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Samstag, 25. Februar 2017
Von Hannah Schmitz
Auf dem Deck der El Aquidabánist es eng. Die Menschen nutzendie Flussfahrt auf dem Rio Para-guay dafür, alle möglichen Waren– Bananen, Windeln, Stühle undMatratzen – zu transportieren.Die Reiseblogger Morten Hübbeund Rochssare Neromand-Somasind mitten zwischen ihnen einge-quetscht. Eigentlich wollte dasnorddeutsche Paar entspannt denFluss bis an die brasilianischeGrenze schippern. Sonne tanken,in Hängematten liegen, die Seelebaumeln lassen. Spätestens alsaus dem Handylautsprecher eineseinheimischen Mitreisenden„Brother Louie Louie Louie“ vonModern Talking scheppert, wis-sen sie: Reisen ist ein Abenteuer.
Der heute 32-jährige Hübbeund die 30-jährige Neromand-Soma reisen inzwischen seit fünfJahren durch die Welt – und zwarausschließlich als Anhalter undmit öffentlichen Verkehrsmittelnsowie per Couchsurfing. IhreAusgaben sind minimal, ihr öko-logischer Fußabdruck auch. „Wirgreifen nur auf den Verkehr zu-rück, der sowieso schon unter-wegs ist“, erklärt Morten Hübbeihr Reiseprinzip.
2011 starteten die beiden in ihrerstes großes Reiseabenteuer, dassie am Ende zwei Jahre durchSüdamerika führte. Sie hatten ge-rade ihren Master in Literatur undMedien in Essen abgeschlossenund wenig Lust, direkt in das Be-rufsleben zu starten. Stattdessen
wollten sie jeweils ein sechsmona-tiges Praktikum in Buenos Aires,Argentinien, absolvieren. Dortlernten sie Südamerikaner ausdem ganzen Kontinent kennen,die von ihrer Heimat erzählten –und die beiden damit zum Reisenverführten. Kurz entschlossendisponierten Hübbe und Nero-mand-Soma um. „Wir wolltenerst wieder nach Hause, wenn wirin jedem südamerikanischenLand gewesen sind“, erzählt Ne-romand-Soma.
Aus sechs Monaten Argentinienwerden zwei Jahre Südamerika
Von Argentinien reisen sie nachUruguay, von Uruguay nach Para-guay, von dort weiter nach Boli-vien. Ewig müssen sie an derGrenzen warten, bis sie es nachBolivien schaffen. Sie sind im pa-raguayanischen Chaco – irgendwoim Nirgendwo. Auf den Straßenist so gut wie kein Verkehr. Nachtsgesellen sich Straßenhunde zu ih-
nen und lecken die Reste aus derSardinenbüchse. Die Nacht istbitterkalt. Am nächsten Morgenum 5 Uhr fährt endlich ein LKWvorbei und hält an. Sie erreichenBolivien.
Diese Art zu reisen ist nicht nurlow-budget, sie ist auch oft wenigkomfortabel. Kein Vergleich miteinem gemütlichen Zehn-Tage-Urlaub auf Fuerteventura, nichteinmal ein Vergleich mit den fürAbiturienten fast zum Standardgewordenen Backpacking-Reisennach Australien.
Das Paar bloggt über seine Rei-sen auf www.nuestra-america.deund verdient damit ein wenigGeld. Zudem haben sie über ihreSüdamerika-Reise ein Buch ver-öffentlicht. Ansonsten halten siesich unterwegs mit Gelegenheits-jobs über Wasser. Sie waren zumBeispiel Tellerwäscher, Holzfällerund Farmer und haben manchmalfür ein Gehalt, manchmal für Kostund Logis gearbeitet.
Ihre Art zu reisen möchten sienicht missen: „Wir haben das Rei-sen per Anhalter und mit Couch-surfing für uns entdeckt, weil wirso in einen intensiven Kontakt mitden Einheimischen treten kön-nen. Allein dadurch, dass wir mitden Menschen vor Ort sprachen,haben wir viel über das alltäglicheLeben, aber auch über Politik undMissstände in den einzelnen süd-amerikanischen Ländern ge-lernt“, erzählen sie.
Von Bolivien geht es für diezwei weiter nach Peru, von Perunach Brasilien, von dort nach Pa-tagonien und Chile. In Ecuadorkommen sie in die Mitte der Welt,an den Breiten- und LängengradNull-Null-Null. Von dort geht esweiter zu den Galapagos-Inseln,auf denen Charles Darwin einstdie endemische Tierwelt erforscht
hat. Sie sehen einen Naturreich-tum, der den Atem verschlägt.Riesenschildkröten, die für zehnSchritte etwa drei Minuten brau-chen. Sie lernen zutrauliche See-löwen kennen, beobachten Pelika-ne im Sturzflug.
Je länger sie unterwegs sind,desto stärker merken sie: Sie sindglücklich mit dem Reisen. Durch
das Couchsurfing lernen sie vieleMenschen kennen, schließenFreundschaften. „Unsere Gastge-ber waren ausgesprochen hilfsbe-reit und engagiert. Sie betriebenhäufig einen Extra-Aufwand, da-mit wir uns als ihre Gäste wohl-fühlten“, erzählen die Reise-En-thusiasten im Rückblick. Vermis-sen sie denn gar nichts beim
Reisen? „Doch“, sagt Neromand-Soma. „Zum Beispiel Freundeund Familie, Menschen die unskennen und zu denen wir eine tiefeBindung haben.“ An Weihnach-ten schlage das Heimweh manch-mal auch zu: Dann vermissen sieGlühwein, Dominosteine undLebkuchen. Es fällt ihnen nochmehr ein: Der fehlende Wechsel
der Jahreszeiten geht zum Bei-spiel dem 32-jährigen Hübbeschwer ab. Ihm fehlt der Unter-schied zwischen Frühling, Som-mer, Herbst und Winter. Den erle-ben die Reiseblogger nur mehrgeographisch. Auch Käse, Brot,Senf und Bier vermissen sie.„Aber für alles gibt es auch Kom-pensationen.“
Viele ihrer Mitfahr- undSchlafgelegenheiten halten diezwei Abenteurer als Foto fest. Zueinigen von ihnen haben sie nochimmer Kontakt. Etwa zu Belenaus Ushuaia, Feuerland, Argenti-nien. Sie hat zwei Kinder und diezwei Couchsurfer aus Deutsch-land zusätzlich für eine Weile auf-genommen. „Bei ihr haben wir
uns ganz natürlich sehr wohl ge-fühlt. Sprichwörtlich vom erstenAugenblick waren wir wie Freun-de zueinander.“
In Deutschland funktioniert dasTrampen plötzlich nicht mehr
Ihre Ankunft nach 56 000 zu-rückgelegten südamerikanischenKilometern in Deutschland istdagegen herb. Hübbe hat sich ei-nen dichten Rauschebart wachsenlassen, ihre Kleidung ist abge-nutzt. Sie stehen an der Auto-bahnraststätte bei Frechen naheKöln, kurz hinter der deutsch-belgischen Grenze. Auf einmalgibt es keine Mitfahrgelegenhei-ten mehr, Autofahrer, so berich-ten es beide, halten sie offenbarfür obdachlos, für Penner. Siewerden von Weitem weggewun-ken. „Deutschland desillusioniertuns“ schreiben sie nach dieser Er-fahrung auf ihrem Blog.
Dennoch bleiben sie. Erst ein-mal. Sie ziehen nach Berlin, mel-den eine Wohnung an. Sind wie-der angekommen. Doch ein Beinstreckt sich schon wieder ins Rei-sen. Warum nicht noch mehr se-hen von der Welt? Sie planen ihrennächsten Trip: Auf dem Landwegwollen sie es bis nach Indienschaffen. Per Anhalter undCouchsurfing. Wieder trennen siesich von allem Materiellen, das siehaben. Auf ihren Personalauswei-sen klebt nun ein Papier: „KeineHauptwohnung in Deutschland“.Rochssare Neromand-Soma pos-tet das Foto auf Facebook. Es istein großer Schritt. Das war 2014.
Inzwischen sind die beiden inder internationalen Öko-Kom-mune Auroville im Süden Indiens.Seit 50 Jahren versuchen dortMenschen ein alternatives Le-bensmodell zu entwickeln, dasnachhaltig und schonend mit derUmwelt umgeht. Vor einem hal-ben Jahrhundert war die Gegendunfruchtbares Land, viele Brun-nen der umliegenden Dörfer wa-ren versiegt, es lebten kaum wildeTiere dort. Heute befindet sichAuroville in einem tropischenTrockenwald, der einst typisch
für diese Region war.Die zwei kurbeln die Waschma-
schine mit Pedaltritten einesFahrrads an, ernähren sich vonorganischer Landwirtschaft undleben in Häusern aus Lehm. In et-wa einem Monat wollen sie wei-terziehen. Dann trampen sie ent-lang der Ostküste Indiens nord-wärts, bis sie Kalkutta undDarjeeling erreichen werden. An-schließend wollen sie nach Ban-gladesch.
Die Blogger und Autorenschreiben schon an ihrem nächs-ten Buch über ihre Reise nach In-dien. Mit dem Reisen wollen siedanach nicht aufhören. Afrikaoder Mittelamerika reize sieauch. Können sie sich noch vor-stellen, irgendwo sesshft zu wer-den? „Wahrscheinlich kommt ir-
gendwann der Punkt, an dem wirsesshaft werden wollen. Noch füh-len wir uns aber nicht danach, da-für reisen wir viel zu gerne. Es gibtnoch viele Ecken in der Welt, diewir nicht gesehen haben.“
Von Couch
zu Couch
durch
die WeltDie Reiseblogger Morten Hübbe und
Rochssare Neromand-Soma sind seit fünf
Jahren mit wenig Geld auf großer Tour.
Morten Hübbe und Rochssare Neromand-Soma in der Wüste Dasht-e Kavir in Iran. Seit 2014 ist das Paar auf seiner zweiten großen Reise: Auf dem Landweg nach Indien. Fotos: privat
Auf den Galapagos-Inseln gibt es die seltensten Tierarten der Welt. Die zwei
Reiseblogger haben dort unter anderem eine Riesenschildkröte entdeckt.
Nach ihrer Südamerika-Tour hat es die zwei Reisenden nicht lange in
Deutschland gehalten. Hier ist der Personalausweis von Rochssare Nero-
mand-Soma zu sehen: „Keine Hauptwohnung in Deutschland“.
Auf einer Wanderung im Himalaya-Gebirge gerieten Hübbe und Neromand-Soma in einen Schneesturm. Alles um sie
herum war anschließend weiß. Das blendete so sehr, dass beide einige Tage schneeblind waren.
Am Fitz Roy Massiv in Patagonien.
Reisen per Anhalter: Auf dem Weg nach Feuerland.
Morten Hübbe,32, Reiseblogger
„Wir haben gemerkt,wie glücklich wir mitdem Reisen sind. Alsohaben wir nicht damitaufgehört.“
Morten Hübbe im Teatro Cólon in
Buenos Aires, Argentinien.
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Morten Hübbe
und Rochssare
Neromand-
Soma: „Per An-
halter durch
Südamerika“.
Piper-Verlag. München/Ber-
lin 2016. 432 Seiten. 16 Euro.
Weitere Reisegeschichten
gibt es auf dem Blog
ww.nuestra-america.de.
BUCH UND BLOG
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MompoxMompox
„Vielleicht ist dasPositivste am Reisen,die Erkenntnis,dass die Welt keinschlechter Ort ist. “
Rochssare Neromand-Soma, 30,
Reisebloggerin
REPORTAGE R EPORTAGESamstag, 25. Februar 2017
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