mich streng wegen meines mangelnden Pflichtbewusstseins und

meinte, wenn ich schon selbst nicht daran interessiert sei, etwas

zu lernen, solle ich es wenigstens für meine Eltern tun, die mich

nach Graz schickten und meine Ausbildung bezahlten. Um eine

Ausrede war ich nie verlegen, und so gab ich frech zurück: „Mei-

ne Eltern machen sich aus Noten gar nichts!“ Ich habe heute noch

im Ohr, wie die Feder auf dem Papier ihres Notenbüchleins kratz-

te, als sie die Fünf eintrug. Bei unseren Klassentreffen kommt die

Rede oft heute noch darauf, wie ich Frau Dr. Scheel ein Mundwerk

anhängte.

Wir hatten aber auch andere Lehrer, zum Beispiel Dr. Hansemann,

einen begnadeten Redner. Manche Lehrer gestalteten die Stun-

den so schön, dass es war wie im Märchen, ein Traum. Deutsch

war immer mein Lieblingsfach.

Die Matura verlief dann in Mathematik und Buchhaltung weni-

ger gut, ich musste mündlich noch einmal antreten. Aber Ende

gut, alles gut! Die Maturareise ging nach Kärnten, im Autobus. Ein

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122

Tag musste natürlich genügen. Einmal machten wir einen Ausflug

nach Vorau, und im letzten Jahr gab es sogar einen Schulschikurs

in Mariazell! Leider war der Termin erst im März, als es schon

mehr Gras als Schnee gab. Ich hatte zuvor noch nie auf Skiern

gestanden, und die Ausrüstung ließ damals, im Jahr 1950, mehr

als zu wünschen übrig. So stürzte ich und brach mir den linken

Knöchel. An diesem Bruch laboriere ich noch heute, denn das

Mariazeller Krankenhaus war sagenhaft besetzt! Unser Kapfen-

berger Hausarzt, der ja auch nicht gerade an der Sorbonne stu-

diert hatte, lachte nur, als er den Gips sah, und meinte: „Meister

der Gipse!“ Aber dafür war er nachhaltig - ich spüre den Bruch

heute noch! Eine Zeitlang hat mir eine Achterschleife geholfen,

aber heute reicht das nicht mehr.

Wir veranstalten immer noch Klassentreffen. Alle sind genauso

geblieben, wie sie waren! Einige meiner damaligen Kolleginnen

sind schon gestorben, zwei leben im Heim, eine hat multiple Skle-

rose, eine andere Parkinson. Es gibt alle Arten von Schicksalen in

der Klasse, aber die alte Gemeinschaft bleibt aufrecht, solange

wir leben.

— Praxis auf der Rigi

Nach meiner Schulzeit in Graz stellte sich die Frage, was mich mit

meiner Ausbildung nun beginnen sollte. Da ergab sich die Gele-

genheit, in der Schweiz auf der Rigi im Grand Hotel als Hilfsköchin

anzuheuern. Gesagt, getan.

Mit einem riesigen Koffer bewaffnet trat ich mein erstes - und

genau genommen auch letztes – Dienstverhältnis an. Ich musste

alles selbst organisieren – die Zugreise, dann die Fahrt hinauf

auf die Rigi, die Formalitäten. Obwohl ich solche Dinge gar nicht

gewöhnt war, schaff te ich alles.

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123

Die Arbeit im Hotel war alles andere als beschaulich. Es hieß fest

zupacken, und die Verpflegung war unter jeder Kritik. Schon zum

Frühstück bekamen wir einen unvorstellbaren Fraß. Das meiste

verschmähte ich. Dafür hielten wir uns heimlich schadlos an den

Köstlichkeiten, die es in der Küche so gab. Himbeeren aus dem

Wallis, Erdbeeren… zu Hause hatten wir keine Himbeeren. Das

waren höchstens Waldfrüchte. Unsere Beute organisierten wir

aus dem sogenannten „Garde-manger“, einem Ort, der seinen

Namen zu Unrecht trug, war er doch nach allen Seiten hin un-

dicht. Ich hatte Zugang zu diesem Hort der Genüsse, weil ich in

der Küche beschäftigt war. Meine Kollegen kooperierten im so-

genannten „Office“. Sie nahmen alle Speisen entgegen, die unbe-

rührt zurück kamen und von uns sofort konfisziert wurden.

Unsere Gruppe bestand aus zwei

Priesterstudenten, Candid und Franz,

und Marie-Therese, einer feinen und

sehr gläubigen Person. Ich bewunder-

te die Briefe, die sie von ihrer Mutter

bekam, weil sie so kultiviert und an-

spruchsvoll waren. An den Abenden

in unseren Zimmern ganz oben unter

dem Dach ließen wir es uns dann gut

gehen. Da breiteten wir alle unter dem

Tag gehamsterten Köstlichkeiten aus

und hielten uns schadlos. Unsere Ar-

beitgeber waren ja der Meinung, wir

bräuchten uns nicht aufzuregen we-

gen der gelbgrün schimmernden, halb

verfaulten Kartof feln, die uns serviert

wurden. Hatten wir nicht im Krieg Hun-

ger gelit ten? Ich sagte ihnen aber, dass wir einen solchen Fraß

auch in unseren schlimmsten Zeiten verschmäht hätten. Zum

Glück hatten wir ja eine Alternative! Aber das brauchten sie nicht

zu wissen.

Zeugnis Hotel Rigi-Kulm

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124

In dem Hotel waren außer uns auch Italiener beschäftigt, die aus

sehr einfachen Verhältnissen stammten. Sie wurden furchtbar

schlecht behandelt, wie Tiere.

Am 6. August ist in der Schweiz Nationalfeiertag. Da ging es

hoch her auf der Rigi. Der Küchenchef war schon einige Zeit vor

dem großen Ereignis furchtbar nervös. Wir mussten draußen auf

der Wiese alles zusammenraffen, was wir an Zutaten fanden –

Schnittlauch, Kräuter, Knoblauch. Das ergab dann die sogenann-

te „Potage à la ménagère“. Wenn die Gäste die Entstehungsge-

schichte dieser feinen Suppe gekannt hätten, wären sie sicher

konsterniert gewesen. Damals wuchs auf der Rigi ja alles, kein

Vergleich zu heute. Die Aussicht ist immer noch schön, aber die

Natur? Traurig.

Im zweiten Jahr dauerte mein Aufenthalt auf der Rigi nur sehr

kurz. Ich sollte nämlich die vier Kinder des Hotelchefs hüten, und

diese Aussicht ließ mich so verzweifeln, dass ich Hals über Kopf

abreiste. So fand meine Karriere in der Gastronomie ein frühzei-

tiges Ende.

— Katholische Jugend

Die Zeit meiner Mitgliedschaft bei der katholischen Jugend war

eine lange, wunderschöne Zeit in meinem Leben. In der Nazizeit

war das Publikum in der Kirche ja eher dünn gesät, erst nach dem

Krieg wurde alles wieder aufgebaut. Wir hatten zwei junge Kap-

läne, Narnhofer und Stocker hießen sie, die die Jugend um sich

versammelten und viele Dinge mit uns veranstalteten. Da waren

zum Beispiel die wöchentlichen Heimstunden, in denen wir san-

gen und viele interessante Themen behandelten. Wir waren un-

gefähr 20 oder 30 Personen.

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125

Später kam dann ein anderer Kaplan, der nachmalige Pfarrer

Plesnicar, der einen besonderen Draht zur Jugend hatte und un-

geheuer lustig war. Er hatte unzählige Witze auf Lager, sang mit

uns und hielt als begeisterter Bergsteiger einmal im Jahr eine

Bergwoche ab. Daran habe ich meine schönsten Jugenderinne-

rungen, und mir tun alle Kinder leid, die so etwas Schönes nicht

erleben dürfen. Wir waren glücklich, lustig und unbeschwert. Wir

spielten auch Theater. Wenn wir eine Aufführung hatten, war das

Werkshotel immer bis auf den letzten Platz voll! Ich weiß noch,

dass meine Kollegin Everl einmal eine Putzfrau spielte, die den

Text hatte: „Jeder kehr´ vor seiner eig´nen Tür, denn da liegt ge-

nug dafür!“ Da lachten die Leute laut, das gefiel ihnen. Ob sie den

Rat beherzigten, weiß ich aber nicht!

Die Bergwochen waren unvergleichlich. Wenn ich bedenke, was

man heute alles braucht zum Bergsteigen... Damals nahm man

einfach, was man hatte: einen Anorak und halt ein bisschen fes-

tere Schuhe. Wir waren zum Beispiel in den Niederen Tauern, im

Gesäuse und auch auf dem Traunstein. Billig musste es natürlich

hergehen. Unsere Ausgangsorte erreichten wir mit dem Zug, und

dann ging es los. Meistens übernachteten wir in Jugendherber-

gen oder auf Hütten. Die Aufsicht, die wir genossen, empfanden

wir gar nicht als Kontrolle. Wir sangen viel, eine geglückte Mi-

schung zwischen religiösen und weltlichen Liedern.

Das Lustige war, dass Kaplan Plesnicar vor der Bergwoche immer

bei uns zu Hause anrufen musste, ob ich mitfahren dürfe. Und da

war meistens Papa am Telefon. Der rief dann immer: „Agathle!

Darf ´s Mädi mitfahren?!“ Erst wenn Mama bejahte, stimmte auch

er zu. Ich fiel nämlich unter Mamas Ägide, und diese Zuständig-

keit wurde bei uns strikt eingehalten. Keiner pfuschte dem an-

deren ins Revier. Mama sagte jedes Mal ja, auch wenn sie nicht

immer begeistert war. Sie hätte mich ja auch durchaus zu Hause

brauchen können. Aber sie gönnte mir immer meinen Spaß. •

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Herberts Erinnerungen— Drei Jahre und schon mit dabei

Meine ersten bewussten Eindrücke reichen ins Jahr 1936 zurück,

als wir unsere Obstpresse bekamen. Papa hatte sie in Kärnten, in

Pörtschach am Wörthersee, gekauft. Sie wurde in einem eigenen

Waggon mit der Bahn zu uns geschickt. Ich weiß, dass die Knech-

te sie mit dem Pferdegespann und dem Plateauwagen holten.

Dass ich als Dreijähriger schon mitfahren durf te, machte auf mich

einen solchen Eindruck, dass ich mich heute noch daran erinnere.

Diese Presse war so groß, dass man sie nicht auf einmal trans-

portieren konnte. Wir mussten also zweimal fahren, und ich saß

hinten auf dem Wagen. Für die Mosterei verantwortlich war unser

erster Knecht, Michl, ein sehr lebenstüchtiger Mann, der später

meine Kusine heiratete.

— Wilde Reiter

Aus dem Jahr 1937 ist mir ein unheimliches Erlebnis in Erinnerung

geblieben. Meine Schwester Hedwig, Mädi gerufen, ihre Freundin

Annerl und ich gingen ganz allein unten bei der Frauenwiese, wo

unser Pachtgrund lag, einen Weg entlang. Die heutige Werk-VI-

Straße war ja damals noch ein einfacher Fuhrwerksweg und galt

sogar für uns kleine Kinder als ungefährlich. Auf einmal kamen,

wie die wilde Jagd, zwei Reiter direkt auf uns zu galoppiert. Wir

waren uns sicher, sie würden uns jeden Augenblick niederreiten.

Doch unmittelbar vor dem Zusammenstoß schlugen sie plötzlich

einen Haken und rit ten in die Gegenrichtung davon. Wir erfuhren

nie, wer die beiden waren und was sie beabsichtigt hatten, doch

der Schreck saß uns noch lange in den Knochen.

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Dass Papa 1938 eingesperrt wurde, habe ich atmosphärisch si-

cher mitbekommen, aber ich erinnere mich nicht daran. Innerhalb

der Familie und unter den Dienstboten herrschte, wie ich aus den

Erzählungen in der Familie weiß, große Verzweiflung und Aufre-

gung. Über solche ernsten Dinge wurde damals mit kleinen Kin-

dern nicht gesprochen, sie mussten sich auf alles ihren eigenen

Reim machen.

— Kindheitserinnerungen

Als Kind spielte ich sehr viel mit den anderen Kindern aus dem

Schloss und aus der Umgebung. Der Holzer Friedl, der Sandri

Burli – eigentlich Arthur -, der Zeidler Bruno, der Pichler Fritzi,

der Ecker Rudi, die Holzer Erika... das waren meine Freunde. Wie

spielten zum Beispiel „Der Kaiser schickt Soldaten aus“, „Schnei-

der, Schneider leih ma d‘Scher“ und natürlich Verstecken und Ab-

fangen. Besonders beliebt war das Schlangen ziehen, aber da

hatte ich einmal einen Unfall. Sechs, sieben Kinder liefen hinter-

einander. Vorne waren immer die Starken, die zogen die ganze

Schlange. In den Kurven entstanden da ganz schöne Fliehkräfte.

Einmal – ich war das letzte Kind in der Schlange – flog ich in ei-

ner Kurve hinaus. Es schleuderte mich weit weg, ich stürzte, und

schon spürte ich den stechenden Schmerz in meiner Schulter: Ich

hatte mir das Schlüsselbein gebrochen! Das war in der ersten

Klasse Volksschule. Dann wurde ich eingegipst und musste zwei

Wochen lang Gips tragen.

Im Winter hatten wir es besonders schön: In den Kriegsjahren,

1941 und 1942, gab es dicke Eisplatten bei uns am Hof. Darauf ru-

selten wir den ganzen Tag. Aus der Hochschwabsiedlung kamen

die Kinder herunter, und wir vergaßen die Zeit. Wir ruselten und

ruselten... Es war einfach herrlich. Damals hatten wir die wunder-

barste Unterhaltung, ohne dass es einen Groschen Geld kostete.

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Wir hatten es einfach lustig, Geld spielte keine Rolle. Es war alles

so ungekünstelt, so ehrlich.

Als ich ungefähr sieben, acht Jahre alt war, musste ich beim

Heuen die Pferde füt tern und die Fliegen verscheuchen, damit

die Tiere ruhig stehen blieben. Da hieß es mitdenken. Ich war

immer voll dabei. Sobald der Wagen weiter fahren sollte, rief

Papa oben auf dem Fuhrwerk „Obacht!“ Die Männer auf dem

Wagen mussten nämlich aufpassen, dass sie nicht herunter-

fielen, wenn es plötzlich einen Ruck machte. Danach sagte ich

„Hüa!“, und es ging ein paar Meter vorwärts. Die Pferde konnte

ich damals schon selbst führen.

Der kleine Rossknecht, Johann Kumpitsch hieß er, mochte mich

gern. Ich erinnere mich gut, als er mir das erste Mal den Auf-

trag gab, den Wagen anzuhängen – also genau gesagt, zwei

Wägen zusammenzuhängen. Ich hat te eine eigene Ket te, die

ich schon vorsorglich aus der kleinen Hütte zu Hause mitge-

bracht hat te. Und dann hängte ich die Wägen zusammen, mit

meiner eigenen Ket te! Der Rossknecht fuhr mit dem Gespann,

und ich beobachtete mit stolzgeschwellter Brust, wie sich die

Ket te spannte und wieder lockerte... Das war meine Ket te, und

sie hielt.

Der Tag, an dem Onkel Seppl mit Herlinde und Melit ta im Juli

1943 auf Besuch kamen, war für mich ein ganz besonderer Tag.

Eine große Vorfreude! Aber vorher ging es zum Heuen. Papa

sagte: „Um vier am Nachmit tag kommt der Johann herein, und

dann spannen wir ein. Der Johann fährt mit den zwei Rössern,

und dir schirr t er den Lutz an. Er fährt mit dem einem Leiter-

wagen, und du fährst mit dem zweiten!“ Was das für mich für

ein wunderbares Gefühl war! Ich konnte es gar nicht erwarten.

Dann ging es die Werk VI-Straße hinaus! Stolzer als ich konnte

kein Kind sein. Ich strahlte wie die Sonne. Eine solche Freude!

Zehn Jahre alt war ich da.

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130

— Wen kümmert schon die Schule?

1939 wurde ich eingeschult. Am 1. September war Kriegsbeginn,

am 9. September Schulbeginn. Unser damaliges Dienstmädchen

Resi ging mit mir in die Stadt zum Einschreiben. Das weiß ich noch.

Allerdings wurde ich nur am ersten Tag begleitet. Schon am zweiten

Tag musste ich mich allein zurechtfinden. Das war damals allge-

mein so üblich, niemand dachte sich groß etwas dabei. Anders als

meine Schwester besuchte ich nach der Eingemeindung nicht mehr

die Volksschule in Hafendorf, sondern bereits die in Kapfenberg.

Auf dem Rücken trug ich den sogenannten „Schulerpack“. Nicht

etwa, dass ich zum Schuleintritt eine neue Schultasche bekommen

hätte! Den Schulerpack hatte ich von meinem Bruder Richard ge-

erbt, der ihn bereits acht Jahre lang in Verwendung gehabt hatte.

Es gab sechs Noten, nämlich Sehr Gut, Gut, Befriedigend, Aus-

reichend, Mangelhaft und Nicht Genügend. Schon in der ersten

Klasse hatte ich in Heimatkunde einen Dreier. Das konnte mei-

ne Stimmung aber nicht trüben. In der zweiten Klasse waren wir

jede Menge Buben und insgesamt 57 Schüler! Schon am Ende

der ersten Klasse hatten wir gehört, dass viele Südtiroler nach

Kapfenberg gekommen waren. Die Deutschsprachigen wurden ja

von dort ausgesiedelt, und plötzlich hatten wir in meiner Klasse

drei Brüder aus Südtirol – Anton, Alois und Robert Auer. Zu meiner

Zeit saßen in den Klassen immer auch ältere Schüler, die schon

ein- oder mehrmals sitzengeblieben waren.

Meine Lehrerin in der drit ten Klasse, Margarethe Reiter, war mir

sehr sympathisch. Ich war damals in der Schule, die mich spä-

ter wenig kümmerte, gar nicht schlecht. Während ich im Unter-

richt saß, dachte ich aber meistens schon darüber nach, was am

Nachmittag daheim an landwirtschaftlichen Arbeiten anstand.

Dafür konnte ich mich wirklich begeistern.

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— Das Leben daheim

Anders als meine Schwester hütete ich die Kühe mit großer

Freude. Das war für mich wirklich nicht schlimm! Aber eine an-

spruchsvolle Aufgabe für ein kleines Kind war es schon. Auch die

Jause führte ich gerne aus. Dazu engagierte ich meistens einen

Freund, Bruno, Friedl oder einen anderen. Gemeinsam vertrieben

wir uns die Zeit, so dass sie wie im Flug verging. Aber pünktlich

mussten wir schon sein! Ungefähr um halb vier war Jausenzeit.

Am schönsten fand ich es, dass sich nach der Arbeit alle hinsetz-

ten und jausneten. Der Most wurde ausgeschenkt, und man saß

beisammen und unterhielt sich. Das war sehr gemütlich.

Ganz besonders schöne Erinnerungen habe ich an die Winter-

abende. Nach dem Essen gingen wir immer in das Zimmer, in

dem die Dienstboten versammelt waren. Dort wurde geredet vom

Leben und von der Vergangenheit. Da hörten wir Kinder sehr gern

zu. Das Leben fühlt sich für jeden ganz anders an, so viel entnah-

men wir diesen Gesprächen.

Eine schöne Erinnerung habe ich auch daran, dass unser Knecht

Blas mir einmal auf einer Schießbude einen Hund schoss. Er

schoss gern, und zwar erfolgreich! Den Hund schenkte er mir.

Was hätte er mit einem Stoffhund auch anfangen sollen?

— Meine Träume

Als Kind wünschte ich mir sehnsüchtig Ski. Früher schrieben die

Kinder ja Wunschbriefe ans Christkind, und ich glaubte als Kind da-

ran, dass das Christkind durch das Fenster schweben und meinen

Brief abholen würde. Also vertraute ich meinen innigen Wunsch

dem Papier an und stellte den Brief aufrecht auf die Konsole über

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der Vertäfelung beim Küchentisch. Da prangte er nun und wartete

darauf, abgeholt zu werden! Mein Freund Bruno Zeidler, der schon

vor mir zur Feder gegriffen hatte, meldete am nächsten Tag Voll-

zug. Sein Brief befand sich bereits an der richtigen Adresse. Und

meiner? Der stand noch immer unberührt auf der Konsole.

Jeden Morgen stürzte ich in die Küche – mein erster Blick galt

der Konsole. Dort stand mein Brief wie ein weißes Mahnmal

verlorener Träume. Mit der Zeit wurde ich richtig melancholisch.

Aber eines Morgens war er verschwunden! Endlich hatte ihn das

Christkind geholt! Und tatsächlich: Unter dem Baum lagen die

ersehnten Ski. Skischuhe gab es natürlich keine, man fuhr mit

den gewöhnlichen Schuhen, die der Osterhase bereits freundli-

cherweise beigesteuert hatte. Allerdings nur in der Fantasie! Wir

hatten natürlich vom Osterhasen gehört, in Vorarlberg kam der

angeblich, aber so sehr wir auch suchten und alles umdrehten,

Nest fanden wir keines.

Ich träumte immer davon, Lokomotivführer zu werden. Die Bahn

interessiert mich auch heute noch. Oft gehe ich hinauf zum Bahn-

hof, schaue mir die Schienen an, was für ein Baujahr, die Schwel-

len, die Waggons. Damals gab es auf jedem Zug mehrere Brem-

ser, die auf den Waggons eigene Hütterln hatten, die zirka so groß

waren wie ein Klo. Im Winter erlitten sie oft schwere Erfrierungen,

die Hütterln waren ja nicht zu erheizen auf den stundenlangen

Fahrten. In der Lok saß auf der rechten Seite der Lokomotivführer,

der bediente nur die Hebel, und neben ihm der Heizer. Der musste

mit kurzen Zwischenpausen ständig heizen. Das waren fürchterli-

che Arbeitsbedingungen: auf der einen Seite die Hitze neben der

Feuerung, auf der anderen die kalte Außenluft. Die Lokomotive war

ja damals nicht geschlossen, sondern an der Seite offen. An den

Stationen hielt der Lokomotivführer immer den Kopf hinaus, um zu

sehen, wann der Fahrdienstleiter das Zeichen gab. Er wartete, bis

der letzte Passagier eingestiegen war. Dann gab der Fahrdienst-

leiter mit seinem roten Signal das Zeichen zum Abfahren.

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— Meine Firmung

Eine meiner schönsten Kindheitserinnerungen habe ich an den

Tag, an dem mir Helmut Matscheko, unser Hausfleischhauer, ver-

sprach, mit mir zur Firmung zu gehen. Ich hatte so eine riesige,

so eine ungeheure Freude! Schon der Tag, an dem er die Zusage

machte, war für mich ein Freudenfest.

Es wurde in der Familie ja schon eine Zeitlang darüber geredet,

dass in diesem Jahr meine Firmung anstünde, und es wurde

überlegt, wer mein Firmpate werden sollte. Normalerweise wur-

de für solche Fälle immer ein Onkel herangezogen. Doch als ei-

nes Sonntags nach der Kirche der Matscheko zu uns auf Besuch

kam, fragte ihn Papa, ob er mit mir zur Firmung gehen würde.

Der Angesprochene stimmte gleich zu. Dann wollte Papa wissen,

wohin er denn mit mir fahren würde? Das Gebräuchliche war da-

mals Graz, eventuell noch Mariazell. Aber mein zukünftiger Firm-

pate wischte diese Vorschläge gleich vom Tisch: „Na“, sagte er,

„mia foahn auf Wean!“ Mein Gott! Hatte ich eine Freude! Nach

Wien fahren! Mit dem Zug fahren! So weit fahren! Also! Vor mir tat

sich der Himmel auf.

Neben dem Tisch in der Küche, an dem wir

saßen, gab es eine hölzerne Fensterbank.

Dort hockte ich nun ständig, die Füße an-

gezogen, und schaute nur noch hinauf zum

Bahnhof. Wenn ein Zug vorbeibrauste, fuhr

ich im Geist mit nach Wien. Auf der Koh-

lenrutsche gab es eine Tafel mit allerhand

Aufschriften, und Wien stand auch dabei.

Der Matscheko verstand es so gut, mir

eine Freude zu machen! Vorher stellte er

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schon ein Programm auf, was wir in Wien alles angehen würden.

Vorgesehen war unter anderem ein Besuch im Prater, von dem

ich ja keine Ahnung hatte. Ich dachte, dort würde irgendetwas

gebraten. Vom Watschenmann erzählte er mir auch. „Do muasst

aufpassn“, sagte er. „Der haut z´ruck aa!“ Spannend machte er es.

So eine Freude! Der Matscheko war genau der Richtige.

Der Rest der Familie kam auch mit auf die Reise, weil meine

Schwester Hedi in diesem Jahr ebenfalls gefirmt wurde. Nach

Wien durf te sie aber nur, weil der Matscheko mit mir fuhr, sonst

hätte sie mit Graz oder Mariazell Vorlieb nehmen müssen. In

Wien waren die restlichen Familienmitglieder aber woanders ein-

quartiert als ich.

Es war dann wirklich so schön, wie ich es mir erträumt hatte. Am

Pfingstfreitag, dem 11. Juni 1943, einen Tag nach meinem zehnten

Geburtstag, war es so weit. Um drei Uhr Nachmittag ging es los

mit dem Schnellzug. Ich habe noch den Widerhall im Ohr, den der

Zug auf der langen geraden Strecke bei Neunkirchen gab, wie er

da hinaus dampfte durch den Kiefernwald.

Um viertel acht kamen wir in Wien an, das weiß ich noch gut.

Ein Schwager vom Matscheko, bei dem wir untergebracht wer-

den sollten, holte uns vom Bahnhof ab. Gratzei hieß er. Mit seiner

Schnabelkappe erwartete er uns am Südbahnhof.

Die anderen Familienmitglieder fuhren in den sechzehnten Bezirk

in die Säulengasse, und für mich ging es in den neunten Bezirk in

die Alpengasse 2. Der Schwager wurde vom Matscheko Fritz-On-

kel gerufen, und seine Frau Mitzi-Tant. Bei dieser Familie schliefen

wir, und dort wurde auch gekocht und gegessen. Das waren or-

dentliche Leute, da gibt es nichts.

Der nächste Tag, der Pfingstsamstag, war zu meiner Enttäuschung

ein Regentag. Die Verwandten vom Matscheko hatten einen

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Schrebergarten, zu dem fuhren wir hinaus mit der Tramway. Dort

hatten sie ein Gartenhütterl. Am Nachmittag ging es dann in den

Prater. So eine riesige Berg- und Talbahn! Uuuund mir wurde

schlecht! Zu allem Überfluss goss es wie aus Kübeln...

Am Abend besuchten wir dann ein Lokal, das wohl in der Nähe

vom Prater gewesen sein wird. Dort waren schon Soldaten in Uni-

form zu sehen, die offensichtlich auf Urlaub waren. Die beein-

druckten mich sehr. Nach dem Restaurant ging es bei strömen-

dem Regen nach Hause.

Aber der nächste Tag, der Pfingstsonntag, war ein herrlicher

Tag! Schon in der Früh weckte mich die strahlend helle Sonne.

Das stimmte mich erwartungsfroh und machte mir gleich gute

Laune! Wir fuhren zum Stephansdom, wo uns die anderen Fami-

lienmitglieder erwarteten. So viele Leute, und

Hunderte Firmlinge! Ich war tief beeindruckt.

Vor dem Tor wartete schon eine lange Kolon-

ne auf Einlass. Der Matscheko hat te einen In-

validenausweis vom Ersten Weltkrieg, und so

wurden wir vorgelassen. Ich war der zweite

Firmling in der Reihe, und meine Schwester

stand gleich neben mir! Wir wurden von Kar-

dinal Innitzer, Theodor Innitzer, gefirmt. Mädi

hat te ihren begünstigten Standplatz nur dem

Invalidenausweis vom Matscheko zu verdan-

ken. Wegen diesem Ausweis wurde die ganze

Familie vorgewunken.

Den Nachmittag verbrachten wir dann in Schön-

brunn und im Tiergarten. Einfach super! Am

Pfingstmontag fuhren wir wieder nach Hause.

Familie Sieber am 12. Juni 1943, einen Tag vor der Firmung.

Der Vater wollte die Familie noch einmal vollständig versammelt

sehen, da niemand wissen konnte, was die Zukunf t bringen würde.

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— Endlich Motorisiert

Papa kaufte uns 1950 auf unser Drängen hin ein Motorrad, eine

belgische FN 350. Ich hatte noch keinen Führerschein, also „gehör-

te“ die Maschine zunächst Richard und ich durfte nur auf dem Sozi-

us mitfahren. Natürlich war ich auch manchmal ohne Führerschein

unterwegs, aber es wäre falsch zu sagen, dass dieses Motorrad

mir gehört hätte. Wie später das Auto bekamen wir es gemeinsam.

Leider konnten wir nicht allzu oft damit fahren. Das Getriebe hatte

eine Schwachstelle, und Reparaturen dauerten damals ewig. Im

Rückblick war das vielleicht sogar ein Glück. Wäre die Maschine

immer problemlos gefahren, wer weiß, ob wir nicht einen Unfall

gebaut hätten.

Aber 1953 machte mir unser Hausmechaniker Gabriel den Vor-

schlag, wir könnten doch einmal nach Kärnten zum Baden fahren.

Für mich war das eine große Sache, ungefähr so, als würde man

heute nach Amerika fliegen. Wir machten sogar vorher noch einen

Der wilde Herbert auf seiner Maschine 1953

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Schwimmkurs. Das Kapfenberger Hallenbad war gerade neu er-

öffnet worden. Hedi und ich meldeten uns an. Vielleicht sechs

oder sieben Mal besuchten wir so eine Kursstunde, und zwar

schon um sechs Uhr morgens, bevor der reguläre Betrieb losging.

Gelernt haben wir dabei so gut wie nichts, aber etwa einen Mo-

nat später brachen wir mit zwei Motorrädern auf nach Kärnten.

Ich hatte die Schuster Elli auf meiner Maschine und der Gabri-

el die Mädi. Am 12. Juli 1953, einem schönen Hochsommertag,

brachen wir auf. Unsere Route verlief über Graz, die Pack und

Völkermarkt nach Klagenfurt. Dort gönnten wir uns am Wörther-

see ein Mit tagessen. Unser Ziel war der Faakersee. Hedi und

ich konnten praktisch nicht schwimmen. Wir gingen daher auch

kaum ins Wasser, nur gerade so viel, dass wir nass wurden. Elli

dagegen bewegte sich wie ein Fisch im Wasser. Gabriel auch,

allerdings nicht ganz so gut wie Elli. Die beiden schwammen

weit hinaus auf eine Insel. Den Heimweg nahmen wir über Vil-

lach. Von dort ging es nach Feldkirchen und Neumarkt zurück in

die Steiermark.

Wegen der damaligen Verkehrsverhältnisse war das eine richtig

weite Tour. Heute sind die Straßen so glatt wie ein Teppich, da-

mals stieß man überall auf Bodenwellen. Die Strecke über den

Grif fen war noch eine Schotterstraße und man kam wirklich nur

mühsam voran.

— Obstholen mit dem Dodge

Im Herbst 1953 kauften wir einen gebrauchten Lastwagen von

den englischen Besatzern, einen amerikanischen Dodge. Am

Schirmitzbühel fand ein Abverkauf des gesamten Geräts, das die

Engländer nicht mitnehmen wollten, statt. Sie wollten das Zeug

loswerden.

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Der Lastwagen musste ein bisschen hergerichtet werden. Gabriel

reparierte ihn daheim motorisch immerhin so weit, dass er wie-

der einwandfrei lief.

Also fuhren wir damit nach St. Ruprecht. Das war Papas Idee,

weil die Mostpresserei schon voll angelaufen war. Mit einem LKW

konnten wir unser Pressobst selbst kaufen und auch gleich heim-

führen. Allerdings ging diese Rechnung nicht auf.

Wir machten uns mit einem eigenen einachsigen Anhänger auf

den Weg – Papa, Herr Hochörtler und ich. Unser Plan war, nach

St. Ruprecht zu fahren, Obst zu holen und auch von den Nachbarn

Obst zu kaufen, bis wir das Auto voll hätten.

Gleich zu Beginn, über den Hügel bei Jassing hinauf, konnte der

LKW die ganze Last nicht mehr ziehen. Irgendwie wurde er heiß

und blieb stehen. Er war offenbar noch nicht wirklich in Schuss,

denn eigentlich hätte er das leicht schaffen müssen. Die Situation

war brenzlig: Wir mussten in Windeseile aus dem Auto kommen

und etwas unterlegen, denn der schwere LKW begann schon zu-

rückzurutschen. Zum Glück lag gerade neben dem Auto ein Wur-

zelstock, der sich perfekt für unsere Zwecke eignete. Dann blieb

uns nichts anderes übrig, als eine halbe oder dreiviertel Stunde

zu warten, bis sich der Motor abgekühlt hatte. Schließlich voll-

brachten wir das Kunststück, direkt in der Steigung wieder weg-

zukommen, und weiter ging die Fahrt.

Leider hatten wir auf dem Rückweg, und zwar mitten in der Heine-

straße in Graz, einen Platten. Die Reifen waren nach dem ganzen

Krieg nicht mehr die besten. In Gratkorn folgte die nächste Panne

und letztlich mussten wir LKW und Anhänger stehenlassen und per

Autostopp nach Hause fahren, wo wir erst um Mitternacht ankamen.

Am nächsten Tag kehrten wir dann mit dem alten Traktor samt

Anhänger zurück nach Gratkorn. Zuerst mussten wir mühsam al-

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les umladen und dann ging es los. Dieser Traktor schaff te es doch

tatsächlich, alles, das ganze Fuhrwerk, herauf nach Kapfenberg

zu schleppen. Würden wir das heute versuchen, hätten wir sofort

die Polizei am Hals und kämen garantiert nicht weit. Wir hatten

damals den Traktor, den Traktoranhänger mit der ganzen Ladung,

den LKW und den LKW-Anhänger. Für den Traktor war das ohne-

hin schon Schwerstarbeit, aber wir mussten auch noch mit dem

ganzen langen Zug durch das enge Frohnleiten durch, dann über

die Holzbrücke und durch eine Haarnadelkurve bergauf.

Mein Interesse für Geografie rührt aus der Zeit her, als plötzlich

meine Brüder fortgingen. Helmut war in Wieselburg, Richard beim

Militär. Hedi und ich blieben allein zurück, aber Hedi hatte immer

ihren eigenen Bereich. Sie war gut in der Schule und las für ihr

Leben gern. Mir war damals oft langweilig und so begann ich,

am Abend den Atlas zu studieren. Das tat ich aus freien Stücken,

niemand hatte mich dazu ermuntert. Es machte mir einfach Spaß,

eine reine Interessenssache.

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— Rückblick

Wenn ich auf mein Leben zurückschaue, finde ich es schön. Viel

Arbeit gab es immer, vor allem, als wir noch keine Melkmaschine

hatten. Anfang der 50-er Jahre hätte ich mir gewünscht, zu den

Sommerfesten gehen zu können, die alle 14 Tage beim E-Werk

stattfanden. So viele Leute, so viel Jugend! Ich wäre halt auch

gern dort gewesen. Aber ich musste am Abend immer die Kühe

eintreiben und die Stallarbeit erledigen. Und danach noch einmal

hinunter zu gehen... da war es ja schon spät.

Als ich in Bruck die Fahrschule besuchte, sah ich am frühen

Abend oft junge Leute auf der Straße beieinander stehen und sich

unterhalten. Dass es das gibt, dachte ich mir. Für so etwas hatte

ich keine Zeit. Gemütlich zusammensitzen – das gab es kaum.

Sobald es vier war, hieß es für mich aufstehen, in den Stall ge-

hen. Die angenehme Atmosphäre geselliger Zusammenkünfte zu

genießen – davon hätte ich mir auf jeden Fall mehr gewünscht.

Nach dem Krieg war der bäuerliche Berufsstand hoch angesehen.

Schließlich hatten die Bauern immer zu essen und versorgten die an-

deren. Man war stolz auf seine Arbeit, aber alles andere kam zu kurz.

Als wir dieses eine Mal mit dem Motorrad nach Kärnten fuhren

– was das für ein Aufwand war, dass ich fahren konnte. Damals

hatten wir noch keine Melkmaschine. Der kurze Ausflug war fast

nicht zu bewerkstelligen. Alle mussten zusammenhelfen, um mir

diese Freude zu ermöglichen.

Bei uns lief es so: Aufstehen, die Gummistiefel anziehen, und am

Abend vor dem Schlafengehen die Gummistiefel ausziehen. So

war es. Ohne Übertreibung. Immer nur Arbeit, keine Freizeit. Das

bedaure ich. •

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Hedwig und Herbert über Ihre Eltern— Hedwig: Meine Mutter

Wenn ich an meine Mutter denke, habe ich das Bild eines Ka-

chelofens vor mir. Obwohl sie unendlich viel Arbeit hatte, war sie

der Ruhepol in unserer Familie. Sie selber war wortkarg, hörte

aber jedem zu und redete nie schlecht über andere. Laut lachen

hörte man sie selten, aber verhalten schmunzeln konnte man

sie öf ter sehen.

Ich als ihre einzige Tochter möchte ihr ein besonderes Denk-

mal setzen: Sie war es, die meine überbordende Lesefreude in

mehrfacher Weise förderte: Wenn mein Vater, der von höherer

Bildung gar nichts hielt, mit energischen Schrit ten das Haus

durchmaß, um mich in meinen dunklen Verstecken aufzustöbern

und zu irgendeiner Arbeit einzuteilen, verriet sie mich nicht und

ließ mich gewähren.

In meiner Volksschulzeit gab es bei uns zu Hause außer der

„Kleinen Zeitung“, der „Stadt Gottes“, dem „Vorarlberger Volks-

kalender“ und natürlich dem Religions- und Lesebuch nichts

Brauchbares zu lesen. So sah ich mich im zarten Alter von sie-

ben Jahren gezwungen, den täglichen Fortsetzungsroman in

der Zeitung zu lesen! Dass mir meine Mutter, obwohl sie im-

mer sehr knapp bei Kasse war, mein erstes „richtiges“ Buch, das

„Osterhasenland“, kauf te, werde ich ihr nie vergessen. Es war

viele Jahre lang mein wertvollster Besitz. Meine Liebe zur Spra-

che hat sich übrigens auf die nächste Generation übertragen –

jedes meiner fünf Kinder hat einen Beruf ergrif fen, der entweder

mit Sprache oder mit Musik zu tun hat.

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— Tierliebe

Meine Mutter war sehr tierlieb.

Wenn bei uns ein Schwein ge-

schlachtet wurde, hielt sie sich mit

beiden Händen die Ohren zu.

Beim Essenko-Stadel wurden im-

mer Rinder vom Fleischhauer vor

dem Schlachten „zwischengela-

gert“. Sie wurden ausgehungert,

damit sie leichter und damit billi-

ger wurden. Das Brüllen drang bis

zu uns. Das machte meine Mutter

verrückt. Sie, die nie außer Haus

ging, zog sich am Abend an, ging

dorthin und verlangte, dass die

Tiere gefüttert wurden. Sie konnte

Tierleid nicht ertragen.

Auch die täglichen Geschehnisse auf dem Bauernhof, wo ja oft

Tiere geschlachtet wurden, hielt sie schwer aus.

— Hedwig: Mein Vater

Mein Vater war wie ein Hausdach: groß, ausladend, kraftvoll und

wortgewaltig. Er strahlte für uns Sicherheit und Geborgenheit aus.

Obwohl er in seiner Vorarlberger Heimat nur eine zweiklassige

Volksschule besucht hatte, verfügte er über alle Kenntnisse und

Fähigkeiten, die er für ein erfolgreiches Leben brauchte. Er war der

geborene Redner, energiegeladen, vernunftbegabt und weitbli-

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ckend. Die politischen Ereignisse seiner Zeit schätzte er mit seinem

messerscharfen Verstand von Anfang an realistisch ein. Als Kleri-

kaler lehnte er den Nationalsozialismus zutiefst ab, richtete seine

wirtschaftlichen Entscheidungen aber trotzdem an den politischen

Gegebenheiten aus: Er wusste, dass in schweren Zeiten Grund und

Boden das einzige war, was zählte. So kaufte er noch kurz vor Aus-

bruch des Krieges eine Wirtschaft in St. Ruprecht an der Raab.

Er war nicht nur der geborene Unternehmer, sondern auch für die

erweiterte Familie Helfer in allen Nöten. Immer wieder half er ei-

nem seiner Brüder aus einer Notlage. Kinder liebte er. Unser Hof

war ständig von Heerscharen von Nachbarskindern belagert, die

ihm nie im Weg waren.

Mein Vater war neben seinem politischen Engagement von gan-

zem Herzen Bauer und Viehzüchter. Immer wieder sagte er, dass

er, hätte er noch einmal die Wahlmöglichkeit, immer wieder den-

selben Beruf ergreifen würde.

— Herbert: Meine Mutter

Meine Mutter war sehr ausgeglichen, eine gute Zuhörerin. Sie

war freundlich zu den Leuten, aber ernst. Das gekünstelte Lachen

war ihre Sache nicht. Sie wurde allgemein geschätzt, und die Leu-

te hatten Respekt vor ihr.

Zu uns Kindern war sie gut, wenn ihr auch die Hand locker saß.

Man musste sich schon in Acht nehmen, dass man nicht ein paar

ausfasste – aber nie ins Gesicht. Wenn es arg war, konnte sie

schon einmal zum Kochlöffel greifen.

Sie klagte und stöhnte nie über die viele Arbeit. Jahrelang trug sie

den Most in der schweren Holzpitsche – 16 Liter fasste die – über

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die steile Kellerstiege nach oben. Insgesamt müssen es zig tau-

send Liter gewesen sein.

In den knapp 60 Jahren, die sie in der Steiermark verbrachte, be-

suchte sie ungefähr alle zehn Jahre ihre alte Heimat, nach der sie

immer Sehnsucht hatte. Nach dem Tod meines Bruders Helmut

ging sie unzählige Male auf sein Grab und richtete es schön. Im

Alter sagte sie oft, dass sie Helmut, wenn sie es könnte, nicht

mehr zurückholen würde – wer wisse schon, was ihm erspart ge-

blieben sei.

Gegen Sonntagsausflüge – besonders mit meinem Vater – hatte

sie nichts einzuwenden. Dazu meinte sie öfter, ein Ausflug ohne

Einkehren sei kein Ausflug.

1939, im letzten Abdruck vor dem Krieg, bekam sie ein eigenes

Fahrrad. Es war ein Rad der Marke Steyr, sehr schön, mit Netz,

mit dem sie ein „mords Heil“ hatte. Sie fuhr damit immer zur Früh-

messe in die Stadtkirche. Einmal besuchte sie uns mit dem Rad

auf dem Feld beim Heuen. 1944 fuhren Mama und Papa mit dem

Rad nach Marein, um Familie Sojer aufzusuchen, und 1945 statte-

ten Mama und ich unseren Schweizerleuten in Schloss Graschnitz

einen Besuch ab. Solche Ausflüge waren damals Ereignisse, die

sich tief in die Erinnerung eingruben.

— Herbert: Mein Vater

Mein Vater war geprägt von seiner Position in der Herkunftsfa-

milie. Er wusste schon früh, dass er sich seine eigene Existenz

würde schaffen müssen. Dabei kamen ihm seine Grundkenntnis-

se in der Vieh- und Milchwirtschaft zugute, die in der Zeit seiner

Jugend in Vorarlberg ja schon viel fortschrit tlicher war als in der

Steiermark.

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Er hatte einen scharfen praktischen Verstand und konnte auch

größere Zusammenhänge überblicken. Die Leute hatte Res-

pekt vor ihm, auch die Dienstboten. Er drückte sich nicht vor der

schweren Arbeit und war sehr genau. Besonders wichtig war ihm,

seine Zahlungen pünktlich zu leisten und alles bis ins Letzte zu

verwerten.

Der Sonntag war ihm heilig: An

diesem Tag wurde – außer im

Stall – nur in Ausnahmefällen

gearbeitet. An Sonntagnachmit-

tagen, wenn im Stall alles ruhig

war, sah man ihn oft eine Stun-

de und länger den Gang auf

und abgehen und nachdenken.

Er liebte die Musik und besaß

eine Mundharmonika, die er an

den Abenden gern hervorzog.

In jungen Jahren war er auch

Mitglied der Schuhplattler in

Göß bei Leoben. Im Sommer,

wenn sich die Arbeit staute, war

er nervös, im Winter hingegen

ruhig und gemütlich.

Grif f ihn jemand an, wurde er zum Kämpfer. Er hasste Ungerech-

tigkeit und ließ sich nichts gefallen.

Wenn Besuch aus der vorarlbergerischen Verwandtschaft ange-

sagt war, freute er sich sehr. Auch gegen Ausflüge mit dem Auto

und die damit verbundene Einkehr hatte er nichts einzuwenden.

Zu uns Kindern war er gut. Nur selten – sehr selten – rutschte

ihm die Hand aus. Er machte auch Ausflüge mit uns. Ich erinnere

mich, dass er mit meinem Bruder Helmut und mir am Pfingst-

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montag des Jahres 1944 mit dem Fahrrad in die Fölz fuhr, wo wir

Familie Greitner besuchten.

In der Vorkriegszeit und auch danach fand er besonderes Ver-

gnügen daran, nach Tirol zu fahren, um auf den Viehmärkten

Kühe zu kaufen. •

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Das Leben ist doch mehr als nur ArbeitRichard erzählt:

— Sprachprobleme

Als ich nach Kapfenberg kam, war ich ein kleiner Bub von fünf

Jahren. Zuhause redeten wir vorarlbergerisch, und die steirischen

Kinder verstanden mich nicht. Sie sagten zu mir: „Mei, red´st du

schiach!“ Wir sagten zum Kaffeehäferl zum Beispiel „Beckele“,

ein Zuckerl war ein „Kömmle“ und so weiter. Auch unser Essen

rief Verwunderung hervor. „Was isst du denn da? Türkensterzno-

ckerln?“ Mama hatte „Hafaloab“ gemacht, na—Türkensterzno-

ckerln halt nach ihrer Meinung. Das waren große Nocken aus Ku-

kuruz, die im Fett vom Schweinsbraten herausgebraten wurden,

bis sie eine Kruste bekamen. Die Steirerbuben kannten so etwas

nicht.

— Einlieger

In jeder Gemeinde gab es sogenannte Einlieger. Das waren die

alten Bauernknechte, wenn sie arbeitsunfähig waren. Damit sie

nicht der Gemeinde zur Last fielen, wurden sie auf verschiede-

ne Bauernhöfe aufgeteilt. Der eine musste sie 14 Tage behalten,

der andere drei Wochen. Ob sie etwas zu essen bekamen, wur-

de aber nicht kontrolliert. Einer dieser Einlieger, die uns zugeteilt

wurden, hieß Benedikt. Manchmal kamen Kollegen und fragten

nach ihm: „Is der Diktl nix da?“ Der Diktl…! Der hatte Schuhe…

man kann sich nicht vorstellen, wie oft diese Schuhe geflickt wur-

den, wie die Sohlen ausschauten, und oben… Ein Wunder, dass

sie überhaupt am Fuß hielten.

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— Schnellfeuerhosen

Nebenan, ebenfalls als Pächter, wohnte eine Familie mit 14 Kindern

auf Zimmer, Küche, Kabinett. Jeweils vier Kinder mussten sich ein

Bett teilen. Da lagen sie wie die Sardinen, zwei kreuz und zwei

quer. So wurde ihnen nicht kalt! Matratzen gab es nicht, sie muss-

ten sich mit Strohsäcken behelfen. Zu Mittag war die Ausspeisung.

Die Mutter stand am Herd und teilte das Essen aus. Jedes Kind

hatte eine Schale und einen Löffel, und damit fassten sie die Ver-

pflegung aus. Kraut, Knödel, Erdäpfel... Fleisch bekamen sie eher

selten zu sehen. In der Küche fanden nicht alle Platz. Nachdem sie

sich ihre Ration geholt hatten, schwärmten sie mit der Schale in der

Hand aus – ein paar auf die Stiege, ein paar in den Garten, andere

auf den Misthaufen, zumindest im Sommer. Praktischerweise hat-

ten sie eine sogenannte „Leib-und-Seel-Hose“ an, auch „Schnell-

feuerhose“ genannt, durch die sie das, was oben hinein kam, ohne

viel Scherereien nach unten hin wieder abgeben konnten.

Jedenfalls boten sie ein buntes Bild, wie sie da in der Landschaft

verteilt ihr Mittagessen löffelten. Die Frau des Verwalters, eine

Sudetendeutsche, die auf sich hielt, verklebte ihr Fenster, das Blick

auf die Wohnung der Familie bot, mit Zeitungspapier. Sie sagte,

sie könne es nicht mit ansehen, wie es bei denen zuginge. „Nix

Kultura!“, meinte sie indigniert.

— Nicht jede Schottergrube ist eine Goldgrube

Es gab noch einen weiteren Pächter, einen Gärtner, der star-

ker Alkoholiker war. Auch er hatte viele Kinder. Die Familie kam

aus Leibnitz in der Südsteiermark. Alle Mitglieder dieser Familie

schauten ein bisschen zu tief ins Glas. Einmal ging der Pfarrer,

der seinerseits auch gern einmal einspritzte, unter ihrem Fenster

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vorbei. Da schrie die Alte vom ersten Stock herunter: „Na Pfarrer,

woast scho wieder saufen?“ Darauf er: „Hoid die Goschn, du oide

Schodagruam!“ Weil sie so viele Nierensteine hatte.

— Morgenstund hat Gold im Mund

Derselbe Gärtner hatte zwei Lehrbuben. Er schlief im ersten Stock,

die Buben unten. Der Gärtner, der sich ungern bewegte, war ein

findiger Mann. Er bohrte oben im ersten Stock ein Loch durch die

Decke, durch das er einen Strick hinunter ließ, an dem er eine

Kuhglocke befestigt hatte. Wenn bei ihm oben um vier der Wecker

rasselte, riss er an dem Strick, und unten bimmelte die Kuhglo-

cke. Das war das Signal für die Buben: Raus aus den Federn! Vor

den Leuten, die Pflanzen kaufen kamen, stellte er sie immer her:

„Na, ihr Lausbuben, habt ihr euch schon wieder nicht gewaschen

heute?“ Dann mussten sie sich draußen, wo der Kirschbaum war,

beim Brunntrog vor allen Leuten waschen.

— Die Kuh, die durch das Fenster sprang

Im Jahr 1934 brannte bei unserem Onkel Gottfried im Mürztal der

Stadel ab, und das nicht zum ersten Mal. Schon zwei Jahre da-

vor war der Stall ein Raub der Flammen geworden, aber damals

hatte man ihn gleich wieder aufgebaut. 1934 ereignete sich dann

noch einmal dieselbe Katastrophe.

Jedenfalls bat uns Onkel Gottfried, seine Kühe bei uns unterzu-

bringen, weil er selbst keinen Platz mehr für sie hatte. Mein Vater

half seinen Geschwistern immer gern aus und natürlich nahmen

wir ihm ein paar Tiere ab, vielleicht vier oder fünf. Eine dieser

Kühe hieß Trudi. Sie war eine gute Kuh, die damals schon 25 Liter

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Milch gab. Das muss man sich vorstellen, nur von Gras und Was-

ser, die Tiere bekamen ja sonst nichts, kein Kraftfutter.

Trudi fühlte sich von Anfang an nicht wohl bei uns, sie war unru-

hig und scheu. Wahrscheinlich wünschte sie sich in ihren eigenen

Stall zurück. Die Knechte passten auf die fremden Tiere immer

besonders gut auf. Nachdem sie die Kühe in den Stall hineinge-

lassen hatten, machten sie sofort die Tore zu. Dann hängten sie

sie der Reihe nach an.

Eines Tages, die Kühe sind schon alle im Stall, rennt die Trudi auf

einmal davon, den Mistgang entlang, und springt beim offenen

Fenster hinaus. Gelenkig wie ein Hirsch! Die Kuh springt also hi-

naus, galoppiert hinunter durch den Schlosshof, beim Durchgang

hinaus, auf die Straße. Das wäre für sich schon eine kleine Sen-

sation, aber genau in diesem Augenblick kommt auch noch ein

Auto daher.

Dass so etwas passieren konnte, damals im 34er Jahr, wo es ja

fast keine Autos gab!

Dieses Auto – ein eleganter Bentley – fuhr vom Stadtzentrum in

Richtung Mürztal hinauf. Die Kuh machte einen Hupfer, hinauf

aufs Auto, und hing dann oben auf dem Wagen wie eine Knack-

wurst. Vorn am Kühler, auf der Motorhaube. So fuhr sie mit, bis

das Auto zum Stehen kam.

Mein Vater saß währenddessen ahnungslos am Küchentisch und

jausnete. Plötzlich stürmte ein Mann zur Küchentür herein. Er trug

einen weißen Mantel, rot gesprenkelt mit Blutflecken. Wie sich he-

rausstellte, war es der Apotheker vom Semmering. Er hatte sich

die Finger aufgeschnitten, als Windschutzscheibe bei dem Unfall

zerbrach. „Sind Sie der Besitzer dieser Rinder?“ fuhr diese selt-

same Erscheinung meinen Vater an. „Ja – warum, was ist denn

los?“ „Na schauen Sie mich an, wie ich aussehe!“ zischte er ganz

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empört. „Was Ihre Kuh gemacht hat! Sie müssen für den ganzen

Schaden aufkommen!“

Papa war ganz verblüff t: „Was ist denn passiert, ich weiß ja gar

nichts?“ Also ging er hinaus in den Stall, um sich ein Bild von

der Lage zu machen. Da stand schon ein verdutzter Knecht, der

ihm erzählte: „Ja, die Trudi ist beim Fenster hinaus gesprungen!“

Gleich setzten sich einige Knechte in Bewegung und trieben die

Ausreißerin wieder in den Stall zurück.

Mein Vater holte danach den Tierarzt, der die Kuh untersuchte.

Wie durch ein Wunder hatte sie nur eine Schramme an der Seite

abbekommen, sonst fehlte ihr nichts.

Zum Glück hatte einer der Mieter in Schloss Wieden den Unfall

beobachtet und erklärte uns, aus dem Fenster gebeugt, unaufge-

fordert: „Der Autofahrer war ja viel zu schnell unterwegs!“

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Es folgten einige Verhandlungen. Mein Vater beauftragte einen

Rechtsanwalt. Unser Problem war, dass wir damals keine Haftpflicht-

versicherung hatten. Das Unfallauto wurde sofort nach Wiener Neu-

stadt überstellt, denn dort gab es eine Bentley-Vertragswerkstätte.

Dann kam der eigentliche Prozess – drei Verhandlungen. Unser

Zeuge wurde gefragt, wie er denn behaupten könne, dass der

Autofahrer zu schnell unterwegs gewesen sei. Er wurde auf die

Probe gestellt: Wie schnell fährt ein Schnellzug? Seine Antwort:

Naja, ca. 80, 90! Und ein Personenzug? So 50, 60, meinte er. Und

ein Lastenzug? Ungefähr 40, 50! Also mussten sie ihn ernst neh-

men, weil er offenbar Geschwindigkeiten einschätzen konnte.

Die letzte Verhandlung fand bei uns an vor Ort statt, ein Lokalau-

genschein. Der Richter, die Gerichtskommission, die Sachverstän-

digen, alle waren da. Außerdem noch Schreibpersonal, wie es

halt ist bei einer Verhandlung.

Im Stall sahen sie sich alles an und rekonstruierten den Ablauf.

Und dann sprach der Richter, gleich dort, neben den Kühen, das

Urteil: „Dem Besitzer des Rindes kann keine Fahrlässigkeit nach-

gewiesen werden! Die Türen waren verschlossen, und dass eine

Kuh aus dem Fenster springt, das war noch nie da!“

Damit waren wir freigesprochen. Der Apotheker musste alles

zahlen. Die Gerichtskosten, die Reparatur seines Autos… ja, die

Kuh nicht, denn der fehlte zum Glück nichts. Und der Tierarzt stell-

te für die kleine Schramme keine Rechnung.

Ich muss schon sagen, wir hatten damals großes Glück. Wäre

der Prozess anders ausgegangen, hätten wir vielleicht zehn oder

fünfzehn Kühe verkaufen müssen. Eine Kuh kostete zu dieser Zeit

rund 500 Schilling, das hätten wir nicht leicht gestemmt.

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— Der Scheiß-Elektra

Unser Onkel Johann vom Niederschöckel, einer von Papas Brü-

dern, hatte sieben Kinder. Die Jüngste, Rosi, ein fesches Mäd-

chen, hätte auf einen großen Bauernhof einheiraten können.

Sie fühlte sich aber nicht wohl dabei, weil ihr die Aussteuer, die

sie von zu Hause bekam, als zu gering erschien. Mit einem so

dünnen Konto traute sie sich nicht auf den großen Hof. Später

bewarb sich ein Sudetendeutscher um sie. Der erschien dem

Onkel aber viel zu wenig. Weil er kein Bauer war, sondern „nur“

Elektriker. Er besaß keinen Grund und Boden, und darauf kam

es an. Wer kein Bauer war, der hatte nichts! Das war damals

die gängige Meinung. „Ah, der Scheiß-Elektra!“ pflegte der On-

kel mit einer wegwerfenden Handbewegung zu sagen, wenn

von dem Bewerber die Rede war. Dabei war er Elektrikermeis-

ter! Rosi heiratete ihn trotzdem, und es ging ihr gut mit ihm. Als

Elektrikergattin musste sie längst nicht so viel arbeiten wie auf

einem Bauernhof!

— Reinlich muss man sein!

In der Hitlerzeit wurden die Schulbuben dazu angehalten, sich

nützlich zu machen. So musste ich einer Bewohnerin von Schloss

Wieden Kohlen bringen von der Kohlenrutsche. Also klopfte ich

bei ihr an. Sie war ein dunkelhäutiges, verhutzeltes Weibchen,

ganz schwarz im Gesicht. Mit dem Wasser ging sie anscheinend

eher sparsam um. „Grüß Gott“, sagte ich. „Habt ihr vielleicht Ju-

tesäcke?“ „Jaja“, antwortete sie, „ich hab schon welche!“ Die Sä-

cke hingen neben ihrem Bett über einer Kommode. Oben drauf

hatten es sich ein paar Hühner bequem gemacht, die sie in der

Wohnung hielt. Jetzt sah die Frau des Hauses, dass Hühnerdreck

auf den Säcken klebte. Sie hinüber, packt ein Küchenmesser und

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schabt mit der Bemerkung: „Reinlich muss man sein!“ die Häuf-

chen feinsäuberlich von den Säcken.

— Mei Greterl, de fliagt wia a Geier!

Auch andere Parteien im Schloss hielten Federvieh in den Woh-

nungen. Stubenküken sozusagen! Eine Bewohnerin hielt große

Stücke auf ihre Hühner, die alle einen Namen trugen: „Mei Gre-

terl“, pflegte sie mit stolzgeschwellter Brust zu sagen: „Mei Gre-

terl! De fliagt wia a Geier!“

— Fix gemolken

Einmal hatten wir einen Melker (oder wie man damals in Öster-

reich sagte, einen „Schweizer“) namens Karl Gierke. Er kam aus

Ostdeutschland und war eine Zeitlang bei den Briten gewesen.

Da er nicht nach Hause konnte, arbeitete er ein Jahr lang bei uns.

Er pflegte zu sagen: „Das ging mal fix!“ Deshalb riefen wir ihn Fix.

Er hatte immer Freundinnen, die er heimlich mit Milch versorg-

te. Eines Morgens, bevor er abreiste, kam ich in den Stall zum

Melken. Als Traudl und Trudl – normalerweise verlässliche Milch-

spenderinnen – an der Reihe waren, musste ich feststellen, dass

ihre Euter leer waren. Der Fix war beim Fenster hereingestiegen

und hatte sie ausgemolken! Er kannte sie ja. Er nahm die, die

leicht zu melken waren und viel Milch hatten.

Ein paar Mal ging das so. Immer die leeren Euter in der Früh!

Am Abend gaben sie wieder normal Milch. Ich dachte mir: „Sind

sie krank oder was?“ Dass es gerade die zwei waren, die keine

Milch gaben, das war schon auf fällig. Also beschlossen Papa

und ich, einmal in der Früh im Stall zu warten. Wir setzten uns

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links und rechts vom Fenster auf den Boden, damit er uns nicht

sah. Dann warteten wir und warteten. Der Mond schien zum

Fenster herein...

Aber wir warteten vergeblich auf den Fix. Unser Knecht Peperl

hatte ihm offensichtlich schon gesteckt, dass er nicht mehr zu

kommen brauchte.

Doch auf einmal hörte ich etwas. Als ich beim Fenster hinaus-

schaute, erkannte ich eine Frau aus dem Schloss, die gerade Prü-

gel aus unserem Holzstoß riss. Stibitzte, könnte man auch sagen.

So rief ich zum Fenster hinaus: „Morgen, Frau Nachbarin!“ Um

halb zwei in der Früh. Aber schlagfertig war sie. „Die Prügel hab

ich gestern Nacht zum Holzstoß dazu gelehnt“, erklärte sie. Wenn

diese Schlossbewohnerin mit anderen im Schlosshof zum Streiten

kam und sie ihren Wortschatz ausgeschöpft hatte, drehte sie sich

einfach um, hob den Rock und zeigte ihrem Gegenüber das, was

darunter war – eine Unterhose jedenfalls nicht. •

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Unsere Familie

Familienbewusstsein ist einer der Werte, die wir von unseren

Eltern mitbekommen haben. Sie haben die Großfamilie zusam-

mengehalten, und wir „Kinder" – keines jünger als 80 – führen

diese Tradition fort. Vor allem aber sind wir unendlich froh und

glücklich, einander zu haben. Fast täglich führen wir Gespräche,

besuchen einander und tauschen uns über unsere Freuden und

Leiden aus.

Mit diesem Buch haben wir jetzt kleine Ausschnitte unseres Le-

bens, die sich doch zu einem wunderbaren Ganzen fügen, vor

uns liegen. Wir sind froh und dankbar, gemeinsam zurückblicken

zu können, und hoffen, dass wir einander noch möglichst lange

erhalten bleiben!

Richard Sieber, Hedwig Weinhandl, Herbert Sieber

Dezember 2013

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Impressum

„Eine Vorarlberger Familie in Kapfenberg

– Die Sieber-Geschwister“

HERAUSGEBER

schreib-mein-leben

www.schreib-mein-leben.at

AUTORINNEN

Regina Berger und Annemarie Pumpernig

GESTALTUNG UND LAyOUT

D M B O - Studio für Gestaltung

www.dmbo.de

Dezember 2013

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