SZ: Protokoll des Zorns – wie die Gewalt in Stuttgart eskalierte

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8/8/2019 SZ: Protokoll des Zorns – wie die Gewalt in Stuttgart eskalierte

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Von Martin Kotynek

Stuttgart – Wenn Alexander Schlager inden Spiegel schaut, kann er das Blut inseinem rechten Auge sehen, und sein im-mer noch geschwollenes Gesicht, vordemschwarzePunkteblitzen. AlexanderSchlagerist keiner,der beiDemonstratio-nen an vorderster Front steht. Auchnicht am 30. September, jenem Tag, an

dem sich die Polizei mit WasserwerfernihrenWegdurchdenStuttgarterSchloss-garten bahnt. Er hockt hinten, auf demBoden wartet er den Moment ab, in demerweglaufenkann.Dann richtet sichder31-Jährige auf. Der Wasserstoß trifft ihnso hart ins Gesicht, dass er zu Boden ge-worfen wird, seine Brille fliegt davon, erkann sein rechtes Auge nicht mehr öff-nen, Blut rinnt über sein Gesicht. Jetztist er einer von Hunderten Verletzten,und weil seine Netzhaut gerissen ist under am nächsten Tag operiert wird, gilt eralseiner vonvier Schwerverletzten.Ent-schuldigt hat sich niemand bei ihm. „Ichwill wissen, wer für meine Verletzungverantwortlich ist“, sagt Schlager.

Offiziell hatSiegfriedStumpfdie Ver-antwortung für den brutalen Polizeiein-satz übernommen. Ungefragt hat derStuttgarter Polizeipräsident das be-kannt, zuerst am Tag danach, und seit-dem immer wieder. Trotzdem glaubt esihmkaum jemand.Stumpf istein loyaler

und pflichtbewusster Polizist, für ihn istselbstverständlich,dasser denKopfhin-hält.Dochdiejenigen,dieihnkennen,be-schreiben ihn als Hüter der Verhältnis-mäßigkeit,als einen,derniemals unnöti-ge Härte zeigen würde. Mit Gewaltfrei-heit und Deeskalation hat er die „Stutt-garterLinie“mitgeprägt, diefür Friedenin der Stadt steht. Noch im Sommer hatStumpfbetont,dassin Stuttgartdasletz-te Mal vor 40 Jahren Wasserwerfer ge-braucht wurden: „Vom Einsatz solcherMittel halte ich gar nichts.“

Unddannlässt erwenigeWochenspä-ter vier von ihnen im Schlossgarten auf-fahren, dazu Hundertschaften von Poli-zisten,m artialisch gekleidete Sonderein-heiten;er lässtsie mitSchlagstöckenundPfeffersprays auf Schüler und Rentnerlos. Wegen eines Bahnhofs. Da kann et-wasnicht stimmen– diesen Verdachthatnicht nur die Opposition im Landtag.

SPD und Grüne fragen sich, warumderPolizeipräsidentmonatelang diezahl-reichen Demonstrationen gegen Stutt-gart 21 ohne größere Zwischenfälle be-gleiten lässt, und dann, am 30. Septem-ber,plötzlichseineStrategie ändert.„Dahat es Einmischung von oben gegeben“,

sagt Andreas Stoch, der für die SPD imStuttgarter Landtag sitzt. „EntwedervomInnenministeroder vonMinisterprä-sident Stefan Mappus persönlich“, sagtStoch. Das will er nachweisen.

Im Landtag hat seine Fraktion einenUntersuchungsausschuss durchgesetzt,nur fünf Monate vor der Landtagswahl.AmDienstagwerdendortdie Zeugen be-stimmt. Einer von ihnen wird Mappussein,ganzamSchlusssoller andieReihekommen. Der Regierungschef im Verhör– so kurz vor der Landtagswahl sind daskeine Bilder, die sich die CDU wünscht.

DieVerteidigungsliniedes CDU-Regie-rungschefs steht bereits. Er beteuert, fürden Einsatz keine Vorgaben gemacht zuhaben. „Ein Ministerpräsident darf sichnicht in das operative Geschäft der Poli-zei einmischen“, sagt Mappus. Das ist

auch SPD und Grünen klar. Sie wollenMappusdeshalbauch garnichtnachwei-sen, dass er Wasserwerfer bestellt hat.Vielmehr wollen sie zeigen, dass der Mi-nisterpräsident prinzipiell ein raschesund hartes Vorgehen gewünscht hat.

Hohe Beamte aus den Innenministeri-enmehrererLänderbestätigen,dasssichdiePolizeibei Einsätzenvon großerpoli-tischer Tragweite mit der Regierung ab-

stimme.Essei üblich,dass diePolitikdasZiel und die grundsätzliche StrategievonGroßeinsätzenvorgebe,etwadie Fra-ge,obdie Polizeitolerantodereher mitei-ner niedrigen Einsatzschwelle vorgehensolle. Bei brisanten Einsätzen würdensichhoheBeamte mitdem Innenministerabstimmen, jener wiederum häufig mitdemRegierungschef.Nach diesenVorga-ben entwickele die Polizei dann ein Ein-satzkonzept, in dem festgelegt sei, wel-che Hilfsmittel genutzt werden.

Auch in Stuttgart hat es im Vorfelddes Einsatzes mehrere solche Bespre-chungen gegeben. Schon im Juni fasstendieBahn,diePolizei unddasVerkehrsmi-nisterium den 30. September als Terminfür die Fällung der Bäume ins Auge, wieauseinemPolizeiberichtanden Untersu-chungsausschuss hervorgeht. Spätestenseinen Tag vor dem Einsatz wusste danndie Landesregierung über die PlanungenBescheid.Das belegtein Treffen am Vor-mittag des 29. September, bei dem Poli-zeipräsident Stumpf seine Einsatztaktikim Innenministerium vorstellte. Um16 Uhr erläuterte die Polizei ihren Plandannauchim Staatsministerium– diesersah vor, Wasserwerfer bereitzustellen.NebenVerkehrsminister in Tanja Gönner

war auch Mappus anwesend.Der Ministerpräsident habe den Ein-satz von Wasserwerfern daher billigendin Kauf genommen, sagt der SPD-Abge-ordnete Andreas Stoch. „Mappus wollteein Zeichen der Entschlossenheit setzen,er hat den Einsatz dafür missbraucht,sich als Politiker zu profilieren, der fürRechtund Ordnungsteht.“Die CDUkon-tert, es sei die Pflicht der Regierung, sichvon der Polizei über einen solchen Ein-satz informieren zu lassen. Das allein seiaberkeinBelegfür einepolitische Vorga-be an die Polizei.

Bis Ende des Jahres will der Untersu-chungsausschusstagen,im Januar istderAbschlussbericht zu erwarten. So langewollen viele Stuttgarter nicht warten.AmkommendenSamstagwirdes eineDe-monstration gegen Polizeigewalt geben.Auch der verletzte Alexander Schlagerwilldabei sein. Aber an vorderster Frontwird er auch diesmal nicht stehen.

Berlin/München–Aufdieetwa70Millio-nen gesetzlich Krankenversicherten inDeutschland kommen von Januar an hö-

hereBeiträgeundweiterefinanzielleBe-lastungenzu. DerBundestag verabschie-deteam Freitagmit denStimmenderKo-alitionsfraktionen von Union und FDPdasGesetzzurFinanzierungder gesetzli-chen Krankenversicherung, mit dem dasMilliardendefizit der Kassen einge-dämmtwerdensoll. Opposition,Gewerk-schaftenund VerbändegeißeltendenBe-schluss als Ausstieg aus dem Solidarsys-tem. Dem Gesetz zufolge steigt der ein-heitliche Beitragssatz von derzeit 14,9auf 15,5 Prozent. Der Arbeitgeberanteilwird von sieben auf 7,3 Prozent erhöhtund auf diesem Niveau festgeschrieben.

Allekünftigen Kostensteigerungensol-len von den Versicherten durch Zusatz-

beiträge finanziert werden – diese kön-nen die Kassen in unbegrenzter Höhe er-heben. Geringverdiener erhalten einen

Sozialausgleich. Zudem werden Ausga-ben bei Ärzten, Krankenhäusern undKassen begrenzt. Für das Gesetz stimm-ten 306 Abgeordnete von Union undFDP, es gab 253 Nein-Stimmen aus denReihen von SPD, Grünen und Linken.Der Bundesrat muss nicht zustimmen.

Bundesgesundheitsminister PhilippRösler (FDP) zeigte sich überzeugt, dassmit der Reform „nicht nur die Problemeim Jahr 2011 gelöst werden, sondern derEinstieg in ein faires und besseres Sys-tem“ gelinge. Der Arbeitgeberbeitragwerde festgeschrieben, um die Lohnzu-satzkosten zu stabilisieren. „Das ist un-serBeitragfür Wachstumund Beschäfti-gung“, sagte Rösler. Der CDU-Gesund-

heitspolitikerJensSpahnsagte,die Koa-lition stelle sich der Verantwortung,auch wenn es „unschöne Botschaften“

seien.MitBlickauf dasfür 2011erwarte-te Defizit von neun Milliarden Euro inder gesetzlichen Krankenversicherungsagte Spahn: „Wenn wir nichts tun wür-den, müssten viele Krankenkassen in dieInsolvenz gehen.“

Die Opposition beschwörte dagegen„das Ende der Solidarität“ im Gesund-heitswesen. „Die Versorgung wird nichtverbessert, aber es wird an vielen Punk-tenungerechterwerdenfür dieVersicher-ten“, sagte SPD-Generalsekretärin An-drea Nahles. Der sozialdemokratischeGesundheitsexperte Karl Lauterbachsprach sogar von „Abzocke“. Lin-ke-Fraktionschef Gregor Gysi nanntedie Reform „grob sozial ungerecht“.Auch der Deutsche Gewerkschaftsbund(DGB)warfder Bundesregierungvor, siemache mit den einseitigen Belastungender Versicherten „Politik gegen die Be-völkerung“.Die IG Metallsprachvon ei-nem „schwarzen Tag für die Arbeitneh-mer“. Der Sozialverband VdK mahnte,dieKluft zwischenArm undReichwerdesich weiter vergrößern.

Arbeitgeberpräsident Dieter Hundtkritisierte in Berlin, durch den Anstiegdes Arbeitgeberanteils auf 7,3 ProzentwürdendieArbeitskostenerhöht.DerSo-

zialausgleichführezudemzu mehrBüro-kratie bei den Arbeitgebern.Von einem „Wortbruch“ sprach die

bayerische SPD angesichts der Zustim-mung der CSU zur Gesundheitsreform.Andersals vombayerischenMinisterprä-sidenten Horst Seehofer einst verspro-chen,orientiertensichdie Beiträgekünf-tignicht mehram Lohn,sondernwürdenüber Pauschalen geregelt. „Damit hatdieCSU heutedie solidarischeKranken-finanzierungbegraben“, sagte SPD-Lan-desparteichef Florian Pronold am Frei-tag in München. SZ,ddp,AFP

Aufgrund von „Missverständnissen“kommen die Polizeitrupps aus Bayernerst um 9.45 Uhr an den vereinbartenTreffpunkt. Es gelingt nicht rechtzeitig,sie mit den Baufahrzeugen der Rodungs-firma an der Autobahnabfahrt Zuffen-hausen zu einem Konvoi zu vereinen.Als den Gegnern von Stuttgart 21 dieBlocks der Polizei auffallen, alarmierensie um 10.25 Uhr etwa 25 000 Menschenüber eine SMS-Kette und per E-Mail.Erst eine Viertelstunde später trifft dieerste Beamten-Kolonne im Park ein –mittlerweile warten dort bereits 1000Gegner, die meisten sind Jugendlicheder Schülerdemonstration.

Im Park besetzen die Demonstrantengegen 11.20 Uhr den Lastwagen derPolizei, auf dem die Absperrgitter trans-portiert werden. Mit Sitzblockadenhindern sie die Einsatzwagen am Vorrü-cken. Die Polizei spricht von einer „ins-gesamt sehr aufgeheizten und aggressi-ven Stimmung“. PolizeipräsidentStumpf stimmt um 11.53 Uhr zu, Schlag-stöcke einzusetzen und einen Wasserwer-fer auffahren zu lassen. Um 12.48 Uhrfeuert der erste Wasserwerfer auf dieDemonstranten – auch viele Schülerund Rentner werden getroffen. Bis zumletzten Wasserstoß um 16.33 Uhr vervier-facht die Polizei den Wasserdruck.

Vor dem Einsatz hatte die Polizei nichtmit Verletzten (Foto) gerechnet unddaher auch die Rettungsdienste nichtinformiert. Hunderte Verletzte könnendaher zunächst nur von freiwilligenSanitätern der Stuttgart-21-Gegner aufeiner Liegewiese und in einem Biergar-ten notdürftig versorgt werden. Ständigkommen weitere Menschen mit gereiz-ten Augen hinzu. Erst gegen 16.35 Uhrgelingt es der Polizei mithilfe von vierWasserwerfern, den Bauplatz abzusper-ren. Tausende Menschen versammelnsich vor dem Gitter, hinter dem um einUhr nachts der erste Baum fällt. Um4.10 Uhr sind alle 25 Bäume gerodet.

 Auch nach Halbzeit der insgesamt achtSchlichtungsrunden unter Moderator

Heiner Geißler bleibt die große offeneFrage im Raum, auf welchen Kompro-miss hin sich der öffentliche Argumen-te-Austausch zubewegen könnte. Wie-derum verteidigten Gegner und Befür-worter von Stuttgart 21 am Freitag ver-bissen ihre gegensätzlichen Positionen– diesmal zum Thema „Kopfbahnhof21“, das Alternativkonzept der Gegner.

Der frühere SPD-Bundestagsabge-ordnetePeter Conradierläutertedie Vor-züge des Erhalts und der Renovierungdes Stuttgarter Hauptbahnhofs: dasKonzeptsei robuster,wenigerstöranfäl-ligund vielkostengünstiger– zumalkilo-meterlange Tunnelbauten und teuresGrundwassermanagement entfallenwürden. Bahnvorstand Volker Keferwandte dagegen ein, dass die Renovie-

rungdesmarodenGleisvorfeldsmehre-re Jahrzehnte in Anspruch nähme, wol-

le man nicht eine massive Beeinträchti-gung des Zugverkehrs in Kauf nehmen. Außerdem warnten die Befürworter da-vor, dass sämtliche Planfeststellungs-verfahren für Stuttgart 21 aufgehobenwerden undlangwierigeneue Verfahrenfürs Alternativkonzept in Gang gesetztwerdenmüssten.Daswiederumbestrit-ten die Gegner: „Die Mehrheit unsererBausteine kommt ohne Planverfahrenaus“, sagte Conradi.

Geißler meinte, es gebe erste Erfolgebei der Schichtung: „Alle sind jetzt vomhohen Ross herunter, es ist inzwischenmehrFriedeneingekehrt.“Es müssean-erkannt werden, dass es für beide Pro-

 jekte Argumentegebe.Im Übrigengeltees, das veraltete Baurecht zu moderni-sieren. dad 

Die Polizei setzt am 30. September aufden Überraschungseffekt. Binnen einerStunde will sie im Stuttgarter Schloss-garten eine Absperrung errichten, hin-ter der dann nach Mitternacht 25 Bäu-me fallen sollen. Doch der für 15 Uhrgeplante Einsatz spricht sich unter denGegnern von Stuttgart 21 herum. DerStuttgarter Polizeipräsident SiegfriedStumpf (im Foto links) entscheidet amVortag, den Einsatz auf zehn Uhr vorzu-verlegen. Zu diesem Zeitpunkt ist amHauptbahnhof eine Schülerdemonstrati-on angemeldet. Gegen zehn Uhr habensich dort bereits 400 Jugendliche imAlter von 15 bis 18 Jahren versammelt.

10:40Die Polizei verspätet sich

12:48Wasserwerfer feuern auf Gegner

01:00Der erste Baum fällt

10:00Der Einsatz soll beginnen

„Schwarzer Tag für die Arbeitnehmer“Bundestag billigt höhere Krankenkassenbeiträge – Gewerkschaften protestieren

Protokoll des Zorns – wie die Gewalt in Stuttgart eskalierteErstmals zeigt ein Polizeibericht die genauen Abläufe am 30. September / Die Opposition macht Regierungschef Mappus für den Einsatz verantwortlich

Schlichtung: Die vierte Runde

Samstag/Sonntag, 13./14. November 2010 HF2 Süddeutsche Zeitung Nr. 263 / Seite 5POLITIK 

Polizisten führen am 30. September einen Demonstranten ab. Szenen eines unheilvollen Tages. Fotos: dapd (3), Reuters, dpa

Bundesgesund-heitsminister Phil-

ipp Rösler (FDP)sieht seine Ge-sundheitsreformals „Beitrag fürWachstum undBeschäftigung“.Die gesetzlichenKrankenkassenerwarten für 2011neun MilliardenEuro Defizit – dieVersicherten sol-len dieses ausglei-chen. Foto: dpa

Der Polizeipräsident übernimmtdie Verantwortung – eigentlich gilter als Gegner übermäßiger Härte.

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