Unterrichtsbaustein 1 ‚Normalität‘ Materialien zum Baustein · »Ist das nicht das schönste...

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Unterrichtsbaustein1‚Normalität‘MaterialienzumBaustein• M1ReisedurchdieMongolei

• M2DerWunschnachNormalität

• M3aIsteineBehinderungüberhaupteineKrankheit?

• M3b(AlternativezuM3a,anspruchsvoll)Gesundheit,KrankheitundNormalität

• M4Ist‚Behinderung‘einabwertenderAusdruck?

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M1ReisedurchdieMongolei

Quelle:Latscha,Julia(2017):Lauthalsleben.VonLotte,demAndersseinundmeinerSuchenacheinergemein-samenWelt.München:Knaur.Aufgaben1. RechtsaufdemBildsiehtmandaszehnjährigeMädchenLotteaufeinerReisedurch

dieMongolei. Spekuliere, worin die Faszination der Familie aus derMongolei fürLotteundLottesFaszinationfürdieFamiliejeweilsbestehenkönnte.

2. KennstduähnlicheSituationenausdeinemAlltag?Begründe,inwieferndusiealspo-sitivodernegativempfundenhast.

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M2DerWunschnachNormalitätJuliaLatscha(2017):LauthalslebenIndemBuchLauthalslebengibtJuliaLatschaEinblickindasLebenmitihrerTochterLotte.NichtswarmehrnormalinunseremLeben.Nichtswarso,wieichesmirimVorfeldvor-gestellthatte.DasgehtallenjungenElternso.EinKindzubekommenistansicheinein-schneidendesErlebnis.EinKindmitBehinderungzubekommennochmalmehr.3 Immerwiederhabeichversucht,dieseverdammteNormalitätinunserenAlltagzuzer-

ren.LottesandauerndesSchreienseinormal,dachteichanfangs.SiehabebestimmtDrei-monatskoliken,redeteichmirein.IhrenvielzukleinenKopfumfangführtenwiraufeine6 genetischeDispositionzurück.WirhabenauchkleineKöpfe.[...]IhreHändewarenper-manentgefaustet,und sie lagdiemeisteZeitüberstreckt imKinderbett.DafürkonnteLottelächelnundrichtigguttrinken.9 AlsLottedreiMonatealtwar,gingenwirwegenihrerEpilepsiezueinemSpezialisten.

DerProfessor[...]interessiertesichwenigerfürLottesHirnströmealsvielmehrfürunse-renWunschnachNormalität.ErzeichnetezweiKurvenaufeinPapier,wovondieeine12 schnellanstiegunddiezweitesehrlangsamanHöhegewann.»EureTochterwirdsichentwickeln.«ErduzteunsvonAnfangan.»Nurebenaufihre

ArtundWeise.«DannzeigteeraufdiezweiteKurve.15 »DasistLottesEntwicklungskurve.SiewirdihreneigenenWeggehen.Ihrwerdetsie

aufdiesemWegbegleitenundeuchüberganzandereErfolgefreuenalsElternmiteinemgesundenKind.«18 »EuerKindwirdnichtinderLagesein,mitihrerUmweltinKontaktzutreten«,fuhr

derKinderneurologefort.WirwürdeningetrenntenWeltenleben.NurdassLottedies–imGegensatzzuunsEltern–nichtregistrierenwürde.21 Erteilteunsmit,dassLottesowohlkörperlichalsauchmentaleineschwereBehinde-

runghabe.Dawarensie,dieungeliebtenWorte.SiestandenmittenimRaumundrührtensichnichtvomFleck.EineTränewarnichtzuvermeiden.Weiterefolgten.24 DasGesprächmitdemKinderneurologenhattemichzumNachdenkengebracht.Wa-

rumwarmeinWunschnachNormalitätsogroß?EinMenschgiltalsnormal,wennseinVerhaltenundseineErscheinungdemderMehrheitentsprechen.ImmermehrMenschen27 sehnensichnachIndividualität,nachAbgrenzungvonderMehrheit.Ichwolltenienormalsein,sonderneigen,ichselbsteben.InmeinerJugendwarichwildundungestüm,schriebinderSchuleschlechteNotenundecktegernemitanderenMenschenan.Undnunsehnte30 ichmichnacheinemnormalenKindundeinemnormalenFamilienleben.IchliebtemeineTochtervonAnfanganso,wiesiewar,undnichtso,wiesieidealerweiseseinsollte.Unddochverglich ichmeinLebenundmeinKindmitdemLebenunddenKindernmeines33 Umfeldes.Quelle:Latscha,Julia(2017):Lauthalsleben.VonLotte,demAndersseinundmeinerSuchenacheinergemein-samenWelt.München:Knaur,S.28f.

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Aufgaben1. BeschreibedieSituation,inderJuliasichbefindetundarbeiteheraus,inwiefernsie

sichNormalitätwünscht.2. Erkläre,warumJuliadenWunschnachNormalitätinFragestellt.3. Juliasagt,siewollteinihrerJugendnienormalsein.Kannstdudasnachvollziehen?4. VollziehediedreiArtenvon‚Normalität‘sowiedieentsprechendenBeispielenach.

FindefürjedeArteineigenesBeispiel,daseineAbweichungvondieserArtderNor-malitätbeschreibt.(BeispielfüreineAbweichungfürKategoriea):Früherwaresnor-mal,dassichimmerinnerhalbwenigerMinutenbeimeinembestenFreundseinkonnte,aberseitwirumgezogensind,hatsichdasgeändertundwirsehenunsnurnochselten.)

5. FindefürjedederdreiArtenvonNormalitäteinepassendeTextstelleausdemoben-

stehendenAuszugausLauthalsleben.BegründedeineZuordnung.6. Bewerte die dreiunterschiedlichenArten vonNormalität, indemdumitHilfe von

selbstgewähltenBeispielenbegründest,wannduesgutfindest,derNormzuentspre-chenundwanndueseventuellgutfindest,vonderNormabzuweichen.

DreiArtenvon‚Normalität‘

a) ‚Normalität‘alsGewohnheit:Normalist,wasichgewohntbin.Fürmichistesnormal,mitdemFahrradzurSchulezufahren.

b) EinePersongiltals‚normal‘,wennihrekörperlicheundgeistigeEntwicklungundihr Verhalten der durchschnittlichen Entwicklung und dem durchschnittlichenVerhaltengleichaltrigerIndividuenentsprechen.Esistnormal,dassKleinkinderimAltervonca.zehnbiszwölfMonatenihreerstenSchrittemachen.

c) Etwasgiltals‚normal‘,wennessozialenErwartungen,RichtlinienundkulturellenVorstellungenderMehrheitentspricht.Esgiltalsnormal,dassPaareirgendwanneineFamiliegründenundKinderbekom-menmöchten.

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M3aIsteineBehinderungüberhaupteineKrankheit?JuliaLatscha(2017):LauthalslebenLotteistinzwischeninderKitaundJuliaistwiederschwanger.EsistkurzvorWeihnachtenundsiesind,zusammenmitLottesVaterSebastian,aufeinerFeierinLottesKita.»WirdeseinMädchenodereinJunge?«,fragtmichdergroßeschlankeVaternebenmir,dessenNamenichnichtkenne.SeineTochterMayaspieltmanchmalmitLotteinderKita.»Lotteistniedlich«,sagtdasblondgelockteMädchen,wennesmichsieht.3 DannrennteskicherndzuseinenFreundinnen.Lottewirdvielgestreichelt.Undfri-

siert.StändighatsieneueKlammernundbunteGummisinihrenHaaren.»Wirlassenunsüberraschen«,antworteichdemVater.6 AuchdieseÜberraschungsollteglücken.DennmiteinemSohnhattenwederSebastian

nochichgerechnet.Wirwarenunssicher,einzweitesMädchenzubekommen.»Hauptsache,gesund«,sagtderVaterlächelnd.9 Standardantwort,denkeich.Weristschongesund,würdeichgernezurückfragen.Und:

IsteineBehinderungüberhaupteineKrankheit?StattdessenschiebeichmireinenLeb-kuchenindenMundundlächle.SchließlichistbaldWeihnachten.UndSebastianbehaup-12 tet,eslägeauchanmir,dasswirwenigKontaktmitdenanderenElternhaben.Einbiss-chenhaterrecht.FastalleJungenundMädchenhabenetwasvorgetragen.NurLottenicht.Diehatge-15

lacht und vor Freude die Fäuste gegeneinandergeschlagen. Nach der Aufführung be-kommtjedesKindeinGeschenkvomWeihnachtsmanngereicht.AuchLotte.IhreErzie-herinpacktesaus.EinekleineFlöteausPlastik.Nichtschlecht,denke ich.Damitkann18 Lottejedenfallsetwasanfangen.DasPustenhatsiebeiderLogopädingelernt.»Wannistesdennsoweit?«,fragtmichdieIntegrationserzieherinundzeigtaufmei-

nengroßenBauch.21 »Bald«,antworteich.Das genaueGeburtsdatummöchte ich nichtpreisgeben.Damitwill ich die anderen

überraschen.UndmichvordrückendenDaumenschützen.MeineBeklemmungreichtmir24 völlig.»ÜberdasGeschwisterchenwirdsichLottebestimmtfreuen.«»Undwirunserst«,sagtSebastian.27 LottestrecktdieArmeausundwechseltaufseinenArm.WirredenmitderErzieherin,

hörengerneundimmerwieder,wiewichtigLotteinderKitaist.DieanderenKindertobendurchdenRaumundleerendasKuchenbuffet.Sierufen»Kacke«und»Scheiße«.Klowör-30 terscheinengeradeinzusein.»Ihrhabtesgut.LottesitztsofriedlichaufeuremArm«,sagteineschwitzendeMutter.Ichlächle.UndschiebemirnocheinenLebkuchenindenMund.DerZivierscheintin33

einemJogginganzug.RestedesBartesklebenüberseinerOberlippe.»Na,waswünschtihreuchzuWeihnachten?«,fragterwitzelnd.»EingesundesKindwahrscheinlich«,antwortetdieErzieherin.36 Wirlächelnbeide.Sebastianundich.

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»Mama«,sagtLotteundstrecktmirihreArmeentgegen.Undjetztisterda,derEngelsgesang.DerheiligeSchauer,dersichübermirergießt.Es39

gibtvieleguteTage.Diesesisteinermeinerbesten.IchkanndasGefühlnurschwerbe-schreiben.ZweiSilben,dieeineunendlichlangeReaktionanGefühlenhervorrufen.PureFreude.GeballtesGlück.UndeineUnmengeanDankbarkeit.42 »IstdasnichtdasschönsteWeihnachtsgeschenk?«,fragtderZivi.DieanderenElternnickenzustimmend.Siescheinenauchbewegtzusein.Abernicht

unbedingtvondenvierBuchstaben.SonderndenTränenderFreudeunddemFreuden-45 tanz.»Lottekannsprechen«,rufeichzuHauseindenTelefonhörer.

Quelle:Latscha,Julia(2017):Lauthalsleben.VonLotte,demAndersseinundmeinerSuchenacheinerge-meinsamenWelt.München:Knaur,S.36-38.RaulKrauthausen(2016):Ichbinnichtkrank,nurbehindert.RaulKrauthausenistAktivistfürInklusion(dasbedeutetwörtlich‚Einschluss‘).Ersetztsichalsodafürein,dassMenschennichtvonbestimmtenDingenausgeschlossenwerden,z.B.auf-grundeinerBehinderung.Er istGründerderOrganisationSozialheldenundarbeitetseitüberfünfzehnJahreninderInternet-undMedienwelt.AufseinemBlogveröffentlichterre-gelmäßigArtikelzumThemaInklusionundberichtetausseinemAlltagmitBehinderung(erhatdiesogenannteGlasknochenkrankheit).DerfolgendeBlog-ArtikelbeschäftigtsichmitdemUnterschiedzwischenKrankheitundBehinderung.[…]MeineBehinderunggehörtzumirundistvonüberwältigenderWichtigkeitfürmich.JedenTag.WennMenschenmichvonmeinerBehinderungzutrennenversuchen,dannleugnetmandieKraftmeinerBehinderungunddenenormenEinfluss,densieaufmeinLebenhat.[…] Ichbinnichtkrank,nurbehindert.Es ist leider schon sehr irreführend, weil in „Glasknochenkrankheit” schon dasWortsteckt(allerdingsistdasauchlediglichdieumgangssprachlicheBezeichnungfürOsteo-genesisimperfecta–aberdasnuramRande).IchmöchtekurzeineUnterscheidungtreffen,weilichnichtautomatischkrankbin,nur

weilicheineBehinderunghabe:EineKrankheitkannbzw.versuchtmanzuheilen.EsgibteinenProzessvongesundzukrankundhoffentlichwiederzugesund.WennichmireinenKnochenbreche,dannbinichtatsächlichkrank–bisalleswieder

verheiltistundichwiedergesundbin.Wennicherkältetbin–binichebensokrank,wieeinMenschohnegenetischeBeson-

derheiten.SobalddieErkältungsichverflüchtigthat,binichebenfallswiedergesund.Wassichaberbeimirnichtverändernwird,istdergenetischbedingteZustandmeiner

KnochenunddiesichdarausergebendeBehinderung.AuchwennmeineKrankenversicherungjedesJahrnachfragt:MeineBehinderungwird

bleibenundkannnichtgeheiltwerden.Ichkannnichtlaufenlernenundwerdeauchkeine2Metermehrgroßwerden.

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WarummirderUnterschiedsowichtigist:WennKrankheitundBehinderunggleich-gestelltwerden,dannsprechenwirauchvonHeilungeinerBehinderung.[…]Ichmöchtenichtabsprechen,dassbeibestimmenBehinderungenauchMöglichkeitender„Heilung”bzw.Verbesserungbestehen,aberauchdannsolltenesselbstbestimmteEntscheidungenderBetroffenenseinundkeinKonsensa la „Behinderung=Krankheit=Heilung“,derdurcheinengesellschaftlichenDiskursbestimmtwird.[…]Quelle:Krauthausen,Raul(2016),„6Dinge,diemanwissensollte,wieesist,miteinerBehinderungzuleben“,onlineunterhttps://raul.de/allgemein/6-dinge-die-man-wissen-sollte-wie-es-ist-mit-einer-behin-derung-zu-leben/zuletztabgerufen:12.01.2019.Aufgaben1. InZeilen10bis12schreibtJulia:„Weristschongesund,würdeichgernezurückfra-

gen.Und: Ist eineBehinderungüberhaupteineKrankheit?Stattdessen schiebe ichmireinenLebkuchenindenMundundlächle.“StelleVermutungenan,weshalbJuliasichdenLebkuchenindenMundschiebt,anstattaufdieÄußerungdesanderenVa-terseinzugehen.

2. Stelldirvor,RaulKrauthausenhatdasGesprächzwischenJuliaunddemanderenVa-terzufälligmitgehört.Erentscheidetsich,indasGesprächeinzusteigen,umJuliazuunterstützen.VerfasseeinGesprächzwischenJulia,demanderenVaterundRaul,indemJuliasichdenLebkuchennichtindenMundschiebt,sondernihreFragenstellt.NutzehierfürauchdenBlogeintragvonRaulKrauthausenüberdenUnterschiedzwi-schenKrankheitundBehinderung.

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M3bGesundheit,KrankheitundNormalitätJuliaLatscha(2017):LauthalslebenLotteistinzwischeninderKitaundJuliaistwiederschwanger.EsistkurzvorWeihnach-tenundsiesind,zusammenmitLottesVaterSebastian,aufeinerFeierinLottesKita.»WirdeseinMädchenodereinJunge?«,fragtmichdergroßeschlankeVaternebenmir,dessenNamenichnichtkenne.SeineTochterMayaspieltmanchmalmitLotteinderKita.»Lotteistniedlich«,sagtdasblondgelockteMädchen,wennesmichsieht.3 DannrennteskicherndzuseinenFreundinnen.Lottewirdvielgestreichelt.Undfri-

siert.StändighatsieneueKlammernundbunteGummisinihrenHaaren.»Wirlassenunsüberraschen«,antworteichdemVater.6 AuchdieseÜberraschungsollteglücken.DennmiteinemSohnhattenwederSebastian

nochichgerechnet.Wirwarenunssicher,einzweitesMädchenzubekommen.»Hauptsache,gesund«,sagtderVaterlächelnd.9 Standardantwort,denkeich.Weristschongesund,würdeichgernezurückfragen.Und:

IsteineBehinderungüberhaupteineKrankheit?StattdessenschiebeichmireinenLeb-kuchenindenMundundlächle.SchließlichistbaldWeihnachten.UndSebastianbehaup-12 tet,eslägeauchanmir,dasswirwenigKontaktmitdenanderenElternhaben.Einbiss-chenhaterrecht.FastalleJungenundMädchenhabenetwasvorgetragen.NurLottenicht.Diehatge-15

lacht und vor Freude die Fäuste gegeneinandergeschlagen. Nach der Aufführung be-kommtjedesKindeinGeschenkvomWeihnachtsmanngereicht.AuchLotte.IhreErzie-herinpacktesaus.EinekleineFlöteausPlastik.Nichtschlecht,denke ich.Damitkann18 Lottejedenfallsetwasanfangen.DasPustenhatsiebeiderLogopädingelernt.»Wannistesdennsoweit?«,fragtmichdieIntegrationserzieherinundzeigtaufmei-

nengroßenBauch.21 »Bald«,antworteich.Das genaueGeburtsdatummöchte ich nichtpreisgeben.Damitwill ich die anderen

überraschen.UndmichvordrückendenDaumenschützen.MeineBeklemmungreichtmir24 völlig.»ÜberdasGeschwisterchenwirdsichLottebestimmtfreuen.«»Undwirunserst«,sagtSebastian.27 LottestrecktdieArmeausundwechseltaufseinenArm.WirredenmitderErzieherin,

hörengerneundimmerwieder,wiewichtigLotteinderKitaist.DieanderenKindertobendurchdenRaumundleerendasKuchenbuffet.Sierufen»Kacke«und»Scheiße«.Klowör-30 terscheinengeradeinzusein.»Ihrhabtesgut.LottesitztsofriedlichaufeuremArm«,sagteineschwitzendeMutter.Ichlächle.UndschiebemirnocheinenLebkuchenindenMund.DerZivierscheintin33

einemJogginganzug.RestedesBartesklebenüberseinerOberlippe.»Na,waswünschtihreuchzuWeihnachten?«,fragterwitzelnd.»EingesundesKindwahrscheinlich«,antwortetdieErzieherin.36 Wirlächelnbeide.Sebastianundich.

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»Mama«,sagtLotteundstrecktmirihreArmeentgegen.Undjetztisterda,derEngelsgesang.DerheiligeSchauer,dersichübermirergießt.Es39

gibtvieleguteTage.Dieseristeinermeinerbesten.IchkanndasGefühlnurschwerbe-schreiben.ZweiSilben,dieeineunendlichlangeReaktionanGefühlenhervorrufen.PureFreude.GeballtesGlück.UndeineUnmengeanDankbarkeit.42 »IstdasnichtdasschönsteWeihnachtsgeschenk?«,fragtderZivi.DieanderenElternnickenzustimmend.Siescheinenauchbewegtzusein.Abernicht

unbedingtvondenvierBuchstaben.SonderndenTränenderFreudeunddemFreuden-45 tanz.»Lottekannsprechen«,rufeichzuHauseindenTelefonhörer.

Quelle:Latscha,Julia(2017):Lauthalsleben.VonLotte,demAndersseinundmeinerSuchenacheinergemein-samenWelt.München:Knaur,S.36-38Aufgaben1. JuliaLatschaschreibtinZeilen10bis12:„Weristschongesund,würdeichgernezu-

rückfragen. Und: Ist eine Behinderung überhaupt eine Krankheit? Stattdessenschiebe ichmireinenLebkuchen indenMundund lächle.“Überlege,wasdagegensprechenkönnte,eineBehinderungalseineKrankheitzubezeichnen.

2. ErläuteremithilfedesTextesvonAnkeBüter(sieheunten),welcheAntwortennatu-ralistische undwelcheAntwortennormativistischePositionenaufdieFragegeben,waseineKrankheitist.

3. Versuche,dasVerständnisvonKrankheit,dasdeineneigenenÜberlegungenzuAuf-gabe1zugrundelag,mitHilfederUnterscheidungnaturalistischversusnormativis-tischnäherzucharakterisieren.

4. StelledieimTextgenanntenEinwändegegennaturalistischeundnormativistischePo-sitionenineinerTabellegegenüber.FallsDirzusätzlicheEinwändeeinfallen,ergänzediese.DiskutiertgemeinsamMöglichkeiten,diesenEinwändenzubegegnen.

5. In demÜbereinkommen der VereintenNationen über die Rechte vonMenschenmitBehinderung(2006)findetsichinArtikel1folgendeDefinition:„ZudenMenschenmitBehinderungenzählenMenschen,dielangfristigekörperliche,seelische,geistigeoderSinnesbeeinträchtigungenhaben,welchesieinWechselwir-kungmitverschiedenenBarrierenandervollen,wirksamenundgleichberechtigtenTeilhabeanderGesellschafthindernkönnen.“Überlege, inwiefern diese Definitionnaturalistische undnormativistische Elementehat.

AnkeBüter(2016):Gesundheits-undKrankheitsbegriffe–Wasistschonnormal?IstdasReizdarmsyndromeineKrankheitoderbloßeinunangenehmesAlltagsproblem?Sind die Wechseljahre eine ‚Hormondefiziterkrankung‘ oder ein normaler ProzessmenschlichenAlterns?Handelt es sich bei ADHSum eine Pathologisierung kindlichen3

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Verhaltens,dieletztlichnurderPharmaindustriedient?DieseFragenzeigen,warumeineKlärungderBegriffe‚Gesundheit’und‚Krankheit’relevantist.NaturalistischeAnsätzeverfolgendabeidasZieleinereindeutigenBegriffsbestimmung6

über objektiveKriterien. EinBeispiel istderFunktionalismus von ChristopherBoorse,dem es umdie Grundlegung eines theoretischen Gesundheits- undKrankheitsbegriffsgeht. Er unterscheidet dazu zunächst zwischen ‚Gesundheit’ und ‚Wohlergehen’ sowie9 ‚Krankheit’(engl.disease)und‚Erkrankung’(illness).Objemandgesundoderkrankist,seieinewissenschaftlicheFrage.ObwirseinenZustandauchinderPraxisalsWohlergehenoderalsErkrankung,d.h.alsschwerwiegende,zubehandelndeKrankheit,verstehen,sei12 jedocheinenormativeFrage.GesundheitdefiniertBoorsenunalsnormaleFunktionsfä-higkeit:alsBereitschaftjedesinnerenTeils,seinenormalenFunktionenmitmindestenstypischerEffizienzauszuüben.KrankheitbestehtineinerBeeinträchtigungdieserFunk-15 tionsfähigkeit(Boorse1977).Unter‚Funktion’verstehtBoorsegenerelldenBeitragzueinemZiel.InBezugaufGe-

sundheitseiendierelevantenZieleÜberlebenundReproduktiondesindividuellenOrga-18 nismus. Diese Ziele vorausgesetzt, sei es nun Aufgabe der empirischenWissenschaft,funktionaleProzesseüberihrenBeitragzudiesenzuidentifizieren.EinefiebrigeGrippeetwawäredemzufolgeeineKrankheit,weilsiedieEffizienzvonProzessenverringert,die21 üblicherweise zumÜberleben beitragen (etwa der Temperaturregulierung). Solch einzielgerichteterFunktionsbegriffziehtallerdingsdieFragenachsich,wiezwischentypi-schenundbloßzufälligenBeiträgenunterschiedenwerdenkann.EinbeliebtesBeispiel24 istdieBibel inderHemdtaschedesSoldaten,dieeinenSchussabfängtunddamitseinÜberlebensichert.Dennochwürdenwirunskaumdarauffestlegenwollen,dieFunktionvonBibelnseiderSchutzvorSchussverletzungen.Wirmüssendeshalbklären,wasnor-27 maleFunktionsfähigkeitist.DieseNormalitätistbeiBoorsealsstatistischtypischerBei-traginnerhalbeinerReferenzklasse(z.B.einerAltersgruppe)bestimmt.AllerdingsistauchdieBestimmungdesstatistischTypischenproblematisch,insbeson-30

dereimHinblickaufProzessemiteinerkontinuierlichenVerteilung.EingutesBeispielistIntelligenz.WogenausollenwirdieGrenzezwischenNormalitätundBehinderungzie-hen?HiergibteskeinendefinitivennumerischenWert.VielmehrwirddieseGrenze,so33 Boorse,perKonventiongesetzt.DasuntergräbtjedochseinenAnspruchaufeineobjek-tive,wertfreieDefinitionvonGesundheit.BeiderkonventionellenSetzungvonGrenzwer-tenkommtesnämlichhäufigdaraufan,wasgesellschaftlichnochalsakzeptabeloderle-36 benswertgilt.DieseProblemedesNaturalismusmotivierendieGegenpositiondesNormativismus.

Lautdiesembringen‚gesund’und‚krank’primäreineBeurteilungkörperlicherundpsy-39 chischerZuständeoderVerhaltensweisenals(nicht)wünschenswertzumAusdruck.EinbekannternormativistischerAnsatzistLennartNordenfeldtsHolismus.Nordenfeldtgehtdavonaus,dassGesundheitmehrbeinhaltetalsÜberlebenundReproduzieren,nämlich42 Lebensqualität.Ihmzufolgeistjemandgesund,wennerunterStandardbedingungendieFähigkeithat,seinewesentlichenZielezuerreichen.DiesewesentlichenZielesindindivi-duellunterschiedlichunderforderlich fürdasminimaleGlückdes jeweiligenIndividu-45 ums.Krankistjemand,wennmindestenseinesseinerOrganevoneinemZustandoder

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Prozessbetroffenist,derdazuneigtihninderErreichungdieserZielezubeeinträchtigen(Nordenfeldt2007).48 DieseIndividualitätderZielsetzungbringtVorteilemitsich;z.B.wäredemnachUn-

fruchtbarkeit(andersalsbeiBoorse)nurdannkrankhaft,wennicheinenKinderwunschhabe.GenaudieseIndividualitätführtjedochauchzuSchwierigkeiten,dasoschnellzu51 vieleoderzuwenigeZuständealskrankhaftauszeichnetwerden.Wennichmir(fürmich)unerreichbareZielesetze(z.B.einenUltramarathonzulaufen),wäreichnachNordenfeldtkrank,wasjedochkontra-intuitiverscheint.AndererseitskönntenachdieserLogikjeder54 einfachdadurchgesundwerden,dasserseineAnsprücheundZieleherunterschraubt.Einweiteres Problem ist, dass gerade solche Zielsetzungsprozesse krankhaft gestört seinkönnen(etwabeiSuchterkrankungenoderAnorexie).57 EineMöglichkeit,dasDilemmavonNormativismusundNaturalismusaufzulösen,liegt

inderFormulierungeineshybridenBegriffs,derAspektebeiderPositionenintegriert.[…]EinentsprechendmodifizierterhybriderBegriffvonGesundheitundKrankheithatins-60 gesamtentscheidendeVorteile.AndersalsderNaturalismusisternichtaufdieproble-matischeTheseeinerwertfreienBestimmungvonKrankheitfestgelegt,ohnedeshalbwiederNormativismusindieBeliebigkeitzurutschen.DieFrage,wasnochgesundundwas63 schonkrankist,istdennochimmeraucheineWertfrageunddamiteinlegitimerundwich-tigerGegenstandgesellschaftlichenDiskurses.Quelle:Büter,Anke(2016):Gesundheits-undKrankheitsbegriffe–Wasistschonnormal?Blogeintragvom4.12.2016,onlineunter:https://www.philosophie.ch/philosophie/highlights/gesundheit/gesundheits-und-krankheitsbegriffe-was-ist-schon-normal,zuletztabgerufen:12.01.2019.

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M4Ist‚Behinderung‘einabwertenderAusdruck?JuliaLatscha(2017):LauthalslebenIndieserSzenesindJuliaundLotteaufeinemSpielplatz.»Washatsiedenn?«,fragteeinMädchenimrosafarbenenTüllkleid.»Wahrscheinlichärgertsiesich,weilsienichtweiß,wiesiesichbeschäftigensoll.«»Diesiehtaberkomischaus.«EinJungemitleuchtendrotenTurnschuhenstandneben3

mirundzeigteaufmeineTochter.»Kanndiegarnichtlaufen?«»Nein«,antworteteich.»LottehateineBehinderung«,schobichhinterherundweinte

nicht.6 »WasisteineBehinderung?«,fragtederJunge.Icherklärte,waspassiertwar,wasLottekonnteundwassienochnichtgelernthatte.

Odervielleichtauchnichtlernenwürde.9 »Dasistdochnichtschlimm.Dannsitztsiehaltrum«,sagtedasMädchen.»Sollichbei

ihrblieben?«,fragtesie.DannkannsiemirbeimSpielenzusehen.DasMädchenimTüll-kleid holte Eimer, Förmchen und eine Puppe. Neben Lottewurde gemanscht und ge-12 panscht.LottesKopfdrehtesichinteressiertzurSeite.DerJungemitdenrotenSchuheneiltezurückzuseinemVater.BeimRennenbrüllteer.»DasisteinKindmitBehinderung.«15 »Pst«,antwortetederVaterundlegtedieZeitungzurSeite.»Dassagtmannicht.«

Quelle:Latscha,Julia(2017):Lauthalsleben.VonLotte,demAndersseinundmeinerSuchenacheinergemein-samenWelt.München:Knaur,S.45.Aufgaben1. Überlege,warumderVateraufdemSpielplatzzuseinemSohnsagt„‚Pst‘[...],‚dassagt

mannicht‘.“ (Zeile16).Beziehe indeineÜberlegungenauchdenTextvonRebeccaMaskosunddieEinträgeausdemDuden(sieheunten)mitein.

2. HatderVatervomSpielplatzrecht?UmdeineAntwortenzubegründen,überlegedir,wasesproblematischmachenkönnte,von‚Behinderung‘zusprechen,undwannesunproblematischseinkönnte.

RebeccaMaskos(2011):„BistDubehindertoderwas?!“IndenletztenJahrenbinichberuflichbedingtvielZuggefahren,unddalerntmanjaim-merwiederfür‘sLeben.MittlerweilekommenLeutewieich,dieeinenRollstuhlbenutzen,jadankBarrierefreiheitsogarinRegionalzügerein–alsojeneZüge,diefrühernocheinen3 unbezwingbar steilen Einstieg hatten. Mittlerweile sitzt Rollifahrer_in im Regionalex-pressimFahrradabteil,gernezwischenSonntagsauflüglernoderGroßfamilienmitKin-derwagen.Neulich fand ichmich ineinerHordehalbwüchsigergrölenderFußballfans6 wieder,diezueinemAuswärtsspielvonHannover96nachBremenfuhren.Nachdemder

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ersteKasten„Herrenhäuser“aufExausgetrunken,dieBremerFansausgiebigals„stin-kend“gebrandmarktunddieanderenMitreisendenohneRollstuhlentnervtindieande-9 renAbteileabgewandertwaren,fingensieansichselbstzudissen.„EyAlter,Dubistdochtotalbehindert“,„EyDuSpast“,undsoweiter,undsofort.AmEndederFahrtbeschwerteichmichhalbimScherz,dass1.sieselbstganzschönstinkenwürden,2.siemalschön12 aufpassensollten,weilWerderBremenjanunmaleindeutigdasTeammitmehrKlasseseiund3.siedochmalaufhörensollten,sichinmeinerAnwesenheitständigals„behin-dert“zubeschimpfen.Einervonihnenschautemichentgeistert-aggressivanundsagte:15 „Ja,aberdassagtmanjetztso!DashatjanichtsmitIhnenzutun!“DasistamRandebemerkteinschönesBeispieldafür,wieSpracheirgendwanneinEi-

genlebenführenkann,wiesichKonnotationenwandelnundvonderursprünglichenBe-18 deutungimBewusstseinderSprechendenentfernenkönnen.Soistheutejaauchkaumnochpräsent,dassdasWort „Behinderung“ inderNachkriegszeit als euphemistischer„Umbrella-Term“populärwurde,fürallejeneverschiedenenBezeichnungenfürBeein-21 trächtigung,dievorallemdurchdieNazizeiteinenschlechtenBeigeschmackbekommenhatten.Gegenüber„schwachsinnig“,„Krüppel“oder„lahm“-seinwar„behindert-sein“fasteinKompliment.Dasistheuteanders.VieleLeuteentschuldigensichheutedafür,wenn24 sieeinenals„behindert“bezeichnen,obwohldochdieseBezeichnungrechtgutdieSitua-tionvonMenschenmitBeeinträchtigungenaufdenPunktbringt:Siewerdenbehindert,meistensvondenUmständen–z.B.vonnur„halber“BarrierefreiheitinZügen,diemirim27 RegionalexpressdieFluchtindieanderenAbteileverwehrte,oderdenEinstellungen,diemiralsbehinderterMenschgegenübertreten,z.B.inGestaltvonHannover96Fans.Worterklärungen:Z.19,dieKonnotation:dieNebenbedeutung,dieBegleitvorstellung;Z.21:euphemistisch:be-schönigend,verhüllend.Quelle:Maskos,Rebecca(2011):„Bistdubehindert,oderwas?!“Behinderung,AbleismundsouveräneBurger_innen.VortragimRahmenderRingvorlesung„JenseitsderGeschlechtergrenzen“derAGQueerStudiesundderRingvorlesung„BehinderungohneBehinderte!?PerspektivenderDisabilityStudies“,UniversitätHam-burg,14.12.2011,onlineunterhttp://bidok.uibk.ac.at/library/maskos-behindert.html,zuletztabgerufen:12.01.2019,S.1-2.EinträgeimDudenzudenWörtern‚behindert‘und‚Behinderung‘Duden(1993)‚behindert‘:„miteinem(körperlichenod.geistigen)Gebrechenbehaftet:ein-esKindhaben;Eristleichtb.Naund?AußerdemhaterdasausdemKrieg(Kemelman[Übers.],Dienstag8);dubistdochtotalb.!(salopp;verrückt!);“‚Behinderte‘:„miteinem(körperlichenod.geistigen)GebrechenbehaftetePerson:eingeis-tig-r;fürdie-nsorgen;AußerdemhabeerdasWortKrüppelalswertfreiesSynonymfürB.gebraucht(MM3.12.86,19);“‚Behinderung‘:„1.dasBehindern.2.etw.,wasjmdn.behindert;Handikap.“

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Duden(2015)‚behindert‘:„infolgeeinerkörperlichen,geistigenod.psychischenSchädigungbeeinträch-tigt:-eMenschen;körperlich,geistig,psychischb.sein.“‚Behinderte‘:„die/eineBehinderte;der/einerBehinderten,dieBehinderten/zweiBehin-derte(Amtspr.):behinderteweiblichePerson.“AnmerkungderDudenredaktion:„GelegentlichwirddasWortBehindertealszuunper-sönlichunddamitdiskriminierendkritisiert.AusweichformensindbehindertePerson,be-hinderterMensch,MenschmitBehinderungoderkörperlicheingeschränkterMensch.“‚Behinderter‘:„derBehinderte/einBehinderter;des/einesBehinderten,dieBehinderten/zweiBehinderte(Amtsspr.):behindertePerson:geistig,körperlich,psychischB.“AnmerkungderDudenredaktion:„GelegentlichwirddasWortBehinderteralszuunper-sönlichunddamitdiskriminierendkritisiert.AusweichformensindbehindertePerson,be-hinderterMensch,MenschmitBehinderungoderkörperlicheingeschränkterMensch.“‚Behinderung‘:„1.dasBehindern;dasBehindertwerden.2.etw.,wasjmdn.behindert.“

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