Wie sucht man die lösung mathematischer aufgaben?

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WIE SUCHT MAN DIE LOSUNG MATHEMATISCHER AUFGABEN ?

VON

G. PSLYA in Zfirich

ZUR EINF(JHRUNG

Bei dem Studiengang, der ncch heutzutage an einigen Univer- sit~iten iiblich ist, kann es vorkommen, dass ein Studierender der Mathematik mathematischCm Beweisen, auch schwierigeren, mit ziemlich gutem Verst~indnis tolgen kaun, ob=ue je einen Beweis selber gefunden zu haben. In dieser zwiesp~tl~en Lage ~ einige Erfahrung in der Rezeption, v611ige Unerfahrenheit in de - Pro- duktion matbematischer Beweise ~ muss einem, bei einiger Uberlegung, das Auffinde~n mathematischer Beweise als etwas Staunenswertes, Unbegreifliches oder nachgeradeals unheimlicb~ Hexenwerk erscheinen.

Die Uberlegung ist so: ,,Ein mathematischer Beweis besteht aus einer grossen . ~ . 1 von Einzelschliissen. Diese Schlfisse iiberbriicken, ununterbrochen aneinanderschliessend, die Spanne zwischen der Voraussetzung und der Behauptung. Enth~lt der Beweis nichts Uberfliissiges, so sind diese Schliisse so zusammen- gefiigt, dass bei Wegnahme eines einzigen Schlusses der Bewcis unvollsfiindig wird, zusammenstiirzt. Wie soll man nun ~ einen Beweis finden ? Sollen einem alle Schliisse auf einmal einfallen, ~11 man den Beweis als Ganzes, mit dem vollen Zusammenhang aller Einzelscidiisse auf einen Schlag erfinden ? Das ist nicht m6g- lich, das iibersteigt die menschliche Fassungskratt ] Sumit bliebe nur iibrig, die Schliisse einzeln, einen nach dem anderen zu erfin- den. Das scheint aber auch unausiiihrbar zu sein. Denn die SchEisse bflden nut in ihrer Gesamtheit eine tragf~ihige logische

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Schinsskette, nur wenn sie alle da sind und in richtiger Ordnung zusammengefiigt sind, haben sie einea sicheren logischen Halt.. Wenn ich nur einen Tell der Schltisse hal)e, kann ich ja nicht wissen, ob ich sie zu einer vollst~ndigen Schlusskette erg~nzen kann oder nicht0 ob es sich lohnt sie in der Erinnerung zu be- halten oder nicht, und so wiirde ich sie vergessen, die halbaufge- baute Schlusskette miisste haltlos zusammenstiirzen. Selbst wenn ein fast ung!anblicher Zufail so viel Schliisse mir in die Hand spielen wiirde dass nut ein einziger, letzter Schluss fehlt, k~nnte ich, da die ~_:ette doch nicht voilst~indig ist, nicht wissen, dass ich einen so wertvoilen Fund in der Hand habe, ich wiirde sie ver- gessen, und die nahezu fertige Schlusskette wiirde in Ermange- lung des letzten Sehlusses zusammenstiirzen."

So gelangen wit zum paradoxen Resoltat, dass man ohne Hexen keinen l~ngeren mathematischen Beweis linden kann. Nun kann man dutch eine sehr iihnliche l~berlegung zu dem wei- teren, nicht minder paradoxen Resultat gelangen, dass man ohne Hexen keinen Gew~lbebogen bauen kann.

Die Uberlegung ist so: ,Ein Gew61bebogen besteht aus einer grossen Anzald yon einzeinen, keilf6rmigen Gew~lbesteinen. Diese GewiSlbesteine iiberbriicken, ununterbrochen aneinander- schliessend, die Spanne zwischen den beiden iiussersten Stiitz- pnnkten. Die Gew~lbesteine sind so zusammengefiigt, dass bei Wegnahme eines einzigen Steines das Gew~lbe unvoilst~ndig wird, zusammenstiirzt. Wie soil town nun so einen Gew61bebogen errichten ? Soil man alle Gew~ibesteine auf einmal auf ihren Platz brJngen, soil may den Gew61bebogen als Ganzes, bei voilem Zu- sammenh~ng aller Steine mit einem Schlag aufsetzen ? Das ist nicht m6glich, das fibersteigt die menschliche Kraft ! Somit bliebe nut iibrig die Gew~lbesteine einzein, einen nach dem anderen, aufzusetzen. Das scheint abet auch unansfiihrbar zu sein. Denn die Steine des Gew01bebogens sind nut in ihr~r Gesamthdt trag- fiihig, nut wenn sie aile da sind und in richtiger Ordnung zusamo mengefiigt sind, k~nnen sie sich dutch Druck und Gegendruck gegenseitig halten. Wenn ich nut einen Tefl der Gewi~lbesteine auf ihre Pl~itze setze, fehlt auf irgend einer Seite irgend eines Steines der Gegendruck, und der halbaufgebante Gew61bebogen muss haltlos zusammenstiirzen. Selbst wenn ein fast unglaub- licher Zufall so viel Steine auf ihre Pl~tze legen wiirde, dass nut ein einziger, letzter Stein, der Schlussstein fehlt, so miisste der

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nahezu fertige Gew6lbebogen in Ermangelung des Schlusssteines z u s a m m e n s t i i r z e n " .

Diese 0berlegung mit dem Gew61bebogen hat ja eine gewisse St~rke; sie hat nur die Schw~iche, die Existenz des Geriistes z u ig- norieren, auf welchem die Gew61besteine eine provisorische ~us- sere St~itze finden, bevor der fertig erbaute Gew61bebogen im gegenseitigen Stiitzen seiner keilf6rmigen Steine inneren Halt gewinnt. Auch die ana]oge subtilere 13berlegung mit dem mathe- matischen Beweis verbindet Stiirke mit Schwi~che, verbindet einen gewissen Scharfsinn im Verstehen mit Unerfahrenheit im Finden mathematischer Beweise: Sie ignoriert die Existenz pro- visorischer ausserlogischer Stiitzen, mit deren Hilfe sich Teile des Beweises ausbilden k6nnen, bevor der fertig aufgesteIlte Beweis in rein logischer Verbindung aUer Einzelschlfisse inneren Halt ge- winnt.

Ein schwieriger mathematischer Beweis im vollen Zusammen- hange seiner kunstvoll verschrXnkten zahlrelchen Einzelheiten mag dem Kopfe eines mythologischen Gottes fertig entspringen w wie die Athene in voller Riistung dem Kopfe des Zeus ent- sprang - - aber gew~ihnliche Sterbliche bringen so ein Kunststiick nicht fertig. Im Kopfe gew6hnlicher Sterblicher entsteht ein schwieriger mathematischer Beweis nach und nach, als Resultat von stunden-, wochen- oder jahrelangem Streben, einige Vorkennt- nisse, die im endgiiltigen Beweis Verwendung finden, sind schon lange vorher aufgefrischt und parat gestellt worden, ebenso wie manche andere, wohl viel zahlreichere Vorkenntnisse, die, ob- zwar ebenfalls aufgeirischt und parat gesteUt, im endgtiltigen Be- weis keine Verwendung linden konnten; einige Schliisse, die im endgiiltigen Beweis benutzt sind, sind schon vorher gebildet wor- den, ebenso wie manche andere, die darin nicht benutzt werden konnten; einige Schlussketten, die dem endgfiltigen Beweis ein- verleibt sind, sind schon vorher zusammengefitgt worden, ebenso wie manche andere, die in den endgfiltigen Beweis nicht aufge- nommen werden konnten und in Vergessenheit gera'ten sind. Der endgiiltige Beweis ist logiseh gesichert, aber die Bestandteile, die zum Zweck der Aufnahme in den endgfiltigen Beweis vorher ge- bildet worden sind, sind eben nur versuchsweise gebildet, sie sind

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logisch nicht gesichert, und ihr Schicksal, ob sie beniitzt werden k6nnen oder nicht, bleibt ungewiss bis zum Augenblick, in dem der volle Zusammenhang erkannt und der Beweis fertig ist; bis zum letzten Moment vor Beweisschinss droht ]edem gemachten Fund die Gefahr, ungebrancht beiseitegeschoben in die Ver- gessenheit zuriickzusinken.

Woher nehmtn wir dann iiberhaupt den Mut, Bestandteile des Beweises bere~_t zu stellen, im voraus zu bilden ? Wir miissen uns wohl zur Bildung des Beweises einer Art yon Geriist bedienen: wenn keine endgiiltige, innere, logische $ichemng da ist, so be- diirien die Bewe~teile zu ihrer Ausbildung mindestens einer provisorischen, ausserologischen Sicherung. Was ist die Natur die- set ~rovisorischen Sicherung?

Hiemit sind wir auf eine wesentliehe Teilfrage vola der Haupt- frage dies~:r Betraehtungen gestossen: Wie sucht man die LOsung mathematischer Au/gaben?

Wie sucht man die LSsung mathematischer Auigaben? Wie sucht man in verniinftiger, zweckm~ssiger Weise die LO-

sung bestimmter mathematischer Aufgaben ? Gibt es Grille, Wendungen, Verfahren oder Verhaltungsmass-

regeln, welche beim L~sen mathematischer Aufgaben -in typischer Weise iSrderlich sind ?

Worin besteht der Vorteil des im AufgabenlSsen Geschickten dem Ungeschickten gegeniiber ? In Anwendung gewisser zweck- m~siger Verfahren ? Im Vorhandensein gewisser zweckm~ssiger Einstellungen ?

Die erste Frage wird durch die zweite etwas pr~izisiert und durch die beiden letzten nicht bloss priizisiert sondern auch ein wenig pr~judiziert. Abet keine der vier Fragen ist sehr priizis, ins- besondere haben sie weitaus nicht die Priizision einer bestimmten mathematischen oder experimentell-physikalischen Aufgabe.

Es w~re auch unbiUig und unverniinitig, auf die autgeworienen Fragen zu pr[izise Antworten zu erwarten, etwa Antworten yon mathematischer Pr~zision. Datum ist noch nicht yon vornherein ausgeschlossen, dass die auigeworfenen Fragen sich in verniinf- tiger Weise diskutieren lassen; nut das ist yon vornherein klar, dass sie sich nicht anI derse~ben Ebene, ni6nt in derselben Tonaxt

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diskutieren ]assen, wie eine Aufgabe der Mathematik oder der Experimentalphysik.

Auf alle F~le haben die vier eben ausgesprochenen Fragen einen ziemlich bestimmten $inn und aUe vier unge/~hr denselben $inn, der im Verlaui der nachfolgenden Besprechungen sich wohl noch kl~ren wird. Aber schon yon vornherein kann man den Sinn ziemlich richtig erfassen, wenn man sich einen Weg vorh~It, auf welchem man nati~rlicherweise zu solchen Fragen gelangt. Vor- her [I-2] wurde so ein Weg in etwas pointierter Weise geschildert: der (ziemlich typische) Weg eines Studierenden, dem das Ver- stehen yon Beweisen schon einigermassen gelungen ist, der aber im Auliinden yon Beweisen noch keine Erfahrung hat. Man kommt jedoch, wenn die geeignete Intere~enrichtung da ist, bei jeder Art eingehender Besch~Itigung mit Mathematik, bei der Aufnahme, bei der Erzeugung oder bei der DarsteUung mathema- tischer Gedankeng~nge, immer zu verwandten Fragen. Der an- gehende Mathematiker, dessen heisses Bemiihen ist, die eigene Routine zu vervollkommnen,und der Mat]: ~m atiklehrer, der seinen Schfilem die richtige EinsteUung zu mathematischen Aufgaben zu vermitteln sucht, beide kommen ganz natfidich, ganz yon selbst dazu, sich Fragen vorzulegen, die den autgeworfenen ~ ehr iihnlich sind. Z.B. ist es beim Riickblick aul eine nach l/ingere~ r'e- miihung endlich gelungene L~sung natiirlich sich zu fragen: Was hat schliesslich geholfen ? Worin bestand eigentlich die niitzliche, die i/Srderliche Wendung ? Wer diese Frage ~fters gestellt hat, der kommt ganz natiirlich zu der weiteren Frage: Welche sind die typischen ffrderlichen Wendungen ? - - und genau dies wird hier gefragt.

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Ich glaube (ich wiirde es abet nicht mit ungebiihrender Zuver- sicht yon vornherein behaupten), dass die gewissenhafte Verfol- gung der anfgeworfenen Fragen einen gewissen praktischen Nutzen bringen kfinnte, insoferne als die zu gewinnenden psychologischen und logischen Einsichten die Auifindung, das Verstiindnis und den Unterricht yon mathematischen Dingen iiJrdern k~nnten. Mit verh~iltnism~issig grosset Zuversicht k~imte ich dies schon heute yon dem Unterricht behaupten: Es wird ziemlich viel Er-

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folg haben derjenige Lehrer der Mathematik, der bei E r ~ n g einer L~sung durch Sein Verhalten, dutch die richtige Disposition des Stoffes, dutch gelegentlichc Zwisehenbemerkungen seine Schiiler es durchblicken l~isst, wie man drau/gekomnzen ist oder (wold besser I) wie man hdtte drau]/~ommen k6nnen. Solches Durch- blickenlassen des Erfindungsweges, solche ktinstler~che Darstel- lung m~glicher, aatiirlich scheinender Erfindungswege ist wold keinem mathematischen Autor besser gehngen als Eu/er, dessen Schriften gerade dadureh einen eigentiimlichen Reiz (und auch eine gewisse Breite) erhalten, dass nicht nur die L~sung der je- weils behandelten Aufgabe dargesteUt wird, sondem auch der Weg, auf dem die L~sung gesucht wurde (oder h~itte gesucht werden k~nnen).

Ich glaube mit einiger Zuversicht behaupten zu kSnnen: Et- was psychologische und logische Einsicht in den Prozess der Auf- gabenl6sung kann nicht nut einem genialen Lehrer, wie Eul~r, sondern auch einem bloss gew6hnlich gutbegabten Lehrer zu gute kommen und ihn dazu befghigen, seine Schiller erheblich mehr zu interessieren und mehr zu i6rdern, als er sie intere~fieren und fSrdern k6nnte ohne bewusst vorbereitetes Durchblicken- lassen des Erfindungsweges. Einigermassen ~mliche Vorteile, wie fiir den Unterricht, bin ich genei~ zu erwarten auch fi]r die Produktion und die Rezeption mathematischer Dinge vonder Verfolgung der Frage: ,,Wie sucht man die L~sung mathemati- scher Aufgaben ?" Sclbst wenn diese Erwartungen sich al~; t~iu- schend erweisen sollten, machen sie auf alle F~lle die ~Lusge- sprochene Frage verst~ndlieher.

Aus lang~ihriger Besch~titigung mit der aufgeworfenen Frage glaube ich mindestens einen stabilen Eindruck gewonnen zu haben: Der LSsungsvorgang ist ~usserordentlich vielseitig, jedes Einspannen in einen im voraus gegebenen Rahmen, jedes Durch- zwingen eines vorgefassten Gesichtspunktes l~sst Jim als ver- stiimmelt ersctxeinen.

Ich versuche in den beiden folgenden Abschnitten den L~sungs- vorgang yon zwei recht verschiedenen Seiten zu eriassen.

Erstens bespreche ich, ganz beim Allgemeinen verbleibend, einige psychologische Aspekte des L~sungsvorganges; diese

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Aspekte sind ja wohl sUe schon erw~/hnt worden und einig¢ ge- h6ren zum klassischsten Inven ta r der Psychologie; ich m6chte abet bestehen auf einige Nuancen der Besprechung und insbe- sondere auf die geordnete Beziehung dieser Aspekte auf :lie hier behandelte Frage.

Zweitens versuche ich, zu einem ganz konkreten Beispie] hin- absteigend, die Vielseitigkeit des L6sungsvorgangs vor die Augen zu fiihren; ich bediene mich dabei einer besonderen DarsteUungs- weis¢ i). Es ist yon vornherein friar, dass das spezieUe Beispiel, das die Mannigfaltigkeit der Vorg~nge einigermassen voUstiindig vor- demonstrieren soll, ein konstruiertes Beispiel sein muss. Ich glau- be aU~rdings, dass sowohl die Einzelheiten wie der Gesamtverlauf des a ls Beispiel gew~flten Vorgangs auf Grund ziemlich unbe- fangener und zutreffender Beobachtungen beschrieben sind; sollte ich mich aber auch hierin tAuschen, so k6nnte das kon- struierte Beispiel seine Aufgabe doch erf/illen, indem es uns un- terscheiden und in ihrem Zusammenwirken iibersehen liisst verschiedene Seiten des LOsungsvorganges, die eine niihere Un- tersuchung zu verdienen scheinen.

Einen besonderen Reiz, abe t auch eine besondere Schwierig- keit der Fragestel lung bildet das Zusammenbestehen psycholo- gischer und logischer Gesichtspunkte. Niiheres hiertiber hoffe ich bei spiiterer Gelegenheit zu sagen 2).

I. VORL~/,UFIGE BESCHREIBUNG EINIGER PSYCHOLOGISCHER ASPEKTE

Die meisten Worte der Umgangsprache haben eine etwas un- best/indige, verschiebbare Bedeutung. Wir bemerken es gew6hn- lich nicht, denn wir sind natiirlich auf das Auszudriickende und nicht auf das Ausdrucksmit tel gerichtet . Wir bemerken es aber hie und da ; wir bemerken es erheitert , wenn zwei Bedeutungen

t) Diese Darstellung habe ich, ht einer weniger durchgearbeiteten Form, schon in einem in 1917 gehaltenen Vortrag vorgeschlagen: Geometrische Darstellung einer Ge- dankenkette, abgedruckt in der Schweiz. P~dagog. Zeitschrift. 1919, Heft 2.

2) Erste Andeutungen (yon denen ich heute in einigen Ptmktcn abrticken muss) fiaden sich hier0ber in elnem mi~. der gegenw~Irtigen Arbeit gleichbetitelten Vortrag, Zeitschrlft ft~ mathemat, u. nattu'wissemsch. Unterricht, Bd. 63 (1932) S. 159-169.

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desselben Wortes witzig gegen~'ibergestellt werden, wit bemerken es mit Arger, wenn jemand dutch Verschiebung der W0rtbedeu- tung uns zu hintergehen sucht.

Es gibt natiirlich verschiedene Grade in der Verschiebbarkeit der Wortbedeutung; die extremen Gegens~tze bieten die mathe- matische und die poetis~h~ ~prache dar. Die Fachausdriicke eines mathcmatischen Cvebietes, wie ,,Kreis" oder ,Addition", haben eine ganz .~tabile Bedeutung, welche dutch eine Definition unverriickba~ .'estgelegt, in der Anschauung verankert und durch den umgebenden Text nicht zu modifizieren ist. In der poetischen Sprache sind die Wortbedeutungen besonders unstabil; es werden dnrch die Verflechtung ins G~nze Nebenbedeutungen betont, es werden serene Bedeutungen hervorgekehrt und dies kann, wenn auch nicht in Werken ersten Ranges, soweit gehen, dass es in ein geziertes Spiel mit ausgefallenenWortbedeutungen ausartet. Der Gegensatz ~ussert sich wohl am folgenden Umstand am sch~irf- Sten: Wenn man einen Satz in einem mathematischen Text nicht versteht, so kann man die Bestandteile des Satzes, den einen nach dem andem hervomehmen, priifen und dutch die genaue Erw~igung der Bestandteile zum Verst~indnis des ganzen Satzes hinaufsteigen. Auch kann das Verst~indnis eines schon im gros- senoganzen verstandenen Satzes durch genaue Prtifung der eino zehuen Bestandteile wesentlich gei6rdert werden. Die genaue Prtio fung der einzehuen Bestandteile k6uute uns das sch6nste Gedicht verderben und der Aufstieg durch das genaue Erw~igen der Ein- ze~eiten zum Verst~indnis e in~ poetischen Ganzen ist wohl kaum m6glich.

Die Physik steht der Mathematik in der Festigkeit der Termi- nologie noch ziemlich nahe; wenn wir aber yon der Physik zur Chemie, und dann weiter zu den beschreibenden Naturwissen- schaften tibergehen, nimmt die Bestirrumtheit der Terminologie zusehends ab, und wenn wit schliesslich zur Psychologie gelangen, erreichen wir fast den Gegenpol der mathematischen0 die poeti- sche Ausdrucksweise. Starre Terminologien sind in der Psycho- logie, wie mir scheint, nicht unbedJngt giinstig. M6glicherweise steht die Sache so, dass eine starre psychologische Terminologie nicht bJoss schwierig aufzubauen, sondem iiberhanpt unerwiinscht ist, und dass eine etwas vorsichtige, etwas gehobene Umgangspra- che da~ richtige Mittel der Darstellung in der Psychologie ist.

Ich versuche in diesem Abschnitt einige psychische T~tigkei-

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ten, die bei der L6sung mathematiseher Aufgaben eine Rolle spie- len, in vorl/iufiger, mehr literaxiseher Weise zu besehreiben. Ich binde mieh an keine fibliehe Terminologie (wenn ich aueh meine Sympathie ffir gewisse Temlinologien nieht verberge) und er- strebe wold eine gewisse Eindr~ieMiehkeit der Spraehe, nicht aber eine pseudogenaue Pseudowi.~ensehaftliehkeit.

Ieh bitte Mathematiker utid Nichtmathematiker wohl zu be- aehten den ausgepr~igten Un~:ersehied zwischen mathematischen und niehtmathematischen Formulierungen: Die Festigkeit in der Bedeutung der Bestandteile, die Bestimmtheit in der Zusam- menfiigung des Ganzen ist in beiden F~llen ganz verschieden. Daher ist es verniinftig maxhematisehe, und es ist nieht vernfinf- tig niehtmathematische Formulierungen pedantisch in Bestand- teile zu zerpfltieken.

Die Notwendigkeit Vorkenntnisse heranzuziehen. Der Kriminal- beamte, der die Aufgabe erhiilt ein Verbrechen oder einen Un- glfieksfall aufzukl/iren, muss unbedingt den Tatbestand aufneh- men, die Spuren untersuehen, Zeugen ~. ;fragen; er verwendet zwar allerlei Vorkenntnisse, w elche einem beliebigen Laien nicht zur Verfiigung stehen, aber er kann sich unmiiglieh bloss auf seine Vorkenntnisse verlassen. Ein Physiker kann eine Aufgabe seiner Wissenschaft in gewissen F~illen bloss auf Grand seiner Vorkennt- nisse liisen; in anderen F~illen geniigen ihm seine Vorkenntnisse nieht, er muss neue Erfahrungen zu Rate ziehen, Experimente maehen, die Natur befragen. Einem Mathematiker geniigen zur Beantwortung seiner Fragen seine Vorkenntnisse; zur LSsung seiner Aufgaben muss er keine neuen Erfahrungen zu Rate zie- hen, es genfigt ihm grtmds/itzlich nur sich selber zu befragen.

Um seine Aufgabe zu 15sen, kombiniert der Kriminalbeamte seine Vorkenntnisse mit neuen Erfahrungen, die er eigens zum Zwecke der Liisung sammelt. Der Physiker rut machmal ebenso, manehmal geniigt ihm aber znr L6sur, g bloss seine Vorkenntnisse miteinander zu kombinieren. Dem Mathe~atiker'genfigt grund- s~itzlieh die Kombination seiner Vorkenntnisse. Man kann in gewissen F~iJlen, sehen wit hieraus, neue Aufgaben 16sen ohne neue Erfahrungen heranzuziehen; man kann jedoch keinerlei Aufgabe ltisen ohne Vorkenntnisse heranzuziehen.

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Wie auch die AufgaL'e beschaffen sei, die uns vorgelegt ist (sie kann eine mathematische oder eine nicht-mathematische, eine le- benswichtige oder eine spielerische, eine natiirlich sich ergebende oder eine kfinstlich erfundene Aufgabe sein) und wie wenig wit auch yon der aufz,xsu~'henden L~sung im voraus wissen m~gen, Eins ist sicher: Wir gerden bei tier L~sung (wenn sie uns iiber- haupt gelingt) Kennl~isse gebrauchen, die wit schon vor d~ ~ Stel- lung der Au[gabe .~orben haben. Die Vorkenntnisse, durch deren Heranziehung 1ms gelingen wird, die Aufgabe zu bew~iltigen, k6nnen natiirlich sehr verschiedenartig sein, aber irgendwelche miissen vorhanden sein: Eine Aufgabe, wozu w~x keinerlei Vor- kenntnisse mitbringen, k6nnten wir nicht lOsen, wir k~nnten sie ja nicht einmal verstehen.

Es handelt sich also darum, aus dem Vorrat unserer Vorkennt- nisse diejenigen zu mobilisieren, welche zur I~sung der vorgeleg- ten Aufgabe niitzlich sind. Den Vorrat unserer Vorkenntnisse nennen wit unser Ged/ichtnis, und unser Gecl~chtnis ist sozusa- gen die Schlafstiitte unserer Erinnerungen: Unabsehbar viele ,con ihnen ruben so gut wie voHkommen in dieser Schlafst~tte; nut wenige sind dem Erwachen nahe; und nut ganz wenige, eine oder zwei, sind vollkommen wach. Wenn wit nicht ganz besonderes Gliick haben, werden d/e meisten Erinnerungen, yon welchen die L~sung der vorgelegten Aufgabe abh/ingt, sich unter den tier schlafenden befinden. W ie sollen wir sie in der unabsehbaren Menge linden ? Wie sollen wit sie wecken ?

Anregung yon Gedankenldufen dutch die Au/gabe. Jeder0 der eine ihn wirklich nahe angehende Aufgabe zu 16sen und zur I.~- sung geniigend Zeit hat, wird sich die Aufgabe wieder und wieder vorhalten, vorstellen, intensiv vergegenw~rtigen. Was niitzt ibm das ?

Die Besch~iRigung mit der Aufgabe weckt mit ihr in Bezie- hung stehende Erinnerungen, diese wecken weitere, ihnen verbun- den~ Erinnerungen, diese wieder weitere, ihnen verbundene u.s.w. Es I~'~R eine Erregung durch die Schlafst~tte der Erinnerungen, jede erweckte Erinnerung weckt, bevor sie wieder in Schlaf zu- riicksinkt, einige ihrer Nachbarn, diese weitere Nachbam u.s.w. Diese yon der vorgelegten Aufgabe ausgehende Erregung kann

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Erfolg haben, indem sie schliesslich diejenigen Erinnerungen er- reicht, welche zur l.~sung der Aufgabe notwendig sind. In der Hoffnung auf solchen Erfolg nehmen wit uns die Aufgabe immer wieder v o r u n d folgen dem Lauf der angeregten Gedanken.

Die yon der Aufgabe ausgehende Erregung kann abet auch er- gebnislos verlanfen, in~L~m sie sich mfide l~uft und zum Stillstand kommt ohne die ffir die LSsung wichtigen Erinnerungen zu er- reichen. Wenn wit yon jedem Gedanken zu dem n~ichsten rein zu- f~llig iibergehen wfirden, h~tten wir offenbar so gut wie nie Er- folg; die aufzuweckenden Erinnerungen stecken j a in einer unab- sehbaren Menge. Wiinsehen wir, dass uns die L6sung wohl gerate, so k6nnen wir nieht ganz aTds Geratewohl yon Gedanken zu Ge- danken schreiten. Wir miissen, um zum Ziel zu kommen, in ir- ger~deinem Sinne ,w~hhlerisch" Gedanken an Gedanken reihen.

Sieh mit sehon angeregten Gedanken beseh~ftigen ist ein Mittel weitere Geflanken anzuregen, und es ist anch das ein- zige uns zu Gebote stehende Mittel. Wie kann man dieses einzige Mittel zur Erreiehung der L6sung zweckm~sig handhaben ?

Bevor .vir anf diese Frage, die natiirlieh unsere Hauptfrage ist, n/iher eintreten, miissen wir einige allgemeine Zfige des Gedan- kenveflaufs zu erfassen suchen.

Erg~mung yon Erinnerungen. Jede Erinnerung war einmal Bestandteil eines Erlebnisses. Wenn die Erinnerung zuriick- komml, hat sie die Tendcnz sich mit den: ganzen Erlebnis, mit don sic ehonals umgeben ¢var, wiederumzugeben. Z.B. f/tilt mir eine vor langer Zeit verschoUene Photographie eines Jugendfreundes pliJtzlich in die Hand: Die l~ngst nicht mehr gesehenen Zii~ge um- geben sich mit lgngst nicht mehr erinnerten Situationen, yon welchen sie dazumal, vor vielen Jahren, umgeben waren. Wenn ich die Photographie Image betrachte, kommt mir viellelcht ein l~ingst nieht mehr gesprochenes Wort auf die Zunge, oder ich ertappe reich dabei, da~s ich eine lgngst nicht mehr gebranchte Geste ausfiihre. Es tanchen in mir Situationen, Worte und Gesten auf, es kommt mir allerlei zuriick, was zu denselben lgngst ver- gangenen Erlebnissen geh6rte, wie das Gesicht an der wiederge- fundenen Photographie.

Die beschriebene Erggnzung von Erinnerungen dutch Erin-

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nerungen wird von vielen als die einiachste, grundlegendste psy- chologische T~itigkeit angesehen. Ublicherweise spricht man von der .Assoziation der Vorstell'angen"; der Ausdruck .Erghnzung von Erinerangen dutch Erinnerungen" gef~llt mir ewas besser. (Ich sehe allerdings meine Vorliebe fiir dieseu Ausdruck noch nicht als eine ,,Theorie" an.)

Man k6nnte sich auch so ausdr~cken: Zur/ickgeruiene Erinne- rungen haben die Tendenz ihre ehemafigen Umgebungen mitzu- riickzurufen. Aber in jeder zutreffenden Fassung muss entweder der Ausdruck ,,Tendenz" oder etwas gleichwertiges vorkommen: Denn ob die i"endenz obsiegt, ob es zu einem Zuriickrufen ver- bundener Vorstellungen kommt oder nicht, ist noth sehr frag- lich, h~ingt noch von mancherlei ab. In einer gegebenen psychi- schen Situation sind mehrere Tendenzen vorhanden, und auf jede Tendenz, die sich Geltung verschafft, entfatlen unabsehbar sriele, welche nicht zur Geltung kommen. Die eben erwiihnte Photogra- phie ist mir in die H/inde gefalhn, als ich in einem Haufen alter Papiere ohne besondere Absicht sti~berte. Manche alte Sclnift- stiicke, Rechnungen, Bride, geugnisse, weiss nicht was, sind mir durch die H/inde gegangen, ohne besonderen Eindruck auf mich zu machen. Sicherlich habe ich Alles, was ich in den H~inden hielt und erblickte, schon vorher einmal in den H/inden gehalten und erblickt, jedes Stiick war ein BruchstiJck ,con ehemals Erlebtem, aber Alles zog grau und unauffgllig an mir vorbei, so und so viele ehemalige Erlebnisse sind kaum nennenswert zur Geltung gekom- men, bis aus dem allt~glich grauen Vorbeifiiessen die Photogra- phie rnir entgegerdeuchtete und ein altes Erlebnis, ,-]as sie ehemals umgab, sich durchschlagende Geltung verschaffte, so dass es mich fiir den Augenblick ganz erfiillte.

Welche Tendenz sich Geltung vers~haffen, nach welcher Rich- tung das augenblicklich Erlebte durch ehemals Erlebtes sich er- ggnzen wird, muss wohl v o n d e r psychischen Gesamtsituation abh/ingen. Hieriiber Nfiheres zu sagen ist schwierig und geh6rt auch nicht hieher, nur folgende typische Erscheinung hat fiir un- ser Thema ein gewisses Interesse: Wenn mehrere Tendenzen in demselben Sinne wirken, wenn dieselbe Erinnerung dutch verschie- dene, in kurzen Abstfinden aufeinander folgende Bewusstseinsin- halte zur Erg/inzung herangerufen wird, wenn sie durch mehrere F~iden, Yon mehreren Anhaltspunkten her in den Gedankenverlauf hineingezogen, ,con mehreren Seiten her angeregt wird, so hat sie

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mehr Chancen in das Bewusstsein hinaufgef6rdert zu werden. M6glicherweise geschah es mit der Erinnerung um die Photogra- phie herum auch in dieser typischen Weise: In den Papieren, die ich vorher gew~ilzt, war vielleicht schon mancherlei, was aui diese Erinnerung hinzielte, sie leicht berifi.rte, unauff~illig anregte, eine ihr gfinstige Stimmung erzeugte, bis die Erinnerung bei einer letzten Anregung durch die Photographie ins Bewusstsein brach und es yoU erffiUte.

Streben. Die eben erw~hnte Photographie ist mir in die H~nde gefallen, als ich in einem Haufen alter Papiere ohne besondere Absicht st6berte. W~ire sie mir bei aufregendem Suchen nach einem vermissten Dokument unter die Hfinde gekommen, so h[itte die den Ziigen des Freundes innewohnende Tendenz sieh kaum Geltung verschaffen k6nnen und es wfixe nicht zu dem vor- her beschriebenen poetischen Wiederaufleben meiner Jugendzeit gekommen. Beim aufregenden Suchen hat ein Wunsch, ein un- geduldiges Verlangen in den Gedankenlauf eingegriffen und !iess eine Erinnerung, die zum gewfinschten Gegenstand keine Be- ziehung hatte, nicht aufkommen. Im Reiche tler Gedanken ist der Wunsch der K6nig. Sein Herrschen z~:~ sich darin, dass Er- innerungen, die auf einen bestimmten, nfimlich auf den gewiinsch- ten Gegenstand bezug nehmen, leicht aufkommen, und andere zurtiekgedr~ngt werden.

Alles, was ,Verlangen" in irgend einer Schattierung ist: WoUen und Streben, Suchen und Meiden, Absichten und Sorgen, unge- stiUte Wiinsche und ungel6ste Aufgaben, all dies geh6rt zum ,Strebenden in uns". Das Strebende in uns ist das Best~ndige in uns. Wfihrend Eindrficke und Erinnerungen unablfissig wech- seln, bewahrt das Streben eine gewisse Kontinuit~it. Das Streben ist gewissermassen cler Grund und Boden unserer Erlebnisse. W[ihrend fiber einem bestimmten Stiick yon Erdboden im Ver- lauf der Tages- und Jahreszeiten, der Jahrzehnte und Jahrtau- sende ein unabl~issiges Aufblfihen und Verwelken, Kommen und Gehen, Entstehn und Vergehn sich abspielt, bleibt der Boden in einigen Metern Tiefe so gut wie unver~ndert; und ~hnlicherweise bleiben unsere tieferen Absichten so gut wie unverfindert, wfihrend unsere Eindrficke, Erinnerungen und Stimmungen in einem Spiel

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yon unabsehbarer Mannigfaltigkeit unablgssig wechseln. Mit einem etwas verschiedenen Bride k~rmte man es so sagen: Ein- drticke, Erinnerungen und Stimmunge~L briden das eigentlich fliessende, bewegliche Element irn Flu:,se unserer Erlebnisse, wii~end das Streben dem sehr viel Iangsmner sich veriindernden Flussbett vergleichbar ist, woriiber das bewegliche Element un- ablgssig hinweggleitet.

Ungel6ste Aufgaben geh6ren auch zum Strebenden in uns. Sie bilden sozusagen die einzelnen Steine des Geschiebes, das das Strombett fiillt, worin unsere Erlebnisse fliessen. Das einzelne Problem wie der einzelne Stein bleibt verh/iltm~ssig lange liegen, im $ande vergraben oder zwischen seinesgleicben eingekeilt; es wird im Laufe der Zeit nach und nach etwa~ abgedeckt, es er- zittert hin und wieder im Strom des beweglichen Elementes, bis es einmal durch die Str6mung von einer zuggnglichen Seite her gefasst, mit pl6tzlichem Auftrieb 5ehoben und weitergeroUt wird, und ein anderes Problem oder Stein selden leer gewordenen Platz fiillt.

Aufgaben, die nicht unmittelbar aus unst,'en stgndigen Be- diirfnissen hervorgehen, insbesondere mathematische Aufgaben, miissen zuerst a/s Au/gabe au/gesteIR, zum Ziel erkoren, zurn Tell -.mseres Strebens erhoben werden. Erst wenn wir die Aufgabe ernstlich anfsteUen, die I./Ssung ernstlich erstreben, f ingt die Auf- gabe zu ,,wirken'" an. Ihr Wirken zeigt sich dar/n, dass Erinne- rungen, die auf die Aufg~be bezug nehmen, leicht aufkommen, und andere zuriickgedrgngt werden. Eine ernstlich erstrebte Auf- gabe gehiSrt zum Bestgndigen in uns: Wenn wir sie haben, dann hat sie uns, wenn wir sie nicht verfolgen, darm verfolgt sie uns, und wir werden sie nicht los, bis wir sie liSsen.

Verweilen. Sozusagen aUes Erinnerte war an mehreren ver- schiedenen vergangenen Erlebnissen beteriigt. Daher kann jede Erinnerung sich auf mehrere verschiedene Arten erg/inzen. Wenn ich das Wort ,,Caesar" hiSre, wird mir der Rubicon einiallen, oder der pathetische AppeU an seinen ,,Sohn Brutus", oder eine lang- weilige Lateinstunde, oder ein dicker schwarzer Kater, der Fisch- reste besonders sch/itzte und C~ar hiess.

Wenn ich lange bei einer und derselben VorsteUung verweile,

WIE SUCHT MAI~ DIE LOSUNG MATHEMATISCHER AUFGABEN 127

werden mehrere damit verbundene Erinnerungstendenzen sich nach und nach Geltung verschatfen k6nnen. Wenn ich das Wort .Cgsar" aufschreibe, vor reich hinlege, und Image betrachte. werden sich ausser den eben erwghnten Erinnerungen noch vide andere melden; wenn ich lange mit dem Bild meines Jugend- freundes in der Hand dasitze, werden in mir nach und nach manche verschiedene Szenen meiner Jugendzeit wach.

Von diesem sukzessiven Erwecken mehrerer ve~bundenev Vor- stellungen bei anhsltender Betrachtung macht jede Technik der AufgaberdiSsung, auch die primitivste, Gebrauch. Man vergegen- wiirtigt sich die Aufgabe, man legt sie sich vor, man verweilt da- bei und achtet auf die (dutch die Aufgabe veranlassten) Reak- tionen des Gedgchtnisses, bis ein Gedanke sich zeigt, der flit die L6sung f6rderlich zu sein scheint. Dann nimmt man sich diesen, F6rderung versprechenden Gedanken vor, man konzentriert sich darauf, man beharrt bei seiner Betrachtung, bis ein weiterer Gedanke anschliessend einf/illt, der ebenfaUs ii/r die LiSsung ftir- derlich zu sein scheint. Und so geht es ,.eiter, indem wit an jeder erreichten Station des Gedankenweges so lange verweilen, so lange die auftauchenden Gedanken mustern, bis einer Erfolg ver- spricht und uns zum Weitergehen in seiner Richtung aaffordert.

Sch~tzung. Wieso kann ein Gedanke Erfolg versprechen? Und wie k6nnen wit seinem Versprechen trauen ? Wie k6nnen wir im voraus wissen, dass ein Gedanke fiir die L6sung f6rder- lich sein wird ?

Dass ein Gedanke Kir die L6sung f6rderlich war, k6nnen wir hinterher wohl wissen. Wenn der Gedankengang abgeschlossen und his zur LiSsung gediehen ist, ki~nnen wir, an dessen Ende ste- hend, zuriickschauen und mit Sicherheit feststellen, ob der Ge- dankengang durch einen gewissen Gedanken, dutch einen gewis- sen Punkt hindurchgegangen ist oder nicht. Wenn aber der Ge- dankengang noch nicht abgeschlossen, nur bis zu einem gewissen Zwischenpunkt gediehen ist, und wir an di,~sem Zwischenpunkt stehend vo :ausschauen wollen, ob der Gedankengang durch einen weiteren Punkt hindurch mit Erfolg geiiihrt, d.h. bis zur L6sung gefiihrt werden kazan oder nicht ~ dann kann yon Sicherheit meines Erachtens keine Rede sein: Wir k6nnen h6chstens ver-

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m ~ n , mehr oder weniger stark vermuten, dass die Fiihrung des Gedankenganges dutch den iraglichen Punkt hindurch Erfolg haben wird.

Sicher ist der Erfolg nur dann, wenu e r d a ist; wenn er noch nicht da ist, ist er h6chstens wahrscheinlich. Sicherheit k6nnen wit hier nicht erreichen, wit brauchen sie auch gar nicht; was wit brauchen und erreichen k~nnen, ist die Aussich~n eincs zu unternehn~nden Schrittes, noch bevor wit ihn unternehmen, zu schdtzen.

Das eben Ausgesproehene ist so wichtig, da~s ich nieht unter- lassen kann, es dureh Beruiung aut Gel~ufiges zu belegen.

Der Leser hat sieher sehon vieliaeh die Iolgende Situation er- lebt: Man erinnert sieh mit Bestimmtheit an eine Person, man er- inne~ sieh aueh, den Namen der Person gewuss~ zu haben, man kann sieh aber nieht erinnern, wie der Name l~tutete. In dieser Situation pflegt man h~iulig zu seh~itzen, mit we~,ehen Aussiehten man es unternehmen ki~nnte, den entiallenen Namen sieh zu.. riiekzurufen. Es gibt eine Menge yon gel~ufigen Wendungen, die niehts anderes ausdriieken, als eine Seh~itzun~ der dabei zu er- wartenden Sehwierigkeit:

,,Es w ~ e mir jetzt nieht m~glieh, mieh daran zu erinnern." ,,Es fiele mir sehwer, reich daran zu erinnern." ,,Der Name liegt mir anf der Zunge." ,,Es krabbelt mir der verwiinsehte Name im Kopi herum." Mir seheint unzweifelhaft, dass diese und ~'anliehe Wendungen

die Seh~itzung der Miihe, die die Besinnung auI das ent|allene Wort verursaehen wiirde, ansdriicken, und damit auch eine Sch~tzung der Aussiehten anI den Erfo!g der Bemiihung. Dass eine solche Seh~itzung m6glieh und h~iufig vorhanden ist, hat u.A. sehon Bolzano beobaehtet. ,,Hiebei m sagt e r - - i s t zu bemerken, dass wit es oft mit vieler Bestimmtheit voraus wissen, ob es uns miSglieh seyn werde, uns einer gewisser Vorstellung gleieh, oder nur mit Miihe, oder erst bei einem ~ussern Anlasse, oder aueh gar nieht mehr zu erinnern. So sagt man z.B., den Namen jenes Mannes hab'ich noeh gar nieht vergessen, nur diesen Augenbliek kann ieh reich seiner nieht efinnem, u.dgl."

Sieh einen entfaUenen Namen zuriiekzurufen ist eine jeder- mann gel~iufige Aufgabe; durum kann sieh jedermann dariiber Rechensehaft geben, dass dabei eine Sch~itzung der Sehwierig- keit der L~isung, oder wenn man sieh so ~usdriieken dad, eine

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Sch~tzung unserer Entfernung vonder L6sung m~glich ist. Jeder- mann, der sich mit einer Kategorie yon Aufgaben - - etwa mit mathematischen Aufg~ben, oder auch mit Schachaufgaben u.s.w.

intensiv abgegeben hat, weiss aus eigener Erfahrung, dass dabei eine .Sch~tzung der Schwierigkeit und der Aussichten der L6sung m6glich ist. ,,Es liegt mir gut" oder ,,Es liegt mir nieht ' , sagt der Erfahrene naeh verh~.Itnism~issig kurzer Besch~ftigung mit der Aufgabe. .Es wird gut gehen" oder .Es wird kaum ge- hen" sagt er sich weiter; . Je tz t kommt's bald" oder .Das kann noch lange dauern" u.s.w. Wh" k6nnen nattirlich bei solehen Sch~t- zungen fehl gehen, aber wit sprechen sie mit U~berzeugung aus und was die Hauptsache ist, wit lassen unser Handegn dutch die Sctuffzung bestimraen.

Wie die Sch~itzung aus der Besch~ftigung mit der Aufgabe entsteht und auf welche Motive es dabei ankommt, miisste in einer vollst~ndigen Behandlung unseres Gegenstancles ausfiihr- lich besprochen und analysiert werden. Hier woUen wir uns nur yon der Existenz solcher Sch~ttzungen tiberzeugen und es soll vor aUem hervorgehoben werden, dass solchen Sch~tzungen eine ent- scheidende RoUe beim Zustandekommen der L6sung zuffillt. Wenn uns bei Betrachtung der Aufgabe, oder bei Betrachtung eines schon erreichten Zwischenpunktes am LtJsungswege ein weiterer Gedanke einffiUt, der eventueU ftir die LtJsung nutzbar gemacht werden k6nnte, so erhebt sich die Frage: Sollen wit dar- auf eintreten oder nicht ? Wie werden wir uns entscheiden? Wenn beim Heranziehen des fraglichen Gedankens die L6sung leichter erscheint, n~her zu kommen scheint, so treten wir auf den Gedanken ein, wit schliessen ihn unserer Gedankenkette an; wenn hingegen bei seiner Heranziehung die L6sung schwieriger er- scheint, ferner zu riicken scheint, so verwerfen wir den versuch- ten Gedanken und sehen uns nach einem anderen urn. Jeder Versuch wird dutch eine Sch~ttzu'ag begleitet: .Wir kommen so der L6sung n~her" oder .Wir riicken so yon der L6sung ab"; bei jedem Schritt unseres Gedankenganges ruft uns eine innere Stimme lobend .H~iher[" oder warnend .Ferner!" zu.

Es geht so zu, wie in dem bekannten Kinder spiel, in welchem eines der Kinder einen versteckten Gegenstand sucht, w~hrend die anderen, welehe wissen, wo der Gegenstand steekt, den Su- chenden dutch Zurufe ermuntern: Sie rufen dem Suchenden ,,Warm" oder .Ka l t " oder .Lauwarm" zu, je nachdem er sich

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dem gesuchten Gegenstand niihert, sich davon entfernt oder eine indifferente Richtung einschlfigt. Wenn wir uns um eiue Aufgabe bemiihen, bei deren L6sung wit g~nzlich auf uns selbst angewie- sen sind, so muss der Zuruf, der die Niitzlichkeit unserei- Bewegung einsch~tzt, von Innen kommen.

Wenn man an die Weisheit von Kinderspielen glaubt - - und dieser Glaube geh~rt noch nicht zu den unverniinftigsten m so muss man sich fragen, ob das Kinderspiel nieht gerade zu dem Zwecke erfunden worden ist, die innere Stimme dc~ Aufgaben- 1/Ssers zu symbolisieren, das Kind an den Gebranch dieter inneren Stimme zu gew6hnen ?

Mobilisierung und Orgagisierung der Erinnerungen. Sich eines entfallenen Namens zu erirmern ist eine Aufgabe, welche den mathematischen Aufgaben nicht uniihnlich ist. In den bisher hervorgehobenen Punkten sind beiderlei Aufgaben kaum ver- schieden. Wit haben bisher im wesentlichen chci Aspekte der auf die L6sung gerichteten Tiitigkeit hervorgeho!mn: Assoziation, Konzentration, Aestimation. Dureh Ergiinzung der Sinnesein- drticke und des vorher herbeigeschafften psychischen Materials schafft die Assoziation immer neues und neues psyehisches Ma- terial herbei. Aus dem vorbeifliessenden psychischen Material greift unsere Konzentration auf die zu 16sende Aufgabe das her- aus, was die LCisung der Aufgabe irgendwie betreffen k6nnte. Nach einiger Besch~iftigung mit dem aufgegriffenen Fund bildet sich eine Schiitzung in uns aus, und jenachdem die Sch~itzung giinstig oder ungiinstig ausfiillt, wenden wir uns dem Gefundenen zu oder wenden wir uns davon ab. Im Lanfe der Zeit mehren sich die wertvollen Funde, sie fiigen sich zusammen und lassen uns schliesslich dos Gesuchte erreichen: Es i~llt uns der gesuchte Name oder es fiillt uns der gesuehte Beweis ein. Das Mehren der brauchbar scheinenden Funde im Laufe der Zeit kbnnen wir Ms Mobilisation, deren Zusammenfiigen und Zusammenhalten als Organisation der Gedanken bezeichnen.

Mobilisation und Organisation shad zwei verschiedene Aspekte eines und desselben Vorganges, die sich voneinander hie vollstiin- dig trennen lassen. Aber man kann sie dadurch unterscheiden, dass man ha gewissen Fiillen mehr yon der einen, ha anderen mehr

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vonder anderen Ti~tigkeit bemerkt. So kann man wohl behaup- ten, dass es bei der Besinnung auf einen entfaUenen Namen mehr auf die Mobilisation, bei der Auffindung eines mathematischen Beweises mehr auf die Organisation der Erinnerungen ankommt.

Nachdem die Aufgabe gel~st ist, erkennen wir hAufig besser, dass der GedAchtnisstoff nicht bloss herangezogen (mobilisiert), sondern auch nach Beziehungen zusammengefiigt (organisiert) wurde.

Schon bei der Aufgabe, sich eines entfallenen Eigennamens zu entsinnen, k6nnen wir den Eindruck einer Organisation erhalten. Vor, mit oder kurz nach dem Einfallen des gesuchten Namens fallen uns gew6hnlich andere Erinnerungen ein, mit dem Trliger des Namens durch pers~inliche, zeitliche, 6rtliche Beziehungen verbunden, und ein gewisses Gebiet unseres Erinnerungsvorrates erscheint als straffer zusammrngefasst; aUerdings kann dieser Eindruck von straffer Zusammenfassung mehr oder weniger leb- haft sein.

Viel starker und bestimmter ist die Organisation bei der L6sung einer mathematischen Aufgabe: Hier ist die Zusammenfassung des Gediichtnisstoffes zu einem Ausserst straffen Gefiige, zu einer logischen Schlusskette gerade die Hauptsache.

Ein weiterer Punkt ist hier zu beachten: Es erzeugt die Or- ganisation des Ker~ntnisstoffes bei der L6sung der mathemati- schen Aufgabe etwas fiir den AufgabeKiser Neues, sie ist produk- tiv zu nennen im Gegensatz zu der bloss reproduktiven Organisa- tion des Ged~chnisstoffes bei der Besinnung auf einen entfallenen Eigennamen.

Wie kommt die produktive Organisation des GedAchnisstoffes im Veflaufe tier L~isung zustande ? Hieriiber wollen wir im Fol- genden einige Klarheit gewinnen.

VersMndnis. Es gibt kein VerstAndnis ohne Bezugnahme auf vorher Verstandenes. Die Hauptsache am Verstehen, Begreifen, Auffassen ist der Anschluss des Neuen an vorher Verstandenes, Begdffenes, Aufgefasstes. Die Gedanken im I~reise un,~eres Ver- stAndnisses bilden sozusagen eine geschlossene Gesellschaft: Kei- net" erlangt den Eintritt in cUesen Kreis ohne Beziehungen, nur derjenige kann neu eintreten, der Anschluss an vorher Einge-

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tretene hat und yon diesen in die Gesel~schaft eingeffihrt w/rd. Ist ein Gedanke schon verstanden, in den Kreis unseres Verst~nd- nis.~s aufgenommen, eingeffihrt, so wird er bald mit vielen ande- ten Gedanken in Berfihrung komn,.en; h~ufig wird er abe~ engere Beziehungen zu denjenigen Gedanken bewahren, dutch welche er eingeffihrt wurde: Gew~hnlich ist ein Gedanke in denjenigen Gedanken besonders verwurzelt und verankert, dutch welche er zuerst verstanden wurde.

Auch hiervon macht die Technik der Aufgabenl~sung Gebrauch. ~eder, der eine ihn wirldich nahe angehende Au|gabe zu l~sen hat, und zur L~sung aueh genfigend Zeit und Geschick hat, wird vor aUem bestrebt sein, die Aufgabe zu begreifen, zu verstehen, rich- tig aufzufassen, ihr Ziel sicher ins Auge zu fc~seno (Es w~re fibri- gens auch t6richt yon/hm nut so ins Blaue herur~zusuchen, ohne das Ziel genau verstanden zu haben, ohne genau zu wissen, was er sucht.) Der Erfahrene wird abet nicht nut die vorgelegte Auf- gabe zu begreifen suchen, sondem jeden Punkt, den er beim Nachdenken angetroffen hat und f/ir genfigend wichtig erachtet, wird er, ebenso wie die vorgelegte Aufgabe, zu begreifen, zu ver- stehen, richtig aufzufassen suchen. Was nfitzt ihm das ?

Er regt dabei solche Gedanken an, er greift au~ solche Gedanken zurfick, durch welche er den besagten Punkt versteht, und diese C-edanken sind mit dem besagten Punkt n~her, starker, wesent- licher verbunden: Er versucht also den begonnenen Gedanken- weg, der zur L6sung ffihren soil, durch eine besonders nahe und wesentliche Verbindungsstrasse fortzusetzen, er versucht in das logische Gefiige, das die Frage beantworten soil, ein besonders starkes und wesentliches Verbindungsstfick einzusetzen. Diesen Versuch werden wit vernfinftig linden, und damit haben wir eini- germassen begriffen die Rolle ,welche die Bemfihung um das Ver- st~indnis aUer wichtigen Punkte beim Auffinden der L6sung spielt.

Einen mathematischen Begriff verstehen wir durch seine De- finition, der Begriff ist durch seine Definition in der Gesamtheit unserer Kenntnisse vetankert. So fiihrt die Bemtihung um das Verst~induis bei mathematischen Aufgaben zum Zuriickgrei/en au/ die De/initionen.

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Ahoechselnde Au//assung. Ein und derselbe Gegenstand kann auf mehrere Arten verstanden, auf verschiedene Weisen aufge-

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fasst werden. Z.B. k6nnen wir ein Quadrat auffassen als ein regel- m~ssiges Vieleck mit vier Seiten oder als ein Rechteck mit gleichen Seiten oder als einen Rhombus (gleichseitiges Viereck) mit rechten Winkeln. In jedem dieser F~lle ist die n~chste Gat- tung, in welche wir das Quadrat einordnen, eine andere: regel- m~ssiges Vieleck, Rechteck, Rhombus; und ebenso ist die spezi- fische Differenz, durch welche wir das Quadrat ans der Gattung hervorheben, von Fall zu Fall verschieden: vierseitig, gleichsei- tig, rechtwinklig. Bei jeder Auffassung nehmen wir auf andere Vor- steUungen Bezug, stellen wir den Anschluss an unsere sonstigen Kenntnisse anders her. Von den drei erw~hnten Auffassungen oder Definitionen des Quadrates ist vieUeicht die eine uns ge- l~ufiger als die andern, z.B. darum, weil wir sie zuerst kennen gelernt haben. Aber alle drei Auffassungen sind gleichberechtigt, und eigentlich ist keine iiberfliissig: Ffir den einen Zweck ist die eine, fiJr den anderen die andere Auffassung g~nstiger, bequemer, f6rderlicher.

Jede einigermassen verfeinerte Technik der Aufgabel6sung macht yon der Mannigfaltigkeit der m6glichen Auffassungen Gebrauch. Wir versetzen uns in eine bestimmte Auffassung und suchen zu sch~itzen, ob durch diese Auffassung hindurch gese- hen die L6sung leichter, n~her erscheint oder nicht. Wenn trotz einiger Versenkung in die gew~ihlte Auffassung keine giinstige Aussicht sich zeigt, so versuchen wir unser GRick mit einer an- deren Auffassung, wir sehen uns die Situation yon einer anderen Seite her, durch eine andere Brille hindurch an. Wenn die Aus- sicht sich auch dabei nicht bessert, so suchen wir einen weiteren Gesichtspunkt zur Betrachtung der Situation, wit versuchen es mit einer weiteren Auffassung, bis wit schliesslich zu einer Auf- fassung gelange.n, die uns zusagt, von welcher aus gesehen die Situation sich anfheUt.

Wir verfahren ganz ~hnlich, wenn uns ein unbekannter Gegen- stand in die H~inde f~llt, dessen Zweck oder Herkunft wit heraus- bringen m~chten: Wit wenden den Gegenstand in den H~nden hin und her, wir betrachten ihn yon verschiedenen Seiten, in abwechselnder Beleuchtung, in dem Bestreben, etwas Bekanntes, Aufschlussbringendes zu erblicken. Wie den Gegenstand in den H~nden, w~lzen wir die Aufgabe im Kopfe herum, betrachten wir sie yon verschiedenen Seiten, in abwechselnder Auffas- sung, in dem Bestreben, einen passenden Anschluss an unsere

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Vorkenntnisse herzustelhn. Wlr wenden eine harte Nuss, die wir auflmacken woilen~ zwischen den Fingem hin und her, um die schwiichste Seite, den sichersten Griff herauszufinden; und wir wenden die Aufgabe, die wir 16sen wollen, im Kopfe hin und her, um die zug~inglichste Seite, die bequemste Auffassung her- auszufinden.

Bei mathematischen Aufgaben erzielen wir verschiedene Auf- fassungen insbesondere dadurch, class wir verschiedene Defini- tionen desselben Gegenstandes einffihren. Aber es gibt manche andere typische logische Wendungen (z.B. Heranziehung ver- wandter SRtze, Generalisieren, Spezialisieren, Analogisieren), welche eine Wendung der Auffassung, d.h. eine Abiinderung des Anschlusses an die Vorkenntnisse ergeben. Der Routinierte be- dient sich aller dieser Wendungen, urn sich d~e Aufgabe mfg- lichst handgerecht vorzulegen.

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Riicksichtnahme au! die Gesamtsituation. Wenn wir unserer Gedankenkette gerade ein neues Glied angeffgt haben, so ist es natfirlich, dass wir zu~Rchst dieses neue Glied zum Gewinnen weiterer Verbindung~, versuchen. Warum ? Weft wir das vorher Angeschlossene schon vorher versucht haben; was dem vorher Angeschlossenen naheliegt, das ist uns wohl schon eingefallen, wLhrend in dem neuangeschlossenen Gliede noch unerprobte As- soziationstendenzen, neue Anschlussm~glichkeiten stecken.

Wir werden uns also, um weitere Verbindungen zu erhalten, zuniichst auf das letztangeschlossene Glied unserer Gedankenkette werfen, wir werden uns dieses vornehmen, uns darauf konzen- trieren, dabei verweilen, es zu verstehen suchen, es yon mehreren verschiedenen Seiten zu vetstehen suchen, d.h. abwechselnd auf- fassen, hin- und herwenden. Was sollen wir aber tun, wenn uns dabei Nichts ftir die L6sung brauehbares auftaucht ?

Bei einiger Erfahrung weiss man, class dutch die Hinzufiigung eines neuen Gliedes auch die Situation der alten Glieder der Ge- dankenverkettung sich geiindert hat. Es sind mit dem neuen Glied neue Beziehungen hinzugekommen; daher sind m~glicher- weisedie alten Glieder neuen Auffassungen zugiinglich geworden. Wenn also die Besch~iftigung mit dem neuen Gliede kein aus- sichtsreiches Resultat geliefert hat, macht sieh der gewandte

WIE SUCHT MAN DIE LOSUNG MATHEMATISCHER AUFGABEN 13~

AufgabelOser an die vorher angeschlossenen Glieder der Gedanken- kette, an die vorher untersuchten Einzelheiten heran, und ver- sucht sein Gliick bei ihne~, nochmals: VieUeicht ist die eine oder die andere infolge der Anderung der Gesamtsituation zug~ngli- cher geworden.

Daher ist es verniinftig, die schon untersuchten Einzelheiten, die eine nach der andere!i~, wieder vorzunehmen und sie unter Riicksicht auf die ver/~nderte Gesamtsituation aufzufassen. Eine Einzelheit unter Ri~cksict~t au] die Gesamtsituation aufzufassen heisst: sie auf dem Hinte-'grund ihrer Beziehungen zu den ande- ten Einzelheiten aufzufas~;en, sie in dem Zusammenhang der an- deren Einzelheiten auf den richtigen Platz hinzusteUen. Inten- sivste Konzentr~tion au] d,~s eben Untersuckte, m6glichste Wahru~,g des Zusammenhanges mit dem yorker Unlersuchten : So sucht man einen Einfall hervorzulocken, der mit der eben untersuchten Einzelheit verbunden ist und der Gesamtaufgabe zu gute kom- men soil.

Die Gestaltung des Gesamtbildes. W~-,n wir dem widerspensti- gen, sieh versteekenden Einfall naehjagen, ist es, wie gesagt, nieht unvemiinftig nnser Gltiek mit der Wiederbetrachtung der sehon untersuehten Einzelheiten zu versuchen. Wir konzentrieren uns bald auf diese, bald auf jene Einzelheit, wir kommen aueh wiederholt zu derselben Einzelheit zurtick, wir suehen sie aber jedesmal etwas anders als vorher zu erfassen: Von anderen Ein- zelheiten herkommend, yon anderen R(icksiehtsnahmen her, auf einem etwas anders gruppierten Hintergrund yon Beziehun- ~en.

Je 1/~nger die Bemiihung um die L~sung dauert, umsomehr Einzelheiten werden sich anh~ufen: Es fallen uns immer andere und andere Gegenst~nde und Beziehungen ein, die mit der Auf- gabe etwas :,.u tun haben k6nnten, und die, mindestens beim er- sten Auftauehen, Iiir die LSsung niitzlieh zu werden versprechen. Es kommen so immer mehr Einzelheiten hinzu und versetzen uns allm/ihlieh in eine ernste Verlegenheit: Wir haben immer mehr Mtihe ihren ansehwellenden Haufen zu meistern, es droht uns die Gefahr, vor lauter Einzelheiten die Aufgabe, vor lauter B~iumen den Wald nicht zu sehen.

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In der Tat miissen wit zwischen zwei entgegengesetzten Ten- denzen vermitteln, zwischen zwei Geiahren hindurchlavieren: Wenn wit uns ausschliesslich auf die Untersuchung einer EiiLzel- heft konzentrieren, so k~nntcn uns die andern, vorher unter- suchten Einzelheiten entgleiten, verloren gehen. Wenn wir allzu ~ngstlich alle voFner untersuchten Einzelheiten festzuhalten su- chert, so verbleibt uns nieht geniigend Kraft, um uns a'.,f den jetzt zu untersuchenden Punkt mit Erfolg zu konzentrieren.

Um beiden Gefahren zu entgehen, miissen wit zwar m~glichst alle bedeutsamen, relevanten Einzelheiten zusammenhalten, wit mfissen sie aber m6glichst miihelos, ungezwungen zusammen- halten. So kommen wir dazu, unsere Sorgialt dem Zusammen- hang der Einzelheiten, dem Gesamtzusammenhang, der Gesamt- situation, dem Gesamtbild zuzuwenden. Wir tahren zw~r fort, uns in Einzelheiten zu vertiefen, berficksichtigen aber vernfinf- tigerweise immer mehr die Gesamtsituation, wit erhoffen die LSsung vonde r Aufhellung des Gesamtbildes.

Wenn wit uns jetzt in eine Einzelheit vertieien, so ist unsere Hauptsorge, das Verh~fltnis dieser Einzelheit zum Gesamtbild. Wenn wit die Einzelheit hin- und herwenden, so such~n wir jene Wendung, jen~ Auffassung herauszubekommen, welc'ae das Ge- samtbild am meisten erhellt, am klarsten gestaltet. Wir suchen die aussichtsvolleren, mehr versprechenden Einzelheiten in das Zentrum des ~esamtbildes zu ziehen und die weniger verheis- sungsvollen mehr nach der Peripherie abzuschieben, indem wit bei den aussichtsvolleren immer h~iufiger, bei den andern framer seltener verweilen. Auf ~ihnliche Weise suchen wir solche Bezie- hungen und Uberg~inge zwischen den Einzelheiten zu bevorzugen, welche das Gesamtbild vorteilhaft zu beeinflussen, seinen Zu- sammenhalt zu festigen scheinen. Wir suchen das Material m6g- lichst natfirlich zu gruppieren; wit fassen die Teile bald so. bald anders zusammen, und versuchen dutch abwechselnde Trennung und Wiedervereinigung diejenige Gruppierung des Gesamtma- terials herauszufinden, in welche jeder Teil sich mSglichst pas- send hineinffigt, in welcher die Einzelheiten sich n-~h natiir- lichen Wahlverwandtschaften zusammeniinden.

Dutch Bevorzugung gewisser Gegenst~inde, gewisser Bezie- hungen, gewisser Wendungen, dutch mehrmalige Trennung und Wiedervereinigung wird das Gesamtbfld nach und nach umge- baut, umgelagert, umgemodelt, umgeknetet, umgeformt, urn-

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gestaltet. Wir suchen mit angespannter Empfindlichkeit heraus- zuffihlen, ob die Gestaltung des Gesamtbfldes nach der guten Richtung vor sich geht. Wenn das Gesamtbild mehr Gegenstfinde oder mehr Beziehungen umiasst, ohne dabei an Zusammenhalt oder Ubersichtlichkeit einzubfissen, so ist es gut. Wenn das Ge- samtbild einheitlicher, stabiler, ausgeglichener wird, ohne dass dabei Gegenst~mde oder Beziehungen uns entgleiten, so ist es auch gut. In dem Masse, als das Gesamtbild umfassender, bezie- hungsreicher, ausgeglichener, einheitlicher wird, sehen wir die LtJsung uns n~iher kommen. Jede AufheUung des Gesamtbildes nehmen wir fiir eine Ankfindigung des herannahenden Einfalls.

Bei feinffihlig-aufmerksamer Gestaltung des Gesamtbildes kann kS uns gelingen, das mobilisierte Gedankenmaterial all- m~ihlich zu l~utern, allmfihlich zu organisieren ; die brauchbaren Materien immer n[iher heranzuziehen, die unbrauchbaren immer weiter abzustossen; die brauchbaren Beziehungen nach und nach zu festigen, die unbrauehbaren naeh und nach zu loekern; bis schliesslich, aus den brauehbaren Materien in den brauchbaren Beziehungen zus~.mmengeffigt, die ange~trebte L6sung uns all- m~ihlich d~mmert oder pl6tzlich einf~llt.

II. GEOMETRISCHE DARSTELLUNG DER ZUR LOFUNG FUHRENDEN GEDANKENKETTE

D i e H i l f s a u f g a b e n u n d d i e H a u p t a u f g a b e , d i e M i t t e l u n d d e r Z w e c k

Die Sprache besitzt eine grosse Anzahl yon Ausdriicken, die auf unsere T~tigkei~ beim Aufsuchen der L6sung bezug nehmen: Worte und Wendungen, Metapher und Sprichw~rter, welche un- sere auf die L6sung zielenden Schritte und Einstellungen entweder beschreiben oder mit Lob und Spott dazu Stellung nehmen. Viel- leicht stecken hinter diesen Ausdrficken zutreffendel scharf- sichtige Beobachtungen; auf alle Falle ist die Sprache fiir unser Thema eine QueUe yon nicht zu verachtenden Hinweisen und Anregungen.

Ein gel~ufiger bfldlicher Ausdruck ist ,Gedankenkette ' . Man

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vergleicht damit die Reihe yon Zwischengedanken, welche einen Ausgangsgedanken mit einem Schlussgedanken verbinden, mit der Reihe der Zwischenglieder einer Kette, welche vom ersten zum letzten Ring sich hinziehen, wobei jeder Zwischengedanke mit zweien, dem vorangehenden-und dem nachfo|genden Ge- danken, unmittelbar verbunden ist, wie jedes Zwischenglied der Kette mit seinen beiden Nachbarn.

H~iufig wird die Verbindung zweier Gedanken mit einer Briicke oder mit einem Weg verglichen: Zwischen zwei weit auseinander- liegenden Gedanken wird ein Weg angebahnt, und wenn die Ge- danken durch eine Kluft getrennt waren, so wird dariiber hinweg eine Briicke zwischen ihnen geschlagen. Sehr h~iufig stellt man sich die Verbindung zweier Gedanken als Faden vor. ~Ian spricht von dem Faden einer Uberlegung, den man ankniip.fcn, weiter- spinnen, fallen lassen, wiederaufnehmen und auch abschneiden kann. Eine schwierige Uberlegung besitzt mehrere F~iden, die sich auf mannigfaltige Weise verzweigen und wiedervereinigen k~nnen, indem sie sich durchkreuzen, verknoten und mitein- ander verschlingen. Es k~nnen sich dabei die F~iden so verwirren, dass selbst derjenige, der die Uberlegung anstellt, d~n richtigen Faden nicht mehr herausfindet. Umsomehr bedarf dc:r aufmerk- same Zuh~rer oder Leser eines Leitfadens. Wenn jedoch die Uberlegung richtig sein soil, so miissen ihre F~iden von den ersten Ankniipfungspunkten ununterbrochen bis dorthin ziehen, wo sie zum letzten Schlusse zusammengefasst werden.

Ahnliche metaphorische Ausdriicke finden sich in allen gebil- deten Sprachen. Diese Metaphern riicken uns immer n~iher und n~iher einer gsmz bestimmten geometrischen Darstellung, die am Ende sich uns unwiderstehlich aufzwingt. Das Spinngewebe ver- festigt sich zu einer deutlichen geometrischen Form, die vdr nun kennen lernen sollen. Anstatt Redeweisen sollen wit eine klare geometrische Figur erhalten, die diese Redeweisen aufld~rt, an- statt Metaphern bestimmte Beziehungen, anstelle yon bildlichen Ausdr~cken ein wirkliches geometrisches Bild.

Wir wollen die durch so viele sprachliche Wendungen nahe- gelegte geometrische Darstellung der zur L0sung fiihrenden Ge- dankenkette an einem konkreten Beispiel uns ]darmachen. Als

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Beispiel wglfle ich eine typische Schulaufgabe aus der Elemen- targeometrie, n~imlich die folgende:

Es ist die Mantelfldche F yon einem geraden Kreiskegelslump/ zu berechnen. Gegeben ist der Radius der Grundllache R, der Radius der Deck/ldche r und die ItOhe h des Kegelstump/es.

Die Aufgabe hat nichts besonderes an sich, ich hiitte ebenso- gut irgendeine andere gel~ufige Schulaufgabe w~b.len k~nnen. Auch der Aufgabel6ser sob Nichts Besonderes an sich haben. Ich stelle ihn vor als einen recht braven, aber nicht besonders gliin- zenden Schiller; der Unterricht hat ihn schon an eine gewisse Dis- ziplin des Denkens gew6hnt, er ist fiihig ehte l~ingere Gedanken- reihe ordnungsgemiiss zu verfolgen; er b r in~ aueh gewisse Vor- kenntnisse mit, er kennt den Pythagoras, die Ahnlichkeitss~tze an Dreicken u.s.w. Aus der Raumgeometrie kennt er schon die Berechnung der Mantelfliiche eines roUen geraden Kegels. Die hier gesteUte Aufgabe ist film neu, aber er wird sie schon ganz richtig, wenn auch nicht auf dem kiirzesten Wege, 16sen kt~nnen.

Sehen wir also zu, und zwar sehen wir sehr genau zu, wie unser Schiller mit der vorgelegten Schulaufgabe fertig wird.

Beobachten wir die Figur, die er vor sich hinzeichnet, beobach- ten wir die neuen Linien, die er seiner Figur von Zeit zu Zeit hin- zufiigt, beobachten wir die Richtung seines Blickes auf diesen oder jenen Teil der Figur.

Beobachten wir die Formeln, die er von Zeit zu Zeit vor sich hinschreibt.

Beobachten wir sein Selbstgespr~ch, oder vielmehr versuchen wir seine inhere Stimme zu erraten, insbesondere die mahnende, fragende Stimme seines ,,besseren Ich" oder seines ,logischeren Ich" (sie klingt fast wie die Stimme eines besonders wohlwollen- den, besonders verst~ndnisvollen Lehrers).

Geben wir uns Rechenschaft yon der ieweils erreichten logi- schen Etappe. Wir wollen die logische Etappe zur gr6sseren An- schaulichkeit erheben durch eine Zeichnung, welche die behan- delten geometrischen Gr~ssen durch Punkte (Kreischen) und ihre Zusammenh~inge durch Verbindungslinien darstellt. (Diese ist die durch die bildlichen Ausdriicke hindurch vorausgesehene geo-

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metrische Darstellung der Gedankenkette. Vgl, die nachfolgenden Bilder auf der rechten Seite des Textes.)

Das Mienenspiel des Schfilers k6nnen wir hier nicht gut wieder- geben. Wir wollen aber seine Stimmungen, seine Einseh~tzung des Erreichten, seine Beurteilung der Aussichten zu erraten su- chen. Wertvolle Indizien zur Einsch~tzung der .~ussichten sind der Iogischen Situation zu entnehmen.

Also, zur Beobachtung ! Da briitet schon der Schiller iiber seiner Aufgabe, er hat die Figur des Xegelstumpfs vor sich hingezeichnet, er fragt sich, und mit Fo Re-ht, worum es sich da eigentlich handelt, w~s da eigentlich verlangt wird ?

,,Was ist gegeben ?" ~ ~ ,,Der Radius des Grundkrei-

ses R, der Radius des Deck- kreises r, und die H6he h."

,,Was ist gesucht ?" ,,Die gekriimmte Mantel- R* oh *e

Fig. la f l~che F ." Fig. lb

Die Figur links stellt die geometrische Konfiguration dar, auf welche der Schiller seinen Blick richtet. Seine Aufmerksamkeit heftet sich bald anf die gekriimmte Mantelfl~ehe, bald auf die gegebenen Stficke (welche an Fig. la durch dicken Strich hervor- gehoben sind). Die Figur rechts stellt die logische Situation dar: Oben der Punkt F, die gesuchte Gr6sse, unten die drei Punkte R, h, r, die gegebenen Gr~ssen, dazwischen liegt ein often gelas- sener, leerer Zwischenmum. Angestrebt wird die Verbindung des Gesuchten mit dem Gegebenen, die ~3berbriickung des offenen Zwischenraumes, der die offene, der Lbsung harrende Frage dar- stellt.

Der Schiller braucht Zeit, um sich in die Aufgabe hineinzufin- den, um deren eigentliche Schwierigkeit zu erfassen, um die zu fiberbriickende offene Spannweite zwischen Gegebenem und Ge- suchtem zu messen. Wenn er aUzu viel Zeit dabei verbringt, wenn er sieh dabei leicht zu ermfiden beginnt, erhebt sich in ihm eine mahnende Stimme:

,,Nochmal: Was ist gesucht ?" ,,Die gekriimmte Mantelfl~che F." ,Mantelfliiche wovon ?"

WIE SUCHT MAN DIE LOSUNG MATHEMATISCHER AUFGABEN 141

,,Des Kegelstumpfes mit gegebenen Bestandteilen R, h, r." ,,Was ist ein Kegelstumpf?" .Ein gerader Kegelstumpf entsteht, wenn ein gerader Kreis-

kegel dutch eine zu seiner Basisfl~che parallele Ebene geschnitten wird ~ wie ein Zuckerhut, wo- r von man die Spitze abs~gt."

,,Ab~gen ist gut. ~ Wie fin- H~ "~ m det man die gesuchte Mantel- fl~che des Kegelstumpfes ?"

,,Als die Di/[~em yon zwei vollen Mantelfl~chen. Differenz der Mantelil~che M des grossen und der Mantelfl~iche m des R o • °t

Fig. 2a kleinen Vollkegels." F = M - - r e . Fig. 2b

Der Einfall hat eingeschlagen. Links erg~inzt sich die #iumliche Figur. Rechts beginnt die Oberbriickung des offenen Zwisehen- raumes: Es kommen die neuen Punkte M und m hinzu, unterhalb des urspriinglich gesuchten F u n d oberhalb der urspriingiich ge- gebenen R, h, r. Zwei nach abw~irts laufende Striche, die F m i t M und m verbinden, sollen zum Ausdruck bringen, dass F aus M und m berechnet, dass F auf M und m zuriickgefiihrt werden kann. Die logische Situation ist an Fig. 2b ersichtlich: Es wurde die Berechnung yon F auf die yon M und m zurfiekgefiihrt; da- durch hat sich die offene Frage, der zu iiberbriickende Zwischen- raum verengt: er befindet sich jetzt zwischen M uud m einerseits und R, h, r andererseits. Mit dem Hineinwachsen der F~iden FM und Fm in den vorher leeren Zwischenraum kommt eine ganz andere Stimmung herein: Die gespannt abwartende Phase des Sichhineinfindens ist gewichen, hat den Platz ger~iumt vor einer neuen, anr;eregt-t~ttigen Phase der Ver/oIgung des Ein/aUs. Der Sch~iler fiihlt sich mehr in seinem Element. Dutch das Zur~ck- grei/en au/die Definition des Kegelstumpfes ist es ihm gelungen, die Frage auf ein bekanntes Gebiet zu verschieben; fiber Vollkegel weiss er schon Beseheid. Zwar h~ngen d~e neuen Unbekannten der Aufgabe, M und m, noch in tier Luft, aber die Linie von F nach Mist deutlich nach R, die Linie yon F nach rr/deutlich nach r geneigt.

142 G. P6Lyt

,,Was bleibt noch zufinden ?" ,,Die beiden vollen Mantel- H m

flgchen M und m." ,Wie findet man dies¢ ?" ,Der Kegelmantel wird aus-

gedriickt durch Basisradius und Mantellinie. In unserem FaUe gibt es zwei Kegel, zwei Basisradien R, r und zwei R ¢

Fig. 3a Mantellinien L, t." Fig. M = ~RL, m = ¢:rl

Die Figur links zeigt dick die liir den voUzogenen Schritt der fJ'berlegung wichtigen Linien R, L, r, I. Die Figur rechts zeigt die Iogische Situation: lqoch n~iher dem Gegebenen Ms M und m tauchen zwei neue Punkte auf, L und I. Dutch schr~ig |al]ende Linien wird M anf R und L, und, symmetrisch dazu, m auf r und I zurfickgefiihrt (die Symmetrie driickt die gleiche Behandlung der beiden VoUkegel aus). Hiemit wird eine erste Verbindung zwischen dem Gegebenen und dem Gesuchten hergesteUt. Die offene Frage, der uniiberbriickte Zwischenraum befindet sich zwischen L und I einerseits, R, h, r, andererseits; L und I schwe- ben noch in der Luft. I, liegt aber ersichtlich auf der Seite yon R, und, symmetrisch dazu, I a~f der Seite von r; der noch unbeniitz- te, unv~rbunden gebliebene gegebene Bestandteilh erheischt deut- lich in das logische Netz miteinbezogen zu werden. Wir k6nnen voraussehen, wie die n~ichsten Iogischen Verbindungen laufen werden; die Iogische Situation ist vielversprechend, aussichts- reich.

,,Was bleibt noch zu linden ?" ,,Die beiden Mantellinien L und l." ,,Wie finder man diese ?"

Keine Antwort. Hinter der vielversprechenden Perspektive lauerte eine unerwartete Schnierigkeit, welche, pliStzlich hel- vorspringend, den Schiller in Verlegenheit versetzt: Es gelingt ihm nicht, die beiden gleichberechtigt auttretenden L':.~en L und 1 zzcgleich zu finden (wie es dem anekdotenhaften Schotten, der nie vorher Hosen getragen, nicht gelingt, mit beiden Beinen zugleich in die Hosen hineinzukommen).

,,Ist irgendeine Beziehung zwischen L und 1 ersichtlich ?"

NVII~ SUCHT MAN DIE LOSU~'G MATHEMATISCHER AUFGABEN 143

,,Ja, aus ~hnliehen Drei- F eckent"

L : I = R : r . PI m

,,Niitzt das etwas ?" ,,Man kann daraus L finden;

oder 1 linden; L oder 1; schliess- lich gleich; wollen wir L daraus linden."

IR R r t ~ .

Fig. 4a r Fig. 4b

Links hat sich die geometrische Figur um zwei ~ihnliche Drei- ecke bereichert; die vier Seiten L, 1, R, r, deren Proportion her- vorgehoben wurde, sind dick gezeichnet. Rechts sehen wir das vefiinderte Bild der logischen Situation. List nun durch schr~ige, fallende Linien mit R, r, 1 verbunden, auf diese zurtickgefiihrt, und es h~tngt nur ein Punkt, n~imlich nar 1, in der Luft, anstatt yon zweien, L und I, wie vorher, und das ist offenbar gut. Aber die sch6ne Symmetrie ist verdorben; wir -nussten 1 ein wenig nach unten riicken (damit L sich d=-auf st/Jtzen kann)unddas ist offenbar schlecht. Wir kt~nnen jetzt verstehen, warum der Schiiler vor dem letzten Schritt stutzte und zauderte: Er hat einen Vorteil und einen Nachteil gesehen, oder mindestens ge- ahnt; er hatte zu w~thlen; er batte zu erwfigen, ob sein Schfi.tt die Situation mehr in gutem oder mehr in schlechtem Sinne beein-

flussen wird. • ,,Was bleibt noch zu finden ?" t"

,,Bloss die ldeine Mantelli- I~ m nie 1."

,,Wie finder man sie ?" ,,Aus dem sehon gezeichne-

ten rechtwinkligen Dreieck; naeh Pythagoras; es komrnt noeh die Vertikalkathete x herein." la

Fig. 5a I I -~ 1"2 "JI- X 2. Fig. 5b

Das Bild links hebt das rechtwinklige Dreieck mit den Seiten 1, r, x in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Das Bild rechts zeigt die Zuriickfiihrung yon I auf r und x; bloss x h~ingt in der Luft, der offene Zwischenraum ist zwischen ihm und R, h, r, also

144 G. P6LYA

wieder engerl Es niihert sich x dem des Gebrauchs harrenden h (die Strecken sind Verlgn- gerungen voneinander). Lauter gute Zeichen !

,,Was bleibt noch zu finden ?" ,,Die Vertikalstrecke x" ,,Wie finder man sie ?" ,Aus ghnlichen Dreiecken,

durch eine Proportion." Fig. 6a x : r = h : d

Links ein neues Dreieck, mit der neuen Strecke d. Rechts x auf r, h, d zuriickgefiihrt; der Zwischenraum ist unterhalb x, ganz eng; h ist benutzt. Es geht gut !

,,Was bleibt noch zu finden ?" ,,Die Horizontalstrecke d;

sie ist natiirlich die Differenz der Radien."

Fig. 7a d = R ~ r

Fig. 6b

F'

M m

i

Fig. 7b

Fertig! Am Bild links ist die Berechnung der letztermittelten Zwischenunbekannten d hervorgehoben. Uberragend wichtig ist die logische Situation, das Bild rechts: Endlich zieht liickenlos das Gewebe der logischen Verbindungen vom Gegebenen zum Gesuchten hill, der logische Baum ragt yon den Wurzeln bis zum Gipfel, die logischen Adern und Fasern tragen die Schlussfolge- rungen yon den untersten Ankniipfungspunkten bis zur obersten Spitze.

Der Ausruf ,Fertig !" war ein bisschen voreilig. Ganz fertig ist der Schiihr noch nicht; er hat ja noch F durch R, h, r auszudrii- cken. Aber er ist in der Hauptsache fertig, er hat das Schwierigste hinter sich, er darf sich jetzt eine khine Pau~ g6nnen. Lassen wit ihn allein und benutzen wir die Pause zu einem Riickblick auf das Beobachtete.

WIE SUCHT MAN DIE L~JSUNG MATHEMATISCHER AUFGABEN 145

Die Schulaufgabe, die vorgelegt wurde, war doch recht ele- mentar, und der Schiller der sie 15ste (er ist ja im wesentlichen fertig) war zwar ganz bray, aber sicherlich nicht viel fiber dem Durchschnitt. Trotzdem hat sich tier zur LSsung fiihrende Ge- dankengang als ein reichhaltiger, vielseitiger Vorgang herausgc- steUt. Um den Gedankengang in seiner Vielseitigkeit zu erfassen, hatten wir unsere DarsteUung mit einem gewissen Aufwand an Mitteln einrichten miissen. Die DarsteUung war, genau besehen, eine fiinffache, wit hatten sie sozusagen auf fiinf parallelen Ge- leisen gleichzeitig gefiihrt:

Eine Reihe yon Fragen und Antworten, eine Reihe yon Formeln, zwei Bilderreihen, ein fortlaufendes Kommentar zu den beiden Bilderreihen waren

n5tig um den vielerlei Aspekten des Gedankenganges einigermas- sen gerecht zu werden.

Die LOsung besteht in einer Verkettung von sachlichen Be- ziehungen: von algebraischen Beziehungen zwischen geometri- schen GrOssen Diese Beziehungen hat der Schiller nach und nach erkannt, und ~ein Selbstgespr~ch zeigt uns die Aufeinanderfolge seiner Einf~ille. Dieses Selbstgespr~ch k~mnte iibrigens fast eben- sogut ein Zwi,~gespr~ch sein zwischen dem Schiiler and einem wohlwollenden, verstfindnisvollen Lehrer; in der Reihe der fort- laufenden Fragen und Antworten kommt ein besonders zugfing- licher, jedem geiibten Lehrer geliiufiger Aspekt des LOsungsgan- ges zum Ausdnlck.

Die Beziehungen, deren Verkettung die LOsungbildet, k0nnen, wie gesagt, durch entsprechende algebraische Formeln ausge- driickt werden; die Reihe dieser Forrneln blingt einen zweiten, etwas verschiedenen Aspekt des L0sungsganges zum Ausdruck. Die Forraelreihe bringt, ich mOchte sagen, etwas zu viel zum Aus- druck. Betrachten wir, Bestimmtheit halber, die Formel zwischen den Figuren 4a und 4b, die Formel

L = 1R. r

Diese Formel bringt, f/Jr den gegenw~rtigen Stand der Unter- suchung, zu viel Einzelheiten. In der gegenwfi1~igen Phase der LOsung ist nur wichtig, 3ass L aus R, r und I berechnet werden kann, und nicht wichtig, wie L aus R, r und 1 berechnet werden

Acts Psychologica IV I0

kann. Dass L aut R, r und I zuriickgeffihrt werden kann, muss der Aufgabel~Jser voll in sich anfnehmen gerade in der vorliegenden Etappe; denn gerade deswegen hat er sich i~icht mehr um L ~;u kiimmern und muss (da R, r gegeben) nur noch die Berechnung von 1 besorgen. Wie L aui R, r und I zuriickgeliihrt werden kann, muss in der vorliegenden Etappe der Aufgabelfiser noch nicht voll in sich aufnehmen. Ganz im Gegenteil: Die Einzelheiten der Formel sind fiir ihn im Moment bloss unniitzer Ballast, dessen Mitschleppen ihn an seiner wichtigeren Sorge, das I einzufangen, bloss st~ren k~Jnnte.

Die Brider links stellen den Fortschritt der ~berlegung vonder psychologischen Seite her dar. Sie zeigen die untersuehte geome- trisehe Figur, wie sie im Verlauf der LCJsung nach und nach er- g~inzt und bereichert nnd dutch die Aufmerk~amkeit wechselnd beleuehtet wird.

Die Bilder rechts stellen den Fortschritt der Uberlegung von der logischen Seite her dar. Sie zeigen das System der logischen Beziehungen, wie es im Verlauf der I.¢Jsung immer umfassender wird. Zuerst sind nur das gesuchte F u n d die gegebenen R, h, r da; dann tanchen nach und nach neue Hilfsgr~Jssen in der Uber- legung, neue Punkte im logischen Bride auf; neue Zusammenh~in- ge werden erkannt, neue Verbindungslinien gezogen; die Frage verengt sich nach und nach, der offene Raum zwischen den noch obschwebenden und den gegebenen Punkten wird immer enger, bis sehliesslich ein vollstiindiges System von Zusammenhiingen erzielt wird und das logische Gewebe sich ohne Unterbruch zwi- schen dem Gesuchten und dem Gegebenen spannt.

Beide Bilderserien folgen iibrigens dem aus der Kinematogra- phie bekarmten Prinzip der Zeitlu/~e: Wir machen von dem Ge- dankengang, der sieh im Aufgabel/Sser vielleicht mit blitzartiger Geschwindigkeit abspielt, eme Serie yon Momentanfnahmen, und fiihren nachher diese Aufnahmen in der urspriinglichen Reihen- folge aber in verlangsamtem Tempo vor, um die bequeme und deut- liche Erfassung des Vorganges zu erm6gliehen. Jedes Paar ent- sprechender Brider, eins yon links und eins yon rechts, fixiert eine augenblickliche Etappe des Gedankenganges, yon der psy- chologischen und von der logischen Seite her. Das Abrollen dieser Bilderpaare stellt die Aufeinanderfolge der Etappen, den leben- digen Gang der 12berlegung dar.

Die beiden Bilderreihen, die den Text yon links und rechts be-

WIE SUCHT MAN DIE LOSUNG MATHEMATISCHER AUFGABEN 147

gleiten, beschreiben das Geschehnis von zwei vcrschiedenen Seiten. Was geschieht jedoch eigentlich ? Der Aufgabel/Sser zieht verschiedene Vorkenntnisse heran und verwertet sie zu Zwecken der L~sung; er mobilisiert und organisiert seine Kenntnisse, um das Gesu~.hte einzufangen. Wie geht das vor sich ? Er hebt mit seiner A-fmerksamkeit an tier geometrischen Figur bekannte Konfigurationen hervor (wie fihnliche Dreiecke, Katheten und ttypothenuse am rechtwinkligen Dreieck U.s.w.); er reiht die an den hervorgehobenen Konfigurationen erkannten Beziehungen in ein logisches System ein. Die Mobilisation geschieht durdh Her- vorheben an der geometrischen Figur, die Einreihung der Bezie- hungen in das System ist Organisation. Mobilisation und Organi- sation der Kenntnisse sind kaum voneinander zu trennen, wir sehen die beiden parallelen Prozesse in den beiden parallelen Bil- derreihen miteinander abrollen.

Die Bilderrei,he. rechts, d'e schon Ms Zusammenfassung und Ver- festigung yon so vielen natiirlieh entstandenen Metaphern eine gewisse Beachtung verdient, gewiihrt, scheint mir, die besten Einblieke in den Gang der Lfsung. Vergleichen wir diese Bilder- reihe mit der Formelreihe. Nehmen wir eine bestimmte Formel, z.B. die, welche L ausdriickt, und den entsprechenden Tell der davon rechts gelegener~ logischen Figur, der Fig. 4b.

Die Formel besagt mehr Ms die Fi- la....__ , gur. Die Formel besagt, wie L aus / ' ~ - " ~ R, r, 1 bere,zhnet werden kann, die 1R Figur zeigt an, dass L aus R, r, 1 be- L = - - r rechnet werden kann. Aber die Figur ist, eben wen sie weniger besagt, I~ r besser angepasst der gegenw/irtigen Phase der LiSsung, worin, wie be- Fig. 8 sprochen, auf die Einzelheiten des Zusammenhanges noch nicht ankommt, sondern nur auf das Bestehen des Zusammenhanges. Die Bilderreihe er~th~ilt also, im Gegensatz zur Formelreihe, nur fiir die vorliegende L6sungsphase Wesentliches.

Die Bilderreihe rechts, welche das Wesentliche der jeweiligen logJschen Situation so treffend darstellt, ist besonders dazu ge- eignet, dass wir daran die Indizien erkennen, welche der logischen Situation innewohnen. Es k6nnen ngmlich in der logischen Situ- ation Indizien stecken, welche den erzielten Fortschritt, und die Aussichten des n/ichsten Schrittes einigermassen zu beurteilen

14C G. P~LYA

oder (besser gesagt) zu sch~tzen gestatten. Die Sch~tzung der Aussichten ist fiir den Aufgabel~ser unerl~sslich (obzwar sie nut selten in ganz expliciter Weise erfolgt): Wenn er zwischen zwei Wegen zu wS.hlen hat, so fragt er sich, welcher der aussicht- reichere ist; wenn er nut einen Weg vor sich sieht, so wiinscht er e/nige Aussichten dieses Weges herauszuffihlen, bevor er den Mut fL1det, ihn zu betreten. Ein Mehr oder Weniger an Aussichten beeinflusst die ganze Stimmung, das ganze Verhalten des Auf- gabel6sers; da ia die J-~sung vor dem Abschluss keineswegs lo- gisch gesichert ist - - Alles was getan, ist vielleicht vergebens ge- tan worden m bedarf der Aufgabel6ser gfinstiger Aussichten als proviscrischer Stfitzen, um guten Mutes zu bleiben und bei der Miihe auszuharren. In den fortlaufenden Kommentaren zu den beiden Bilderreihen, die sieh vorz/iglich mit den Bfldern rechts, den ]ogischen Figuren besch~iftigten, wurde der Versuch ge- macht, die Indizien zu lesen, die Aussichten zu sch[itzen, die Stimmung zu schildern, und so einen Aspekt des Gedankengan- ges aufzudecken, der besonders versteckt, der Darstellung be- sonders schwer zug~nglich und doch besonders wichtig [st.

Um aus dem vielseitigen Verlauf der Uberlegung die erw~hnten w/chtigeren Aspekte einigermassen hervortreten zu lassen, war v/elleicht nicht tiberfliissig, den Aufwand einer fiinffachen Dar- stellung auf uns zu nehrnen.

Wir haben zur Beobachtung des L~sungsvorganges eine grosse Apparatur verwendet. Vielleicht wurde aber das zu beobachtende gerade durch die grosse Apparatur verzerrt ?

Eine gewisse Verzerrung, n[imlich im Sinne der Verlangsamung und der Verdeutlichung war beabsichtigt, gerade zu diesem Zweck haben wir unsere ,Zeitlupe" gebraucht. Insbesondere wird in Wirklichkeit der Schiiler sich nicht aUe Zwischenfragen so deutlich vorlegen, wie es hier geschah; vielleicht werden ihm ein-zwei Zwischenfragen deutlich und dann eilt er dem Ziel, das er herankommen sieht, so rasch entgegen, dass er die letzten, leichteren Zwisehenfragen fast unbemerkt l~st. (Wir haben die Beschleunigung des Vorganges gegen das Ende durch Kiirzung der Kommentare hervorgehoben.) Fel ler werden einem Anfiinger die in der logischen Situation liegenden Indizien seines Fort-

WIE SUCHT MAN DIE LOSUNG MATHEMATISCHER AUFGABEN 149

sc.xittes viel weniger deutlich, als es hier hervorgehoben wurde; er wird wold die Stimmung haben: ,Jetzt geht es gut" oder ,Jetzt geht es scldecht', und diese Stimmung wird sich in seiner Behandlung der Auigabe auswirken; jedoch die Motive seiner Stimmung, die an der logischen Situation ablesbaren Indizien seines Fortschrittes wird sich der Anf~inger nur ganz ausnahms- weise deutlich machen k~nnen 1).

Ausser der zeitlupenartigen Verlangsamung und Verdeutli- chung weist, wi ~ ich hoife, die vorangehende Darstellung keine systematische Verzerrung auf; auf alle Fiille wurde in keiner wei- teren Hinsicht eine systematische Verzerrung beabsichtigt. Je- doch ist unser Beispiel, das ja ein erstes, einftihrendes Beispiel ist, in verschiedenen Hinsichten m~iglichst einfach gewfihlt. Es ist vielleicht angebracht, schon bier eine Hinsicht hervorzuheben, in welcher unser Beispiel einen besonders einiachen Fall darstel~t.

Der etwas idealisierte Schiller, dessen Verhalten beschrieben wurde, zauderte zwar h~iufig vor dem Betreten eines neuen Weg- stilcks, er hat aber kein Stilck Weg umsonst betreten. In der Mehrzahl der F[ille ist dies wold anders; man schl~gt manchen Weg ein, der sich nachher als Sackgasse herausstellt, und dann muss man unverrichteter Dinge zum ,~asgangspunkt zurilck ~md einen andern Weg versuchen, wobei man natilrlich Gefahr l~iuft, wieder in eine Sackgasse zu geraten. Solche Sackgassen kann man in unserer geometrischen Darstellungsweise des Gedankenganges wohl mit zur Darstellung bringen (wir haben es nicht getan, um die Figuren nicht zu ilbedasten, um das erste Verstiindnis nicht zu beeintr~chtigen) : Wir k6nnen unserem ,,logischen Baum" ein paar ,dilrre Zweige" anh[ingen und sie nachher, ohne Schaden filr den niltzlichen Zusammenhang, ,zdeder ,,absfigen". Wenn die logische Bilderreihe einen durch nutzlose Unternehmen wieder-

~) ES handelt sich hier, wie schon in der Einleitung angedeutet , um e in t Konstruk- tion, deren Sinn und Bereehtigung in folgendem besteht: Es ist wohl m~glich, dass der Schfller sieh die Zwischenfragen nicht nur nicht so deutlich, sondern i iberhaupt nicht vorlegt, und ihm sofort die Antworts i tuat ion einf~llt; es ist ebenfalls wohl rw~glich, sogar wahrscheinlich, dass der Schiiler die ]ndizien seines Fortschrit tes i iberhaupt nicht abw/igt, sondern nur die St immung yon Erfolg oder Kriolglosigkeit empf~ngt. Jedoch wfirde ein erfahrener Mathematiker an d~r e~gspreclwnd~ Sbffle einer schwie- Xigeren Anlgabe die Zwischenfrage sich wohl klar vorlegen miissen, bevor ihm die Antwortsituation einf~llt, und er miisste die Indizien seines Fortschri t tes wohl ab- w~gen, bevor er eine bestimmte St immung yon Erfolg oder Erfolglosigkeit empf~ngt. Aueh sind aller]ei Zwlschenstufen zwischen den beiden extremen F~llen beobachtbar , auf welchen die Ste|Inng der Zwischenfrage oder die Abw~gung der Indlzien nu t un-. vollkommen oder ganz rasch oder in Halbdunkel erfolgt, aber erfolgt.

l ~ 2 G. I~LYA

umgekehrter Richtung, yon unten nach oben, vom Gegebenen zum

X

R •

Fig. ?a Fig. 9b

Fig. 9¢ Fig. 9d

Fig. 9¢ Fig. 9t

Gesuchten. Bei der Ent- deckung des L0sungs- weges wuchs der ,,logi- sche Baum", ein wenig sonderbar, ,,riicld~iu- fig", regressiv, vonde r Spitz¢ zu den Wurzeln. Jetzt, in dem Masse, als der Schiller mehr und mehr Hilfsgr0ssen be- reclmet, d. h. dutch die gegebenen R, h, r, aus- drtickt, w~ichst der logi- sche Bau,n ,,natiirlich", progressiv, yon den Wurzeln zur Spitze. Vgl. in Fig. 9 die sukzessiven Etappen dieses Wachs- turns. Endlich ist die Spitze erreicht: Das ge- suchte F, der Fl~ichen- inhalt der gekriimmten Mantelfl~iche des Kegel- stumpfes, ist dutch die gegebenen R, h, r voU- st~.ndig ausgedriickt ;

der Schiiler, der in algebraischer Rechnung nicht ganz unge.- schickt zu sein scheint, erh~lt F in der Form

(8) F ----- 7¢ (R + ~) ~/(R - - r) a + h *.

Jetzt ist unser braver Schiller wirklich fertig, Wit diirien ihn end- giiltig entlassen und uns in Ruhe iiberlegen, was wir gesehen ha- ben.

Was haben wir eigentlich gemacht ? Wit haben versucht den Verlauf der LOsung an einem Beispiel zu erfassen. Wir haben versucht, unter Verwendung verschiedener Darstellungsmittel,

WIE SUCHT MAN DIE LOSUNG MATHEMATISCHER AUFGABEN | 5 3

die verschiedenartigen EinzeLheiten uns deutlich zu machen und in einem iibersichtlichen Gesamtbild zusammenzuhalten.

Was niitzt uns das ? Wit haben so erste Einblicke in verschie- dene Aspekte des L6sungsvorgangs gewonnen. Wir k6nnen wohl auch das ausfiihrlich durchdachte Beispiel sp~iter zum Vergleich heranziehen; wir haben an diesem Beispiel eine Art Vergleichs- massstab gewonnen, d~mm wollen wir es auch in den folgenden Zeflen das Stamtardbeis~iel nennen.

Was wollen wir jetzt tun ? Wir woUen eine Art Stichprobe machen: Wit nehmen einen besonders klaren Aspekt hervor und wir priiien unsere davon gewonnenen Eindriicke, indem wir dieselben einerseits mit Eindriicken aus unserer allt/iglichen Um- gebung, andererseits mit den Meinungen angesehener Autoren vergleichen.

Derjenige Aspekt des L6sungsvorganges, der zu einer solchen Stichprobe am meisten geeignet zu sein scheint, ist etwas formal, aber besonders auff/illig und nicht unwesentlich; er betrifft die Zurtickfiihrung der Hauptaufgabe auf Hilfsaufgaben. Ais Haupt- au/gabe bezeichne ich die urspriinglich zur L Ssung vorgelegte Aufgabe; Ms Hil/sau]gabe bezeichne ich irgendeine Aufgabe, wel- che der Aufgabel6ser, nach Kenntnisnahme vonder Hauptauf- gabe, sich selber vorlegt, in der Absicht, deren L6sung, wenn sie gelingen mute, zur F~rderung der Hau?taufgabe zu verwenden.

Die Hauptaufgabe ist, kurz gesagt, der Zweck, und die Hilfs- aufgaben sind die Mittel zu diesem Zweck. Die L6sung einer Hilfsaufgabe wird nicht ihrer selbst willen erstrebt, sondern in der Hoffnung sie der L6sung der Hauptaufgabe dienstbar machen zu k6nnen.

Die Hilfsaufgaben werden zwischen unseren mitgebrachten Kenntnissbesitz und die zu bew/iltigende Hauptaufgabe einge- schaltet, um die beiden miteinander zu verbinden; daher pflegt man sie treffend auch Zwischenaufgaben zu nennen. Wir wollen diese Dazwischensehaltung der Hilfsaufgaben an unserem Stan- dardbeispiel studieren, u.zw. in zwei Etappen studie:'en.

a) Durch die Hauptaufgabe unseres Standardbeispiels wurde die Berechnung der Mantelfl~iche F des Kreiskegelstumpfes ge- fordert; daher wollen w;~r diese Hauptaufgabe kurz als die Auf-

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gabe (F) bezeichnen. Die Hauptaufgabe wira in der DarsteUung der logischen Situation in Fig. I b dutch den offenen Raum zwi- schen F einerseits und R, h, r andererseits symbol/siert.

Die Hilfsaufgaben brachten in den Verlauf der L~sung die wesentlichen Wendungen; das Auftauchen jeder neuen Hflfsauf- gabe [inderte das logische Bild" daher ist ]eder Hilfsaufgabe eine Figur in der Figurenreihe 2b-6b gewidmet.

Der zuerst aufgetauchten Hflfsaufgabe entspricht die Fig. 2b oder, genauer gesagt, der offene Raum auf dieser Figur zwischen M, m einerseits und R, h, r andererseits. Durch diese Hilfsauf- gabe wurde die Berechnung der beiden vollen Kegelmantel M und m gefordert; daher wcUen wir diese Hflf~ufgabe als die ,Aufgabe (M,m)" bezeichnen. Die Berechnung yon M und m wurde nicht ihrer selbst wfllen unternommen, sondern um da- dutch der Hauptaufgabe, der Aufgabe (F) zu dienen.

Urn die Hflfsaufgabe (M, m) l~sen zu k~nnen, wurde die n~ichste Hilfsaufgabe (L, l) aufgesteUt, welche die Berechnung der beiden Linien L und l forderte. Insgesamt wurden neben der Hauptaufgabe fiinf Hilfsaufgaben aufgesteUt; die sechs Aufga- ben, in der Reihenfolge ihrer Entstehung aufgez/ihlt, sind

(F), (M, m), (L,l), (1), (x), (d);

(1)i (x) und (d) fordern bzw. die Berechnung yon I, x und d. Die Ltisuug yon jeder der ersten fiinf Aufgaben ist yon det der

nachfolgenden Aufgabe abh~ingig; jede Aufgabe kann sicher ge- 15st werden, sobald die nachfol~:;ende gclSst ist, jede stiitzt sich auf die nachfolgende, jede ist durch die nachfolgende bedingt. Nut die Schlussaufgabe (d) bra'acht sich auf keine weitere Auf- gabe zu stiitzen, da die Berechnung der Linie d unmittelbar ge- lingt.

Die LSsung yon jeder der fiinf letzten Auigaben (der fiinf Hilfs- aufgaben) wurde nur im Interesse der vorangehenden Auigabe unternommen; iede Aufgabe stfitzt die vorangehende, dient der vorangehenden. Nur die Ausgangsaufgabe, die Hauptaufgabe dient keiner anderen, sondern wird ihrer selbst willen behandelt.

In dieser Art der Abh~ngigkeit ist es begriindet, dass die L~- sung der sechs Aufgaben genau in der umgekehrten Reihenfolge erfolgte, als ihre Einftihrung: Zuerst wurde die zuletzt gefundene Hilfsaufgabe, die unmittelbar 16sbare Aufgabe (d) gelSst ; hierauf gestiitzt (x); hierauf gastiitzt (1), dann (L, 1), dann (M, m) und

WI]~ sUCHT MAN DIE LOSUNG MATHEMATISCHER AUFGABEN h~a~

erst allerletzt kam die Aufgabe (F), welche zwar als Hauptauf- gabe zuerst da war, abet yon (M, m) unmittelbar und von allen im Anschluss daran erfundenen Hilfsaufgaben mittelbar bedingt, nut als allerletzte geli~st werden konnte.

b) In unserem Standardbeispiel bilden die Hauptaufgabe und die T(F') angeschlossenen Hilfsaufgaben eine / ~(H,m) einfache oder unverzweigte Kette, | X(L.t) wie sie in Fig. lOa abgebildet ist: Die T Hauptaufgabe wird yon genau einer f([} Hilfsaufgabe gestiitzt; jede Hills- j 4(×) aufgabe ist, yon einer einzigen Aus- | S(dl nahme abgesehen, an genau zwei Aufgaben unmittelbar angeschlos- Fig. 10a sen, an eine, die sie stiitzt, und an

Fig. lCib

eine, yon der sie gestiltzt wird; diejenige einzige Hilfsaufgabe, welche die Ausnahme bildet, stiltzt nur, wird aber nicht gestiltzt.

Wenn auch derartige unverzweigte Ketten von Hilfsaufgaben h~iufig vorkommen und einen wichtigen, ausgezeichneten tCall bilden, diirfen wir nicht der Befange,.lieit verfallen, sie als den ei~lzig zul~issigen oder als den einzig zweckm/issigen Fall anzuse- hen. Wit waren, in der Tat, auch in unserem Standardbeispiel sehr nahe daran, eine verzweigte Kette von Hilfsaufgaben zu bilden. Als die Hauptaufgabe (F) auf die Berechnung der beiden vollen Kegelmantelfl~ichen M und m zurilckgefiihrt wurde, lag keine Veranlassung vor, die Berechnung dieser beiden, einander sehr nahe verwandten GrSssen voneinander zu trennen; darum konnte natilrlicherweise die Berechnung beider zu einer und der- selben Aufgabe (M, m) zusammengeschlossen werden. Bei einer etwas anderer Auffassung h~itte man hier zw,ei getrennte Aufga- ben a~fstellen kfnnen: Eine erste Aufgabe (M) (d.h. M zu be- rechnea) und eine zweite (m). Dann h~itte man, folgerichtiger- weise, auch zwei Aufgaben statt (L, 1), n~imlich (L) und (I) auf- stellen sollen. (Die klare Scheidung dieser beiden h/itte dem Schil- ler ein ).~ingeres Zaudern ersparen k6nnen !) Bei dieser Auffassung (die vonder vorher betrachteten, etwas natiirlicheren verschieden ist) filhrt die LSsung dcr in unserem Standardbeispiel betrachteten Aufgabe nicht zu filnf, sondern zu sechs Hilfsaufgaben, welche mit der Hauptaufgabe hier zusammengestellt sind:

l ~ G. P~LYA

(M), (L), (x), (d). (F), (m), (l),

Das System dieser Hilfsaufgaben bildet nun eine verzweig~ Kette, vgl. Fig. 10b. (Es wird Fig. 10b aus Fig. 7b durch Weglassen der- jenigen Linien erhalten, welche zu einem der Punkte R, h, r fiihren.)

Die Aufsuchung der I~sung einer mathematischen Aufgabe ist eigentlich nur ein extremer, ausgezei.chneter Spezialfall yon etwas Allgemeinerem: die Aufsuchung der L~sung ist eine extrem spe- zialisierte iiberlegte zweckstrebige Handlung. Wenn eine Handlun'g keine blosse Reflexbewegung ist, nicht rein triebhaft und auch nicht rein gewohnheitsm~sig erfolgt, so geht ihr eine deutliche Au]stellung des Zwecks und eine Uberlegung, ein Nachdenken, ein Suchen, hack geeigneten Mitt eln zum au]gesteUten Zweck voran. Die aUgemeinen Umrisse einer solchen zweckgerichteten l~berlegung hat schon Hobbes mit grosser Klarheit u~d Sicherheit geschil- dert:

,Der Wunsch erweckt in uns die Vorstellung yon einem Mittel, das wir schon gesehen haben etwas dem Gewiinschten Ahnliches hervorzubringen. Und die Vorstellung yon die~m Mittel erweckt in uns die Vorstellung yon einem Mittel zu diesem Mittel; und so unausgesetzt weiter, bis wir zu einem Ausgangspunkt kommen, der in unserer Macht liegt."

Diese Beschreibung passt ja vollst[indig auf den Verlauf der Ltisung einer mathematisehen Aufgabe, wie wir ihn an unserem Standardbeispiel kennen gelernt haben: Zuerst ist die Hauptauf- gabe da, der Wunsch sie zu 16sen; die Hauptaufgabe erweckt eine Hilfsaufgabe, welehe das gewiinschte Resultat ergeben k6nnte; die Hilfsaufgabe erweckt eine Hilfsaufgabe zur ,-Iilfsaufgabe; und so unausgesetzt weiter, bis wir zu einem Ausgangspunkt kommen, der in unserer Macht liegt, d.h. zu einer letzten Hilfs- aufgabe, die wit ohne we~teres 16sen k6nnen.

Es ist leicht, den von Hob~,es so treffend gezeichneten Umri=s einer zweckgerichteten Uberlegung durch beliebig viele aUtfig-

WIE SUCHT MAN DIE LOSUNG MATHEMATISCHER AUFGABEN 157

fiche Bei.,,piele zu fiillen. Wir woUen einige Beispiele uns verge- genw~irtigen, und die Ahrdichkeit mit rnnathernatischen Uberle- gungen m6glichst konkret hervorheben; wir wollen die Anregung, die von einem Vergleich yon abstrakten rnit aUt~iglichen Dingen ausgehen kann, uns nicht entgehen lassen.

Ein Knabe wiinscht sich eine Birne, die au.f einem Baum h[ingt; wenn er die Birne rnit der Hand nehmen kann, dann ist seine Aufgabe u der Ausdruck wird wohl angebracht sein --- un- mittelbar l~sbar. Wenn jedoch der Knabe die gewiinschte Birne nicht rnit der Hand erreichen kann, muss er sich auf ein Mittel besinnen, einen Weg suchen, einen Plan machen. Wohl geht er rasch arts Werk und es fiillt ihm etwa ein: , Ich k6nnte die Birne herunterschlagen, wenn ich einen Stock h~itte." Falls er nun einen Stock in der N~ihe weiss, ist er schon mit seinem Plan zu Ende, under schreitet zur Ausfiihrung: Er holt den Stock herbei und schl~igt damit die Frucht herunter, r ,Us ihm kein Stock in der N~ihe einfiillt, spinnt er den Faden seines Planes weiter, sucht etwa einen Gegenstand, der den Stock erset~.en k6nnte, oder er l~isst vielleieht den Faden fallen und kniipft einen neuen an, ir, dem er auf ein anderes Mittel verfiillt: den Baum zu sch/itteln, hinaufzuklettern u.s.w.

Wir k6nnen in diesem primitiven Verhalten wesentliche Ziige unseres Verhaltens rnathematisehen Aufgaben gegeniiber wieder- erkennen. Was hat der Knabe mit seinem :Plan eigentlich geleistet ? Er hat seine urspriingliehe Aufgabe, seine Hanptaufgabe: ,,Die Birne zu nehmen" zuriickgefiihrt auf eine Hilfsaufgabe: ,,Einen Stock herbeizuschaffen". Er ist mit seinem Plan fertig, falls die eingefiihrte Hilfsaufgabe unmittelbar 16sbar ist. Falls er aber die Hilfsaufgabe nicht unrnittelbar 16sen kann, fiihrt er diese (oder eventueU die urspriingliche Hauptaufgabe) auf eine andere Hilfsaufgabe ~uriick u.s.w., bis er schliesslich zu einer Aufgabe ge- langt, die er als unmit~elbar 16sbar erkennt. Indem er so Aufgabe auf Aufgabe zuriickfilhrt, Mittel zu Mitteln, Hilfsaufgaben zu Hilfsaufgaben erfindet, geht er in der Hauptsache ebenso vor, wie der Schiller in unserem at~lsfiihrlich besprochenen Standard- beispiel.

Wir k6nnten das auf die Birne gerichtete Vorgehen des Knaben, wie vorher das auf die Schulaufgabe gerichtete Vorgehen des Schiilers, durch den allm/ihlichen Aufbau eines logischen Linien- diagramms darsteUen~ Wir k6nnen auch umgekehrt, zuerst die

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Punkte und die gerichteten Linien eines Diagramms hinzeichnen, und dann die Punkte als zu erreichende Gegensfiinde, die Linien als F~iden eines Planes deuten, indem wir irgend eine triviale, abet nicht zu unnatiirliche Interpretation des Planes ersinnen, wie z.B. die folgende: Ein Mann soil in einem mit M6beln vollgestell- ten Zimmer an eine bestimmte Stelle der Wand gelangen, um da eine Reparatur vorzunehmer~. An der reparaturbediirftigen Stelle steht abet an tier Wand ein M~belstiick A; der Mann muss A wegschieben, das ist seine Aufgabe. Um abet :las M6belstiick A wegschieben zu k~nnen, muss er etwa die daranfstehende Uhr in Sicherheit bringen, den Teppich wegrollen, ein Nachbarrn6bd fortschieben u.s.w., kurzum gewisse andere M6bel BI, Bs, Bs . . . . aus dem Weg schaffen. Um aber BI, B2, Bs, ~ . . . . Platz zu machen, muss er noch andere M~belstueke C~, Cz, Cs . . . . . wegr~iumen; urn diesen Platz zu machen, noch weitere D v Ds, Ds . . . . . So iiberlegt er sich die Sache welter, bis seine Uberlegung schliesslich zu Ge- genst~nden Z,, Zs, Zs . . . . . gelangt, welche er ohne weiteres be- wegen kann. Damit hat er seine Hauptautgabe, das M6belstiJck A wegzusehieben, auf ei,~ wohlzusammenh~.ngendes System von Hilfsaufgaben zuriickgefiihrt, von welchen die letzten, welche das Wegsehieben der M6belstiicke ZI, Zs, Z8 . . . . . . verlangen, un- mittelbar ausfiihrbar sind, einen ,Anfang, der in seiner Macht liegt" bieten. Jetzt reichen die F~den seines Planes von dem ur- spriingHch zu erreiehenden Punkt A durch alle Zwischenpunkte B1, Bs, Bs . . . . . C1, Cffi, Cs . . . . . Dl, Ds, D3 . . . . . hindurch bis zu den unmittelbar erreichbaren Punkten Z~, Zz, Za . . . . .

Nun ist der Mann in dem vollgestopften Zimmer mit seinem Plan fertig und schreitet zur Auffiihrung. Was wird er zuerst tun? Er schiebt zuerst diejenigen M~belstiicke fort, welche er ohne we;-teres bewegen kann, die M6belstiicke ZI, Zs, Zs . . . . . . auf welche er in seiner Uberlegung zuletzt verfallen ~t. Nun kann er diejenigen M6belstiicke bewegen, deren Verschiebbarkeit durch die Verschiebung von ZI, Zt, Za . . . . . bedingt war, die M6- belstiicke Y,, Y~, Y8 . . . . . So schafft er weiter; Dl, Dz, Ds . . . . .

• mtissen vor C1, Cs, Cs . . . . . fortger~umt werden, C1, Cz, Cs . . . . . vor B~, Bs, Bs . . . . . und erst wenn er Bl, Bt, Bs . . . . . fortgeschafft hat, gewinnt er den gewiinschten Platz, um das M~belsttick A

WIE SUCHT MAN DIE LOSUNG MATH~MATISCHER AUFGABEN l ~ 9

wegzuschieben, dessen Wegschieben sein urspriinglicher Zweck war, wovon seine Oberlegung ansging.

Das Beispiel ist offenbar etwas auf die Spitze getrieben. So /iberlegt und so iiberlegen, so voUst~indig planm~issig geht man nut selten ans Werk. Eine zu vollst~indige Uberlegung sieht bei einer derartigen Aufgabe etwas unnatiirlich und wohl auch un- zweckm~ssig aus. Man iiberlegt sich den Plan mehr oder weniger welt; im vorliegenden Fall h~itte ein Berufspacker den Plan wohl etwas welter iiberlegt, als ein Gelegenheitsarbeiter mit oder ohne weissen Kragen, aber auch nicht allzu welt. Im allgemeinen vdrd man weniger geistige Kraft auf die Aufstellung und mehr physi- sche Kraft auf die Ausfiihrung des Planes verwenden. Man wird sich n~imlich den Plan nicht so vollst~indig zurechtlegen, ihn w~hrend der Durchfiihrung korrigieren und ab~indern, um unvor- hergesehenen, pl6tzlich anftauchenden Schwierigkeiten zu begeg- nen, man wird dabei Einiges zwecldos hin und herschieben, und so in k6rperlicher Arbeit ansgeben, was man an Verstandesarbeit gespart hat.

Aber gewisse wesentliche Z/ige der geschilderten voUiiberlegten Handlungsweise linden sich in unserem Verhalten einer Unzahl von verschiedensten Aufgaben gegcn/iber. Wit machen einen Plan und nachher gehen wir an die Aus/iihrung. Wenn wir den Plan machen, so ~chreiten wir in Gedanken yore Gewiinschten zum Vorhandenen ; wenn wir den Plan ausfiihren, so schreiten wit in Wirldichkeit vom Vorhandenen zum Gewiinschten. Beide Male ber/ihren wir dieselben Gegenst~inde: in Gedanken, wenn wit den Plan machen, und in Wirklichkeit, wenn wit den Plan ausfiihren. Und es besteht noch ein weiterer Unterschied, n~imlich in der Reihenfolge: Der Knabe denkt zuerst an die Birne, nachher an den Stock, er nirnmt hingegen zuerst den Stock, nachher die Birne. Ahnlicherweise handelt der Mann, der im voUgepfropften Zim- mer hantiert: bei der Verwirldichung seines Planes verfolgt er dessen F~iden nach riickw~irts. Und so ist es aUgemein. Die Aus- fiihrung h6rt anf bei dem urspriinglich gewiinschten Gegenstand, von dem der Plan ausging; dies gilt wohl auch fiir halbdurch- dachte Handlungsweisen. Bei volldurchdachter Handlungsweise kann man noch hinzufiigen: Die Ausf/ihrung geht ans von den- jenigen unmittelbar erreichbaren Gegenst~nden, bei denen der Plan aufh~rte. In diesem Sinne war, in unserem Standardbeispiel, die Handlungsweise des Schii!ers bei der Aufl6sung seiner Aufga-

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be yoU durchdacht: er durchlief die Reihe seiner Hilfsaufgaben bei der Ausfiihrung genau in umgekehrter Reihenfolge, als bd der Aufstellung. Das volliiberlegte Verhalten, das ira Falle des Marines ira vollgepfropften Zimmer etwas unnatiirlich und un- zweckrn~issig aussah, ist im Falle einer mathematischen Aufgabe nat/idich und zweckm/issig.

12

Die Rolle, welche die Hilfsaufgaben beirn Zustandekommen der L~sung spielen, wurde schon von den griechischen Mathematikern beobachtet. Zeugnis hieriiber legt eine, fiir unseren Gegenstand auch sonst iiberaus wichtige Stelle cler ,,Collectiones" von Pap- pus ab (etwa aus dern 3. Jahrhundert n. Chr. ), welche ich hier folgen lasse.

,,Die sogenannte Aufl6sungskunst ist, kurz gesagt, ein Gegen- stand fiir den Gebrauch derjenigen, welche, nachdem sie die all- gemeinen Elemente schon durchgenommen haben, sich die Fer- tigkeit aneignen wolle~, vorgelegte geometrische Aufgaben zu 16- sen, und dies ist cler einzige Nutzen dieser Disziplin. Sie wurde yon Dreien behandelt, yon Euklid, dem Verfasser der Elemente, yon Apo~onius aus Perga und Aristaeus dem Alteren. Sie geht vor mittels Analysis und Synthesis.

,,Die Analysis ist derjenige Weg, auf welchem wir yore Ver- langten, als oh es schon zugestanden w~ire, ausgehen, und durch darauf gestiitzte Folgerungen hindurch zu einem Punkt gelan- gen, den wir bei der Synthesis zugestehen k~nnen. Wir nehmen n/imlich in der Analysis das Gesuchte als schon gefunden an, und priifen, yon welchem Vorangehenden es herriihren k6nnte, und prEfen wieder, was dern Vorangehenden ~och weiter vorangehen k6nnte und so fort, bis wir so riickwai'ts laufend etwas antreffen, was entwecler schon bekannt ist oder als Prinzip gelten darf; diese Art der Behandlung nennt man, da sie riickw/irts 1/iuft, Analysis, d.h. riieid~ufige Aufl~sung.

,,In der Synthesis wird, umgekehrt, das Bekannte, was wir in der Analysis zuletzt angetroffen haben, als Ausgangspunkt be- niitzt, und die dort vorher entdeckt wurden, werden hier, der natiirlichen Reihenfolge gemgss sp~iter darangenommen und miteinander zusammengestdlt, bis wir schliesslich zur Konstruk- tion des Gesuchten gelangen, dies nennt man Synthesis, d.h. Zu- sarnmenstellung.

WIE SUCHT MAN DIE LOSUNG MATHEMATISCHER AUFGABEN 161

,,Es gibt zwei Arten von Analysis. Die eine bezweckt die Auf- findung der Wahrheit und heisst theoretische Analysis, d.h. Ana- lysis der Theoreme, der S~itze; die andere bezweckt die Auffindung des Gesuchten, und heisst problematische Analysis, d.h. Analysis der Probleme, der Bestimmungsaufgaben.

,,In der Analysis der Theoreme nehmen wir zun~ichst das zu Beweisende als wahr an, dann alles daraus Folgende ebenfals als wahr und begriindet an, bis wir diese Folgerungen weiter trei- bend etwas Feststehendes erreichen. Wenn dieses Erreichte wahr ist, wird das zu Beweisende auch wahr sein, und der Beweis wird der Reihenfolge nach der Analysis entgegengesetzt verlaufen. Wenn wir hingegen auf etwas gestossen sind, dessen Falschheit feststeht, so wird das zu Beweisende auch falsch sein.

,,In der Analysis der Probleme nehmen wit das Gesuchte als gegeben an, und ares, was sich daraus nach und nach ergibt, ebenfalls als gegeben an, bis wir, das sich Ergcbendeweiterverfol- gend, zu etwas Bekanntem gelangen. Wenn dieses Bekannte m~glich ist und herbeigeschafft werden kann (dies nennen die [greichischen] Mathematiker ,,mitgegeben"), so wird auch das Gesuchte miSghch sein, und der Beweis wird wieder der Analysis der Reihenfolge nach entgegengesetzt ~'~rlaufen. Wenn wir hin- gegen auf etwas stossen, dessen Unm~glichkeit feststeht, so wird auch das vorgelegte Problem unli~sbar sein."

Diese kurze Stehe von Pappus gibt offenbar nur eine gedr~ingte Zusammenfassung, und es folgt ibr leider keine ausfiihrlkhere Darstelhng. Die genaue Betrachtung der Einzelheiten fiihrt unwiderstehlich zu dem Eindruc~.~, dass dicser kurze Text sehr viel enth~ilt und mit ausserordentlicher Einsicht und Pr~izision abgefasst ist. Wir woUen hier nur diejenigen Punkte des Textes hervorheben, welche wir auf Grund unserer bisherigen Uberle- gungen mit einiger Sieherheit verstehen k~nnen.

a) Die ,,Aufl~sungskunst" will denjenigen sich niitzlich er- weisen, welche ,sich die Fertigke't aneignen woUen, geometri- sehe Aufgaben zu liSsen." Diese Zielsetzung koinmt wohl unge- fahr auf dasselbe hinaus, wie die der vorliegenden Zeilen.

b) ,,Die Analysis ist der~enige Weg, auf welchem wit yore Verlangten . . . . ausgehen . . . . und priifen, yon welchem Voran-

Acta Psychologica IV 11

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gehenden das Gesuchte herriihren k~nnte". Diese Beschreibung k~nnte auf das Vorgeben des Schiilers in unserem Standardbei- spiel passen; auch der Schiller ist vom Verlangten, vom Gesuch- ten, vonde r Hauptaufgabe ausgegangen, und priifte, wovon es herriihren k6nnte. ,,Wir priifen in der Analysis, yon welchem Vorangehenden das Gesuchte herriihren k6nnte, und prtifen wie- der, was dem Vorangehenden noch weiter vorangeben k~nnte und so fort, his wir so r/iclc~rts laufend etwas antreffen, was ent- weder schon bekannt ist oder als Prinzip gelten dad." Dies trifft js beim Verfahren des Schiilers v~llig zu, wenn wir .das Voran- gehende" so iibersetze~ diirfen: ,,diejenige Aufgabe (Hilfsauf- gabe), auf welche die eben betrachtete Aufgabe gestiitzt werden kann." Demnach h~tter~, wir die Art der Behandlung in unserem Standardbeispiel, welch,', durch die Figuren 1-7 ausgedriickt ~t, in der Terminologie yon Pappus als Analysis zu bezeichnen.

Lesen wir jetzt, unter Festhaltung der gewonnenen Interpre- tation, den n~ichsten Abschnitt des Pappusschen Textes. ,,In der Synthesis wird umgekehrt das Bekannte, was wir in der Analysis zuletzt angetroffen haben (in unserem Falle die Strecke d) als Ausgangspunkt beniitzt, und die dort vorher entdeckt wurden, werden bier, der natiirlichen Reihenfolge gem~ss, sp~iter daran- genommen (,,natiillich " nennt er also die Richtung yon dem schon Erreichten naeh dem noch zu Erreicbenden) und mitein- ander zusammengestent, his wir schliesslich zur Konstruktion des Gesuchten (zur Berechnung des gesuchten F in unserem Falle) gelangen". Somit ist die Synthesis nichts anderes, als die Ausfiihrung des dureh die Analysis aufgestellten Planes; wit ha- ben uns an mehreren Beispielen iiberlegt, warum die Reihenfolge der Ausfiihrung der Reihenfolge der Planung entgegengesetzt verl~uft.

c) Wenn man die bei den Griechen iibliehe Bedeutung der Worte ,,Theorem" und ,,Problem" ke,,mt, so wird man naeh Lek- tiire yore Rest des angefiihrten Textes, die unter b) gewonnene In- terpretation ftir unzweifelhaft ~utreffend halten. (Vergessen wit jedoch nicht, dass wit eine Refae dunkler Ausdriicke tibersprun-. gen haben: ,,Vom Verlangten a~lsgehen, als ob es schon zugestan- den w~ire"; ,,das Gesuchte als ~chon gefunden annehmen'; ,,das Gesuchte als gegeben annehmeil'; ,,das zu Beweisende als wahr annehmen". Die Interpretation dieser etwas paradoxen Aus- driicke ist tats~chlich etwas zweifelhafter als die des iibrigen

WIE SUCHT MAN DIE L~SUNG MATHEMATISCHEI~ AUFGABEN ! 63

Textes, aber, wie mir scheint, doch sehr wenig zweifelhaft; wi~ wollen indessen auf die Interpretation dieser paradoxen Aus- driicke, deren Wiederhall noeh vor einigen Jahren in manchen Schulbiichern zu finden war, bier nicht eintreten.)

d) Bei ganz genauem Zusehn merkt man, dass der Pappussche Text, wenn auch mit bemerkenswerter Einsicht und Pr~zision abgefasst, gewisse kompliziertere F~lle und gewisse genauere Einzelheiten nicht beriicksichtigt. Auf einen Umstand, der bei Pappus sicherlich nicht explicite beriieksichtigt ist, k6nnen wir schon hier hinweisen: Es ist die unter 8b) besprochene M6glich- keit der Verzweigung der yon den Hflfsaufgaben gebildeten Kette (vgl. die Figuren 10a und 10b).

Es liegen Griinde vor, zu vermuten, dass die zitierte Stelle des Pappus in einer historisch wichtigen Zeit, zu Geburtszeiten der modcrnen Mathematik und Philosophie, sehr beachtet w~rde und einen gewissen Einfluss ansgeiibt hat; verschiedene Stenen bei Vieta, Descartes, Pascal, Newton u.s.w, scheinen mir deutlich dafiir zu sprechen. Ich beschr~nke mica hier auf ein einziges Zi- tat, anf eine Stelle der Logique de Port Royal, dem bekannten Werk von Arnauld und Nicole, das manehe Spuren des direkten Einflusses yon Descartes und Pascal trfigt.

,Schliesslich sind diese beiden Methoden (die Analysis und die Synthesis) nur so voneinander verschieden, wie die Besteigung eines Berges yon einem Tal aus und der Abstieg, der yon dem Berg ins Tal zurtickfiihrt~ oder wie die beiden Arten, auf welche man beweisen kann, dass jemand vom Heiiigen Ludwig ab- stammt: n~mlich einmal durch den Naehweis, dass der Bewusste Jenen zum Vater hat, welcher Sohn eines Dritten war, dieser eines Vierten, und so weiter bis zum Heiligen Ludwig; cder aber, indem man beim Heiligen Ludwig anffingt und zeigt, dass er die und die Kinder gehabt, diese wiederum jene, bis ma n zu der betreffenden Person angelangt ist. Dies Beispiel tut umso mehr zur Sache, als man ja, um eine unbekannte Herkunft zu erforschen, vom Sohn zum Vater aufsteigen muss, w~hrend man zur Erl~uterung der hergestellten Genealogie iiblieherweise behn Stamme be~nnt, urn hernach seine AbkSmmlinge aufzuweisen, ganz wie in den Wis- senschaften, wo, nach dem Auffinden einer Erkenntnis mit Hilfe

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der Analysis, man sich gew~hnlich der umgekehrten Methode be- client, um das Gefundene zu crkl~en."

Diese Stelle liest sich wie ein verst~ndnisvoller und geistreicher Kommentar zu Pappus. Interessant scheint mir die Bemerkung zu seln, dass die Analysis die Methode des Entdeckens sei, w~-h- rend die Synthesis nur dazu diene, das Entdeckte zu ,erl~utern". (Man erinnere sich daran, dass in unserem Standardbeispiel die Analysis, d.h. die Aufstellung der Kette der I-Iilfsauigaben, bei jedem neuen Schritt eine Erfindung, einen Einfall erfordert, w~ihrend die Synthesis, d.h. die Ausfiihrung, nur genaue Erin- nerung auf das vorher Erfundene, abet keine neue Erfindung ver- langt.) Interessant scheint mir ferner der Hinwe~, dass man auch bei der L~sung einer nicht-mathematischen Adfgabe mittels Ana- lysis und Synthesis vorgehen kann.

Die Rolle der Analysis und .Synthesis, d.h. der Planung und der Ausfiihrung bei nichtmathematischen Aufgaben ist ausser- ordentlich zutreffcnd, kurz und klar beleuchtet durch die fol- gend~n Worte von Mach, welche wie ein spiites (vielleicht nicht direktes) Echo von Pappus ldingen und durch welche ich diese Betrachtungen beschliessen will: ,Wer sich zur Uberschreitung eines Bacheseinen Baumstamm von Ufer zu Ufer gelegt wiinscht, denkt sigh eigentlich die Aufgabe gel~st. Indem er iiberlegt, dass derselbe zuvor herbeigeschafft, vorher aber gefiillt werden muss u.s.w., geht er den Weg yon dem Gesuchten zu dem Gegebenen, den er bei der Konstruktion der Briicke in umgekehrtem Sinne, in mngekehrter Reihenfolge der Operationen, zuriicklegt."

WIE SUCHT MAN DIE I~SUNG MATHEMATISCHER AUFGABEN ] 65

s ~ s v u ~

Le present travail s'efforce plut6t de bien poser la question que d'en donner une solution. II faut observer que la question dont il s 'agit ici n~cessite assez souvent des nuances d'expression qui se perdent fatalement en chaque r~sum~.

I. Pour charact6riser une question, il est utile de voir un chemin qui nous y mSne naturellement. Ides probl~mes math6matiques peuvent nous inspirer, outre l'int~r~t math~matique, le d~sir de comprendre psychologiquement la naissance de Iz :~olution; ce d6sir vient nat,~rel- lenient ~ un 6tudiant qui, s '6tant assez bien habitu~ ~ comprendre les d6monstrations math~matiques, n 'a pas encore l'exp6rience de trouver des d~monstr&tions; le m~me d6sir peut venir ~ un re'Mire de math~ma- tiques qui observe intelligemment le d6veloppement de ses 61~ves, etc. La comprehension psychologJque de la naissance de la solution pour- raft avoir des applications pratiques dans renseignement; voici une consid6ration qui pent donner du relief au probl~me du present travail.

La naissance de la solution est un processus psychologique qui pr~- sente une tr~s grande vari~t6 d'aspects. Deux chapitres essayent de saisir ce processus de deux c~tes diff6rents. Les aspects qui n~cessitent des considerations Iogiques plus sp~ciaies ne sont pas encore trait~s dans le present ouvrage.

2. Un premier chapitre ~num~re quelques points qui jouent, on est port6 ~ croire0 un certain rSle dans la recherche de la solution; ces points sont en partie plus que connus, il s 'agit ici de les mettre en relation d 'une mani~re bien ordonn6e avec le processus qui nous in- t~resse. II faut d 'abord insister sur un point ~vident: sur la n~cessitJ d ' ~ i liser des connaissances ant~rieurement acquises - - d'utiliser, en vue de la solution, l°apport des experiences pass~es. Le processus de la solution se pr~sente d 'abord sous la forme de chafnes d'iddes issues du probl~me, cha~nes qui se prolongent par l ' .association" et sont dirig~es par l',,aspiration vers la solution". S'attacher au probl~me d'abord, puis aux idles qui nous en viennent et qui promet tent d 'etre utiles, voil~ un trait caract6ristique de ces chatnes d'id6es. Evaluer la difficult6, 6valuer la distance jusqu'au but, ~valuer tes chances du pas que nous ailons entreprendre, voflk une op6r~tion de l 'esprit impor~ante pour atteindre la solution. La mobilisation et l 'organisation des souvenirs se fait en

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grande part ie sous l'im~uls~on de notre d6sir de compr6ndre le probl6me, de comprendre les points impor tan ts qui s 'y r a t t achen t ; quand il s 'agi t de choses math6matiques, , ,comprendre" se t r adu i t souvent par , , remonter aux d6finitions", pa r , ,substituer la d6finition k la place du d~fini" (Pascal). Comprendre le probl~me de diffc~rents cSt~s, le ¢once. your de points de rue wr~d~ peut ~tre un moyen de le r a t t ache r k nos connaissances appropri~es de la mani~re appropri~e. T#n@ ¢ompte de [a to~li~d de la ~i#r,a~ion p r ~ e r v e la connexion avec les choses envisagdes antdr ieurement ; en d~v¢lo~a~ ~ rue d'ensembie nous pouvons arriver

former un tou t organisd des matdriaux rassombl~s.

3. Le dernier chapi tre essaye de montrer comment les a t t i tudes mentionndes (au moins lea plus simples d 'en t re elles) concourent former la solution. Pour a t te indre ce but , on se ser t d 'un exemple particulier, d 'un probl~me de g,.Iomdtrie simple. Naturellement, le processus pr6sent6 n ' a pas pu ~tre tird d 'une seule observat ion; il est le rdsultat d 'une , ,construction" t e n a n t compte de beaucoup d'obser- ra t ions . Pour isoler les aspects varies, on prdsente le processus de cinq mani~res diffdrentes procddant parall~lement. On p.r~sente le mo- nologue de l'dl~ve qui rdsoud le probl~me - - une sdrie de formules une premiere sdrie de figures, mon t r an t comment la conception de la figure g6om6trique examinde se change et s 'enrJchit au cours du travail

une seconde s6rie de figures, symbolisant l 'dvolution Iogique et la connexion d~s relations successivement trouvdes par l 'dvolution d 'un d iagramme et la connexion des lig.~es et des points qui le cons t i tuent un commentai re sur ces figures, qui souligne les perspectives change- antes et les circonstances dont on peut se servir pour dvaluer les chances du succ~s ~ chaque t o u r n a n t du chemin qu 'on parcourt .

Pour conclure, on donne quelques citat ions qui semblent indiquer que certalns t ra i t s essentiels de la solution des probl~mes ont dt6 en- visagds ~ peu pros de la m~me mani~re par Pappus, par Hobbes, par la Logique de Por t -Royal et par Mach.

ZUSAMMENFASSUNG

In der vor!iegenden Arbeit wird mehr C, ewicht aul die pointierte Darlegung als auf die Beantwor tung der aufgeworfenen Fragestellung gelegt; es kommt dabei vielfach auf die Einzelheiten der Formulierung an, dis bei jeder Zusammenlassung notwendigerweise verloren gehen mfissen.

I. Zur Charakterisierung der Fragestellung dient zun~chst der Weg, auf welchem m~n nattirlicherweise zu ihr gelangt. Irgendeine Art

VIE sUCHT MAN DIE LOSUNG MATHEMATISCHER AUFGABEN 167

eingehende B e s c h ~ i g u n g mit mathematischen Aufgaben kann den Wunsch erwecken, Einblick in das psychische Zustandekommen der L6sung zu gcwinnen: dem Studierenden, der mathematische Beweise schon verstehen, abet noch kaum selber finden kann, kommt typischer- weise ein soleher Wunseh, oder auch dem Mathematiklehrer, der seine Schtiler mit Interesse beobachtet, u.s,w. Auch der Ausblick auf m~gliche Anwendungen, z.B. im Unterricht, kann dazu helfen, die Fragestellung sch~rfer zu umreissen.

Das Zustandekommen der LOsung ist sicherlich ein ausserordentlich vielseitiger Vorgang; es wird in den beiden folgenden Abschnitten versucht, es yon zwei ziemlich verschiedenen Seiten her zu erfassen; solche Aspekte des Vorganges, welche ein n~heres Eingehen auI Ioglsche Begriffe ben6tigen, werden in der vorliegenden Arbeit noch nicht besprochen.

2. Ein Abschnitt ist der geordneten Aufz~hlung yon Momenten ge- widmet, denen bei Zustandekommen der LOsung eine Rolle zuzufallen scheint; es handelt sich dabei z.T. um gel~tufigste Punkte; das Gewicht liegt aut gewissen Nuancen und auf der geordneten Beziehung dieser Dinge aui den L6sungsvorgang. Es ist selbstverst~ndlich, aber viel- leicht doch nicht tiberfltissig zu.erw~hnen0 die Notwendigheit Vorkennt- nisse heranzuz~ehen ~ die Notwendigkeit, Mitgebrachtes, vorher Be- kanntes, Erlebtes bei der L~sung zu verwenden. Die .4nregung yon Gedankenldufen dutch die Aufgabe, welche .assoziativ'°0 gerichtet vom .Streben" naeh der L6sung, vor sich genen, ist derjenige Aspekt, unter dem sich der L6sungsvorgang zuerst zeigt. Das Verweilen bei der vor- gelegten Aufgabe, sowie auch bei den im Anschluss daran eingefallenen f6rderlich erscheinenden Punkten ist ein charakteristischer Zug solcher Gedankenl~ufe. Die Schdtzung unserer ,Ent fernung" yon der L~sung, die Sch~ttzung der Aussichten des zu unternehmenden Schrittes bevor wit ihn nnternehmen, ist ein wichtiges, bisher kaum genfigend ge- wiirdigtes Moment beim Zustandekommen der L~sung. Die ,~obflisati- on und Orga~isation Jet Erinnerungen zwecks der L6stmg erfolgt zu gu- tern Tell unter dem Streben nach Verstdndvis der vorgelegten Aufgsbe, nach VerstAndnis aller wichtigeren im Anschluss dara u aufgetauchten Punkte; dieses Streben nach Verst~ndnis ~ussert sich beim mathemati- schen Auigaben im Zur~ckgreifen auf die Definitionen. Verst~ndnis yon verschiedenen Seiten her, abwechselnde Auf/assung ksnn den ge- eigneten Anschluss an die geeigneten, Vorkenntnisse erm~glichen, Die R~lcksichtsnahme au I die Gesamtsituation wahrt den Zusammenhang mit den friiheren Phasen der Untersuchung, cturch Gestaltung des Gesamt- bildes erfolgt die Organisztion des Materials zu einem wohlzusammen- h~ngendem, einheitlichen Ganzen.

3. Der letzte Abschnitt versucht das Zusa,:,,menwirken der ein- facheren vorhin erw~hnten Momente an einem konkreten Beispiel zu zeigen0 an der L6sung einer geometrischen Schulaufgabe. Das Beispiel ist natiirlich konstruiert (weun auch vorsichtig und unter st~ndiger

168 G. P~LYA

Bezugnahme auf Beobachtungen konstruiert). Das A,jseinanderhalten der verschiedenen Aspekte des Vorganges wird durch eine fitnffache Darstellung angestrebt: Selbstgespr~ch des Schiilers, der die Aufgabe 16st ~ eine Formelreihe ~ eine Bilderreihe, welche die fortschreitende ]3ereicherung der untersuchten Figur und die abwechselnde Verteilung der Aufmerkssmkeit darstellt - - eine zweite Bilderreihe0 welche ~he Iogische Entwicklung, das AnknSpfen yon Beziehungen ~n dem V~acbsen eines Iogischen Liniendiagramms darsteUt ~ ein fortlaufen- der K0mmentar zu den Bildern, welcher insbesondere die Sch&tzung der Aussichten und deren in der logischen Situation liegende Motive hervorhebt.

Es wird zum Schluss darauf hingewiesen, dase die Struktur des I~sungsvorganges in gewissen H.'uptzSgen schon &hnlich aufgefasst wurde yon Pappus, yon Hobbes, yon der Logique de Port Royal und yon Mach.

S U M M A R Y

The present work may be said to represent an effort to formulate the problem rather than to offer a solution, and the reader should bear in mind tha t in treating such questions as the one here dealt with, clearness often demands minute distinctions such as cannot possibly be reproduced in a summary.

I. We understand a question bet ter if we see a way tha t leads naturally to tha t question. Mathematical problems may inspire us with a desire, quite apart from our interest in mathematics, to under- s tand the psychology of th~ birth of the solution. This desire arises naturally in the student, who, though quite accustomed to grasp m Lthematical demonstrations, has not yet learned to discover d, monstrations himself; or i~ may come to a teacher of mathematics v ho takes an intelligent interest in the development of his pupils, and so forth. A comprehension of the psychology of the birth of the solution may prove of practical u~e in connection with teaching w a consider- ation which may perhaps enhance the reader 's interest in the present work.

The birth of a solution is a psychological process which presents a great variety of aspects. We have here two chapters devoted to an a t t empt to grasp this process from two different standpoints. Those aspects which demand special s tudy from the point of view of logic have not been treated in the present work.

2. In the first chapter the writer enumerates certain points which would seem to play a part in connection with the search for a solution.

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Most of these points are generally accepted ones, the object of menti- oning them here being to bring out certain shades of meaning and to arrange the material with special reference to the process we are investigating. I t may seem to be stressing a self-evident fact, yet it may not be superfluous to emphasize the necessity o~ making use o/ knowledge previously acquired, of basing the forthcoming solution on knowledge and experience acquired before the search began. The first form in which the process of seeking a solution presents itself is tha t of chains o/ideas proceeding/tom the problem, chains which increase in length by ,,association" and are guided by the desire to find a solution. To ponder first on the problem itself and then on the ideas which arise from it and promise to be useful in bringing about a solution is characteristic of such chains of thought. A very important point in the mind's action is the evaluating of the difficulties ahead, of the distance to the goal, and of our chance of reaching that goal by some particular way. The mobilization and organization of our recollections with a view to finding the solution occurs as the result of an impulse given by our desire to understand the problem or understand to the important points concerned therein. When we are dealing with mathematical problems this effort to understand resolves itself into referring back to definitions, to a ,,substituting of the 6efinition for the word defined" (Pascal). Understanding the different aspects of a problem, approaching it f: . ~ a number of different points of view may perhaps enable us to see the appropriate connection between it and the appropriate elements in our previous knowledge. Taking into acc.ount the situation in its totality may keep up the connections with our previous thinking; by developing our con- ception of the wi:ole we may be able to build up an organized unity out of the materials assembled.

3. In the second chapter the author tries to show how the atti tudes mentioned (at least th~ less complicated ones) all contribute to the reach.;ng of the solution. He does this by means of a concrete example

a simple geometrical problem. Of course, the illustration given is not the description of any one particular process observed, but represents a composite picture, it is a ,,construction" built on the basis of many cases observed. In order to isolate the various aspects of the process as much as possible the writer presents five different, concurrent approaches to it. We are given the monologue of the student solving the problem, a series of formulas, a series of figures demonstrating how the conception of the geometrical figure examined changes and becomes enriched as the work proceeds, a second series of figures symbolizing the logical evolution and the connection of tha relations successively discovered by the formation of a diagram and the connections between the lines and points constitut ing the latter, and, finally, a running commentary on the figures, calling attention to the changes taking place and to cir- cumstances which m a y serve to help us to judge our chances of success at each turn of the road along which we are progressing.

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In conclusion the au thor quotes a few passages t h a t seem to show ~hat cer ta in characterist ic marks of the solution of problems wer~ conceived in a manner in m a n y ways similar to the above by Pappus, Hobbes, the logic of Por t Royal, and by Mach,

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