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www.boeckler.de – september 2009 Copyright Hans-Böckler-Stiftung Johannes Siegrist, Nico Dragano, Morton Wahrendorf Psychosoziale Arbeitsbelastungen und Gesundheit bei älteren Erwerbstätigen: eine europäische Vergleichsstudie Auf einen Blick… Bei den Befragten sind psychosoziale Arbeitsbelastungen recht deutlich ausgeprägt. So gibt jeder 5. Befragte eigene Erfahrungen eines unsicheren Arbeitsplatzes an, und jeder 3. ist von mangelnder Anerkennung im Beruf betroffen. Je niedriger die soziale Schichtzugehörigkeit, desto häufiger treten diese Belastungen auf. Auch in der Gruppe der über 60-Jährigen sind sie ähnlich stark wie bei den Jüngeren ausgeprägt, und bei Frauen ähnlich stark wie bei Männern. In bestimmten Branchen (z. B. Gastgewerbe, Maschinen-, Metall- und Fahrzeugbau, Landwirtschaft, Transport- und Baugewerbe) häufen sich diese Belastungen. Enge Zusammenhänge bestehen zwischen der Ausprägung psychosozialer Arbeitsbelastungen und dem Auftreten depressiver Symptome sowie eingeschränkter subjektiver Gesundheit. Entsprechende Risiken sind, je nach Gruppe, zwischen 20 und 100 Prozent erhöht. Im Ländervergleich zeigt sich, dass südeuropäische Länder und Länder mit einem konservativen Wohlfahrtsstaatstypus höhere psychosoziale Arbeitsbelastungen aufweisen. Gleiches gilt für Länder mit geringen Investitionen in berufliche Weiterbildung und mit einer schwachen Integration Älterer in den Arbeitsmarkt.

Psychosoziale Arbeitsbelastungen und Gesundheit bei … · 2018-08-29 · Prof. Dr. Johannes Siegrist Dr. Nico Dragano Morten Wahrendorf, M.Sc. Februar, 2009 Institut für Medizinische

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www.boeckler.de – september 2009 Copyright Hans-Böckler-Stiftung Johannes Siegrist, Nico Dragano, Morton Wahrendorf Psychosoziale Arbeitsbelastungen und Gesundheit bei älteren Erwerbstätigen: eine europäische Vergleichsstudie Auf einen Blick…

Bei den Befragten sind psychosoziale Arbeitsbelastungen recht deutlich ausgeprägt. So gibt jeder 5. Befragte eigene Erfahrungen eines unsicheren Arbeitsplatzes an, und jeder 3. ist von mangelnder Anerkennung im Beruf betroffen.

Je niedriger die soziale Schichtzugehörigkeit, desto häufiger treten diese

Belastungen auf. Auch in der Gruppe der über 60-Jährigen sind sie ähnlich stark wie bei den Jüngeren ausgeprägt, und bei Frauen ähnlich stark wie bei Männern. In bestimmten Branchen (z. B. Gastgewerbe, Maschinen-, Metall- und Fahrzeugbau, Landwirtschaft, Transport- und Baugewerbe) häufen sich diese Belastungen.

Enge Zusammenhänge bestehen zwischen der Ausprägung psychosozialer

Arbeitsbelastungen und dem Auftreten depressiver Symptome sowie eingeschränkter subjektiver Gesundheit. Entsprechende Risiken sind, je nach Gruppe, zwischen 20 und 100 Prozent erhöht.

Im Ländervergleich zeigt sich, dass südeuropäische Länder und Länder mit

einem konservativen Wohlfahrtsstaatstypus höhere psychosoziale Arbeitsbelastungen aufweisen. Gleiches gilt für Länder mit geringen Investitionen in berufliche Weiterbildung und mit einer schwachen Integration Älterer in den Arbeitsmarkt.

Abschlussbericht zum Projekt S-2007-997-4 der Hans-Böckler-Stiftung PSYCHOSOZIALE ARBEITSBELASTUNGEN UND GESUNDHEIT BEI ÄLTEREN ERWERBSTÄTIGEN: EINE EUROPÄISCHE VERGLEICHSSTUDIE Prof. Dr. Johannes Siegrist Dr. Nico Dragano Morten Wahrendorf, M.Sc. Februar, 2009 Institut für Medizinische Soziologie Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf Universitätsstraße 1, Gebäude 23.02, Ebene 03 40225 Düsseldorf, Germany Tel. 0211 81 14360/61 Fax: 0 211 81 12390

Inhaltsverzeichnis 2

INHALTSVERZEICHNIS

INHALTSVERZEICHNIS ..................................................................................................2

TABELLENVERZEICHNIS ..............................................................................................4

ABBILDUNGSVERZEICHNIS..........................................................................................5

EXECUTIVE SUMMARY ..................................................................................................7

KAPITEL 1: GESELLSCHAFTSPOLITISCHER HINTERGRUND UND

ZIELSETZUNG DES PROJEKTS...................................................................................10

1.1 Gesellschaftspolitischer Hintergrund .......................................................................10

1.2 Offene Fragen und Zielsetzung ................................................................................15

KAPITEL 2: METHODIK..........................................................................................21

2.1 Studien und untersuchte Populationen .....................................................................21

2.2 Datenerhebung und Messinstrumente ......................................................................22

2.3 Analyseschritte und Fragestellungen........................................................................29

KAPITEL 3: ERGEBNISSE .......................................................................................32

3.1 Psychosoziale Arbeitsbelastungen und Gesundheit – soziodemographische

Merkmale ..........................................................................................................................32

3.1.1 Psychosoziale Arbeitsbelastungen nach soziodemographischen Merkmalen:

bivariate Analysen .........................................................................................................32

3.1.2 Gesundheitliche Einschränkungen nach soziodemographischen Merkmalen:

bivariate Analyse ...........................................................................................................35

3.1.3 Gesundheitliche Einschränkungen nach psychosozialen Arbeitsbelastungen:

bivariate Analysen .........................................................................................................36

3.1.4 Psychosoziale Arbeitsbelastungen und gesundheitliche Einschränkungen –

soziodemographische Merkmale: multivariate Analysen..............................................38

Inhaltsverzeichnis 3

3.1.5 Soziodemographischen Merkmalen und gesundheitliche Einschränkungen:

multivariate Analyse ......................................................................................................40

3.1.6 Zusammenfassung ............................................................................................42

3.2 Psychosoziale Arbeitsbelastungen und Gesundheit - erwerbsbezogene Merkmale.44

3.2.1 Psychosoziale Arbeitsbelastungen nach erwerbsbezogenen Merkmalen:

bivariate Analysen .........................................................................................................44

3.2.2 Gesundheitliche Einschränkungen nach erwerbsbezogenen Merkmalen:

bivariate Analysen .........................................................................................................49

3.2.3 Psychosoziale Arbeitsbelastungen und gesundheitliche Einschränkungen –

erwerbsbezogene Merkmale: multivariate Analysen.....................................................50

3.2.4 Exkurs: erste Ergebnisse aus Längsschnittanalysen.........................................55

3.2.5 Zusammenfassung ............................................................................................58

3.3 Psychosoziale Arbeitsbelastungen und Gesundheit – sozialpolitische

Rahmenbedingungen.........................................................................................................59

3.3.1 Psychosoziale Arbeitsbelastungen nach Ländern.............................................59

3.3.2 Einfluss sozialpolitischer Rahmenbedingungen auf den Zusammenhang

zwischen Arbeitsbelastungen und Gesundheit...............................................................67

3.3.3 Zusammenfassung ............................................................................................73

KAPITEL 4: ZUSAMMENFASSENDE DISKUSSION DER ERGEBNISSE ......74

KAPITEL 5: PRAKTISCHE FOLGERUNGEN FÜR DIE BETRIEBLICHE

UND ÜBERBETRIEBLICHE GESUNDHEITSPOLITIK............................................81

LITERATURVERZEICHNIS ..........................................................................................86

Tabellenverzeichnis 4

TABELLENVERZEICHNIS

Tabelle 1: Stichprobenbeschreibung (SHARE, ELSA) N=9917 ...................................26

Tabelle 2: Übersicht über die Zuordnung der einzelnen Länder in die jeweilige

Wohlfahrtsstaatstypologie.............................................................................28

Tabelle 3: Psychosoziale Arbeitsbelastungen (inkl. Einzelkomponenten) nach

soziodemographischen Merkmalen (Mittelwert oder Prozente)...................33

Tabelle 4: Anteil der Erwerbstätigen mit gesundheitlichen Einschränkungen nach

soziodemographischen Merkmalen (Prozente).............................................35

Tabelle 5: Anteil der Erwerbstätigen mit gesundheitliche Einschränkungen nach

psychosozialer Arbeitsbelastung (inkl. Einzelkomponenten; Prozente).......36

Tabelle 6: Psychosoziale Arbeitsbelastungen (inkl. Einzelkomponenten) und

gesundheitliche Einschränkungen: Ergebnisse der logistischen Regressionen

(Odds Ratios) ................................................................................................39

Tabelle 7: Soziale Schicht und gesundheitliche Einschränkungen: Ergebnisse der

logistischen Regressionen (Odds Ratios)......................................................41

Tabelle 8: Psychosoziale Arbeitsbelastungen und gesundheitliche Einschränkungen:

Ergebnisse der logistischen Regressionen (Odds Ratios): getrennt nach

Geschlecht und Altersgruppen......................................................................42

Tabelle 9: Psychosoziale Arbeitsbelastungen (inkl. Einzelkomponenten) nach

erwerbsbezogenen Merkmalen (Mittelwert oder Prozente)..........................45

Tabelle 10: Gesundheitliche Einschränkungen nach erwerbsbezogenen Merkmalen

(Prozente)......................................................................................................49

Tabelle 11: Psychosoziale Arbeitsbelastungen und gesundheitliche Einschränkungen:

Zusammenfassende Ergebnisse der logistischen Regressionen (Odds Ratios)

adjustiert für erwerbsbezogene Merkmale....................................................50

Tabelle 12: Erwerbsbezogene Merkmale und gesundheitliche Einschränkungen:

Ergebnisse der logistischen Regressionen (Odds Ratios).............................52

Abbildungsverzeichnis 5

Tabelle 13: Psychosoziale Arbeitsbelastungen und gesundheitliche Einschränkungen:

Ergebnisse der logistischen Regressionen (Odds Ratios): getrennt nach

Erwerbsgruppen ............................................................................................54

Tabelle 14: Psychosoziale Arbeitsbelastungen und prospektive depressive Symptome:

Ergebnisse der logistischen Regressionen (Odds Ratios).............................58

Tabelle 15: Psychosoziale Arbeitsbelastungen nach Ländern (Mittelwert oder Prozente)60

Tabelle 16: Psychosoziale Arbeitsbelastungen nach Ländergruppen (Mittelwerte)

getrennt nach Geschlecht ..............................................................................65

Tabelle 17: Psychosoziale Arbeitsbelastung und gesundheitliche Einschränkungen

(schlechte subjektive Gesundheit und depressive Symptome): Ergebnisse

der logistischen Regressionen (Odds Ratios) getrennt nach Land................72

ABBILDUNGSVERZEICHNIS

Abbildung 1: Mittelwert psychosozialer Arbeitsbelastung (Mittelwert V.-B. Quotient und

Mittelwert Geringe Kontrolle) nach Bildung (Gering, Mittel, Hoch) ..........34

Abbildung 2: Anteil der Erwerbstätigen mit schlechter subjektiver Gesundheit nach

psychosozialer Arbeitsbelastung (Ja= oberstes Terzil Verausgabungs-

Belohnung Quotient oder geringe Kontrolle; Nein= untere Terzile):

Prozente.........................................................................................................37

Abbildung 3: Mittelwert psychosozialer Arbeitsbelastung (Mittelwert V.-B. Quotient und

Mittelwert Geringe Kontrolle) nach Arbeitsvertrag (befristet vs. unbefristet)46

Abbildung 4: Mittelwert psychosozialer Arbeitsbelastung (Mittelwert V.-B. Quotient)

nach Branchen...............................................................................................47

Abbildung 5: Mittelwert psychosozialer Arbeitsbelastung (Mittelwert Geringe Kontrolle)

nach Branchen...............................................................................................48

Abbildung 6: Mittelwert psychosozialer Arbeitsbelastung (Mittelwert V.-B. Quotient und

Mittelwert Geringe Kontrolle) in Welle 1 und 2 der SHARE Länder..........56

Abbildungsverzeichnis 6

Abbildung 7: Anteil der Erwerbstätigen mit vermehrten depressiven Symptomen in Welle

2 nach psychosozialer Arbeitsbelastung in Welle 1 .....................................57

Abbildung 8: Verausgabungs-Belohnungs-Quotient und Makro-Indikatoren....................62

Abbildung 9: Die Belohnungsdimension ‚geringe Annerkennung’ und Makro-Indikatoren63

Abbildung 10: Geringe Kontrolle und Makro-Indikatoren ...................................................64

Abbildung 11: Geringe Kontrolle und nationale Beschäftigungsrate von älteren Frauen (nur

weibliche Stichprobe) ...................................................................................66

Abbildung 12: Odds Ratios (adjustiert für Alter, Geschlecht) für das Vorliegen depressiver

Symptome bei Personen mit hoher im Vergleich zu niedriger oder mittlerer

Arbeitsbelastung; stratifizierte Auswertung nach Ländergruppen ...............68

Abbildung 13: Odds Ratios (adjustiert für Alter) für das Vorliegen depressiver Symptome

bei Personen mit hoher im Vergleich zu niedriger oder mittlerer

Arbeitsbelastung; stratifizierte Auswertung nach Ländergruppen und

Geschlecht.....................................................................................................69

Abbildung 14: Odds Ratios (adjustiert für Alter, Geschlecht) für eine schlechte subjektive

Gesundheit bei Personen mit hoher im Vergleich zu niedriger oder mittlerer

Arbeitsbelastung; stratifizierte Auswertung nach Ländergruppen ...............70

Executive Summary 7

EXECUTIVE SUMMARY

Ziel des vorliegenden Projekts ist die systematische Analyse von Zusammenhängen zwi-

schen psychosozialen Arbeitsbelastungen und Indikatoren der Gesundheit bei älteren Er-

werbstätigen in einer länderübergreifenden, europäischen Perspektive. Dabei wird der Ein-

fluss soziodemographischer Merkmale (v.a. Alter, Geschlecht), erwerbsbezogener Merk-

male (v.a. Arbeitszeit, Beschäftigungsverhältnis, Branche) sowie arbeitsmarkt- und sozial-

politischer Rahmenbedingungen (v.a. Beschäftigungsquote, Lohnersatzquote, Wohlfahrts-

staattypologie) in quantifizierenden Analysen anhand bivariater und multivariater statisti-

scher Auswertungen untersucht. Die empirische Basis der Analysen bilden Befragungsda-

ten aus der ersten (und ansatzweise zweiten) Untersuchungswelle des ‚Survey of Health,

Ageing and Retirement in Europe’ (SHARE) aus 11 europäischen Ländern sowie, ergän-

zend, vergleichende Daten aus der ‚English Longitudinal Study of Ageing’ (ELSA) in

Großbritannien.

Die wichtigsten Ergebnisse lassen sich wie folgt zusammenfassen:

1. Obwohl die älteren Beschäftigten mehrheitlich bei guter Gesundheit, vollzeitbe-

schäftigt und überwiegend in nicht-manuellen Berufen tätig sind, gibt jeder 5. Be-

fragte an, Arbeitsplatzunsicherheit zu erfahren, und beinahe 30% sind von man-

gelnder Anerkennung im Beruf betroffen. Bei jeder 6. Person werden deutliche de-

pressive Symptome festgestellt, und beinahe ebenso viele bezeichnen ihre subjekti-

ve Gesundheit als eher schlecht.

2. Die nach stresstheoretischen Gesichtspunkten untersuchten psychosozialen Ar-

beitsbelastungen (Gratifikationskrisen in Form hoher Verausgabung und niedriger

Belohnung; geringe Kontrolle über die Arbeitsaufgabe) sind bei Männern und

Frauen in etwa gleich verteilt. Weiterhin sind alle betrachteten Altersgruppen in

etwa gleichem Ausmaß mit Belastungen konfrontiert. Hingegen zeigt sich ein kon-

sistenter sozialer Schichtgradient: niedrigeres Einkommen und niedrigere Bildung

gehen mit höheren Arbeitsbelastungen einher.

3. Zwischen psychosozialen Arbeitsbelastungen und den Gesundheitsindikatoren zei-

gen sich konsistente und zumeist statistisch signifikante Zusammenhänge. Das Ri-

Executive Summary 8

siko eingeschränkter Gesundheit ist bei psychosozial Belasteten zwischen 20% und

100% erhöht im Vergleich zu Nichtbelasteten. Insgesamt zeigen sich engere Zu-

sammenhänge psychosozialer Belastungen mit depressiven Symptomen und

schlechter subjektiver Gesundheit als mit chronischen Beschwerden und funktio-

nellen Einschränkungen. Bezüglich der Altersverteilung lässt sich ein ‚healthy

worker’ Effekt nicht feststellen, da die Zusammenhänge zwischen Arbeitsbelastun-

gen und Gesundheit auch in der höchsten Altersgruppe stark ausgeprägt sind.

4. Zu den durch starke psychosoziale Arbeitsbelastungen gekennzeichneten Beschäf-

tigtengruppen zählen Ältere mit befristetem Arbeitsvertrag sowie Ältere in der

Landwirtschaft. Stark belastet sind überdies ältere Erwerbstätige im Gastgewerbe,

im Maschinen-, Metall- und Fahrzeigbau, im verarbeitenden Gewerbe, im Holz-,

Transport- und Baugewerbe sowie im Fahrzeughandel.

5. Erste Befunde aus Längsschnittanalysen zeigen erstens eine relativ hohe Überein-

stimmung der Angaben zu chronischen Arbeitsbelastungen zwischen erstem und

zweitem Messzeitpunkt. Zweitens bleiben die im Querschnitt gefundenen Zusam-

menhänge zwischen psychosozialen Arbeitsbelastungen und depressiven Sympto-

men im Längsschnitt deutlich erhalten.

6. Beim Vergleich von zwölf europäischen Ländern zeigen sich teilweise typische

länderspezifische Unterschiede in der Verteilung psychosozialer Arbeitsbelastun-

gen. Ungünstige Arbeitsbedingungen sind in Ländern häufiger, deren Wohlfahrts-

staatssystem dem konservativen Typus zuzurechnen ist. Ebenfalls hohe Belastun-

gen zeigen sich in den südeuropäischen Ländern.

7. Bei der Betrachtung spezifischer Makro-Indikatoren zeigt sich, dass ein niedriges

durchschnittliches Erwerbsaustrittsalter und eine niedrige Weiterbildungsquote in

einem Land mit hohen psychosozialen Arbeitsbelastungen einhergehen.

8. Die Stärke des Zusammenhangs zwischen psychosozialen Arbeitsbelastungen und

Gesundheit variiert bei drei der vier Gesundheitsindikatoren, am deutlichsten bei

‚depressiven Symptomen’, nach sozialpolitischen Rahmenbedingungen. Danach ist

der Effekt in Ländern mit einem universalistischen Wohlfahrtsstaatsmodell skan-

dinavischer Prägung vergleichsweise am schwächsten, in Ländern mit konservati-

vem und liberalem Modell vergleichsweise am stärksten.

Executive Summary 9

Aus den im Projekt erzielten Ergebnissen können vier Bündel praktischer Folgerungen für

die betriebliche und überbetriebliche Gesundheitspolitik abgeleitet werden. Sie beziehen

sich erstens auf eine verbesserte, qualitätsgesicherte Berichterstattung über neue wissen-

schaftliche Erkenntnisse, die sich an Entscheidungsträger richten. Zweitens betreffen sie

durch Arbeitsbelastungen gesundheitlich besonders gefährdete Berufsgruppen, bei denen

vordringlicher Handlungsbedarf bezüglich der Verbesserung von Arbeitsbedingungen und

von Gesundheitsschutz besteht. Ein drittes Bündel von Maßnahmen umfasst strukturelle

Verbesserungen in Betrieben bzw. Organisationen, wobei die hier untersuchten theoreti-

schen Modelle Anhaltspunkte für die Gestaltung von Programmen der Organisations- und

Personalentwicklung bieten. Schließlich ergeben sich viertens konkrete Forderungen auf

überbetrieblicher Ebene zu tarifpolitischen Vereinbarungen sowie, auf nationaler Ebene, zu

wohlfahrtsstaatlichen, sozial- und arbeitspolitischen Regelungen.

Gesellschaftspolitischer Hintergrund und Zielsetzung des Projekts 10

KAPITEL 1: GESELLSCHAFTSPOLITISCHER HIN-

TERGRUND UND ZIELSETZUNG DES PROJEKTS

1.1 Gesellschaftspolitischer Hintergrund

Die Situation älterer Erwerbstätiger ist in den vergangenen Jahren immer mehr ins politi-

sche und öffentliche Bewusstsein gerückt. Es ist klar geworden, dass die lange Zeit ge-

pflegte Praxis ältere Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer so früh wie möglich in die Ren-

te zu verabschieden, angesichts des Ausmaßes und der Geschwindigkeit mit der auch die

Erwerbsbevölkerung in den westlichen Industrienationen altert nicht mehr praktikabel ist.

So haben sich die Länder der Europäischen Union in einem gemeinsamen Beschluss dazu

verpflichtet, den Anteil der Erwerbstätigen im Alter von 55-64-Jahre deutlich zu erhöhen

und bis zum Jahr 2010 eine Erwerbsquote von 50% in dieser Altersgruppe zu erreichen.

Ohne dieses Ziel an sich in Frage stellen zu wollen, kann aber festgehalten werden, dass

sich auch negative Folgen für ältere Erwerbstätige abzeichnen. Unter anderen stellen sich

Fragen nach den Folgen einer verlängerten Lebensarbeitszeit für die Gesundheit der Be-

schäftigten. Diejenigen, die unter belastenden Arbeitsbedingungen tätig sind, müssen diese

länger ausüben und damit erhöht sich auch die Gefahr einer Erkrankung.

Angesichts der Tatsache, dass das durchschnittliche Zugangsalter zu Altersrenten, ohne

Berücksichtigung krankheitsbedingter Frührenten, in Deutschland zur Zeit bei 63 Jahren

liegt und dass jede 6. Rente auf krankheitsbedingte Erwerbsminderung entfällt, wird es

also vordringlich, darauf hinzuwirken, dass Arbeitsbedingungen gesundheits- und altersge-

recht gestaltet werden, um die Beschäftigungsfähigkeit Älterer bei guter Gesundheit in

größerem Umfang zu erhalten.

Die Zielsetzung dieses Projekts ist eine vergleichende Bestandsaufnahme von Zusammen-

hängen zwischen beruflichen Belastungen und gesundheitlichen Einschränkungen bei älte-

ren Beschäftigten in verschiedenen europäischen Ländern, unter Berücksichtigung wesent-

licher Merkmale der Erwerbssituation und der soziodemographischen Charakteristika der

Beschäftigten sowie der sozialpolitischen Rahmenbedingungen in den verschiedenen Län-

dern. Aus den vergleichenden Analysen soll erkenntlich werden, welche Aspekte des Ar-

Gesellschaftspolitischer Hintergrund und Zielsetzung des Projekts 11

beitslebens bei Älteren besonders stark die Gesundheit – und damit die Beschäftigungsfä-

higkeit – einschränken, für welche Gruppen (Erwerbsstatus, Geschlecht, soziale Schicht

etc.) dies in besonderem Maß zutrifft und in welchen Ländern die Zusammenhänge beson-

ders ausgeprägt sind.

Den gesellschaftspolitischen Hintergrund dieses Vorhabens bildet, wie bereits erwähnt, die

veränderte Sicht auf die Gruppe der Erwerbstätigen jenseits des 50. Lebensjahrs. Wurden

noch bis vor wenigen Jahren ältere Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in großer Zahl

vorzeitig in den Ruhestand versetzt, so haben sich die Bedingungen inzwischen deutlich

gewandelt. Unter dem Druck zunehmender demographischer Alterung der Bevölkerung

sowie der damit einhergehenden Finanzierungsprobleme der sozialen Sicherungssysteme –

und insbesondere des Rentensystems – soll die Lebensarbeitszeit verlängert werden, indem

der Zeitpunkt des Renteneintrittsalters angehoben wird. Diese Wende in der Arbeitsmarkt-

und Sozialpolitik wird derzeit überall in Europa vollzogen. Die Zielvorgaben sind eindeu-

tig: in den EU-Ratsbeschlüssen von Lissabon (2000) und Stockholm (2001) haben sich die

Mitgliedstaaten darauf verständigt, bis zum Jahr 2010 eine Erwerbsquote von 50% in der

Altersgruppe der 55- bis 64-Jährigen zu erreichen. Um die Größe der Aufgabe, die mit

dieser Zielvorgabe verbunden ist, einschätzen zu können, kann die Quote in Deutschland

im Jahr des Lissabon-Beschlusses als Anhaltspunkt dienen: sie betrug 37,6% (Eurostat

2005).

Fragt man nach den Einflüssen auf die Erwerbsbeteiligung älterer Beschäftigter, so zeigen

sich eine Vielzahl interdependenter Faktoren, deren wichtigsten nachfolgend kurz skizziert

werden. Ein maßgeblicher Faktor ist die staatliche Rentengesetzgebung. Sie definiert die

Zugangsmöglichkeiten zu Altersrenten und damit auch das durchschnittliche Rentenein-

trittsalter eines Landes. Die Mehrzahl der Europäischen Staaten hat in den letzten Jahren

ihre Rentengesetzgebung dahingehend geändert, dass Möglichkeiten der vorzeitigen Be-

rentung eingeschränkt wurden (OECD 2005). In Deutschland werden beispielsweise ver-

schiedene Formen der vorzeitigen Altersrente, wie etwa die Altersrente für Frauen ab dem

60. Lebensjahr, schrittweise abgeschafft. Das Mittel, die Altersgrenze für die reguläre Al-

tersrente generell anzuheben ('Rente mit 67'), bleibt vorerst ein deutscher Sonderweg. Mit

der Rentengesetzgebung kann zwar das durchschnittliche Renteneintrittsalter erhöht wer-

den, die tatsächliche Erwerbstätigkeit älterer Menschen kann sie aber nur bedingt beein-

flussen (Kistler 2006). Hier kommen zwei weitere, eng miteinander verknüpfte Größen ins

Spiel, nämlich die staatliche Arbeitsmarktpolitik und die betriebliche Einstellungspolitik.

Sie bestimmen, ob und in welchem Umfang altersgerechte Arbeitsplätze für ältere Be-

Gesellschaftspolitischer Hintergrund und Zielsetzung des Projekts 12

schäftigte zur Verfügung stehen oder ob einer höheren nominellen Erwerbsbeteiligung

Älterer eine hohe Altersarbeitslosigkeit oder andere Ausweichbewegungen (z.B. in Form

geringfügiger Beschäftigung) zugrunde liegen (Kistler 2006). Hinzu kommen allgemeine

wirtschaftliche Einflüsse, wie die konjunkturelle Entwicklung, demographische Trends und

die Entwicklung des Erwerbspersonenpotentials.

Die im Rahmen dieser Studie vordringlich betrachtete Determinante der Erwerbsbeteili-

gung ist aber die Gesundheit der Beschäftigen. Funktionseinbußen, gesundheitliche Stö-

rungen und Behinderungen erschweren oder verunmöglichen einer nicht unerheblichen

Zahl älterer Männer und Frauen in Europa, eine regelmäßige Erwerbstätigkeit auszuüben

(Ilmarinen und Tempel 2003). Den deutlichsten Niederschlag findet dies in den Invalidi-

tätsrenten, welche jährlich von einer großen Zahl Erwerbstätiger in Anspruch genommen

werden müssen (Statin 2005). Beispielsweise betrug die Zahl der Neurentner wegen Er-

werbsunfähigkeit im Jahr 2004 in Deutschland 169.460 (VDR 2005). Darüber hinaus äu-

ßert sich eine eingeschränkte Arbeitsfähigkeit in erhöhten Fehlzeiten und eingeschränkter

Produktivität (Burton et al. 2005).

Die zentrale Frage ist an dieser Stelle, welche Faktoren die Gesundheit der hier betrachte-

ten Altersgruppe prägen. Die medizinische Forschung hat nachgewiesen, dass Erkran-

kungsrisiken zwar mit zunehmendem Alter kontinuierlich größer werden, dass es aber

zugleich eine hohe Variabilität gibt, d.h. während manche Menschen bis ins hohe Alter

gesund bleiben, erkranken andere bereits im mittleren Erwachsenenalter. Diese Variabilität

von Gesundheit und Krankheit ist nicht so sehr ein Produkt des Zufalls, sondern sie wird

durch Dispositionen der Menschen (z.B. lebensgeschichtliche Faktoren, Genetik) sowie

durch Expositionen gegenüber gefährdenden Umweltbedingungen beeinflusst. Zu den letz-

teren zählen in erster Linie hohe physische und psychosoziale Arbeitsbelastungen. Länger-

fristig erhöhen diese die Wahrscheinlichkeit längerer Fehlzeiten und manifester körperli-

cher und psychischer Leiden, bis hin zu der Tatsache, krankheitsbedingt vorzeitig aus dem

Erwerbsleben auszuscheiden (Siegrist und Dragano 2007).

Wenn es in vielen Fällen Aspekte der Arbeitswelt sind, welche Erwerbstätige krank ma-

chen, so müssen Arbeitsbedingungen unbedingt thematisiert werden, wenn eine Verlänge-

rung der Lebensarbeitszeit und eine stärkere Teilhabe älterer Menschen am Arbeitsmarkt

diskutiert werden. Eine Verlängerung der Lebensarbeitszeit, die nicht mit breit angelegten

Initiativen zur Förderung altersgerechter Arbeit, d.h. auch einem gezielten Abbau krank-

machender Arbeitsbelastungen einhergeht, ist nach Lage der wissenschaftlichen Befunde

nicht nachhaltig.

Gesellschaftspolitischer Hintergrund und Zielsetzung des Projekts 13

Dies gilt umso mehr, als ältere Erwerbstätige aus mehren Gründen eine besonders gefähr-

dete Gruppe bilden. Mit zunehmendem Alter nimmt die Konstitution häufig ab, was bis zur

Mitte des 60. Lebensjahres zu einem geringeren Teil auf biologische Alterseffekte und zu

einem größeren Teil durch Vorbelastungen im Lebenslauf erklärt wird. Dauerhafte Belas-

tungen führen zu Vorerkrankungen, die wiederum die allgemeine Abwehr gegenüber wei-

teren Gesundheitsrisiken schwächen (Freude und Pech 2006, Morschhäuser 2002). Oft

wird diese erhöhte Vulnerabilität noch zusätzlich durch betriebsbedingte Faktoren gestei-

gert, z.B. beschleunigte Produktionszyklen, technologische Neuerungen, Arbeitsverdich-

tungen und Restrukturierungsmaßnahmen, welche ältere Beschäftigte vor besondere Her-

ausforderungen stellen (Griffiths 2000).

Arbeitsbelastungen können dann unmittelbarer die Gesundheit angreifen, als noch in jün-

geren Jahren. Ein weiterer Faktor ist die Kumulation von Risiken. Gemeint ist das ‚An-

sammeln’ von Belastungszeit im Lebenslauf. Je länger der Organismus bestimmten Belas-

tungen ausgesetzt wird, desto höher wird die Wahrscheinlichkeit, dass es zu gesundheitli-

chen Konsequenzen kommt. Dies trifft auf Arbeitsbelastungen zu, deren gesundheitsge-

fährdendes Potential häufig ansteigt, wenn sie chronisch über eine lange Periode wirken.

Langzeitstudien aus verschiedenen Ländern haben beispielsweise belegt, dass langjährige

körperliche Fehlbeanspruchung (z.B. Heben schwerer Lasten, ungünstige Arbeitshaltung)

und chronische Stressbelastung das Invaliditätsrisiko im höheren Erwerbsalter stark erhöht

(Dragano 2007, Karpansalo et al. 2002, Krokstad et al. 2002).

Die Arbeitsbelastungsforschung kennt zahlreiche Quellen von arbeitsbedingten Gesund-

heitsgefahren, die grob den zwei Formen der physischen und der psychosozialen Belastun-

gen zugeordnet werden können. In die Obergruppe der physischen Belastungen fallen, un-

ter anderem, ergonomische Fehlbeanspruchungen, Exposition gegenüber schädlichen Um-

welteinflüssen wie Chemikalien oder Strahlung, Unfallrisiken oder eine allgemeine körper-

liche Beanspruchung. In den vergangenen Jahren wurden neben den ‚klassischen’ physi-

schen Belastungen verstärkt auch psychosoziale Stressbelastungen als Determinanten ein-

geschränkter Gesundheit einschließlich eines erhöhten Invaliditätsrisikos untersucht, wobei

Belastungen, die sich auf die Arbeitszeit beziehen (v. a. Schichtarbeit) eine Zwischenstel-

lung zwischen den traditionell untersuchten und den neuen (psychosozialen) Stressoren

einnehmen (Siegrist und Dragano 2007).

Unter psychosozialen Belastungen versteht man chronische, in der alltäglichen Erwerbsar-

beit über Jahre oder Jahrzehnte erfahrene psychomentale Anforderungen, die wiederkeh-

rend sog. Stressreaktionen im Organismus und, damit einhergehend, negative Gefühle bei

Gesellschaftspolitischer Hintergrund und Zielsetzung des Projekts 14

den Betroffenen auslösen. Psychosoziale Belastungen können von der ausgeübten Tätig-

keit, der Arbeitsorganisation, den sozialen Beziehungen am Arbeitsplatz, aber auch von

den arbeitsvertraglichen Rahmenbedingungen ausgehen. Die Befunde zu den gesundheitli-

chen Folgen von chronischen Stressbelastungen sind eindeutig: Psychosoziale Stressbelas-

tungen, die aus der Arbeit resultieren, setzen die Betroffenen einem signifikant erhöhten

Risiko aus, körperlich oder seelisch zu erkranken, sowie krankheitsbedingt frühberentet zu

werden (Antoniou und Cooper 2005, Belkic et al. 2004, Bödeker et. al. 2006, Dragano

2007).

Die Bedeutung psychosozialer Belastungen ist nicht nur qualitativ sondern auch quantitativ

hoch. Aufgrund der durch die aktuelle wirtschaftliche Entwicklung bedingten Veränderun-

gen des Arbeitsmarktes und der Arbeitswelt sind Belastungsfaktoren wie Arbeitsplatzunsi-

cherheit, blockiertes berufliches Fortkommen, niedrige Belohnung, Leistungs- und Zeit-

druck weit verbreitet. Erklärt wird die Zunahme durch umwälzende globale Veränderun-

gen der Arbeitswelt, wie der andauernden sektoralen Verschiebung, Technisierung, Kon-

kurrenzdruck, Rationalisierung und Deregulierung (Dragano und Siegrist 2005, European

Agency for Safety and Health at Work 2002, Sauter et al. 2002). Diese Trends betreffen,

wie repräsentative Studien zeigen, alle Altersgruppen, in besonderem Maße jedoch ältere

Beschäftigte (EFILWC 2003).

Vergleichende wissenschaftliche Studien über die speziellen Zusammenhänge zwischen

Arbeitsbelastungen und eingeschränkter Gesundheit älterer Erwerbstätiger sind erforder-

lich, um besonders gefährdete Gruppen besser als bisher zu erkennen und um die gesund-

heitsrelevanten Aspekte insbesondere psychosozialer Arbeitsbelastungen zum Zweck ge-

zielter betrieblicher und überbetrieblicher Maßnahmen gesundheitsförderlicher Arbeitsges-

taltung zu bestimmen. Hierzu ist es auch erforderlich, den Einfluss unterschiedlicher sozi-

alpolitischer Gestaltungsmaßnahmen in den einzelnen europäischen Ländern in die Zu-

sammenhangsanalyse einzubeziehen. Nur eine vergleichende, mehrere europäische Länder

mit ihren unterschiedlichen sozialpolitischen Systemen berücksichtigende und identische

Daten erfassende wissenschaftliche Studie wird einem solchen Anspruch gerecht.

Ziel des vorliegenden Projekts ist somit die systematische Analyse von Zusammenhängen

zwischen psychosozialen Arbeitsbelastungen und Indikatoren der Gesundheit bei älteren

Erwerbstätigen in einer länderübergreifenden, europäischen Perspektive. Dabei soll der

Einfluss soziodemographischer Merkmale (v.a. Alter, Geschlecht), erwerbsbezogener

Merkmale (v.a. Arbeitszeit, Beschäftigungsverhältnis, Branche) sowie arbeitsmarkt- und

sozialpolitischer Rahmenbedingungen (v.a. Beschäftigungsquote, Lohnersatzquote, Wohl-

Gesellschaftspolitischer Hintergrund und Zielsetzung des Projekts 15

fahrtsstaattypologie) in quantifizierenden Analysen anhand bivariater und multivariater

statistischer Auswertungen untersucht werden. Die empirische Basis der Analysen bilden

Befragungsdaten aus der ersten (und ansatzweise zweiten) Untersuchungswelle des ‚Sur-

vey of Health, Ageing and Retirement in Europe’ (SHARE) aus 11 europäischen Ländern

sowie, ergänzend, vergleichende Daten aus der ‚English Longitudinal Study of Ageing’

(ELSA) in Großbritannien.

Die Aktualität des Projekts muss nicht nur auf dem Hintergrund der skizzierten gesell-

schaftspolitischen Problemlage, sondern auch des gegenwärtigen wissenschaftlichen

Kenntnisstandes beurteilt werden. Hier bestehen insbesondere zwei offene Fragen, die

nachfolgend erläutert werden und zu denen das Projekt möglicherweise weiterführende

Antworten geben kann.

1.2 Offene Fragen und Zielsetzung

Psychosoziale Arbeitsbelastungen und Gesundheit: Expositionsdauer oder ‚healthy wor-

ker’-Effekt?

Die Arbeitsstressforschung hat in den vergangenen 25 Jahren bahnbrechende Erkenntnis-

fortschritte zu verzeichnen. So ist es erstens gelungen, die ‚toxischen’, gesundheitsschädi-

genden Komponenten aus der Vielfalt und Verschiedenartigkeit beruflicher Anforderungs-

profile und Beschäftigungsverhältnisse anhand theoretischer Modelle herauszufiltern und

deren quantitativen Beitrag zur Verursachung arbeitsbedingter Gesundheitsgefahren zu

bestimmen. Gegenwärtig bezieht sich die empirisch am besten abgesicherte wissenschaftli-

che Evidenz auf zwei theoretische Arbeitsstressmodelle, das Anforderungs-Kontroll-

Modell (Karasek und Theorell 1990) und das Modell beruflicher Gratifikationskrisen

(Siegrist 1996). Während Inhalte und Messung dieser beiden Modelle weiter unten aus-

führlicher beschrieben werden (s. Abschn. 2.2), kann hier festgehalten werden, dass mit

ihnen zwei stresstheoretisch wichtige Dimensionen erfasst werden, zum einen das Ausmaß

an Kontrolle, welches die beschäftigte Person über die von ihr zu bewältigenden Arbeits-

anforderungen besitzt, zum andern der Umfang der Belohnung, die im Gegenzug zu geleis-

teter beruflicher Verausgabung gewährt wird. Geringe bzw. fehlende Kontrolle und gerin-

ge bzw. fehlende Belohnung stellen starke chronische Stressoren dar, d.h. bedrohliche,

über längere Zeiträume wiederkehrende Herausforderungen, die den Organismus über lang

andauernde Aktivierungen von Stressachsen funktionell (physiologisch) und strukturell

(Organschäden) zu beeinträchtigen vermögen (Rensing et al. 2006).

Gesellschaftspolitischer Hintergrund und Zielsetzung des Projekts 16

Der experimentelle und epidemiologische Nachweis dieser Schädigungsprozesse stellt ei-

nen zweiten Bereich bahnbrechender Erkenntnisse dar. Er ist bisher am weitesten entwi-

ckelt bezüglich Herz-Kreislauf-Erkrankungen (Belkic et al. 2004, Rozanski et al. 2004)

und psychischer Störungen (v.a. Depressionen) (Stansfeld et al. 2006) sowie der sie und

weitere Stress- assoziierte Krankheiten begünstigenden Mediatoren (Immun- und endokri-

nes System, körpereigene Entzündungsprozesse; vgl. Steptoe 2006). Allerdings besteht

nach wie vor Unklarheit bezüglich des exakten Verlaufs des Zusammenhangs zwischen

Expositionsdauer und Erkrankungsrisiko, da nur wenige Studien die psychosozialen Ar-

beitsbelastungen im Zeitverlauf in enger Verbindung mit Veränderungen des körperlichen

Gesundheitszustands untersucht haben (Chandola et al. 2006, Krause et al. 2009). Während

im allgemeinen eine lineare Dosis-Wirkungsbeziehung unterstellt wird, zeigen verschiede-

ne epidemiologische Studien stärkste Zusammenhänge im mittleren Erwerbsalter (etwa 40-

54 Jahre), während im höheren Alter (55-64 Jahre) lediglich schwache Effekte psychosozi-

aler Arbeitsbelastungen auf die Gesundheit beobachtet wurden (Theorell et al. 1998, Fi-

scher et al. 2008). Ob und wieweit diese kurvilineare Beziehung einen ‚healthy worker’

Effekt widerspiegelt oder einen realen Zusammenhang beschreibt, ist nicht geklärt. Die

gegenwärtige Arbeitsmarktsituation in manchen europäischen Ländern macht es wahr-

scheinlich, dass ältere Beschäftigte unter psychosozial belastenden Arbeitsbedingungen

nunmehr in größerem Umfang als früher so lange wie möglich erwerbstätig bleiben.

Somit lässt sich in der vorliegenden Studie die Hypothese prüfen, ob der Zusammenhang

zwischen Arbeitsbelastungen und Gesundheit in allen untersuchten Altersgruppen gleich

stark ausgeprägt ist. Dies wäre für die vorliegende Fragestellung bedeutsam, auch wenn die

Querschnittsdaten keine Aussage zur Abschwächung eines ‚healthy worker’ Effekts zulas-

sen. Besonders wichtig wird es sein, in diesem Zusammenhang stark belastete Risikogrup-

pen nach Branchen und anderen Beschäftigungsmerkmalen zu identifizieren, um auf dieser

Kenntnisbasis vordringliche Interventionsmaßnahmen zu entwickeln.

Psychosoziale Arbeitsbelastungen und Gesundheit: Einfluss sozialpolitischer Rahmenbe-

dingungen?

Die Beschränkung der wissenschaftlichen Analyse von Zusammenhängen zwischen Arbeit

und Gesundheit auf die Dimension subjektiv erlebter Belastungen von Beschäftigten greift

zu kurz, wenn sie nicht zugleich die größeren Rahmenbedingungen der wirtschaftlichen,

rechtlichen, demographischen und politischen Situation mit einbezieht.

Gesellschaftspolitischer Hintergrund und Zielsetzung des Projekts 17

Wirtschaftswachstum, Umfang der Arbeitslosigkeit oder Stand der Umsetzung gesetzlicher

Arbeitsschutzmaßnahmen sowie Art und Umfang wohlfahrtsstaatlicher Regelungen ange-

sichts von Existenzrisiken stellen Beispiele solcher Rahmenbedingungen dar. Dabei stellt

sich zum einen die Frage, ob Häufigkeit und Schweregrad psychosozialer Arbeitsbelastun-

gen nach diesen Rahmenbedingungen variieren, d.h. ob sie in denjenigen Ländern stärker

ausgeprägt sind, die ungünstigere Rahmenbedingungen aufweisen. Zum andern lässt sich

vermuten, dass die Wirkungen, die von psychosozialen Arbeitsbelastungen auf die Ge-

sundheit ausgehen, unter den genanten ungünstigen Rahmenbedingungen stärker ausfallen

als unter den eher schützenden Rahmenbedingungen wirtschaftlicher Stabilität und sozial-

staatlicher Absicherung gegen Existenzrisiken.

Beide Fragen können im Rahmen des vorliegenden Projekts in gewissem Umfang unter-

sucht werden, wobei die Begrenzung auf die Gruppe älterer Erwerbstätiger die besondere

Aktualität dieser Fragestellungen unterstreicht. So variieren die Beschäftigungsquoten Äl-

terer, die Beschäftigungsverhältnisse (z. B. Anteil von Teilzeitarbeitsplätzen für Ältere)

oder die sozialpolitischen Sicherungen gegen Risiken des Arbeitsplatzverlusts und der In-

validität nach Ländern besonders stark. Hier überall ermöglichen Länder- vergleichende

Analysen eine genauere, d.h. quantifizierbare Abschätzung der vermuteten Effekte.

Allerdings steht eine solche vergleichende Analyse vor dem Problem, bestimmte län-

derübergreifende Strukturmerkmale, so insbesondere sozial- bzw. wohlfahrtsstaatliche

Regelungen, analytisch sinnvoll abzugrenzen. In diesem Zusammenhang ist ein kurzer

Rückgriff auf die aktuell geführte politikwissenschaftliche Diskussion um die sog. Wohl-

fahrtsstaatstypologie, mit besonderem Bezug zu Europa, unerlässlich. Unter dem Begriff

‚Wohlfahrtsstaat’ wird üblicherweise die gesamte Sozialverfassung eines Landes verstan-

den, d.h. die Sicherungsmaßnahmen gegen Existenzrisiken der Krankheit und Invalidität,

des Arbeitsplatzverlusts, des frühen Todes, des erwerbslosen Alters sowie die von staatli-

cher Seite angebotenen Hilfeleistungen. In seinem einflussreichen Werk über die drei Wel-

ten der Wohlfahrt hat Gösta Esping-Andersen (1990) drei grundsätzlich unterscheidbare

Typen wohlfahrtsstaatlicher Regelungen vorgeschlagen. Als Unterscheidungskriterien

dienten ihm (1) das Ausmaß faktisch vorhandener sozialer Ungleichheiten zwischen Be-

völkerungsschichten, (2) das Spannungsverhältnis zwischen Familie und Staat beim

Erbringen kompensierender Leistungen, und (3) der Grad der vom Staat geleisteten ‚De-

kommodifizierung’. ‚Dekommodifizierung’ bezeichnet das Ausmaß, in dem die wirtschaft-

liche Existenz von Menschen unabhängig von den Kräften des Marktes gesichert ist, d.h.

das Ausmaß, in dem der Zwang zur Erwerbsbeteiligung angesichts staatlicher Transferzah-

Gesellschaftspolitischer Hintergrund und Zielsetzung des Projekts 18

lungen gelockert werden kann. Dieses letzte Kriterium erhält in der Typologie Esping-

Andersens eine zentrale Bedeutung. Danach unterscheidet er den ‚liberalen’ vom ‚konser-

vativen’ und vom ‚universalistischen’ (oder ‚sozialdemokratischen’) Wohlfahrtstyp.

Beim liberalen Wohlfahrtsstaat wird insbesondere die Rolle des Marktes betont. Der Staat

soll in diesen möglichst wenig eingreifen und die Verteilung der Wohlfahrt durch "die un-

sichtbare Hand" garantieren. In diesem Kontext fällt die soziale Ungleichheit hoch aus, die

ihrerseits als ein funktionales Element der Wirtschaft betrachtet wird. Wohlfahrtsstaatliche

Hilfe dient nur zum Erhalt eines Mindestlebensstandards der Bürger und soll soziale Ord-

nung und Stabilisierung der Wirtschaft garantieren. Das Ausmaß an Dekommodifizierung

ist demnach gering und der Bezug von sozialer Hilfe oftmals mit Stigmatisierung behaftet.

Die Aktivität des Staates ist beim konservativen Wohlfahrtsstaat stärker, jedoch sind sozia-

le Rechte nicht universell, sondern sie orientieren sich stark am Erwerbsstatus (Lohnar-

beitszentrierung). Folge ist, dass sich soziale Hierarchien im Sicherungssystem widerspie-

geln, da soziale Sicherung nach Stellung auf dem Arbeitsmarkt gewährt wird und damit

quasi "verdient" werden muss. Das Ausmaß an Dekommodifizierung hängt also in starkem

Maße vom eigenen Erwerbsstatus (bzw. dem des Ehepartners) ab.

Im universalistischen Modell spielt der Staat eine zentrale Rolle, da seine Aufgabe u.a.

darin besteht, die von der freien Wirtschaft produzierten sozialen Ungleichheiten und ihre

Risiken zu verringern. Wohlfahrtsstaatliche Leistungen sind nicht notwendig an eine Er-

werbstätigkeit gekoppelt. Das Ausmaß an Dekommodifizierung ist demnach hier beson-

ders hoch, und soziale Ungleichheiten der Lebenschancen werden entsprechend verringert.

Dies gilt in besonderem Maße für jene Lebenschancen, die von arbeitsmarkt-, sozial- und

gesundheitspolitischen Maßnahmen beeinflusst werden, welche von Gewerkschaften mit

durchgesetzt werden konnten.

Esping-Andersen hat auf Basis statistischer Kennzahlen mit Bezug zu sozialpolitischen

Schwerpunkten (z.B. Arbeitslosenquoten, Ausgaben für Sozialleistungen etc.) verschiede-

ne Länder beispielhaft gruppiert, wobei sich diese Gruppen den drei Wohlfahrtsstaatstypen

zuordnen lassen. Zum liberalen Wohlfahrtsstaatstypus können Länder wie die USA, Kana-

da und England gezählt werden, zum konservativen Wohlfahrtsstaatstypus Deutschland,

Frankreich, Belgien und Italien. Universalistische Wohlfahrtsstaaten finden sich v.a. in den

skandinavischen Ländern, also Dänemark, Schweden, Norwegen und Finnland. Alle drei

Typen von Wohlfahrtsstaaten sind in der hier vorgestellten Studie repräsentiert.

Diese Typologie ist nicht unwidersprochen geblieben. Unter anderem ist ihre starke Orien-

tierung an einer wirtschaftlichen Situation der Vollbeschäftigung (Dahl et al. 2006), ihre

Gesellschaftspolitischer Hintergrund und Zielsetzung des Projekts 19

Vernachlässigung von Wohlfahrtsdienstleistungen (Alber 1995, Bambra 2005, Jensen

2008) und ihre vorwiegende Orientierung an nord- und westeuropäischen Staaten (Bambra

2007, Ferrera 1996) kritisiert worden. Dennoch lassen sich daraus wichtige Hypothesen

ableiten. So kann gefolgert werden, dass ältere Beschäftigte in universalistischen im Ver-

gleich zu konservativen und liberalen Wohlfahrtsstaaten im Durchschnitt bessere Beschäf-

tigungsbedingungen haben, und dass sich dieser Tatbestand auch auf das Auftreten von

Arbeitsbelastungen auswirken kann. In diese Richtung weisen erste Befunde vergleichen-

der Untersuchungen, welche zeigen, dass das Ausmaß physischer und psychosozialer Ar-

beitsbelastungen in skandinavischen Ländern etwas niedriger als in den übrigen europäi-

schen Ländern ist (Dahl et al. 2006, Siegrist et al. 2005).

Der Hypothese eines Einflusses wohlfahrtsstaatlicher Programme auf die arbeitsbezogene

Gesundheit älterer Erwerbstätiger in Europa, soll in diesem Projekt nachgegangen werden.

Dazu werden neben der Typologie von Esping-Andersen auch zwei neuere Typologisie-

rungen herangezogen (siehe Methodenteil).

Der Rückgriff auf die politische Wohlfahrtsstaatsforschung erfolgt, um Länderunterschiede

systematisch interpretieren zu können. Dazu ist anzumerken, dass die bestehenden Modelle

der Typologisierung von wohlfahrtsstaatlichen Systemen auf globalen Merkmalen grün-

den, sie also vor allem auf die ‚Verfassungsprinzipien’ eines Systems abzielen. Daraus

ergibt sich die Schwierigkeit, im Kontext konkreter Fragestellungen diejenigen Aspekte

wohlfahrtsstaatlichen Handelns zu erkennen, die für möglicherweise bestehende Unter-

schiede die größte Bedeutung haben.

Um für diese Forschungsarbeit mit ihrer speziellen Fragestellung einen eindeutigeren Ver-

gleichsmaßstab zu erhalten, wird daher zusätzlich geprüft, ob psychosoziale Arbeitsbelas-

tungen jenseits übergeordneter Wohlfahrtsstaatsprinzipien mit bestimmten Makro-

Indikatoren für die Beschäftigungssituation Älterer in den jeweiligen Ländern zusammen

hängen. Beispielsweise wird die Beschäftigungsquote der über 50.-jährigen, die Weiterbil-

dungsquote und das durchschnittliche Erwerbsaustrittsalter eines Landes herangezogen.

Eine solche Betrachtung von Einzelindikatoren ist zwar weniger gut theoretisch abgesi-

chert als die Wohlfahrtsstaatstypologisierung, sie hat aber einen sehr unmittelbaren Bezug

zu den strukturellen Bedingungen, unter denen ältere Erwerbstätige arbeiten.

Ein solches Vorgehen, bei dem relevante Indikatoren auf nationaler Ebene als Maßstab des

Ländervergleichs verwendet werden, ermöglicht es, komparativ solche Bereiche der Sozi-

al- und Arbeitspolitik in den Blick zu nehmen, die die hier untersuchte Population direkt

betreffen. Beispielsweise kann untersucht werden, ob ältere Beschäftigte in Ländern mit

Gesellschaftspolitischer Hintergrund und Zielsetzung des Projekts 20

einer ausgeprägten Weiterbildungskultur – gemessen an der beruflichen Weiterbildungs-

quote – weniger Arbeitsbelastungen aufweisen als in Ländern, in denen Weiterbildung

einen geringeren Stellenwert hat.

Das gemeinsame Ziel all dieser Analysen ist es, bisher nicht vorhandene Daten über den

Einfluss struktureller Merkmale auf die arbeitsbezogene Gesundheit älterer Erwerbstätiger

in Europa zu gewinnen. Anhand solcher Daten können Prognosen über die Folgen sozial-

und arbeitsmarkpolitischer Eingriffe abgegeben werden und erste Empfehlungen für ge-

sundheitsförderliche politisch-ökonomische Rahmenbedingungen für ältere Erwerbstätige

gegeben werden. Es sollte betont werden, dass wir mit diesen makro- und mikrosoziale

Ebenen in vergleichender Perspektive verbindenden Analysen Neuland im Gebiet der Er-

forschung von Zusammenhängen zwischen Arbeitsbelastungen und Gesundheit betreten.

Methodik 21

KAPITEL 2: METHODIK

2.1 Studien und untersuchte Populationen

Als empirische Grundlage dienen Daten aus zwei aktuellen europäischen Untersuchungen

zur Arbeits- und Lebenssituation älterer Menschen in Europa, dem ‚Survey of Health, A-

geing and Retirement in Europe’ (SHARE, Release 2.01)1 und der ,English Longitudinal

Study of Ageing’ (ELSA, Release 8.0)2. Beide Studien sind in enger Abstimmung entwi-

ckelt worden und untersuchen mit weitgehend identischen Methoden ökonomische, medi-

zinische und soziologische Aspekte der über 50-jährigen Bevölkerung in insgesamt 12

europäischen Ländern. Die einbezogenen Länder reichen von den skandinavischen Län-

dern (Schweden und Dänemark) und Großbritannien über westeuropäische Länder (Frank-

reich, Belgien, Niederlande, Deutschland, Schweiz, Österreich) bis zu den südlichen Län-

dern (Spanien, Italien und Griechenland) Europas. In den Analysen wurde die Stichprobe

auf alle erwerbstätigen Männer und Frauen im Alter zwischen 50 und 64 begrenzt. So

konnten insgesamt 9917 erwerbstätige Personen in die Analysen aufgenommen werden,

4534 Frauen und 5383 Männer. Einzelheiten zur Stichprobenziehung und Repräsentativität

der beiden Studien finden sich in Börsch-Supan et al. 2005 und Banks et al. 2006. Da zent-

ral- und osteuropäische Länder erst in der jüngsten 2. Erhebungswelle von SHARE zur

Mitarbeit gewonnen werden konnten, deren Daten bei Projektbeginn noch nicht vorlagen,

werden sie in diesem Bericht nicht berücksichtigt.

1 Die SHARE-Datenerhebung wurde hauptsächlich durch das 5. Rahmenprogramm der Europäischen Union finanziert (Projekt QLK6-CT-2001-00360). Weitere Finanzmittel wurden vom US National Institute on A-ging zur Verfügung gestellt (U01 AG09740-13S2, P01 AG005842, P01 AG08291, P30 AG12815, Y1-AG-4553-01 and OGHA 04-064). Die Datensammlung in Österreich (durch den Fonds zur Förderung der wissen-schaftlichen Forschung) und der Schweiz (durch BBW/OFES/UFES) wurde national finanziert. 2 Die Daten der ELSA Studie wurden durch das Datenarchiv des Vereinigten Königreichs (UK Data Archive) zugänglich gemacht. ELSA wurde durch ein Forscherteam vom University College London, vom Institute of Fiscal Studies und vom National Centre for Social Research entwickelt. Die Finanzierung erfolgt durch das National Institute on Aging in the United States und eines Konsortiums von Ministerien des Vereinigten Königreichs unter Koordination des Office for National Statistics. Die Entwickler und Finanzierer von ELSA und das Datenarchiv tragen keinerlei Verantwortung für hier präsentierten Analysen oder Interpretationen.

Methodik 22

2.2 Datenerhebung und Messinstrumente

Die Erhebung der Daten erfolgen jeweils in den Jahren 2004 und 2005. So stammen die

Daten von ELSA aus der 2. Erhebungswelle (2004 und 2005) und der 1. Erhebungswelle

von SHARE (2004). Informationen wurden in beiden Studien durch standardisierte persön-

liche Interviews gesammelt. Der Datenerhebung gingen intensive methodische Vorarbeiten

und Schulungen voran, so auch mit dem Ziel, in den verschiedenen Ländern bzw. Sprachen

vergleichbare und valide Daten zu erhalten (Börsch-Supan et al. 2005). Aus den umfang-

reichen Informationen gelangen hier diejenigen zur Arbeitssituation, zur Gesundheit und

zu soziodemographischen Merkmalen der Befragten zur Auswertung.

Als Besonderheit der beiden Studien soll an dieser Stelle erwähnt werden, dass neben den

üblicherweise berücksichtigten deskriptiven Merkmalen der Erwerbssituation eine theorie-

geleitete Messung belastender Aspekte der psychosozialen Arbeitsbelastung vorgenommen

wurde. Obwohl die gesammelten Daten auf subjektiven Angaben der Befragten beruhen,

handelt es sich hierbei um Kurzformen psychometrisch getesteter Skalen, welche zentrale

Aspekte zweier in der internationalen Forschung führender Arbeitsstressmodelle messen,

des Anforderungs-Kontroll-Modells ('Demand-Control'- bzw. 'Job Strain' – Model; Kara-

sek & Theorell 1990) und des Modells beruflicher Gratifikationskrisen ('Effort-Reward

Imbalance' Model; Siegrist 1996).

Die bisher vorliegenden wissenschaftlichen Erkenntnisse zum Zusammenhang zwischen

psychosozialen Arbeitsbelastungen und erhöhtem Erkrankungsrisiko basieren zu einem

erheblichen Teil auf diesen zwei stresstheoretischen Modellen, die anhand standardisierter

Erhebungstechniken bei einer Vielzahl von Berufsgruppen untersucht worden sind. Einen

Überblick über weitere Arbeitsstressmodelle geben verschiedene neuere Monographien

(z.B. Antoniou et al. 2006, Cartwright and Cooper 2008, Schnall et al. 2008).

Das Anforderungs-Kontroll-Modell bezieht sich auf das Tätigkeitsprofil in den einzelnen

Berufen und besagt, dass Berufe, in denen hohe psychische Anforderungen gestellt wer-

den, gleichzeitig aber nur ein geringes Maß an Kontrolle über die Arbeitsabläufe möglich

wird, besonders belastend sind (Karasek und Theorell 1990). Fehlt an einem solchen Ar-

beitsplatz zusätzlich der soziale Rückhalt durch Kollegen oder Vorgesetzte, so erhöht sich

die gesundheitliche Gefährdung der Betroffenen weiter. Neu an diesem stresstheoretischen

Ansatz ist die Identifizierung einer spezifischen Konfiguration von Tätigkeitsmerkmalen.

Der zweite, als Modell beruflicher Gratifikationskrisen bezeichnete Ansatz bezieht sich auf

die arbeitsmarktspezifischen Aspekte der Arbeitsplatzsicherheit, der beruflichen Weiter-

Methodik 23

entwicklung und der leistungsgerechten Bezahlung. Mit seiner Orientierung an der dem

Arbeitsvertrag zugrunde liegenden Norm der Tauschgerechtigkeit identifiziert es eine neue

Quelle psychosozialer Arbeitsbelastungen: für erbrachte Leistungen nicht bzw. nicht an-

gemessen erfahrene Belohnungen (Siegrist 1996). Nach dem Modell werden Stressreaktio-

nen und negative Gefühle durch ein Ungleichgewicht zwischen (hoher) Verausgabung und

(niedriger) Belohnung bei der Arbeit hervorgerufen, wobei Belohnungen die drei Dimensi-

onen der Bezahlung, der Karrierechancen einschließlich Arbeitsplatzsicherheit sowie der

Anerkennung und Wertschätzung für geleistete Arbeit umfassen.

Beide Modelle sind in epidemiologischen Untersuchungen und in experimentellen For-

schungen intensiv getestet worden, wobei umfangreiche Evidenz für gesundheitsmindern-

de Einflüsse der auf diese Weise identifizierten Arbeitsbelastungen geschaffen wurde. Für

wichtige stress-assoziierte Krankheitsbilder wie Herz-Kreislauf-Krankheiten und affektive

Störungen wurde eine Risikoverdoppelung bei durchschnittlich zehnjähriger Expositions-

zeit ermittelt (Marmot et al. 2006, Siegrist und Dragano 2008). Ähnlich starke Zusammen-

hänge ergaben sich bei psychosomatischen Störungen, muskuloskeletalen Beschwerden

und eingeschränkter subjektiver Gesundheit. Schließlich sind Risiken ausgedehnter Fehl-

zeiten und krankheitsbedingter Frühinvalidität bei entsprechenden Belastungen signifikant

erhöht (Belkic et al. 2004, Tsutsumi und Kawakami 2004).

Indem psychosozialen Aspekten gegenüber den physischen (physikalischen, chemischen)

Aspekten der Arbeit in der Messung ein Vorrang eingeräumt wird, wird in gewisser Weise

der globalen Verlagerung des Arbeitsbelastungsspektrums in postindustriellen Gesellschaf-

ten Rechnung getragen. Es muss jedoch berücksichtigt werden, dass damit eine Einengung

der Analyse vorgenommen wird, die sich auch aus der Tatsache ergibt, dass objektive Da-

ten aus den Betrieben der Beschäftigten nicht zur Verfügung standen.

Psychosoziale Arbeitsbelastungen

Zur Messung des Anforderungs-Kontroll-Modells wurde der Schwerpunkt auf die Kon-

trolldimension gelegt, welche sich vielfach als wichtigere Dimension erwiesen hat (Mar-

mot et al. 2006). Grundlage waren zwei 4-stufige Likert-skalierte Items, die sich an dem

Job Content Questionnaire orientieren (Karasek et al. 1998) und zu einem Summenmaß

„geringe Kontrolle“ zusammengefasst wurden. Die Messung des Modells beruflicher Gra-

tifikationskrisen erfolgte mit Hilfe zweier Einzelskalen, einer für „Verausgabung“ (zwei

Likert-skalierte Items) und einer für „Belohnung“ (fünf Likert-Items). Beide Einzelskalen

bilden gemeinsam die Basis zur Berechnung des theoretisch wichtigen Gesamtmaßes ‚Ve-

Methodik 24

rausgabungs-Belohnung Quotient’ (V.-B. Quotient). Je höher dieser liegt, desto ungünsti-

ger ist das Verhältnis zwischen Verausgabung und Belohnung (Gratifikationskrise in Form

hoher Kosten bei niedrigem Gewinn).

Für beide Modelle wird jeweils ein Gesamtmaß konstruiert: Geringe Kontrolle und Ve-

rausgabungs-Belohnungsquotient. Zusätzlich wird der höheren Komplexität des Modells

beruflicher Gratifikationskrisen durch Differenzierung der beiden Skalen 'Verausgabung'

und 'Belohnung' sowie durch getrennte Auswertungen nach den drei Subkomponenten be-

ruflicher Gratifikationen (‚Bezahlung’, ‚Arbeitsplatzsicherheit’ und ‚Anerkennung’) Rech-

nung getragen (s. Tabelle 1). Die nachfolgenden Analysen basieren zum Teil auf Skalen-

mittelwerten entsprechender Operationalisierungen, zum Teil auf dichotomen Variablen,

wobei Probanden mit Skalenwerten im oberen Terzil als 'belastet', Probanden mit Skalen-

werten in den unteren beiden Terzilen als 'nicht belastet' kategorisiert wurden. Im Fall der

Skala ' Belohnung' wurde aufgrund der Ausrichtung der Items das unterste Terzil als Belas-

tungskategorie bestimmt. Zum Zweck der Vergleichbarkeit der Messung wurden die Terzi-

le länderspezifisch gebildet.

Gesundheitliche Einschränkungen

Zur Messung gesundheitlicher Einschränkungen werden vier Indikatoren berücksichtigt:

(1) depressive Symptome, (2) schlechte subjektive Gesundheit, (3) chronische Beschwer-

den und (4) funktionale Einschränkungen. Die Informationen zu jedem dieser Indikatoren

werden zu Auswertungszwecken in dichotomer Form gegeben (gesundheitliche Einschrän-

kung vorhanden/ nicht vorhanden). Chronische Beschwerden werden anhand einer Liste

von insgesamt elf Beschwerden gemessen (z.B. Magenschmerzen, Schlaflosigkeit, Kurz-

atmigkeit) (Mackenbach et al. 2005). Personen, die zwei oder mehr Beschwerden angege-

ben haben, werden als gesundheitlich eingeschränkt betrachtet.

Die subjektive Gesundheit wird anhand der folgende Frage gemessen: „Würden Sie sagen

Ihr Gesundheitszustand ist....ausgezeichnet, sehr gut; gut; mittelmäßig; schlecht?“. In der

internationalen Gesundheitsforschung wird diese Frage häufig verwendet, da sie trotz der

einfachen und subjektiven Messung gut mit tatsächlich vorliegenden Erkrankungen korre-

liert (Idler & Benyamini 1997). Zur Bestimmung eingeschränkter Gesundheit wird hier

eine als mittelmäßig oder schlecht eingeschätzte Gesundheit verwendet. Als Indikator für

depressive Symptome wird die häufig eingesetzte und vielfach validierte Depressionsskala

CES-D (Center for Epidemiological Studies Depression scale) verwendet. Die auch für

Deutschland psychometrisch getestete Skala (ADS-Skala; Allgemeine Depressionsskala;

Methodik 25

Hautzinger und Bailer, 1993) existiert in unterschiedlichen Fassungen. Neben einer Versi-

on mit 11 Items besteht eine Version mit 8 Items. Letztere kam in der ELSA Studie zum

Einsatz, während die ausführlichere Version mit 11 Items in SHARE eingesetzt wurde.

Die Skala besteht aus einer Liste von Fragen mit denen das Auftreten bekannter depressi-

ver Symptome ermittelt wird. Die Antworten erfolgen in SHARE auf einer 4-stufigen Ska-

la („Fast ständig“, „Die meiste Zeit“, „Manchmal“ und „Fast nie“), während in der ELSA

Studie lediglich eine dichotome Beantwortung vorgesehen ist („Ja“, „Nein“). Aus diesen

Angaben wird ein additiver Index gebildet, der im Falle von SHARE von 11 bis 44 und im

Fall von ELSA von 0 bis 8 reicht. Entsprechend der in der Literatur verwendeten Refe-

renzwerte zur Identifikation erhöhter depressiver Symptome wurde das Vorliegen depres-

siver Symptome angenommen, wenn im Falle der in SHARE verwendeten Skala ein Sco-

rewert von 22 überschritten wurde bzw. wenn im Falle der in ELSA verwendeten Skala ein

Scorewert von 3 überschritten wurde. Wengleich dieses Instrument eine ärztliche Diagnose

nicht ersetzt, zeigen zahlreiche Studien, dass es ein verlässlicher Indikator für ein erhöhtes

Ausmaß an depressiven Symptomen darstellt (Irwin et al 1999, Weissman et al., 1977).

Einschränkungen bei Alltagsaktivitäten wurden mittels einer validierten Liste mit sechs

alltäglichen Verrichtungen gemessen (ADL-limitations), die als Hinweis auf eine eigen-

ständige Lebensführung gewertet werden. Als gesundheitlich eingeschränkt werden nach-

folgend Personen betrachtet, die eine oder mehrere Einschränkungen anführten.

Erwerbsbezogene Merkmale

Als strukturelle Merkmale der Erwerbstätigkeit wurden berücksichtigt: Erwerbssituation

(selbstständig/ angestellt); Arbeitszeit (Voll- u. Teilzeit); Beschäftigungsverhältnis der

Angestellten (befristet/ unbefristet); Vorgesetztenposition (ja/ nein); Wirtschaftsektor (ma-

nuell/ nicht-manuell/ Landwirtschaft). Zusätzlich liegen Informationen innerhalb des

SHARE-Datensatzes zu insgesamt 35 Branchen vor. Allerdings erweist sich eine systema-

tische Aufnahme dieser Informationen in die statistische Analyse aufgrund der Fallzahl als

schwierig, insbesondere bei länderspezifischen Auswertungen. Dennoch besteht die Mög-

lichkeit, diese Informationen vereinzelt für deskriptive Analysen (z.B. Identifikation be-

sonders belasteter Branchen) zu verwenden.

Soziodemographische Merkmale

Als soziodemographische Charakteristika wurden Alter und Geschlecht sowie, als Indika-

toren sozialer Schichtzugehörigkeit der Befragten, Einkommen und Bildung einbezogen.

Methodik 26

Die Daten zu den Variablen ‚Einkommen’ und ‚Bildung’ wurden in länderspezifische Ter-

tile unter Einbezug der gesamten Stichprobe eines Landes unterteilt („Niedrig“, „Mittel“,

„Hoch“). Die Indikatoren sozialer Schichtzugehörigkeit werden getrennt ausgewertet, da

sie verschiedene Aspekte sozialer Ungleichheit messen (Peter et al. 2007). Um alterspezifi-

sche Unterschiede sichtbar zu machen, wurden folgende drei Alterskategorien gebildet:

„50-54 Jahre“, „55-59 Jahre“ und „60-64 Jahre“. Tabelle 1 gibt eine Übersicht über die

zentralen Variablen und ihre Codierung, inklusive deskriptiver Kennwerte über alle 12

untersuchten Länder hinweg.

Tabelle 1: Stichprobenbeschreibung (SHARE, ELSA) N=9917

Kategorien oder Rangweite % oder Mittelwert (SD)Soziodemographische Merkmale Geschlecht Männlich 58,11 Weiblich 41,89 Alter 50-54 51,06 55-59 36,27 60-64 12,67 Einkommen Gering 25.76 Mittel 31.85 Hoch 42.38 Bildung Gering 30.25 Mittel 39.05 Hoch 30.70 Erwerbsbezogenen Merkmale

Erwerbssituation Angestellt 79,73 Selbstständig 20,27 Arbeitszeit Teilzeit 22,56 Vollzeit 77,44 Beschäftigungsverhältnis Befristet 6,94 Unbefristet 93,06 Vorgesetzter Nein 63,89 Ja 36,11 Wirtschaftssektor Nicht-manuell 70,20 Manuell 26,18 Landwirtschaft 3,61 Psychosoziale Arbeitsbelastung

Gesamtskala V.-B. Quotient 0.25-4 1,03 (0,43) Geringe Kontrolle 2-8 4,23 (1,45) Einzelskalen Hohe Verausgabung 2-8 5,23 (1,53) Hohe Belohnung 5-20 13,44 (2,60) Belohnungskomponenten Arbeitsplatzunsicherheit Nein 78,42 Ja 21,58 Niedrige Bezahlung Nein 57,07 Ja 42,93 Niedrige Anerkennung Nein 70,64 Ja 29,36 Eingeschränkte Gesundheit

Subjektive Gesundheit Schlechter als gut 14,28 Gut oder besser 85,72 Depressive Symptome Ja 16,04 Nein 83,96 Chronische Beschwerden 2 oder mehr 16,43 1 oder keine 83,57 ADL-Einschränkungen 1 oder mehr 2,18 Keine 97,82

Methodik 27

Wohlfahrtsstaatstypen und Makro-Indikatoren

Um einen Einfluss politischer und wirtschaftlicher Rahmenbedingungen zu erkennen, wer-

den strukturierte Ländervergleiche vorgenommen. Die Länder werden dabei entweder nach

einzelnen Typen von Wohlfahrtsstaaten oder anhand bestimmter makrosozialer Kennzah-

len gruppiert (siehe Einleitungskapitel).

Eine Einordnung der Länder nach Wohlfahrtsstaatstypen erfolgt anhand theoretischer Vor-

gaben, wobei neben dem bereits beschriebenen Modell von Esping-Andersen (1990) noch

zwei alternative Typologisierungen verwendet werden. Die Einbeziehung verschiedener

Typologisierungen erscheint angezeigt, weil die ursprüngliche Typenbildung von Esping-

Andersen in den vergangenen Jahren sowohl theoretisch, als auch methodisch kritisiert

worden ist (Dahl et al. 2006; Bambra 2007). Da die Kritik, etwa an der Verwendung einer

veralteten Datenbasis, zumindest in Teilen stichhaltig ist, wird für die vorliegenden Analy-

sen zusätzlich auf die Konzepte von Ferrera (1996) und Bambra (2005, 2005a, 2007) zu-

rück gegriffen. Ferreras Klassifikation hebt sich dadurch ab, dass sie beruhend auf sorgfäl-

tiger Analyse von Makrodaten und institutionellen Charakteristika des Sozialstaats, einen

neuen Wohlfahrtsstaatstypus, das ‚südliche Modell’, einführt. Damit trägt er den Eigenar-

ten der Sozialsysteme in südeuropäischen Ländern Rechnung, die unter anderem durch

fragmentierte Strukturen und schwache politischer Steuerung geprägt sind. Der Vorteil

dieses Konzeptes für dieses Forschungsprojekt liegt darin, dass mit diesem Modell auch

die Länder Spanien und Griechenland in eine theoretisch begründete Konzeption eingeord-

net werden können. Dies ist bei den Klassifikationen von Esping-Andersen und Bambra

nicht der Fall, da Länder dieses Typus nicht berücksichtigt worden sind. Aus den genann-

ten Gründen einer möglichst umfassenden explorativen Analyse werden jedoch auch die

beiden zuletzt genannten Klassifikationen von Wohlfahrtsstaaten berücksichtigt, wobei die

Länder Spanien und Griechenland als Residualkategorie (‚Sonstige’) geführt werden.

Das dritte Zuordnungsschema von Clare Bambra (2007) wird in die Analysen aufgenom-

men, weil es trotz seiner engen Anlehnung an die Typologie von Esping-Andersen eine auf

aktuellen Daten basierende Neuzuordnung von Ländern vornimmt. In Reaktion auf die

Kritik an Esping-Andersens veralteter Datenbasis bezieht Bambra somit neuere Entwick-

lungen in der Sozialpolitik einzelner Staaten ein. Zusätzlich zur einer aktuellen Neueinstu-

fung unterscheidet Bambra noch zwischen ‚reinen’ Formen von Wohlfahrtsstaatstypen und

Subtypen. Subtypen neigen zwar einem übergeordneten Prinzip zu, weisen zugleich aber

auch Elemente eines anderen Wohlfahrtsstaatstypus auf. Allerdings können mit den 12

Methodik 28

Ländern der SHARE-Studie nicht alle Typen aus Bambras Klassifikation gebildet werden,

so dass lediglich der konservative Subtyp hinzukommt, welcher konservative Wohlfahrts-

staaten mit zugleich gewichtigen liberalen und universalistischen Anleihen vereint. Auch

Deutschland gehört zu diesem Subtyp, wie aus Tabelle 2 ersichtlich wird. Tabelle 2 gibt

eine Übersicht über die Zuordnung der einzelnen Länder in die jeweilige Wohlfahrtsstaats-

typologie.

Tabelle 2: Übersicht über die Zuordnung der einzelnen Länder in die jeweilige

Wohlfahrtsstaatstypologie

Quelle Wohlfahrtsstaatstypen

Esping-Andersen (1990)

Liberal Großbritannien

Konservativ Deutschland Frankreich Schweiz Italien

Universalistisch Schweden Dänemark Niederlande Belgien Österreich

Sonstige Spanien Griechenland

Bambra (2005, 2005a, 2007)

Liberal Großbritannien

Konservativ Österreich Belgien Frankreich Dänemark Italien

Universalistisch Schweden

Sonstige Spanien Griechenland

Konservativer Subtyp Schweiz Niederlande Deutschland

Ferrera (1996; und Bambra 2007)

Angelsächsisches Modell Großbritannien

Kontinentales oder Bismarck-Modell Österreich Deutschland Belgien Frankreich Niederlande Schweiz

Skandinavisches Modell Schweden Dänemark

Südliches Modell Italien Spanien Griechenland

Die Wohlfahrtsstaatstypen wurden in den Analysen dazu verwendet, ländergruppenspezifi-

sche Auswertungen vorzunehmen. Zunächst wurden mittlere Belastungswerte für die Indi-

katoren psychosozialer Arbeitsbelastungen kalkuliert, um so vergleichen zu können, ob

sich das Ausmaß der Belastung in den Wohlfahrtsstaatstypen unterscheidet. Im nächsten

Schritt sind dann nach Wohlfahrtsstaatstypen stratifizierte Analysen zum Zusammenhang

von Arbeitsbelastungen und Gesundheit gerechnet worden. Stratifiziert meint, dass für jede

Ländergruppe einzeln kalkuliert wurde, wie stark Arbeitsbelastungen und Gesundheitsma-

Methodik 29

ße assoziiert sind. Dieses Vorgehen erlaubt dann den Vergleich der Zusammenhangsstär-

ken zwischen den Ländergruppen.

Neben dieser Einteilung auf Basis wohlfahrtsstaatlicher Systeme sind zusätzlich einzelne

Indikatoren zu spezifischen arbeits- und sozialpolitischen Merkmalen der jeweiligen Län-

der verwendet worden. Sie beziehen sich alle auf die Rahmenbedingungen für die Er-

werbstätigkeit von Männern und Frauen im höheren Erwachsenenalter und stammen von

der Statistikbehörde der Europäischen Union, EUROSTAT. Zurückgegriffen wurde auf

Daten für das Jahr 2005. Im einzelnen sind folgende Indikatoren einbezogen worden: (1)

die Beschäftigungsquote älterer Erwerbstätiger (Anteil der Erwerbstätigen im Alter von

55-64 Jahre an der Gesamtbevölkerung derselben Altersgruppe in Prozent), (2) das durch-

schnittliche Erwerbsaustrittsalter, (3) ein Indikator für den Umfang an Weiterbildungs-

maßnahmen (Anteil der an Aus- und Weiterbildungsmaßnahmen teilnehmenden Personen

im Alter von 25-64 Jahren), und (4) die Netto-Lohnersatzraten (durchschnittliche Rente in

Prozent des letzten Nettoeinkommens, bezogen auf Erwerbstätige mit durchschnittlichen

Einkommen). Diese Indikatoren wurden in erster Linie zur Prüfung von Zusammenhängen

mit der Ausprägung psychosozialer Arbeitsbelastungen in die Analysen einbezogen, wobei

ökologische Korrelationen berechnet wurden.

2.3 Analyseschritte und Fragestellungen

Gemäß den Fragestellungen des Berichtes werden die Auswertungen zu den Zusammen-

hängen zwischen Arbeitsbelastungen und Gesundheit in drei aufeinander aufbauende Ab-

schnitte unterteilt. Im ersten Abschnitt wird verstärkt die Rolle soziodemographischer

Merkmale untersucht. Im zweiten stehen die strukturellen erwerbsbezogenen Merkmale

und ihr Stellenwert für den Zusammenhang zwischen Arbeitsbelastungen und Gesundheit

im Mittelpunkt. Zuletzt wird im dritten Abschnitt eingehender auf die sozialpolitischen

Rahmenbedingungen eingegangen. Das heißt es wird jeweils die Rolle (1) soziodemogra-

phischer Variablen, (2) erwerbsbezogener Merkmale und (3) sozialpolitischer Rahmenbe-

dingungen für den Zusammenhang zwischen psychosozialen Arbeitsbelastungen und Ge-

sundheit untersucht.

Als Analyseverfahren werden neben deskriptiven, in der Regel bivariaten Zusammen-

hangsanalysen (Mittelwertvergleich und Kreuztabellen) multivariate Regressionen durch-

geführt (logistisch). Bei dichotomen Kriteriumsvariablen gelangen logistische Regressi-

onsanalysen zum Einsatz. Dabei wird der Einfluss wichtiger Störgrößen durch entspre-

Methodik 30

chende Adjustierung kontrolliert. Teilweise werden schrittweise Modellrechnungen vorge-

nommen, um den quantitativen Beitrag einzelner, zusätzlich in das Modell aufgenommener

Variablen abschätzen zu können. In den entsprechenden Tabellen werden Odds Ratios auf-

geführt. Ein Odds Ratio gibt an, um wie viel höher die Wahrscheinlichkeit ist, bei Exposi-

tion (z.B. Verausgabungs-Belohungsquotient oder geringe Kontrolle) eine gesundheitliche

Gefährdung (z. B. Vorliegen depressiver Symptome) aufzuweisen als bei einem Fehlen

entsprechender Exposition (keine psychosoziale Arbeitsbelastung). Im letzteren Fall wird

der Wert auf 1.0 gesetzt. Beträgt der Wert in der belasteten Gruppe beispielsweise 2.0,

dann liegt eine Verdoppelung des Erkrankungsrisikos (z.B. depressive Symptome) vor.

Anhand der genannten statistischen Auswertungsverfahren werden im Ergebnisteil drei

Gruppen von Fragestellungen bearbeitet, die nachfolgend aufgeführt sind und die auch die

Struktur des Ergebnisteils bestimmen:

Psychosoziale Arbeitsbelastungen und Gesundheit –soziodemographische Merkmale

Wie verteilen sich Arbeitsbelastungen und Gesundheit entlang soziodemographischer

Merkmale der Erwerbstätigen (v.a. Alter, Geschlecht, Einkommen, Bildung)? Welche all-

gemeinen Zusammenhänge lassen sich europaweit zwischen den gemessenen Arbeitsbelas-

tungen und den erfassten Gesundheitsparametern feststellen? Bei welchen Aspekten von

Arbeitsbelastungen ist der Zusammenhang mit eingeschränkter Gesundheit besonders aus-

geprägt? Unterscheiden sich Zusammenhänge zwischen Arbeitsbelastungen nach Ge-

schlecht und nach Alter? Haben weitere soziodemografische Merkmale (soziale Schicht-

zugehörigkeit) einen Einfluss auf die Beziehung zwischen Arbeitsbelastungen und Ge-

sundheit?

Psychosoziale Arbeitsbelastungen und Gesundheit - erwerbsbezogene Merkmale (inkl.

Branchen)

Wie verteilen sich Arbeitsbelastungen und Gesundheit entlang erwerbsbezogener Merkma-

le (v.a. Erwerbssituation, Arbeitszeit, Beschäftigungsverhältnis, Branchenzugehörigkeit)?

Lassen sich besonders gefährdete Gruppen älterer Beschäftigter identifizieren? Haben er-

werbsbezogene Merkmale einen Einfluss auf die Stärke der Beziehung zwischen psycho-

sozialen Arbeitsbelastungen und Gesundheit?

Methodik 31

Psychosoziale Arbeitsbelastungen und Gesundheit - sozialpolitische Rahmenbedingungen

Sind in Ländern, in denen Arbeitnehmerbelange durch sozialpolitische Maßnahmen stärker

repräsentiert sind, Arbeitsbelastungen im Durchschnitt weniger ausgeprägt?

Sind die Zusammenhänge zwischen Arbeitsbelastungen und Gesundheit in Ländern mit

ausgebildeten sozialpolitischen Programmen schwächer ausgeprägt? Und sind umgekehrt

die Zusammenhänge in Ländern, in denen verstärkt neoliberale Wirtschafts- und Sozialpo-

litiken existieren, stärker ausgeprägt?

Im nachfolgenden Ergebnisteil werden diese Fragestellungen systematisch beantwortet

(Kapitel 3), bevor sie einer kurzen inhaltlichen und methodischen Diskussion zugeführt

werden (Kapitel 4) die durch erste praktische Folgerungen aus den erzielten Ergebnissen

für betriebliche und überbetriebliche Maßnahmen der Gesundheitsförderung abgeschlossen

wird (Kapitel 5).

Ergebnisse 32

KAPITEL 3: ERGEBNISSE

3.1 Psychosoziale Arbeitsbelastungen und Gesundheit – soziodemo-

graphische Merkmale

Der erste Abschnitt der Ergebnisse zeigt die Auswertungen zu den Zusammenhängen zwi-

schen psychosozialer Arbeitsbelastung und Gesundheit, unter besonderer Berücksichtigung

der soziodemographischen Merkmale. Als Maß für psychosoziale Arbeitsbelastungen wer-

den sowohl die beiden Gesamtmaße (V.-B. Quotient / Geringe Kontrolle) wie auch die

Einzelkomponenten des Modells beruflicher Gratifikationskrisen einbezogen. So kann eine

differenzierte Beschreibung psychosozialer Arbeitsbelastungen erfolgen und im Rahmen

der Zusammenhangsanalysen auch untersucht werden kann, ob bestimmte Aspekte von

Arbeitsbelastungen verstärkt mit eingeschränkter Gesundheit zusammenhängen.

3.1.1 Psychosoziale Arbeitsbelastungen nach soziodemographischen Merkma-

len: bivariate Analysen

Bevor die bivariaten Zusammenhänge erläutert werden, soll nochmals unter Rückgriff auf

Tabelle 1 (siehe Seite 25) die Verteilung der zentralen Variablen angesprochen werden.

Auch wenn drei Viertel der Befragten abhängig beschäftigt, beinahe ebenso viele vollzeit-

beschäftigt und etwa 70 % in nicht-manuellen Berufen tätig sind, ist erstaunlich, dass im-

merhin jeder fünfte Befragte angibt, von Arbeitsplatzunsicherheit betroffen zu sein: Noch

höher sind die Prozentsätze derjenigen, die materielle und nicht-materielle Gratifikationen

ihrer Arbeit als nicht angemessen empfinden. Etwa jede sechste befragte Person weist

deutliche depressive Symptome auf oder leidet unter eingeschränkter subjektiver Gesund-

heit. Insgesamt muss der Gesundheitszustand der Befragten jedoch als gut bezeichnet wer-

den, da lediglich 3 % relevante funktionelle Einschränkungen aufweisen.

Ergebnisse 33

Tabelle 3: Psychosoziale Arbeitsbelastungen (inkl. Einzelkomponenten) nach so-

ziodemographischen Merkmalen (Mittelwert oder Prozente)

Psychosoziale Arbeitsbelastungen

Gesamtmaße

V.-B. Quotient (Einzelkomponenten)

Einzelskalen

Belohnungskomponenten

V.-B. Quotient

Geringe Kontrolle

Skala „hohe Verausgabung

Skala „hohe

Belohnung“

Subskala „Arbeitsplatz-unsicherheit“

Subskala „niedrige

Bezahlung“

Subskala „geringe

Anerkennung“

Mittelwert Mittelwert Mittelwert Mittelwert Prozent Prozent Prozent Geschlecht Männlich 1,05 4,20 5,34 13,42 22,70 41,36 29,55 Weiblich 1,00 4,26 5,08 13,49 20,01 45,11 29,10 Alter 50-54 1,03 4,27 5,26 13,39 22,90 42,72 31,05 55-59 1,03 4,23 5,18 13,41 20,29 43,24 29,05 > 59 1,03 4,02 5,28 13,78 19,89 42,87 23,36 Einkommen Gering 1,08 4,57 5,32 13,15 25,92 48,88 33,68 Mittel 1,06 4,34 5,30 13,29 21,69 44,93 30,09 Hoch 0,98 3,92 5,13 13,74 18,86 37,85 26,19 Bildung Gering 1,10 4,69 5,44 13,20 23,43 46,33 30,69 Mittel 1,05 4,25 5,28 13,33 23,73 44,47 31,46 Hoch 0,94 3,73 4,97 13,85 16,74 37,55 25,34 Gesamt 1,03 4,22 5,23 13,45 21,58 42,93 29,36

Wie verteilen sich Arbeitsbelastungen entlang soziodemographischer Merkmale der Er-

werbstätigen? Für die beiden Gesamtmaße sind die Ergebnisse aus Tabelle 3 wie folgt:

Geringe Kontrolle am Arbeitsplatz ist bei Frauen geringfügig häufiger vorhanden, wohin-

gegen Männer etwas erhöhte Werte beim Verausgabungs-Belohnung Quotienten aufwei-

sen. Bezüglich der Altersunterschiede zeigen sich für geringe Kontrolle günstigere Werte

in den älteren Altersgruppen, während für den V.-B. Quotienten keine Unterschiede er-

kennbar sind. Für beide Gesamtmaße sowie für sämtliche Einzelskalen ist ein sozialer

Gradient beobachtbar: Geringes Einkommen und geringe Bildung gehen mit verstärkter

psychosozialer Arbeitsbelastung einher. Bei der Betrachtung der Einzelskalen finden sich

leichte Geschlechtsunterschiede bei der Skala „hohe Verausgabung“ (höhere Werte bei

Männern). Hingegen zeigt sich, dass Frauen häufiger ‚niedrige Bezahlung’ angeben. Hin-

sichtlich der Altersunterschiede sind keine deutlichen Unterschiede für die Einzelskala

„hohe Verausgabung“ sichtbar, so aber leicht günstigere Werte für Belohnung in den älte-

ren Altersgruppen. Der Blick auf die Einzelkomponenten für Belohnung verrät, dass letzte-

res vor allem auf den geringen Anteil an Arbeitsplatzunsicherheit und geringer Anerken-

nung in den älteren Altersgruppen zurückgeführt werden kann. Hinsichtlich der beiden

Ergebnisse 34

sozioökonomischen Merkmale zeigt sich, dass statusniedrige Gruppen sowohl eine erhöhte

Verausgabung sowie geringere Belohnung aufweisen. Letzteres ist für alle drei Beloh-

nungskomponenten deutlich, am stärksten ausgeprägt sind Unterschiede bezüglich Ar-

beitsplatzunsicherheit und niedriger Bezahlung. Generell zeigen die Daten, dass psychoso-

ziale Arbeitsbelastungen insbesondere in statusniedrigen Gruppen existieren und nicht nur

in der ‚jüngsten’ Altersgruppen, sondern auch bei Älteren noch relativ stark ausgeprägt

sind. Dies spricht, bei allen methodischen Einschränkungen, gegen einen ausgeprägten

‚healthy worker’ Effekt. Zudem zeigt die Betrachtung, dass Frauen ein unterschiedliches

Belastungsprofil haben, nämlich etwas häufiger eine niedrige Bezahlung und eine geringe

Kontrolle erleben.

Die nachfolgende Abbildung fasst die Ergebnisse zum sozialen Gradienten (mit Bildung

als Beispiel) für alle untersuchten Länder zusammen und zeigt, dass die Gruppe mit gerin-

ger Bildung in allen Ländern am stärksten belastet ist. Dies gilt sowohl für das Missver-

hältnis von hoher Verausgabung und niedriger Belohnung (V.-B. Quotient) wie auch für

geringe Kontrolle.

.5 .75 1 1.25 1.5Mittelwert

GR

ES

IT

AT

CH

FR

UK

BE

NL

DE

DK

SE

V.-B. Quotient

2 3 4 5 6Mittelwert

GR

ES

IT

AT

CH

FR

UK

BE

NL

DE

DK

SE

Geringe Kontrolle

nach BildungPsychosoziale Arbeitsbelastung

Gering Mittel Hoch

Abbildung 1: Mittelwert psychosozialer Arbeitsbelastung (Mittelwert V.-B. Quotient

und Mittelwert Geringe Kontrolle) nach Bildung (Gering, Mittel, Hoch)

Ergebnisse 35

3.1.2 Gesundheitliche Einschränkungen nach soziodemographischen Merkma-

len: bivariate Analyse

Tabelle 4: Anteil der Erwerbstätigen mit gesundheitlichen Einschränkungen nach

soziodemographischen Merkmalen (Prozente)

Gesundheitliche Einschränkungen

Schlechte subjektive Ge-

sundheit

Depressive Sym-ptome

Chronische Beschwer-den

Funktionale Einschrän-kungen

Prozent Prozent Prozent Prozent Geschlecht Männlich 13,62 12,28 16,07 2,51 Weiblich 15,21 21,35 16,93 1,73 Alter 50-54 13,00 15,46 11,56 2,05 55-59 13,96 17,03 20,29 2,28 > 59 20,41 15,64 24,99 2,43 Einkommen Gering 17,13 20,50 16,91 2,71 Mittel 13,47 16,49 17,36 2,65 Hoch 13,16 13,27 15,44 1,50 Bildung Gering 17,47 21,34 19,99 2,97 Mittel 15,69 15,50 14,93 2,20 Hoch 9,37 11,85 14,90 1,24 Gesamt 14,28 16,04 16,43 2,18

Depressive Symptome sind bei 16 Prozent aller Befragten ausgeprägt, wobei der Anteil bei

Frauen größer ist als bei Männern (21 vs. 12 Prozent). Gleiches gilt, weniger ausgeprägt

und weniger systematisch für schlechte subjektive Gesundheit. Hingegen sind Ge-

schlechtsunterschiede für chronische Beschwerden und funktionale Einschränkungen kaum

vorhanden. Die Ausprägung depressiver Symptome variiert nur gering nach den drei Al-

tersgruppen. Hingegen ist für die übrigen Gesundheitsindikatoren ein deutlicher Altersgra-

dient beobachtbar. Auswertungen der Häufigkeit gesundheitlicher Einschränkungen nach

sozialer Schichtzugehörigkeit (Bildung, Einkommen) zeigen folgendes: Erhöhtes Ein-

kommen bzw. ein höherer Bildungsabschluss gehen mit einem besseren Gesundheitszu-

stand einher, so bei allen vier Gesundheitsindikatoren.

Neben diesen Variationen nach individuellen Merkmalen der Befragten, lassen sich auch

Variationen nach den einzelnen Ländern ausmachen (Ergebnisse nicht präsentiert). So fin-

det sich insgesamt ein Nord-Süd Gefälle, mit niedrigen Prävalenzen gesundheitlicher Ein-

schränkungen in Skandinavien und in der Schweiz, hingegen hohe Prävalenzen in Südeu-

ropa, Frankreich und Belgien. Dies gilt besonders für depressive Symptome, kann aber

Ergebnisse 36

auch für chronische Beschwerden und subjektive Gesundheit nachgewiesen werden (vgl.

Machenbach et al. 2005). Ob dieses Nord-Süd Gefälle auch für psychosoziale Arbeitsbe-

lastungen existiert und in Beziehung zu sozialpolitischen Rahmenbedingungen steht wird

nachfolgend untersucht (vgl. Kapitel 3.3).

Zusammenfassend zeigt sich: Die gute Übereinstimmung der Befunde mit Ergebnissen aus

prospektiven epidemiologischen Untersuchungen (höhere Depressivität bei Frauen, mehr

chronische Beschwerden bei Älteren, sozialer Gradient schlechter subjektiver Gesundheit

und depressiver Symptome, Nord-Süd Gefälle) unterstreicht weiter die Validität der hier

verwendeten Befragungsdaten.

3.1.3 Gesundheitliche Einschränkungen nach psychosozialen Arbeitsbelastun-

gen: bivariate Analysen

Tabelle 5: Anteil der Erwerbstätigen mit gesundheitliche Einschränkungen nach

psychosozialer Arbeitsbelastung (inkl. Einzelkomponenten; Prozente)

Gesundheitliche Einschränkungen

Schlechte subjektive Gesundheit

Depressive Sym-ptome

Chronische Be-schwerden

Funktionale Ein-schränkungen

Prozent Prozent Prozent Prozent Gesamtmaße V.-B. Ungleichgewicht nein 11,40 12,69 14,97 1,41 ja 20,38 23,91 18,75 3,85 Geringe Kontrolle nein 12,91 14,09 15,75 2,17 ja 19,40 23,98 18,52 2,10 Einzelskalen

Hohe Verausgabung nein 12,88 14,61 15,80 1,82 ja 18,18 20,22 17,86 3,23 Geringe Belohnung nein 11,91 12,58 15,14 1,94 ja 19.73 25,41 18,56 2,69 Belohnungskomponenten

Arbeitsplatzunsicherheit nein 13,20 13,87 15,65 1,71 ja 17,91 24,05 18,39 3,71 Niedrige Bezahlung nein 10,76 12,06 14,37 1,90 ja 18,59 21,78 18,76 2,57 Geringe Anerkennung nein 12,96 12,36 15,24 1,74 ja 17,38 25,95 18,75 3,31 Gesamt 14.28 16,04 16,43 2,18

Tabelle 5 zeigt die bivariaten Ergebnisse zum Zusammenhang zwischen psychosozialen

Arbeitsbelastungen (inklusive Subkomponenten) und gesundheitlichen Einschränkungen.

Ergebnisse 37

An dieser Stelle sei nochmals erwähnt, dass im Rahmen der Zusammenhangsanalysen je-

des der Maße psychosozialer Arbeitsbelastung in zwei Kategorien unterteilt wurde (ver-

stärkte Arbeitsbelastung Ja / Nein). Insgesamt bestätigen die Ergebnisse deutlich die An-

nahme, dass Beschäftigte, welche von psychosozialen Arbeitsbelastungen betroffen sind,

stärkere gesundheitliche Einschränkungen aufweisen als nicht betroffene Beschäftigte.

Beispielsweise ist der Anteil der Beschäftigten mit vermehrten depressiven Symptomen

um über zehn Prozent höher, wenn eine Arbeitsbelastung hinsichtlich des kritischen ‚Ve-

rausgabungs-Belohnung Quotienten’ vorliegt. Ähnlich trifft dies auch für das Vorliegen

geringer Kontrolle zu. Analoge Ergebnisse zeigen sich für schlechte subjektive Gesundheit

und chronische Beschwerden, weniger konsistent hingegen für funktionale Einschränkun-

gen. Abbildung 2 fasst die Ergebnisse für alle Länder mit Hilfe des Indikators „schlechte

subjektive Gesundheit“ zusammen. In allen untersuchten Ländern ist der Anteil der Er-

werbstätigen mit schlechter subjektiver Gesundheit dann höher, wenn ein Ungleichgewicht

zwischen Verausgabung und Belohnung oder geringe Kontrolle vorliegt.

0 10 20 30%

GR

ES

IT

AT

CH

FR

UK

BE

NL

DE

DK

SE

V.-B. Ungleichgewicht

0 10 20 30%

GR

ES

IT

AT

CH

FR

UK

BE

NL

DE

DK

SE

Geringe Kontrolle

nach psychosozialer ArbeitsbelastungSchlechte subjektive Gesundheit

Nein Ja

Abbildung 2: Anteil der Erwerbstätigen mit schlechter subjektiver Gesundheit nach

psychosozialer Arbeitsbelastung (Ja= oberstes Terzil Verausgabungs-Belohnung

Quotient oder geringe Kontrolle; Nein= untere Terzile): Prozente

Ergebnisse 38

Die Ergebnisse zu den Gesamtmaßen spiegeln sich auch in den Einzelkomponenten wider

(siehe Tabelle 5). Der prozentuelle Unterschied zwischen Belasteten und Nichtbelasteten

ist besonders deutlich für die Skala „Geringe Belohnung“ (insbesondere deutlich, wenn der

Zusammenhang zwischen den Belohnungskomponenten ‚geringe Anerkennung’ bzw. 'Ar-

beitsplatzunsicherheit' und depressiven Symptomen betrachtet wird).

Zusammenfassend finden wir eine empirische Unterstützung der Annahme, dass psychoso-

ziale Arbeitsbelastungen mit gesundheitlichen Einschränkungen assoziiert sind, wobei hier

lediglich bivariate Zusammenhänge untersucht worden sind und damit mögliche Drittvari-

ablen noch berücksichtigt werden müssen.

3.1.4 Psychosoziale Arbeitsbelastungen und gesundheitliche Einschränkungen –

soziodemographische Merkmale: multivariate Analysen

Da wir bereits beträchtliche Variationen gesundheitlicher Einschränkungen nach soziode-

mographischen Merkmalen beobachtet haben, ist es entscheidend, die im vorhergehenden

Abschnitt dargestellten Befunde durch multivariate Analysen abzusichern, in denen die

entsprechenden Effekte durch statistische Adjustierung kontrolliert werden. Dies erfolgt in

den folgenden logistischen Regressionsanalysen zur Untersuchung des Zusammenhangs

zwischen jeder der einzelnen psychosozialen Arbeitsbelastungen und den vier Gesund-

heitsindikatoren. Die Analysen wurden in jeweils zwei Modellen durchgeführt, wobei in

Modell 1 für Alter, Geschlecht und Ländereffekte adjustiert wurde, in Modell 2 zusätzlich

für soziale Schicht. Das heißt, der Vergleich der beiden Modelle informiert darüber, inwie-

fern der Zusammenhang zwischen Arbeitsbelastung und Gesundheit auf die soziale Schicht

zurückzuführen ist. Als Maßzahl werden Odds Ratios gezeigt. Diese drücken die Wahr-

scheinlichkeit aus, die die Gruppe der Belasteten gegenüber der Gruppe der Nichtbelaste-

ten (Referenzgruppe) haben, von entsprechenden gesundheitlichen Einschränkungen be-

troffen zu sein. Liegt der Wert bei 1,0 so liegt die gleiche Wahrscheinlichkeit vor (kein

Zusammenhang). Liegt er hingegen höher als 1,0, dann tritt das Kriterium mit entspre-

chend erhöhter Wahrscheinlichkeit auf (s. oben 2.3). Ob die Unterschiede zwischen der

belasteten und der nichtbelasteten Gruppe zufälliger Natur sind oder auf eine deutliche,

inhaltlich zu interpretierende Differenz hinweisen, wird anhand statistischer Signifikanz-

prüfung beurteilt. Je kleiner der in den Tabellen angeführte p-Wert ist (z. B. p<0,001), des-

to höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass der entsprechende Zusammenhang nicht auf Zu-

fall beruht.

Ergebnisse 39

Insgesamt können anhand von Tabelle 6 die Befunde der bivariaten Analysen bestätigt

werden. Auch bei statistischer Kontrolle der soziodemographischen Merkmale finden sich

deutliche Zusammenhänge zwischen Arbeitsbelastungen und Gesundheit. Vergleicht man

– bei aller aus statistischer Sicht gebotenen Vorsicht - die Zusammenhänge entlang der

einzelnen Gesundheitsmerkmale, so zeigt sich, dass Arbeitsbelastungen insbesondere mit

schlechter subjektiver Gesundheit und vermehrten depressiven Symptomen verbunden

sind. Zudem sind die Zusammenhänge des Missverhältnisses von hoher Verausgabung und

niedriger Belohnung insgesamt etwas stärker sind als diejenigen niedriger Kontrolle. Be-

trachtet man die Subkomponenten des Modells beruflicher Gratifikationskrisen, so zeigt

sich, dass geringe bzw. fehlende Belohnung etwas stärker als hohe Verausgabung mit ein-

geschränkter Gesundheit assoziiert ist und dass der nicht-materielle Gratifikationsaspekt

ähnlich bedeutsam ist wie der materielle (Lohn, Gehalt).

Tabelle 6: Psychosoziale Arbeitsbelastungen (inkl. Einzelkomponenten) und ge-

sundheitliche Einschränkungen: Ergebnisse der logistischen Regressionen (Odds

Ratios)

Gesundheitliche Einschränkungen

Schlechte subjek-

tive Gesundheit

Depressive Symptome

Chronische Beschwerden

Funktionale Ein-schränkungen

Odds Ratios Odds Ratios Odds Ratios Odds Ratios Gesamtmaße

V.-B. Ungleichgewicht Modell 1 1,96*** 2,21*** 1,33*** 1,98*** Modell 2 + soz. Schicht 1,83*** 2,02*** 1,26*** 1,87*** Geringe Kontrolle Modell 1 1,85*** 1,99*** 1,29*** 1,17 Modell 2 + soz. Schicht 1,60*** 1,89*** 1,18* 0,98 Einzelskalen

Hohe Verausgabung Modell 1 1,53*** 1,53*** 1,25*** 1,66*** Modell 2 + soz. Schicht 1,45*** 1,42*** 1,20** 1,51** Niedrige Belohnung Modell 1 1,89*** 2,36*** 1,30*** 1,34* Modell 2 + soz. Schicht 1,81*** 2,20*** 1,27*** 1,23 Belohnungskomponenten

Arbeitsplatzunsicherheit Modell 1 1,51*** 1,85*** 1,18** 1,52** Modell 2 + soz. Schicht 1,43*** 1,71*** 1,14 1,39* Niedrige Bezahlung Modell 1 1,71*** 1,95*** 1,23*** 1,45** Modell 2 + soz. Schicht 1,64*** 1,93*** 1,22*** 1,32* Geringe Anerkennung Modell 1 1,55*** 2,22*** 1,19** 1,44** Modell 2 + soz. Schicht 1,52*** 2,16*** 1,16* 1,39* *p < 0,05; ** p< 0,01; *** p < 0,001 Anmerkung. Modell 1: Adjustiert für Länder, Alter und Geschlecht. Modell 2: M1 plus Bildung und Einkommen

Ergebnisse 40

Zusätzlich zeigt Tabelle 6, dass durch die Aufnahme der beiden Indikatoren sozialer

Schicht die Zusammenhänge in der Regel leicht abgeschwächt werden. Dies kann als Hin-

weis gewertet werden, dass in Modell 1 ein Effekt der sozialen Schicht mitgemessen wur-

de, d.h. dass zumindest ein Teil des Zusammenhangs zwischen Arbeitsbelastung und Ge-

sundheit auf deren schichtspezifische Verteilung zurückgeführt werden kann.

Zur genaueren Analyse dieser Annahme werden im folgenden Abschnitt zusätzlich die

Effekte der beiden Schichtmerkmale (Einkommen und Bildung) mit und ohne Berücksich-

tigung der beiden Gesamtmaße psychosozialer Arbeitsbelastungen (V.-B. Ungleichgewicht

und Geringe Kontrolle) berechnet. Dies erlaubt nochmals eine multivariate Untersuchung

des Zusammenhangs zwischen sozialer Schicht und eingeschränkter Gesundheit. Es wer-

den zwei Modelle präsentiert. Modell 1 ist für Alter, Geschlecht und Land adjustiert. In

Modell 2 (a und b) wird zusätzlich entweder für „V.-B. Ungleichgewicht“ oder für „Gerin-

ge Kontrolle“ adjustiert (s. 3.1.5).

3.1.5 Soziodemographischen Merkmalen und gesundheitliche Einschränkungen:

multivariate Analyse

In diesem Abschnitt werden die beiden oben erwähnten Modellrechnungen zum Einfluss

sozialer Schichtzugehörigkeit durchgeführt (Tabelle 7). Danach werden geschlechts- und

altersspezifische multivariate Analysen dargestellt (Tabelle 8).

Zunächst bestätigt Tabelle 7 die Ergebnisse der bivariaten Analysen zum Zusammenhang

zwischen sozialer Schicht und Gesundheit. So zeigt Modell 1, dass Menschen mit gerin-

gem oder mittlerem Einkommen eine signifikant erhöhte Wahrscheinlichkeit gegenüber

der Referenzkategorie (hohes Einkommen) haben, schlechte subjektive Gesundheit und

vermehrte depressive Symptome zu haben – auch dann, wenn für Alter, Geschlecht und

Landeszugehörigkeit adjustiert wird. Wenn eines der beiden Merkmale für psychosoziale

Arbeitsbelastung integriert wird, verringern sich diese Effektstärken zum Teil recht erheb-

lich. Dies bestätigt die Annahme, dass Teile des sozialen Schichteffekts über hohe psycho-

soziale Arbeitsbelastungen vermittelt werden.

Ergebnisse 41

Tabelle 7: Soziale Schicht und gesundheitliche Einschränkungen: Ergebnisse der

logistischen Regressionen (Odds Ratios)

Gesundheitliche Einschränkungen

Schlechte subjek-

tive Gesundheit

Depressive Symptome

Chronische Beschwerden

Funktionale Einschränkungen

Odds Ratios Odds Ratios Odds Ratios Odds Ratios Einkommen (ref. Hoch)

Gering Modell 1 1,53*** 1,48*** 1,09 1,08 Mittel 1,29*** 1,29** 1,11 1,26 Gering Modell 2a + V.-B. Ungleichg. 1,39*** 1,32** 1,04 0,94 Mittel 1,21* 1,17 1,06 1,22 Gering Modell 2b + Ger. Kontrolle 1,38*** 1,31** 1,07 0,99 Mittel 1,23** 1,18* 1,08 1,28 Bildung (ref. Hoch)

Gering Modell 1 2,36*** 1,75*** 1,41*** 2,11*** Mittel 1,44*** 1,35*** 1,11 1,42* Gering Modell 2a + V.-B. Ungleichg. 2,03*** 1,57*** 1,34*** 1,70** Mittel 1,32** 1,26* 1,08 1,32 Gering Modell 2b + Ger. Kontrolle 2,11*** 1,56*** 1,35*** 1,99*** Mittel 1,37*** 1,22* 1,08 1,36 *p < 0,05; ** p< 0,01; *** p < 0,001 Anmerkung. Modell 1: Adjustiert für Länder, Alter und Geschlecht.

In weiteren Auswertungsschritten wurden die Zusammenhänge zwischen Arbeitsbelastun-

gen und Gesundheit für Frauen und Männer sowie nach Altersgruppen getrennt untersucht,

wiederum adjustiert nach Land und entweder Alter oder Geschlecht. Wieder konzentrieren

sich die Analysen auf die beiden Gesamtmaße (V.-B. Ungleichgewicht, Geringe Kontrol-

le). Vergleicht man die Zusammenhänge nach Geschlecht, so zeigen sich kaum Unter-

schiede in der Stärke der Zusammenhänge zwischen Belastungen und Gesundheit. Ebenso

bestätigen die altersgruppenbezogenen Analysen den bereits früher gesehenen Trend, dass

in der höchsten Altersgruppe die Effekte psychosozialer Arbeitsbelastungen auf Gesund-

heit nicht wesentlich schwächer sind als in jüngeren Altersgruppen.

Ergebnisse 42

Tabelle 8: Psychosoziale Arbeitsbelastungen und gesundheitliche Einschränkungen:

Ergebnisse der logistischen Regressionen (Odds Ratios): getrennt nach Geschlecht

und Altersgruppen

Geschlecht

Altersgruppen

Männer Frauen 50-54 Jahre 55-59 Jahre 60-64 Jahre Subjektive Gesundheit

V.-B. Ungleichgewicht 1,95*** 1,99*** 1,98*** 1,84*** 2,17*** Geringe Kontrolle 1,73*** 2,01*** 2,16*** 1,60*** 1,75** Depressive symptome

V.-B. Ungleichgewicht 2,49*** 2,02*** 2,38*** 2,09*** 2,12*** Geringe Kontrolle 1,95*** 2,06*** 1,90*** 2,01*** 2,43*** Chronische Beschwerden

V.-B. Ungleichgewicht 1,30*** 1,37*** 1,31** 1,42*** 1,14 Geringe Kontrolle 1,19 1,41*** 1,29* 1,27* 1,37* Funktionale Einschränkungen

V.-B. Ungleichgewicht 1,86*** 2,16*** 3,01*** 1,77*** 1,27 Geringe Kontrolle 1,19 1,27 1,04 1,18 1,46 *p < 0,05; ** p< 0,01; *** p < 0,001 Anmerkung. Adjustiert für Länder und entweder Alter oder Geschlecht.

3.1.6 Zusammenfassung

Die wichtigsten bisher erzielten Ergebnisse lassen sich wie folgt zusammenfassen:

1. Obwohl die in die Studie einbezogenen älteren Beschäftigten in 12 europäischen

Ländern mehrheitlich bei guter Gesundheit, vollzeitbeschäftigt und überwiegend in

nicht-manuellen Berufen tätig sind, gibt jeder 5. Befragte an, Arbeitsplatzunsicher-

heit zu erfahren, und beinahe 30% sind von mangelnder Anerkennung im Beruf be-

troffen. Bei jeder 6. Person werden deutliche depressive Symptome festgestellt, und

beinahe ebenso viele bezeichnen ihre subjektive Gesundheit als eher schlecht.

2. Die nach stresstheoretischen Gesichtspunkten untersuchten psychosozialen Ar-

beitsbelastungen (Gratifikationskrisen in Form hoher Verausgabung und niedriger

Belohnung; geringe Kontrolle über die Arbeitsaufgabe) sind bei Männern und

Frauen in etwa gleich verteilt, und gleiches gilt für die drei Altersgruppen. Hinge-

gen zeigt sich ein konsistenter sozialer Schichtgradient: niedrigeres Einkommen

und niedrigere Bildung gehen mit höheren Arbeitsbelastungen einher. Dieser Zu-

Ergebnisse 43

sammenhang zeigt sich für alle Skalen, besonders ausgeprägt sind die Unterschiede

bezüglich Arbeitsplatzunsicherheit und niedriger Bezahlung.

3. Zwischen psychosozialen Arbeitsbelastungen und den vier Gesundheitsindikatoren

zeigen sich über alle Länder hinweg multivariat konsistente und zumeist statistisch

signifikante Zusammenhänge. Im voll adjustierten Modell ist das Risiko einge-

schränkter Gesundheit bei psychosozial Belasteten zwischen 20% und 100% erhöht

im Vergleich zu Nichtbelasteten. Dabei sind die Effekte niedriger Belohnung etwas

stärker als diejenigen niedriger Kontrolle, und nicht-materielle Aspekte geringer

Belohnung sind von vergleichbarer Bedeutung wie finanzielle und arbeitsplatzbe-

zogene Aspekte. Insgesamt zeigen sich engere Zusammenhänge psychosozialer Be-

lastungen mit depressiven Symptomen und schlechter subjektiver Gesundheit als

mit chronischen Beschwerden und funktionellen Einschränkungen.

4. Ein Teil der unter 2. genannten Effekte lässt sich auf die im Durchschnitt höhere

psychosoziale Arbeitsbelastung bei Beschäftigten in niedrigen Bildungs- und Ein-

kommensgruppen zurückführen, da hier sowohl höhere Belastungen als auch stär-

kere gesundheitliche Einschränkungen angegeben werden. In gewissem Umfang

vermitteln niedrige Kontrolle und berufliche Gratifikationskrisen den Zusammen-

hang zwischen sozialer Schicht und Gesundheit.

5. Es ist wichtig, festzuhalten, dass die Zusammenhänge zwischen psychosozialen

Arbeitsbelastungen und Gesundheit im Großen und Ganzen für männliche und

weibliche Beschäftigte in gleichem Maße gelten. Ebenso sind zwischen den drei

Altersgruppen der älteren Beschäftigten keine systematischen Unterschiede bezüg-

lich der Stärke von Zusammenhängen zwischen Arbeitsbelastungen und gesund-

heitlichen Einschränkungen festzustellen. Die Tatsache, dass psychosoziale Ar-

beitsbelastungen in den zwölf untersuchten Ländern auch in der Gruppe der über

60-Jährigen ähnlich stark wie bei den Jüngeren ausgeprägt sind, erhält im Kontext

der leitenden Fragestellung besondere Bedeutung.

Ergebnisse 44

3.2 Psychosoziale Arbeitsbelastungen und Gesundheit - erwerbsbe-

zogene Merkmale

Im Mittelpunkt des zweiten Ergebnisabschnittes steht die Frage, wie erwerbsbezogene

Merkmale in Wechselbeziehung zu psychosozialen Arbeitsbelastungen und Gesundheit

stehen, so auch welche Rolle erwerbsbezogene Merkmale innerhalb des Zusammenhangs

zwischen einer Belastung und der Gesundheit spielen. Speziell wird einerseits geprüft, ob

erwerbsbezogene Merkmale indirekt über psychosoziale Arbeitsbelastungen auf die Ge-

sundheit wirken. Andererseits wird untersucht, ob die Zusammenhänge zwischen Arbeits-

belastungen und gesundheitlichen Einschränkungen zwischen einzelnen Erwerbsgruppen

variieren.

3.2.1 Psychosoziale Arbeitsbelastungen nach erwerbsbezogenen Merkmalen:

bivariate Analysen

Wie verteilen sich Arbeitsbelastungen entlang erwerbsbezogener Merkmale? Diese Frage

soll anhand von Tabelle 9 untersucht werden.

Das Verhältnis zwischen Verausgabung und Belohnung ist bei abhängig Beschäftigten

günstiger als bei Selbständigen. Dies – so zeigen die Ergebnisse der Einzelkomponenten –

ist vor allem auf die hohe Verausgabung zurückzuführen. Gleichzeitig ist die Arbeitsplatz-

unsicherheit bei Selbständigen deutlich höher. Hingegen weist die Gruppe der Selbständi-

gen höhere Kontrolle am Arbeitsplatz auf.

Betrachtet man die unterschiedliche Belastungsausprägung nach Arbeitszeit, so zeigen sich

bei Vollzeitbeschäftigten durchschnittlich höhere Werte beim Verausgabungs-Belohnung

Quotienten sowie geringere Kontrolle am Arbeitsplatz. Während die Verausgabung bei

Vollzeitbeschäftigten höher und die Anerkennung geringer ist als bei Teilzeitbeschäftigten,

ist bei letzteren die Arbeitsplatzsicherheit geringer.

Ergebnisse 45

Tabelle 9: Psychosoziale Arbeitsbelastungen (inkl. Einzelkomponenten) nach er-

werbsbezogenen Merkmalen (Mittelwert oder Prozente)

Psychosoziale Arbeitsbelastungen

Gesamtmaße

V.-B. Quotient (Einzelkomponenten)

Einzelskalen

Belohnungskomponenten

V.-B. Quotient

Geringe Kontrolle

Skala „hohe Verausga-

bung

Skala „hohe Beloh-nung“

Subskala „Arbeits-

platz-unsicherheit“

Subskala „niedrige Bezah-lung“

Subskala „geringe Anerken-

nung“ Mittelwert Mittelwert Mittelwert Mittelwert Prozent Prozent Prozent Erwerbssituation Angestellt 1,01 4,32 5,13 13,46 20,54 41,92 29,54 Selbstständig 1,11 3,86 5,64 13,39 25,73 46,93 28,62 Arbeitszeit Teilzeit 0,96 4,20 4,88 13,49 23,35 41,91 25,03 Vollzeit 1,05 4,22 5,35 13,45 21,20 43,14 30,52 Beschäftigungsverhältnis Befristet 1,14 4,81 5,25 12,42 51,14 46,19 29,90 Unbefristet 1,00 4,28 5,12 13,53 18,30 41,61 29,55 Vorgesetzter Nein 1,04 4,48 5,15 13,17 23,27 45,41 32,18 Ja 1,01 3,79 5,38 13,94 18,57 38,42 24,22 Wirtschaftssektor Nicht-manuell 0,97 3,94 5,03 13,70 19,74 38,28 27,15 Manuell 1,16 4,83 5,70 13,03 27,63 48,56 30,94 Landwirtschaft 1,32 4,55 6,27 12,67 30,31 67,21 30,57 Gesamt 1,03 4,23 5,23 13,45 21,58 42,93 29,36

Deutlicher als bei jedem andern Erwerbsmerkmal zeigen sich Unterschiede der psychoso-

zialen Arbeitsbelastungssituation bei Beschäftigten mit befristetem vs. unbefristetem Ar-

beitsvertrag. Obwohl nur sieben Prozent der älteren Beschäftigten unserer Stichprobe in

befristeten Verträgen arbeiten (vgl. Tabelle 1), handelt es sich hier um eine Risikogruppe,

die durch geringe Kontrolle und durch ein Missverhältnis von hoher Verausgabung und

niedriger Belohnung (insb. hohe Arbeitsplatzunsicherheit) gekennzeichnet ist. Wer in einer

Vorgesetztenfunktion beschäftigt ist, zeichnet sich zwar durch etwas höhere Werte bei be-

ruflicher Verausgabung aus, weist aber insgesamt ein günstigeres psychosoziales Belas-

tungsprofil auf, so insbesondere höhere Kontrolle.

Starke Unterschiede der Belastungsausprägung finden wir schließlich bezüglich der drei –

hier sehr grob unterteilten – Wirtschaftssektoren. Im primären Sektor (landwirtschaftliche

Tätigkeit) findet sich ein deutliches Missverhältnis von hoher Verausgabung und niedriger

Belohnung. Entsprechend sind die Verausgabungswerte und die Werte niedriger Bezah-

lung im primären Sektor am höchsten, auch wenn es sich mit weniger als vier Prozent um

eine kleine Gruppe handelt. Manuell Beschäftigte (vorwiegend in der Produktion, Sekun-

därsektor) weisen auf allen untersuchten Dimensionen etwas ungünstigere Wert auf als

Ergebnisse 46

nicht-manuell Beschäftigte (Tertiärsektor). Erneut wurden die zentralen Befunde in der

nachfolgenden Abbildung für alle Länder zusammengefasst, so die unterschiedliche Ar-

beitsbelastungssituation der befristet Beschäftigten gegenüber der unbefristet Beschäftig-

ten. Trotz der geringen Fallzahl (insbesondere auf Länderebene) ist erneut das Missver-

hältnis von hoher Verausgabung und niedriger Belohnung und die geringe Kontrolle dieser

Erwerbsgruppe erkennbar.

.5 .75 1 1.25 1.5Mittelwert

GR

ES

IT

AT

CH

FR

UK

BE

NL

DE

DK

SE

V.-B. Quotient

2 3 4 5 6Mittelwert

GR

ES

IT

AT

CH

FR

UK

BE

NL

DE

DK

SE

Geringe Kontrolle

nach BeschäftigungsverhätnisPsychosoziale Arbeitsbelastung

befristet unbefristet

Abbildung 3: Mittelwert psychosozialer Arbeitsbelastung (Mittelwert V.-B. Quotient

und Mittelwert Geringe Kontrolle) nach Arbeitsvertrag (befristet vs. unbefristet)

Zusätzlich sollen an dieser Stelle branchenspezifische Verteilungen von Arbeitsbelastun-

gen betrachtet werden. Grundlage sind Informationen der so genannten NACE Codierung,

einem System zur Klassifizierung von Wirtschaftszweigen, das von der Europäischen Uni-

on entworfen wurde und innerhalb der SHARE Daten die Einteilung in insgesamt 35 Bran-

chen erlaubt ("Nomenclature statistique des activités économiques dans la Communauté

européenne"). Da allerdings in sechs Fällen die Fallzahl in den einzelnen Branchen gering

ist, werden nur die Ergebnisse zu den 29 Branchen gezeigt, in denen zumindest 40 Fälle

erwerbstätig sind.

Ergebnisse 47

.5 .75 1 1.25 1.5Mittelwert

Kultur und UnterhaltungGewerkschaften und Wirtschaftsverbände

Gesundheit und SozialesBildung

Öffentlicher DienstDienstleistungen für Unternehmen

Forschung und EntwicklungDatenverarbeitung

Wohnungswesen inkl. VermietungKredit- und Versicherungsgewerbe

TransportgewerbeGastgewerbeEinzelhandelGrosshandel

Kraftfahrzeughandel inkl. TankstellenBaugewerbe

Energie- und WasserversorgungMöbelbau

FahrzeugbauElektrotechnikMaschinenbau

MetallGlasgewerbe

ChemieVerlags- und Druckgewerbe

Holzgewerbe inkl. PapiergewerbeVerarbeitendes Gewerbe

BergbauLandwirtschaft inkl. Fischerei

nach BrancheVerausgabungs-Belohnung Quotient

Abbildung 4: Mittelwert psychosozialer Arbeitsbelastung (Mittelwert V.-B. Quotient)

nach Branchen

Bezüglich des Modells beruflicher Gratifikationskrisen zeigen sich besonders stark belaste-

te Branchen (Mittelwerte des Verausgabungs-Belohnungs-Quotienten > 1.0) vor allem bei

folgenden Beschäftigtengruppen: Landwirtschaft, Gastgewerbe, Maschinenbau, Metallin-

dustrie, Fahrzeugbau und Baugewerbe (Abb. 4).

Etwas anders stellen sich die Zusammenhänge nach dem Anforderungs-Kontroll-Modell

(Dimension Kontrolle) dar. Hier zählen zu den am stärksten belasteten Branchen Beschäf-

tigte im verarbeitenden Gewerbe, im Holzgewerbe, im Fahrzeughandel, in der Landwirt-

schaft, im Gastgewerbe und im Transportgewerbe (Abb. 5).

Ergebnisse 48

2 3 4 5Mittelwert

Kultur und UnterhaltungGewerkschaften und Wirtschaftsverbände

Gesundheit und SozialesBildung

Öffentlicher DienstDienstleistungen für Unternehmen

Forschung und EntwicklungDatenverarbeitung

Wohnungswesen inkl. VermietungKredit- und Versicherungsgewerbe

TransportgewerbeGastgewerbeEinzelhandelGrosshandel

Kraftfahrzeughandel inkl. TankstellenBaugewerbe

Energie- und WasserversorgungMöbelbau

FahrzeugbauElektrotechnikMaschinenbau

MetallGlasgewerbe

ChemieVerlags- und Druckgewerbe

Holzgewerbe inkl. PapiergewerbeVerarbeitendes Gewerbe

BergbauLandwirtschaft inkl. Fischerei

nach BrancheGeringe Kontrolle

Abbildung 5: Mittelwert psychosozialer Arbeitsbelastung (Mittelwert Geringe Kontrol-

le) nach Branchen

Ergebnisse 49

3.2.2 Gesundheitliche Einschränkungen nach erwerbsbezogenen Merkmalen:

bivariate Analysen

Tabelle 10 präsentiert die Ergebnisse zum Zusammenhang zwischen gesundheitlichen Ein-

schränkungen und erwerbsbezogenen Merkmalen. Angestellte weisen im Vergleich zu

Selbständigen mehr gesundheitliche Einschränkungen auf. Dies gilt besonders für depres-

sive Symptome und funktionale Einschränkungen. Gleiches gilt für Teilzeitbeschäftigte,

wobei hier möglicherweise gesundheitliche Selektionseffekte oder Geschlechtereffekte

ausschlaggebend sind. Starke Differenzen sind wiederum bei depressiven Symptomen nach

dem Kriterium ‚Befristung des Arbeitsvertrags’ sichtbar: Depressive Symptome kommen

bei befristet Beschäftigten fast doppelt so häufig vor wie bei unbefristet Beschäftigten.

Allerdings ist denkbar, dass dies (ähnlich wie für Teilzeitbeschäftigte) auf den hohen An-

teil beschäftigter Frauen zurückgeführt werden kann, da diese häufiger befristet tätig sind

und gleichzeitig häufiger depressive Symptome angeben. Wer in Vorgesetztenfunktion

arbeitet und wer einer nicht-manuellen Beschäftigung nachgeht, ist bei den untersuchten

Gesundheitsindikatoren in der Regel weniger gefährdet. Denkbar ist, dass dieser Befund

auch durch die verbesserte Einkommenslage dieser Erwerbsgruppe bedingt ist. Daher sind

insgesamt multivariate Analysen der untersuchten Zusammenhänge angezeigt.

Tabelle 10: Gesundheitliche Einschränkungen nach erwerbsbezogenen Merkmalen

(Prozente)

Gesundheitliche Einschränkungen

Schlechte subjekti-

ve Gesundheit

Depressive Symptome

Chronische Beschwerden

Funktionale Einschränkungen

Prozent Prozent Prozent Prozent Erwerbssituation Angestellt 14,77 16,31 16,79 2,39 Selbstständig 12,11 14,68 14,56 1,41 Arbeitszeit Teilzeit 16,20 18,90 18,25 2,09 Vollzeit 13,68 14,72 15,83 2,27 Beschäftigungsverhältnis Befristet 18,35 29,63 18,48 4,80 Unbefristet 14,48 15,34 16,58 2,21 Vorgesetzter Nein 15,40 18,07 17,00 2,12 Ja 12,19 12,44 15,22 2,33 Wirtschaftsektor Nicht-manuell 11,60 13,63 15,17 1,52 Manuell 21,59 22,04 19,20 3,75 Landwirtschaft 15,82 20,36 16,47 3,59 Gesamt 14,28 16,04 16,43 2,18

Ergebnisse 50

3.2.3 Psychosoziale Arbeitsbelastungen und gesundheitliche Einschränkungen –

erwerbsbezogene Merkmale: multivariate Analysen

Die vorangehenden Analysen haben gezeigt, dass erwerbsbezogene Merkmale sowohl mit

dem Ausmaß psychosozialer Arbeitsbelastungen, wie auch mit gesundheitlichen Ein-

schränkungen zusammenhängen. So ist denkbar, dass Teile des Effektes von Arbeitsbelas-

tungen auf die Gesundheit auf erwerbsbezogene Merkmale zurückzuführen sind. Ähnlich

gilt auch, dass Effekte erwerbsbezogener Merkmale möglicherweise über Einkommen oder

Bildung vermittelt werden. Diese Fragen sollen im ersten Schritt der folgenden multivaria-

ten Analysen untersucht werden. Hierzu präsentiert die folgende Tabelle 11 erneut die Zu-

sammenhänge zwischen psychosozialer Arbeitsbelastung und den vier Gesundheitsindika-

toren. Insgesamt wurden drei Arten von Modellen berechnet. In Modell 1 wurde lediglich

für Alter, Geschlecht und Land adjustiert, in Modell 2 (a bis e) jeweils zusätzlich für eines

der fünf erwerbsbezogenen Merkmale. So kann für jedes der erwerbsbezogenen Merkmale

gesondert betrachtet werden, ob dieses für den Zusammenhang zwischen Arbeitsbelastung

und eingeschränkter Gesundheit eine Rolle spielt. Zuletzt werden alle erwerbsbezogenen

Merkmale gemeinsam aufgenommen (Modell 3).

Tabelle 11: Psychosoziale Arbeitsbelastungen und gesundheitliche Einschränkungen:

Zusammenfassende Ergebnisse der logistischen Regressionen (Odds Ratios) adjus-

tiert für erwerbsbezogene Merkmale

Gesundheitliche Einschränkungen Schlechte

subjektive Gesundheit

Depressive Symptome

Chronische Beschwerden

Funktionale Einschränkungen

Odds Ratios Odds Ratios Odds Ratios Odds Ratios V.-B. Ungleichgewicht Modell 1 1,96*** 2,21*** 1,33*** 1,98*** Modell 2a + Erwerbssituation 1,97*** 2,22*** 1,34*** 2,01*** Modell 2b + Arbeitszeit 2,00*** 2,27*** 1,35*** 2,04*** Modell 2c + Beschäftigungsverh. 1,98*** 2,27*** 1,31*** 2,06*** Modell 2d + Vorgesetzter 1,96*** 2,17*** 1,31*** 2,42*** Modell 2e + Wirtschaftssektor 1,78*** 1,88*** 1,30*** 2,05*** Modell 3 1,79*** 1,91*** 1,32*** 2,09*** Ger. Kontrolle Modell 1 1,85*** 1,99*** 1,29*** 1,17 Modell 2a + Erwerbssituation 1,85*** 2,01*** 1,28*** 1,15 Modell 2b + Arbeitszeit 1,84*** 2,02*** 1,28*** 1,21 Modell 2c + Beschäftigungsverh. 1,93*** 2,07*** 1,26** 1,24 Modell 2d + Vorgesetzter 1,70*** 1,80*** 1,20* 1,10 Modell 2e + Wirtschaftssektor 1,54*** 1,75*** 1,19* 0,76 Modell 3 1,50*** 1,76*** 1,17 0,83 *p < 0,05; ** p< 0,01; *** p < 0,001 Anmerkung. Modell 1: Adjustiert für Länder, Alter und Geschlecht.

Ergebnisse 51

Wie zuvor lassen sich in Tabelle 11 aus Modell 1 deutliche Zusammenhänge zwischen den

beiden Maßen psychosozialer Arbeitsbelastung und eingeschränkter Gesundheit erkennen.

Gleichzeitig ist beobachtbar, dass die Zusammenhänge unter Berücksichtigung der er-

werbsbezogenen Merkmale leicht abgeschwächt sind, aber insgesamt erhalten bleiben,

sowohl im Falle von Verausgabungs-Belohnung Ungleichgewicht wie auch im Fall gerin-

ger Kontrolle. Dies deutet darauf hin, dass geringe Teile des gemessenen Zusammenhangs,

der in Modell 1 dokumentiert ist, auf erwerbsbezogene Merkmale zurückgeführt werden

können. Am ehesten trifft dies für dasjenige Modell 2 zu, welches Effekte des Wirtschafts-

sektors berücksichtigt. So ist denkbar, dass ein Teil des Effekts der erwerbsbezogenen

Merkmale indirekt über psychosoziale Belastungen verläuft. Allerdings bleiben alle Hin-

weise auf erhöhte gesundheitliche Einschränkungen im Gefolge von Erfahrungen berufli-

cher Gratifikationskrisen im voll adjustierten Modell (Modell 3) statistisch signifikant. Im

Fall geringer Kontrolle bleiben zwei der vier Effekte signifikant.

Um den jeweiligen Beitrag erwerbsbezogener Merkmale im Vergleich zu psychosozialen

Belastungsmerkmalen genauer abschätzen zu können, werden in der folgenden Tabelle

weitergehende Ergebnisse aus multivariaten Analysen vorgestellt. Modell 1 in Tabelle 12

zeigt Effekte erwerbsbezogener Merkmale auf Gesundheit, lediglich adjustiert für Alter,

Geschlecht und Land. In Modell 2 (a und b) wird zusätzlich für psychosoziale Arbeitsbe-

lastungen („V.-B. Ungleichgewicht“ bzw. „Geringe Kontrolle“) adjustiert, um auf diese

Weise festzustellen, wie weit Effektstärken von Erwerbsmerkmalen dadurch verringert

werden.

Ergebnisse 52

Tabelle 12: Erwerbsbezogene Merkmale und gesundheitliche Einschränkungen: Er-

gebnisse der logistischen Regressionen (Odds Ratios)

Gesundheitliche Einschränkungen

Schlechte subjek-

tive Gesundheit

Depressive Symptome

Chronische Beschwerden

Funktionale Einschränkungen

Odds Ratios Odds Ratios Odds Ratios Odds Ratios Angestellt (ref. Selbstständig)

Modell 1 1,09 1,01 1,20* 1,42* Modell 2a + V.-B. Ungleichg. 1,13 1,04 1,17* 1,53* Modell 2b + Ger. Kontrolle 1,04 0,94 1,13 1,50* Teilzeit (ref. Vollzeit)

Modell 1 1,28** 1,06 1,02 1,26 Modell 2a + V.-B. Ungleichg. 1,39*** 1,14 1,08 1,33

Modell 2b + Ger. Kontrolle 1,28** 1,05 1,04 1,27

Befristet (ref. unbefristet)

Modell 1 1,11 1,29 0,89 1,11 Modell 2a + V.-B. Ungleichg. 1,02 1,33 0,89 1,13

Modell 2b + Ger. Kontrolle 1,09 1,34 0,89 1,16

Kein Vorgesetzter (ref. Vorgesetzter)

Modell 1 1,43*** 1,39*** 1,15* 0,89 Modell 2a + V.-B. Ungleichg. 1,41*** 1,35** 1,16* 0,92

Modell 2b + Ger. Kontrolle 1,31*** 1,26* 1,13 0,94

Wirschaftssektor (ref. Nicht-manuell)

Manuell Modell 1 2,18*** 1,73*** 1,29*** 2,34*** Landwirtschaft 1,92*** 1,61* 1,06 1,47 Manuell Modell 2a + V.-B. Ungleichg. 1,89*** 1,56*** 1,22* 2,15*** Landwirtschaft 1,53* 1,35 0,84 1,33 Manuell Modell 2b + Ger. Kontrolle 1,99*** 1,53*** 1,26** 2,53*** Landwirtschaft 1,80** 1,52 1,04 1,56 *p < 0,05; ** p< 0,01; *** p < 0,001 Anmerkung. Modell 1: Adjustiert für Länder, Alter und Geschlecht

Zunächst wird aus Tabelle 12 deutlich, dass die zuvor beobachteten Zusammenhänge der

bivariaten Analysen nicht für jedes Erwerbsmerkmal bestehen bleiben. Sie verschwinden

bezüglich der Merkmale 'Angestellte vs. Selbständige' und 'Befristung des Arbeitsvertrags'.

In diesen Fällen wird die Assoziation vor allem durch Einflüsse von Alter, Geschlecht und

Länderzugehörigkeit erzeugt. Mit anderen Worten, es ist anzunehmen, dass insbesondere

Frauen und ältere Erwerbstätige, aber auch Erwerbstätige aus bestimmten Ländern, die

gesundheitliche Einschränkungen aufgrund befristeter Arbeitsverträge erleben. Hingegen

zeigt sich erneut, dass Erwerbstätige ohne Vorgesetztenfunktion und manuell oder in der

Landwirtschaft Beschäftigte vermehrt gesundheitliche Einschränkungen aufweisen, auch

Ergebnisse 53

unabhängig von Geschlecht, Alter und Land. Vergleicht man die Odds Ratios von Modell

1 mit denjenigen von Modell 2a und 2b, so zeigen sich kaum Veränderungen. Dies weist

darauf hin, dass die Zusammenhänge zwischen psychosozialen Arbeitsbelastungen und

gesundheitlichen Einschränkungen für die meisten, hier nach 5 Merkmalen differenzierten

Erwerbsgruppen zutreffen.

In einer weiteren Auswertungsserie wurden die Zusammenhänge zwischen Arbeitsbelas-

tungen und Gesundheit nach Erwerbgruppen getrennt untersucht, wiederum adjustiert nach

Alter, Geschlecht und Land. Auch hier zeigt ein Vergleich der Zusammenhänge der ein-

zelnen Erwerbsgruppen, dass insgesamt nur geringe Unterschiede erkennbar sind (Tabelle

13). Allerdings fällt auf, dass Vollzeitbeschäftigte im Allgemeinen leicht stärker mit Ar-

beitsbelastungen verbundene Einschränkungen erleben, ein Befund der wahrscheinlich auf

die verlängerte Exposition der Erwerbstätigen verweist.

Ergebnisse 54

Tabelle 13: Psychosoziale Arbeitsbelastungen und gesundheitliche Einschränkungen: Ergebnisse der logistischen Regressionen (Odds

Ratios): getrennt nach Erwerbsgruppen

Erwerbssituation Arbeitszeit Beschäftigungsverhältnis Vorgesetzter Wirtschaftsektor Angestellt Selbständig Teilzeit Vollzeit Befristet Unbefristet Nein Ja Nichtmanuel Manuel Landw. Subjektive Gesundheit

V.-B. Ungleichgewicht 1,98*** 1,95*** 1,90*** 2,04*** 1,42 2,01*** 1,97*** 2,03*** 2,00*** 1,55** 1,41 Geringe Kontrolle

1,92*** 1,42 1,61*** 1,96*** 2,28** 1,90*** 1,63*** 2,03*** 1,54*** 1,76*** 0,42

Depressive Symptome

V.-B. Ungleichgewicht 2,26*** 2,21*** 2,27*** 2,30*** 2,41** 2,24*** 2,16*** 2,25*** 1,86*** 2,05*** 1,88 Geringe Kontrolle

2,07*** 1,69* 1,87*** 2,14*** 1,59 2,11*** 1,76*** 1,93*** 1,77*** 1,77*** 1,01

Chronische Beschwerden

V.-B. Ungleichgewicht 1,31*** 1,57** 1,36** 1,34*** 1,18 1,32*** 1,39*** 1,18 1,26* 1,29 4,27** Geringe Kontrolle

1,26** 1,47* 1,20 1,31*** 0,91 1,29*** 1,20* 1,22 1,31* 1,02 1,01

Funktionale Einschränkungen

V.-B. Ungleichgewicht 2,06*** 1,76 1,92** 2,06*** 3,19* 1,96*** 2,58*** 2,25*** 1,92** 2,30** 0,77 Geringe Kontrolle 1,23 0,39 0,87 1,38 1,16 1,22 1,06 1,16 1,00 0,61 0,33 * p < 0,05; ** p < 0,01; *** p < 0,001 Anmerkung. adjustiert für Alter, Land und Geschlecht

Ergebnisse 55

3.2.4 Exkurs: erste Ergebnisse aus Längsschnittanalysen

Die bisher dargestellten Ergebnisse stehen unter dem Vorbehalt, dass selbstberichtete Ar-

beitsbelastungen und Gesundheitsmaße zum selben Zeitpunkt erhoben worden sind und

damit der Gefahr gemeinsamer Methodenvarianz unterliegen. Außerdem kann über die

Kausalrichtung dieser Beziehung keine zuverlässige Aussage gemacht werden, da keine

zeitliche Abhängigkeit analysiert werden kann. Dies ändert sich, wenn die zum ersten

Zeitpunkt erfassten Arbeitsbelastungen mit den zu einem späteren Zeitpunkt erneut erfass-

ten Gesundheitsindikatoren in Beziehung gesetzt werden. Lässt sich dann eine klare Ab-

hängigkeit, unter Berücksichtigung des Gesundheitszustandes bei Untersuchungsbeginn,

feststellen, ist die wissenschaftliche Aussagekraft wesentlich erhöht.

Kurze Zeit vor Erstellung dieses Abschlussberichtes wurden die Daten der zweiten Erhe-

bungswelle von SHARE, einer nach zwei Jahren durchgeführten Befragung derselben Po-

pulation mit gleichen Fragestellungen, für statistische Auswertungen zugänglich gemacht

(Release 1.0). Nachfolgend werden daher exemplarisch erste Ergebnisse aus Längsschnitt-

analysen dargestellt. Im Mittelpunkt stehen zwei Fragen. Erstens interessiert die Stabilität

der von den Befragten berichteten Arbeitsbelastungen. Es ist wichtig zu wissen, ob dabei

bestimmte situative oder individuelle Bedingungen der Befragten eine Rolle gespielt haben

könnten oder ob eine hohe Übereinstimmung der Ergebnisse aus der ersten Welle über die

zwei Messzeitpunkte hinweg existiert. Insgesamt sollte eine hohe Stabilität erwartet wer-

den.

Ergebnisse 56

.5 .75 1 1.25 1.5Mittelwert

GR

ES

IT

AT

CH

FR

BE

NL

DE

DK

SE

V.-B. Quotient

2 3 4 5 6Mittelwert

GR

ES

IT

AT

CH

FR

BE

NL

DE

DK

SE

Geringe Kontrolle

in Welle 1 und 2 (SHARE)Psychosoziale Arbeitsbelastung

Welle 1 Welle 2

Abbildung 6: Mittelwert psychosozialer Arbeitsbelastung (Mittelwert V.-B. Quotient

und Mittelwert Geringe Kontrolle) in Welle 1 und 2 der SHARE Länder

Die Abbildungen 6 und 7 zeigen entsprechende Ergebnisse zu den beiden Konstrukten

„Verausgabungs-Belohnungs-Quotient“ und „geringe Kontrolle“. Man sieht (Abbildung

6), dass die Resultate mit dieser Erwartung gut übereinstimmen. Es finden sich in Welle 2

die gleichen Verteilungsmuster wie in Welle 1. Dies gilt als zusätzlicher Beleg für eine

verlässliche Messung psychosoziale Arbeitsbelastung, da sich Ergebnisse reproduzieren

lassen, aber auch als weiterer Beleg für eine ungleiche Verteilung psychosozialer Arbeits-

belastungen entlang der untersuchten Länder – ein Aspekt der im nachfolgenden Unterka-

pitel genauer untersucht wird (Kapitel 3.3).

Die zweite, inhaltlich zentrale Frage bezieht sich auf den zeitlichen Zusammenhang zwi-

schen Arbeitsbelastungen und Gesundheit. Hier wird überprüft, ob die zum ersten Zeit-

punkt erfassten Arbeitsbelastungen einen Effekt auf den Gesundheitszustand zwei Jahre

später ausüben. Abbildung 7 bezieht sich exemplarisch für beide Konstrukte auf depressive

Symptome (gemessen anhand der EURO-Depression scale (Dewey und Prince 2005)). Die

Stichprobe der zu beiden Zeitpunkten Befragten umfasst 5949 Männer und Frauen. Gezeigt

werden den Anteil der Erwerbstätigen mit vermehrten depressiven Symptomen zum Zeit-

punkt der zweiten Welle nach psychosozialen Arbeitsbelastungen in Welle 1. Es zeigt sich,

Ergebnisse 57

dass depressive Symptome zum zweiten Messzeitpunkt in allen Ländern wesentlich häufi-

ger in der Gruppe derjenigen berichtet werden, die zum ersten Zeitpunkt von beruflichen

Gratifikationskrisen bzw. niedriger Kontrolle am Arbeitsplatz betroffen waren, als im Ver-

gleich zur Gruppe der nicht Belasteten.

0 10 20 30%

GR

ES

IT

AT

CH

FR

BE

NL

DE

DK

SE

V.-B. Ungleichgewicht

0 10 20 30%

GR

ES

IT

AT

CH

FR

BE

NL

DE

DK

SE

Geringe Kontrolle

nach psychosozialer Arbeitsbelastung (Welle 1)Depressive Symptome (Welle 2)

Nein Ja

Abbildung 7: Anteil der Erwerbstätigen mit vermehrten depressiven Symptomen in

Welle 2 nach psychosozialer Arbeitsbelastung in Welle 1

Unbeantwortet bleibt aber noch die Frage, ob Arbeitsbelastung am Arbeitsplatz auch wirk-

lich zu einer Veränderung von depressiven Symptomen innerhalb der 2 Jahre führt, oder

aber schon zur ersten Welle eine vermehrte Anzahl depressiver Symptome vorlag. Zu die-

sem Zweck wurde innerhalb weitergehender multivariater Analysen (neben soziodemogra-

phischer Merkmale) auch der Ausgangswert depressiver Symptome berücksichtigt (siehe

Tabelle 14, Modell 2). Hierbei interessiert, ob die beobachteten Effekte erhalten bleiben,

nachdem der Ausgangswert depressiver Symptome berücksichtigt worden ist. Die Ergeb-

nisse lassen deutlich erkennen, dass auch bei statistischer Kontrolle der soziodemographi-

schen Merkmale deutliche Zusammenhänge zwischen Arbeitsbelastungen und depressiven

Symptomen vorliegen. Zudem zeigt sich, dass der Zusammenhang auch dann bestehen

bleibt, wenn der Ausgangswert für depressive Symptome aus Welle 1 berücksichtigt ist

Ergebnisse 58

(Modell 2). Dies gilt als wichtiger Beleg dafür, dass die Erfahrung psychosozialer Belas-

tungen zu vermehrten depressiven Symptome führt.

Tabelle 14: Psychosoziale Arbeitsbelastungen und prospektive depressive Sympto-

me: Ergebnisse der logistischen Regressionen (Odds Ratios)

Depressive Symptome

Odds Ratios Gesamtmaße

V.-B. Ungleichgewicht Modell 1 1,68*** Modell 2 + depr. Sympt. Welle1 1,43*** Geringe Kontrolle Modell 1 1,48*** Modell 2 + depr. Sympt. Welle1 1,36** *p < 0,05; ** p< 0,01; *** p < 0,001 Anmerkung. Modell 1: Adjustiert für Länder, Alter und Geschlecht. Modell 2: M1 plus Ausgangswert depressiver Symptome

3.2.5 Zusammenfassung

Die wesentlichen Befunde dieses Abschnitts können wie folgt zusammengefasst werden:

1. Zu den durch starke psychosoziale Arbeitsbelastungen gekennzeichneten Gruppen

zählen Ältere aus den Branchen Landwirtschaft, Gastgewerbe, Transport, Bau- und

Metallindustrie, ferner die zahlenmäßig geringe Gruppe Älterer mit befristetem Ar-

beitsvertrag.

2. Multivariate Auswertungen bestätigen, dass die untersuchten Zusammenhänge zwi-

schen psychosozialen Arbeitsbelastungen und gesundheitlichen Einschränkungen in

den nach fünf Merkmalen differenzierten Erwerbsgruppen weitgehend reproduzier-

bar sind, d.h. für das gesamte Kollektiv Geltung besitzen. Nur ein kleiner Teil des

Zusammenhangs zwischen Arbeitsbelastungen und Gesundheit kann im statisti-

schen Sinn auf die untersuchten Erwerbsmerkmale zurückgeführt werden.

3. Erste Befunde aus Längsschnittanalysen zeigen erstens eine relativ hohe Überein-

stimmung der Angaben zu chronischen Arbeitsbelastungen zwischen erstem und

zweitem Messzeitpunkt. Zweitens bleiben die im Querschnitt gefundenen Zusam-

menhänge zwischen psychosozialen Arbeitsbelastungen und depressiven Sympto-

men im Längsschnitt sehr deutlich erhalten.

Ergebnisse 59

3.3 Psychosoziale Arbeitsbelastungen und Gesundheit – sozialpoliti-

sche Rahmenbedingungen

3.3.1 Psychosoziale Arbeitsbelastungen nach Ländern

Um einen möglichen Einfluss sozialpolitischer Rahmenbedingungen auf die arbeitsbezo-

gene Gesundheit der europäischen Beschäftigten abzuschätzen, wurde zunächst betrachtet,

ob sich das Ausmaß der einzelnen psychosozialen Arbeitsbelastungen zwischen Ländern

und Ländergruppen unterscheidet. In Tabelle 13 sind die entsprechenden Daten für die

verwendeten Belastungsskalen und ihre Subskalen sowohl für jedes einzelne Land als auch

für die nach den drei Konzepten gebildeten Wohlfahrtsstaatstypen (s. oben 2.2) aufgeführt.

Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass sich die von den Befragten angegebenen

mittleren Belastungen zum Teil deutlich zwischen den Ländern unterscheiden. Beim Fak-

tor niedrige Kontrolle zeigt sich ein ausgeprägter Nord-Süd-Gradient, da die geringste Be-

lastung in den skandinavischen Ländern, der Schweiz und den Niederlanden berichtet

wird, während die älteren Beschäftigten in den Mittelmeer-Ländern eine insgesamt geringe

Kontrolle berichten. Nicht ganz so eindeutig ist das Muster beim Verausgabungs-

Belohnungs-Ungleichgewicht. Ein besonders ungünstiges Verausgabungs-Belohnungs-

Verhältnis findet sich in Italien, Griechenland und Deutschland, während in den Nieder-

landen und der Schweiz die niedrigste Belastung besteht. Betrachtet man die Einzelskalen

so hängen die Unterschiede im Quotienten sowohl mit einer höheren Verausgabung in be-

stimmten Ländern, als auch mit einer niedrigen Belohnung zusammen. So haben die italie-

nischen Studienteilnehmerinnen und Studienteilnehmer mit 12,93 den niedrigsten Wert

aller Ländern (hohe Werte auf dieser Skala bedeuten eine hohe Belohnung), während die

Niederlande mit 13,87 den Spitzenplatz belegen. Was genau hinter einer niedrigen Beloh-

nung steht, zeigen die Subskalen, die sich auf einzelne Aspekte der Belohnung beziehen.

Hier ist das Bild differenziert. Beispielsweise haben die beiden skandinavischen Länder

relativ günstige Werte bei der Arbeitsplatzunsicherheit und bei mangelnder Annerkennung,

allerdings zugleich einen erhöhten Anteil an Beschäftigten, die ihre Bezahlung als niedrig

einstufen. Dieser Trend könnte mit der hohen Abgabequote in diesen Ländern zusammen-

hängen. Niedrige Bezahlung wird zudem in Frankreich, Italien, Griechenland und Spanien

berichtet, während die Befragten aus der Schweiz, den Niederlanden und Großbritannien

Ergebnisse 60

relativ gesehen am seltensten über niedrige Bezahlung klagen. Bei der Arbeitsplatzunsi-

cherheit ist die Varianz zwischen den Ländern geringer als bei der Belohnung.

Tabelle 15: Psychosoziale Arbeitsbelastungen nach Ländern (Mittelwert oder Pro-

zente)

Psychosoziale Arbeitsbelastungen

Gesamtmaße

V.-B. Quotient (Einzelkomponenten)

Einzelskalen

Belohnungskomponenten Subskalen

V.-B. Quotient

Geringe Kontrolle

Skala „hohe

Veraus-gabung“

Skala „hohe Beloh-nung“

„Arbeits-platz-

unsicher-heit“

„niedrige Bezahlung“

„geringe Anerken-

nung“

Mittelwert Mittelwert Mittelwert Mittelwert Prozent Prozent Prozent Land SE 0,98 3,75 5,03 13,51 20,21 49,46 22,97 DK 1,00 3,69 5,30 14,00 18,42 39,11 21,32 DE 1,06 4,12 5,43 13,58 22,60 39,30 22,78 NL 0,90 3,89 4,80 13,87 33,38 31,85 21,43 BE 1,01 4,30 5,27 13,83 22,81 37,57 25,84 UK 0,94 4,31 4,90 13,53 23,55 33,84 28,08 FR 1,00 4,25 4,89 13,19 18,13 47,86 44,76 CH 0,90 3,82 4,96 14,37 20,69 16,30 16,13 AT 1,05 4,33 5,44 13,78 20,53 37,58 28,23 IT 1,14 4,46 5,63 12,93 24,87 50,75 37,01 ES 0,96 4,57 4,99 13,51 13,94 47,23 24,29 GR 1,13 4,68 5,58 13,07 29,28 45,23 31,95 Ländergruppen

Esping-Andersen Liberal 0,94 4,31 4,90 13,53 23,55 33,84 28,08 Konservativ 1,05 4,22 5,30 13,37 21,74 43,06 31,74 Universalistisch 0,97 3,94 5,08 13,77 24,67 39,14 23,25 Sonstige 1,00 4,60 5,12 13,41 17,25 46,80 25,96 Bambra Liberal 0,94 4,31 4,90 13,53 23,55 33,84 28,08 Konservativ 1,06 4,30 5,23 13,21 21,00 47,18 38,48 Konservativer

Subtyp

1,02 4,06 5,30 13,68 24,01 36,27 22,01

Universalistisch 0,98 3,75 5,03 13,51 20,21 49,46 22,97 Sonstige 1,00 4,60 5,12 13,41 17,25 46,80 25,96 Ferrera Angelsächsisch 0,94 4,31 4,90 13,53 23,55 33,84 28,08 Kontinental 1,02 4,14 5,18 13,55 22,09 39,85 29,21 Skandinavisch 0,98 3,73 5,12 13,68 19,59 45,88 22,40 Südlich 1,07 4,53 5,37 13,17 20,98 48,74 31,36 Gesamt 1,03 4,22 5,23 13,45 21,58 42,93 29,36

Ländervergleiche können zwar Trends andeuten, die Ursachen für Unterschiede sind aber

schwer einzuschätzen. Aus diesem Grund sind die Länder nach drei verschiedenen Kon-

zepten in drei Gruppen von wohlfahrtsstaatlichen Systemen eingeteilt worden (Esping-

Andersen, Bambra, Ferrera; siehe Tabelle 15). Für den Verausgabungs-Belohnungs-

Ergebnisse 61

Quotienten lassen sich klare Unterschiede erkennen. Während in allen drei Klassifikations-

systemen die Befragten, welche in Ländern mit liberalem oder universalistischem– bzw.

skandinavischem – Wohlfahrtsstaatsmodell arbeiten, die vergleichsweise günstigsten Wer-

te aufweisen, ist in den Ländern mit konservativem Wohlfahrtsstaatsmodell das Verhältnis

zwischen Belohnung und Verausgabung tendenziell schlechter. Ein Blick auf die einzelnen

Dimensionen des Belastungsmodells zeigt, dass es vor allem die Verausgabungsseite ist,

die diese Unterschiede erklärt. Durchgängig finden sich in allen drei Klassifikationssyste-

men die höchsten Verausgabungswerte in Staaten mit einem konservativen Modell konti-

nentaler oder südlicher Prägung.

Ein etwas anderes Muster ist für den Faktor geringe Kontrolle zu erkennen. Zwar haben

auch hier wieder die universalistischen oder skandinavischen Wohlfahrtsstaaten die im

Durchschnitt günstigsten Werte, allerdings sind nun zwischen dem konservativen und dem

liberalen System kaum noch Unterschiede auszumachen. Eine besonders geringe Kontrolle

über ihren Arbeitsbereicht haben durchgängig die südeuropäischen Staaten, die entweder

in der Kategorie ‚Sonstige’ oder in Ferreras Modell in der eigenen Kategorie ‚Südliche

Wohlfahrtsstaaten’ zusammengefasst sind.

Wie im Methodenteil beschrieben (s. oben 2.2), wurden Länderunterschiede nicht nur an-

hand theoretischer Modellvorstellungen analysiert, sondern auch entlang einzelner von

EUROSTAT gelieferter Indikatoren für die Arbeitsmarktbeteiligung und die soziale Absi-

cherung älterer Erwerbstätiger. Diese Analyse stützt sich vor allem auf ökologische Korre-

lationen zwischen der Ausprägung des jeweiligen Makro-Indikators und dem Landesmit-

telwert der jeweiligen Skalen aus Befragungsdaten zu Arbeitsbelastungen.

In den folgenden Abbildungen sind die Ergebnisse graphisch aufgearbeitet. Die Punktwer-

te verorten ein Land zwischen den beiden Achsen aus Makroindikator und Arbeitsbelas-

tungswert, und die gestrichelte Line stellt die Anpassungsgerade (Regressionsgerade) der

Punktwerte dar. In der Abbildung 8 ist die Verbindung zwischen den Makroindikatoren

und dem Verausgabungs-Belohnungs-Quotienten dargestellt. Dabei sind einige interessan-

te Trends zu erkennen. Es zeigt sich, dass in Ländern, in denen ältere Beschäftigte gut in

den Arbeitsmarkt integriert sind, d.h. in denen es eine hohe Beschäftigungsrate der 55–64

jährigen Bevölkerung und ein höheres Erwerbsaustrittsalter gibt, die Arbeitsbelastung

durch ein Verausgabungs-Belohnungs-Ungleichgewicht systematisch niedriger ausfällt.

Die Arbeitsplätze von Älteren dagegen, die in einer Volkswirtschaft arbeiten, in welcher

ältere Erwerbstätige nur noch in geringem Umfang beschäftigt werden, sind dagegen höher

belastet.

Ergebnisse 62

Abbildung 8: Verausgabungs-Belohnungs-Quotient und Makro-Indikatoren

Es sind mehrere Ursachen für diesen Trend denkbar. Zum einen ist bekannt, dass Länder

wie Schweden ihre Bestrebungen zur Erhöhung der Erwerbsbeteiligung älterer Menschen

auch mit Maßnahmen zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen dieser Gruppe flankiert

haben. Weiterhin ist es wahrscheinlich, dass in Ländern, in denen ältere Erwerbstätige ein

selbstverständlicher Teil der Arbeitswelt sind, anders mit älteren Männern und Frauen am

Arbeitsplatz umgegangen wird. Zumindest diese Daten sprechen dafür, dass dieses ‚an-

ders’ auch ein ‚besser’ bedeuten könnte. Eine weitere Begründung ist ein möglicher Selek-

tionseffekt. Wenn in einem Land Ältere sehr früh aus dem Erwerbsleben ausscheiden müs-

sen oder können, kann es sein, dass nur noch eine spezielle Population von älteren im Be-

ruf verbleibt und damit in diese Studie aufgenommen wurde. Unter Umständen könnten

dies vor allem Beschäftigte mit niedrigqualifizierten und schlechtbezahlten Berufen sein,

da sie aufgrund niedriger Rentenansprüchen gezwungen sein könnten, den Rentenbeginn

herauszögern, um durch weitere Einzahlungen ihre Anwartschaft zu erhöhen. Allerdings

gibt es keinen klaren Trend beim Makro-Indikator Lohnersatzquote, der hier als Marker für

das im Durchschnitt zu erwartende Niveau der Rente dient. Wie Abbildung 8 zeigt, ist zum

Ergebnisse 63

Teil das Verausgabungs-Belohnungs-Ungleichgewicht in Ländern mit einem hohen Er-

satzniveau besonders ausgeprägt.

Als vierter Indikator wurde der Anteil der an Aus- und Weiterbildungsmaßnahmen teil-

nehmenden Personen im Alter von 25–64 Jahren betrachtet. Eine hohe Weiterbildungsquo-

te spricht für das Vorhandensein eine Qualifikationskultur, von der auch ältere Beschäftig-

te profitieren dürften. Tatsächlich zeigt sich eine sehr starke Korrelation zwischen der Wei-

terbildungsquote und dem Verausgabungs-Belohnungsquotienten. In denjenigen Ländern,

in denen viel Weiterbildung stattfindet, war zugleich die Arbeitsbelastung durch Gratifika-

tionskrisen am geringsten.

Abbildung 9: Die Belohnungsdimension ‚geringe Annerkennung’ und Makro-

Indikatoren

Neben dem globalen Maß des Verausgabungs-Belohnungsquotienten wurden auch wieder

die Subdimensionen betrachtet. Da die Trends für alle Bereiche sehr ähnlich sind, wird hier

nur die Analyse für die Belohnungsdimension ‚geringe Anerkennung’ gezeigt (Abb. 9). Im

Wesentlichen gelten die Aussagen, die zu Abbildung 8 gemacht wurden, hervorhebenswert

ist aber der enge Zusammenhang zwischen dem Erwerbsaustrittsalter und geringer Anner-

Ergebnisse 64

kennung. Je früher in einem Land das Erwerbsleben beendet wird, desto geringer die Ann-

erkennung, die diejenigen Älteren erfahren, die noch im Erwerbsleben stehen. Auch wenn

sichere Aussagen über die Ursachen mit diesen ökologischen Analysen nicht gemacht

werden können, spricht doch gerade dieser Befund für eine fehlende Wertschätzung älterer

Beschäftigter im Arbeitsleben mancher Länder.

Abbildung 10: Geringe Kontrolle und Makro-Indikatoren

Dagegen gibt es beim Faktor geringe Kontrolle keinen Zusammenhang mit dem durch-

schnittlichen Erwerbsaustrittsalter (Abb. 10). Allerdings scheint auch hier die Weiterbil-

dungsquote eine wichtige Größe zu sein, die mit dem Anteil von Berufstätigen mit niedri-

ger Kontrolle stark assoziiert ist. Dieser Zusammenhang ist vor dem Hintergrund der theo-

retischen Annahmen zur fehlenden Kontrolle als wichtiger Stressor plausibel und wenig

überraschend, dennoch ist es erstaunlich, dass er angesichts des hohen Allgemeinheitsgra-

des von Makro-Indikatoren für arbeits- und sozialpolitische Merkmale der untersuchten

Länder statistisch nachweisbar ist. Unseres Wissens stellen die hier dargestellten, auf öko-

logischen Korrelationen beruhenden Zusammenhänge die ersten empirischen Nachweise

einer Verbindung länderspezifischer arbeits- und sozialpolitischer Makro-Indikatoren mit

Ergebnisse 65

aggregierten Befragungsdaten zu psychosozialen Arbeitsbelastungen dar. Sie verbinden

damit die beiden Ebenen der Strukturanalyse auf Länderebene mit der Belastungsanalyse

auf der Ebene individueller Erfahrungen der in den Ländern Beschäftigten.

Die bisherigen Ergebnisse in diesem Abschnitt beruhen auf den Daten der gesamten Stich-

probe. Darüber hinaus sind die systematischen Vergleiche auch für Männer und Frauen

getrennt durchgeführt worden, ohne dass sich systematische Unterschiede gezeigt haben.

Tabelle 16: Psychosoziale Arbeitsbelastungen nach Ländergruppen (Mittelwerte) ge-

trennt nach Geschlecht

Psychosoziale Arbeitsbelastungen

Männer

Frauen

V.-B. Quotient

Geringe Kontrolle

V.-B. Quo-tient

Geringe Kontrolle

Mittelwert Mittelwert Mittelwert Mittelwert Esping-Andersen Liberal 0,97 4,33 0,91 4,29 Konservativ 1,08 4,19 1,02 4,25 Universalistisch 0,98 3,88 0,95 4,01 Sonstige 1,01 4,56 0,98 4,65 Gesamt 1,05 4,20 1,00 4,26

Interessante Geschlechtsunterschiede zeigen sich allerdings bei Analysen nach den Wohl-

fahrtsstaatstypologien. Exemplarisch zeigt Tabelle 16 Ergebnisse für die Verteilung des

Verausgabungs-Belohnungs-Quotienten und einer geringen Kontrolle in den Ländergrup-

pen nach der Typologie von Esping-Andersen. Die Beschränkung auf dieses Beispiel ist

deshalb gerechtfertigt, weil die Richtung der Ergebnisse bei den hier nicht gezeigten alter-

nativen Typologisierungen ganz ähnlich ist. Beim Verausgabungs-Belohnungs-Quotienten

ist festzuhalten, dass zwar die Belastungswerte bei Frauen insgesamt niedriger sind, dass

aber die relativen Unterschiede zwischen den Wohlfahrtsstaatstypen bei beiden Geschlech-

tern in etwa gleich sind. Bei Frauen und bei Männern sind die Werte im konservativen

Modell und bei den sonstigen Ländern am höchsten und im universalistischenund liberalen

Modell am niedrigsten. Bei der geringen Kontrolle gilt ähnliches, da auch hier die relativen

Unterschiede zwischen den Wohlfahrtsstaatstypen bei Männern und Frauen gleich sind.

Bemerkenswert ist jedoch die Tatsache, dass auch im universalistischen Modell Frauen

eine niedrigere Kontrolle haben als Männer (s. oben 3.1.1.). Es also offensichtlich nicht so

ist, dass eine größere Geschlechtergerechtigkeit bei der Arbeitsmarktteilhabe, wie sie für

Ergebnisse 66

das dieses Modell typisch ist, auch notwendig zu einem Abbau von Geschlechterunter-

schiedenen bei der Qualität der Arbeit führt.

Betrachtet man nun nicht die Relation von Belastungen zwischen Männern und Frauen,

sondern vergleicht ältere Arbeitnehmerinnen hinsichtlich ihrer Arbeitsbelastung, so zeigen

sich gravierende Unterschiede, die systematisch mit der Integration von Frauen in den Ar-

beitsmarkt korrelieren. Abbildung 11 zeigt exemplarisch, wie stark das Ausmaß von gerin-

ger Kontrolle in der weiblichen Stichprobe zwischen den Ländern schwankt und wie deut-

lich sich diese Arbeitsbelastung in Ländern häuft, in denen ältere Arbeitnehmerinnen weit-

gehend vom Arbeitsmarkt ausgeschlossen sind. Dieses Ergebnis lässt darauf schließen,

dass eine Politik und Wirtschaftspraxis, die Frauen in ihrer Arbeitsmarktteilhabe systema-

tisch benachteiligt, auch diejenigen Frauen negativ betrifft, die noch am Erwerbsleben teil-

nehmen, etwa dadurch, dass sie vor allem in unqualifizierten und belastenden Positionen

Anstellung finden.

Abbildung 11: Geringe Kontrolle und nationale Beschäftigungsrate von älteren Frauen

(nur weibliche Stichprobe)

Ergebnisse 67

Nachdem Zusammenhänge zwischen psychosozialen Arbeitsbelastungen und strukturellen

Merkmalen der Länder, welche deren arbeitsmarkt- und sozialpolitische Orientierung wi-

derspiegeln, untersucht worden sind, wenden wir uns der zentralen Frage zu, ob die Zu-

sammenhänge zwischen Arbeitsstress und den hier verfügbaren Gesundheitsindikatoren

unterschiedlich stark ausgeprägt sind, je nach dem, welche Werte diese Makro-Indikatoren

aufweisen bzw. je nach dem, welches wohlfahrtsstaatliche System der Analyse zugrunde

gelegt wird (3.3.2).

3.3.2 Einfluss sozialpolitischer Rahmenbedingungen auf den Zusammenhang

zwischen Arbeitsbelastungen und Gesundheit

Dieses Projekt ist auch der bisher kaum untersuchten Frage nachgegangen, ob die sozial-

und arbeitsmarktpolitischen Rahmenbedingungen in einem Land einen Einfluss darauf

haben, wie stark Arbeitsbelastungen die Gesundheit beeinträchtigen. Um sich dieser Frage

zu nähern, werden stratifizierte (gruppenspezifische) Regressionsanalysen durchgeführt.

Abbildung 12 fasst das Ergebnis einer solchen stratifizierten Analyse für die beiden Ar-

beitsstress-Indikatoren ‚hohes Verausgabungs-Belohnungs-Ungleichgewicht’ und ‚geringe

Kontrolle’ graphisch zusammen.

Getestet wurde, ob Personen mit hohen Arbeitsbelastungswerten häufiger depressive Sym-

ptome aufweisen als nicht belastete Erwerbstätige. Diese Analysen sind getrennt für die

auf den Wohlfahrtsstaatstypologien basierenden Ländergruppen gerechnet worden. Darge-

stellt wird jeweils der Effektschätzer (Odds Ratio) und das 95% Konfidenzintervall.

Ergebnisse 68

[Legende: Esping-Andersen 1=liberal, 2=konservativ, 3=universalistisch, 4=sonstige / Bambra 1=liberal, 2=konservativ, 3=konservativer Subtyp, 4=universalistisch, 5=sonstige / Ferrera 1=angelsächsisch, 2=kontinental, 3=skandinavisch, 4=südlisch] Abbildung 12: Odds Ratios (adjustiert für Alter, Geschlecht) für das Vorliegen depressi-

ver Symptome bei Personen mit hoher im Vergleich zu niedriger oder mittlerer Ar-

beitsbelastung; stratifizierte Auswertung nach Ländergruppen

In der linken Spalte der Graphik sind die entsprechenden Ergebnisse für ein hohes Veraus-

gabungs-Belohnungs-Ungleichgewicht dargestellt. Den Anfang machen stratifizierte Aus-

wertungen für die Ländertypisierung nach Esping-Andersen. Beispielsweise stellt die o-

berste Markierung in der linken Spalte der Abbildung 12 (roter Punkt) den Odds Ratio für

depressive Symptome bei belasteten dar (im Vergleich zu unbelasteten) aus dem liberalen

Wohlfahrtsstaatssystem (hier lediglich Großbritannien), während die Markierung darunter

den Odds Ratio für alle Studienteilnehmer aus den vier als konservative Wohlfahrtsstaaten

klassifizierten Ländern angibt. Insgesamt zeichnet sich ein deutlicher Trend ab. In Ländern

mit universalistischer Wohlfahrtsstaatsverfassung, die einen hohen Grad an Dekommodi-

fizierung aufweisen, sind Arbeitsbelastungen schwächer mit depressiven Symptomen asso-

ziiert als in der Gruppe der konservativen Wohlfahrtsstaaten und im als liberaler Wohl-

Ergebnisse 69

fahrtsstaat klassifizierten Großbritannien. Diese Richtung der Effekt-Modifikation zeigt

sich auch für die beiden alternativen Typologien von Bambra und Ferrera.

Die Ergebnisse für niedrige Kontrolle sind, obwohl weniger deutlich ausgeprägt, mit denen

für berufliche Gratifikationskrisen vergleichbar, so dass festgehalten werden kann, dass

Arbeitsbelastungen und psychische Gesundheit in Ländern mit einem Wohlfahrtsstaat

skandinavischer Prägung weniger stark zusammenhängen, als dies in liberalen oder kon-

servativen Wohlfahrtsstaatsmodellen der Fall ist. Dieser Befund gilt zudem für beide Ge-

schlechter (siehe Abb. 13). Die relativen Unterschiede in den Effektstärken sind bei Män-

nern und Frauen ähnlich, allerdings etwas schwächer bei den Frauen. Ein Beispiel hierfür

ist in Abbildung 13 aufgeführt. Bezogen auf depressive Symptome und unter Verwendung

der Typisierung nach Esping-Andersen, zeigen sich nur vereinzelt Unterschiede. Am auf-

fälligsten ist der schwächere Effekt für Frauen im liberalen Wohlfahrtsstaatstypus.

Abbildung 13: Odds Ratios (adjustiert für Alter) für das Vorliegen depressiver Sympto-

me bei Personen mit hoher im Vergleich zu niedriger oder mittlerer Arbeitsbelas-

tung; stratifizierte Auswertung nach Ländergruppen und Geschlecht

Ergebnisse 70

Während die Stärke des Zusammenhangs zwischen Arbeitsstress und depressiven Sym-

ptomen in Abhängigkeit vom Wohlfahrtsstaatstypus variiert, ist für das stärker auf die phy-

sische Gesundheit zielende Maß der subjektiven Gesundheit kein eindeutiges Muster zu

erkennen (Abbildung 14). Arbeitsbelastungen und schlechte subjektive Gesundheit sind in

allen Ländergruppen ähnlich stark miteinander verbunden, wenn auch mit einer leichten

Tendenz hin zu stärkeren Zusammenhängen beim Verausgabungs-Belohnungs-Quotienten

in den südeuropäischen Ländern. Auffallend ist auch der deutliche Zusammenhang in Län-

dern mit universalistischem Wohlfahrtsstaatstypus nach dem Bambra-Modell. Allerdings

muss angemerkt werden, dass von den hier untersuchten Ländern nach Bambras Zuord-

nung nur Schweden in diese Gruppe fällt, so dass die Interpretation dieses Befundes

schwierig ist.

[Legende: Esping-Andersen 1=liberal, 2=konservativ, 3=universalistisch, 4=sonstige / Bambra 1=liberal, 2=konservativ, 3=konservativer Subtyp, 4=universalistisch, 5=sonstige / Ferrera 1=angelsächsisch, 2=kontinental, 3=skandinavisch, 4=südlisch] Abbildung 14: Odds Ratios (adjustiert für Alter, Geschlecht) für eine schlechte subjekti-

ve Gesundheit bei Personen mit hoher im Vergleich zu niedriger oder mittlerer Ar-

beitsbelastung; stratifizierte Auswertung nach Ländergruppen

Ergebnisse 71

Um abschließend noch einen Eindruck davon zu geben, welche länderspezifischen Zu-

sammenhänge den Analysen nach Wohlfahrtsstaatstypen zugrunde liegen, zeigt Tabelle 17

für jedes der zwölf Länder die Odds Ratios für die Gesundheitsmaße ‚depressive Sympto-

me’ und ‚schlechte subjektive Gesundheit’. Auf eine Darstellung der weiteren Gesund-

heitsmaße (chronische Erkrankungen / funktionale Einschränkungen) wird aus Platzgrün-

den verzichtet, da die Zusammenhänge einem einfachen und durchgängigen Muster folgen:

bei beiden Messungen der Gesundheit sind es die konservativen Wohlfahrtsstaaten und die

südeuropäischen Länder, in denen Arbeitsbelastungen am deutlichsten mit Gesundheit zu-

sammenhängen. Dieser Trend war für alle drei Typologisierungen zu erkennen.

Ergebnisse 72

Tabelle 17: Psychosoziale Arbeitsbelastung und gesundheitliche Einschränkungen (schlechte subjektive Gesundheit und depressive

Symptome): Ergebnisse der logistischen Regressionen (Odds Ratios) getrennt nach Land

Land SE DK DE NL BE UK FR CH AT IT ES GR

Subjektive Gesundheit

V.-B. Ungleichgewicht 2,77** 1,52 1,52 1,51* 2,05** 1,33 1,80*** 2,35*** 2,31 1,88 3,47*** 2,31** Geringe Kontrolle

2,60** 1,38 1,38 1,47 2,19*** 1,45 2,06*** 2,46*** 1,49 2,45* 1,97* 1,3

Depressive symptome

V.-B. Ungleichgewicht 1,47 3,17* 3,17* 2,43** 2,22** 2,09** 2,55*** 2,86*** 1,11 1,97 2,71** 1,68 Geringe Kontrolle

1,49 1,33 1,33 2,19* 3,12*** 1,52 2,29*** 1,53 2,05 2,80** 2,11* 1,42

* p < 0,05; ** p < 0,01; *** p < 0,001 Anmerkung. adjustiert für Alter und Geschlecht.

Ergebnisse 73

3.3.3 Zusammenfassung

In diesem dritten und letzten Auswertungsschritt wurde untersucht, ob strukturelle Aspekte

der Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik in den einzelnen Ländern bzw. Ländergruppen die

Ausprägung psychosozialer Arbeitsbelastungen sowie die Stärke des Zusammenhangs zwi-

schen diesen Belastungen und den vier Gesundheitsindikatoren beeinflussen. Die wichtigs-

ten Ergebnisse lauten wie folgt:

1. Beim Vergleich von zwölf europäischen Ländern zeigen sich teilweise typische

länderspezifische Unterschiede in der Verteilung psychosozialer Arbeitsbelastun-

gen. Vergleichsweise ungünstige Arbeitsbedingungen sind in Ländern häufiger, de-

ren Wohlfahrtsstaatssystem dem konservativen Typus zuzurechnen ist. Ebenfalls

hohe Belastungen zeigen sich in den südeuropäischen Ländern.

2. Bei der Betrachtung spezifischer Makro-Indikatoren zeigt sich, dass ein niedriges

durchschnittliches Erwerbsaustrittsalter und eine niedrige Weiterbildungsquote in

einem Land mit einem hohen Verausgabungs-Belohnungs-Ungleichgewicht und

niedriger Kontrolle einhergehen. Übergeordnete Rahmenbedingungen in einem

Land können demnach Auswirkungen auf die persönliche Arbeitssituation älterer

Menschen haben. Dies gilt in besonderem Maße für Frauen.

3. Die Stärke des Zusammenhangs zwischen psychosozialen Arbeitsbelastungen und

Gesundheit variiert bei drei der vier Gesundheitsindikatoren, am deutlichsten bei

‚depressiven Symptomen’, nach sozialpolitischen Rahmenbedingungen. Danach ist

der Effekt in Ländern mit einem universalistischen Wohlfahrtsstaatsmodell skan-

dinavischer Prägung vergleichsweise am schwächsten, in Ländern mit konservati-

vem und liberalem Modell vergleichsweise am stärksten. Der Zusammenhang ist

bezüglich des Verausgabungs-Belohnungsquotienten etwas deutlicher ausgeprägt

als bezüglich des Merkmals ‚geringe Kontrolle’.

Zusammenfassende Diskussion der Ergebnisse 74

KAPITEL 4: ZUSAMMENFASSENDE DISKUSSION

DER ERGEBNISSE

Die in den Abschnitten 3.1 bis 3.3 dargestellten Ergebnisse umfangreicher Auswertungs-

arbeiten sind in mehrfacher Hinsicht neuartig. Zugleich unterliegen sie bestimmten metho-

dischen Begrenzungen. Auf beide Aspekte wird hier in der gebotenen Kürze eingegangen.

Innovativ ist zunächst der hier gewählte Ansatz, für eine weitgehend repräsentative Gruppe

älterer Beschäftigter in 12 europäischen Ländern eine systematische Analyse von Zusam-

menhängen zwischen psychosozialen Arbeitsbelastungen und Indikatoren selbst berichteter

Gesundheit durchzuführen, wobei depressiven Symptomen als einem Indikator einge-

schränkter psychischer Gesundheit besondere Bedeutung zukommt. Wichtig ist hierbei,

dass psychosoziale Arbeitsbelastungen auf der Basis zweier etablierter stresstheoretischer

Modelle gemessen wurden, dem Anforderungs-Kontroll Modell (Dimension geringe Kon-

trolle) und dem Modell beruflicher Gratifikationskrisen (Verausgabungs-Belohnungs-

Ungleichgewicht sowie Scores einzelner Skalen).

Die umfangreiche Stichprobe ermöglichte es, die Analysen nicht nur getrennt nach Alter,

Geschlecht, sozialer Schichtzugehörigkeit sowie relevanten Erwerbsmerkmalen durchzu-

führen, sondern darüber hinaus länderspezifische Auswertungen vorzunehmen. Auf diese

Weise konnten in multivariaten statistischen Analysen die Effekte der einzelnen Variablen

bzw. Variablengruppen in quantitativer Hinsicht bestimmt und in ihrer Bedeutung inhalt-

lich beurteilt werden.

In wissenschaftlicher Perspektive ist darüber hinaus von besonderem Interesse der hier u.

W. erstmals unternommene Versuch, die Ausprägung psychosozialer Arbeitsbelastungen

ebenso wie die Stärke ihres Zusammenhangs mit gesundheitlichen Einschränkungen in

Abhängigkeit von makrostrukturellen, arbeitsmarkt- und sozialpolitischen Merkmalen, zu

untersuchen. Hierzu wurden einerseits ökologische Korrelationen unter Einbeziehung län-

derspezifischer Aggregatdaten, andererseits logistische Regressionsanalysen für einzelne

Ländergruppen durchgeführt, die nach drei alternativen wohlfahrtsstaatlichen Typologien

zusammengefasst wurden. Die Hauptergebnisse dieses Projekts können in folgenden drei

Punkten zusammengefasst werden.

Zusammenfassende Diskussion der Ergebnisse 75

1. Gesundheitsrelevante psychosoziale Arbeitsbelastungen sind bei älteren Erwerbstä-

tigen in den untersuchten europäischen Ländern in vergleichbarem Umfang wie bei

Jüngeren vorhanden, sie sind auch bei den über 60-Jährigen nicht geringer ausge-

prägt, und ebenso bei Frauen ähnlich stark wie bei Männern. Allerdings bestehen

deutliche Unterschiede nach sozialer Schicht, nach Branchenzugehörigkeit, nach

Beschäftigungsstatus (befristet, unbefristet) sowie nach Ländergruppen. Niedrige

Schichtzugehörigkeit, befristete Beschäftigung und Tätigkeiten in Landwirtschaft,

Gastgewerbe, Maschinen-Fahrzeugbau, Metallindustrie, Baugewerbe, verarbeiten-

dem Gewerbe, Transportgewerbe und Fahrzeughandel gehen mit besonders hohen

psychosozialen Arbeitsbelastungen einher. Gleiches gilt für Beschäftigte in südeu-

ropäischen im Vergleich zu nordeuropäischen Ländern sowie, in gewisser Über-

schneidung hierzu, für Beschäftigte in konservativen im Vergleich zu universalisti-

schen sozial-demokratischen Wohlfahrtsstaaten.

2. Es zeigen sich in allen Ländern konsistente, zumeist statistisch signifikante Zu-

sammenhänge zwischen psychosozialen Arbeitsbelastungen und den vier Gesund-

heitsindikatoren. Am stärksten sind sie, auch in multivariaten Modellen, für die In-

dikatoren ‚depressive Symptome’ und ‚schlechte subjektive Gesundheit’ ausge-

prägt. Diese Zusammenhänge lassen sich nach ersten Auswertungen auch prospek-

tiv, d.h. bezüglich einer Vorhersage des Gesundheitszustandes nach 2 Jahren,

nachweisen. Sie sind bei sozial benachteiligten Gruppen (niedrige Schicht) stärker

als bei sozial eher privilegierten Gruppen, wobei ein Teil des Effekts sozialer

Schichtzugehörigkeit auf Gesundheit über psychosoziale Belastungen vermittelt

wird. Erstmals zeigen diese Auswertungen ferner, dass die Stärke des Zusammen-

hangs zwischen psychosozialen Arbeitsbelastungen und Gesundheit (v.a. depressi-

ve Symptome) nach dem Typus des wohlfahrtsstaatlichen Regimes variiert: am

stärksten ist dieser Effekt bei Beschäftigten in liberalen und konservativen Staaten,

am schwächsten bei Beschäftigten in Staaten mit einem universalistischen Wohl-

fahrtsregime.

3. Die unter Punkt 1 und 2 genannten Ergebnisse gelten unabhängig voneinander für

jedes der beiden stresstheoretischen Modelle psychosozialer Arbeitsbelastungen.

Im Vergleich zeigen sich im Allgemeinen etwas stärker ausgeprägte bzw. etwas

konsistentere Effekte für das Ungleichgewicht von Verausgabung und Belohnung

als für niedrige Kontrolle über die Arbeitsaufgaben. Ebenso sind in der Regel die

Zusammenfassende Diskussion der Ergebnisse 76

drei Dimensionen beruflicher Gratifikationserfahrungen (Gehalt, Arbeitsplatzsi-

cherheit, Anerkennung) für das Ausmaß subjektiv ermittelter Gesundheit von ähn-

licher Bedeutung.

Soweit vergleichbare Ergebnisse aus einzelnen Ländern bzw. einzelnen Subgruppen (Alter,

Geschlecht, soziale Schicht, Branche etc.) aus anderen wissenschaftlichen Studien vorlie-

gen, zeigt sich überwiegend eine hohe Konsistenz der Befunde. Dies gilt beispielsweise für

den Nachweis des sozialen Gradienten von Arbeitsbelastungen und die Stärke des Zusam-

menhangs mit gesundheitlichen Einschränkungen, insbesondere mit schlechter subjektiver

Gesundheit und depressiven Symptomen (Karasek et al. 1998, Siegrist et al. 2004, Wege et

al. 2008). Ebenso sind vergleichbare Zusammenhänge nach Geschlecht belegt (Karasek et

al. 1998, Siegrist e al. 2004). Die Beobachtung, dass die drei Subkomponenten des Kon-

strukts beruflicher Gratifikationen ähnlich starke Effekte auf die Gesundheit ausüben, ist

ebenfalls bereits mehrfach bestätigt worden (van Vegchel et al. 2005, Siegrist et al. 2004),

ebenso wie die unabhängige Prädiktionskraft beider Arbeitsstressmodelle angesichts neu

aufgetretener Krankheitsereignisse (Bosma et al. 1998, Kivimäki et al. 2002, Peter et al.

2006).

Für die Validität der aufgrund von Befragungsdaten erzielten Befunde sprechen mehrere

Beobachtungen. Erstens stimmen die Häufigkeiten der erfassten gesundheitlichen Ein-

schränkungen, ebenso wie die Prävalenzen der berichteten psychosozialen Arbeitsbelas-

tungen, mit bereits vorliegenden Befunden recht gut überein. Zweitens wurden in der Lite-

ratur mehrfach belegte Zusammenhänge wie beispielsweise ein höherer Anteil von Frauen

mit depressiven Symptomen und mit schlechter subjektiver Gesundheit in den vorliegen-

den Daten repliziert. Gleiches gilt für den Zusammenhang zwischen Alter und funktionel-

len Einschränkungen bzw. chronischen Beschwerden. Drittens konnte nicht nur eine hohe

Stabilität bei der Messung chronischer Arbeitsbelastungen im Zeitverlauf belegt werden,

sondern es ließen sich auch die im Querschnitt gefundenen Zusammenhänge im Längs-

schnitt im Abstand von zwei Jahren nachweisen.

Die Repräsentativität der Stichproben von SHARE und ELSA ist an anderer Stelle aus-

führlich diskutiert worden (Börsch-Supan et al. 2006, Banks et al. 2006). In beiden Studien

wurden umfangreiche Überprüfungen und Maßnahmen durchgeführt, um ein möglichst

unverzerrtes Abbild der jeweiligen älteren Bevölkerung der untersuchten Länder zu errei-

chen. Gewisse Abstriche müssen aufgrund des unterschiedlichen Zugangs zur Ermittlung

der Stichproben und aufgrund unterschiedlicher Teilnahmeraten in den einzelnen Ländern

Zusammenfassende Diskussion der Ergebnisse 77

sowie in einzelnen Altersgruppen und sozialen Schichten gemacht werden. Dennoch er-

laubt die hohe Konsistenz der Befunde einige verallgemeinernde Schlussfolgerungen (sie-

he unten 5.1). Zusammenhänge zwischen psychosozialen Arbeitsbelastungen und Gesund-

heit dürften eher unter- als überschätzt werden, da ältere Beschäftigte in besonders belas-

tungsreichen Berufen in der befragten Stichprobe unterrepräsentiert sind (Verweigerung

der Teilnahme bzw. frühzeitiges Ausscheiden aus der Erwerbsbevölkerung).

Trotz dieser Vorzüge müssen verschiedene methodische Begrenzungen bei der Interpreta-

tion der erzielten Ergebnisse berücksichtigt werden. Wie bereits erwähnt wurde, beruhen

die Befunde überwiegend auf Daten einer Querschnitterhebung, bei der subjektive Anga-

ben sowohl zu psychosozialen Arbeitsbelastungen wie auch zu gesundheitlichen Ein-

schränkungen erhoben wurden. Diese Tatsache macht die Ergebnisse für eine systemati-

sche methodische Verzerrung, den ‚reporting bias’, anfällig. So kann beispielsweise ange-

nommen werden, dass Personen, die bereits depressive Symptome aufweisen, ihre Arbeits-

situation generell als belastender beurteilen als nicht depressive Beschäftigte. Es gibt ledig-

lich indirekte Möglichkeiten, diese methodische Schwäche einzugrenzen. Sie bestehen

darin, (1) die im Querschnitt aufgezeigten Zusammenhänge im Längsschnitt zu überprüfen

(was teilweise gemacht wurde), (2) die Zusammenhänge für homogene Subgruppen ge-

trennt nachzuweisen (was systematisch gemacht wurde), (3) in die multivariate Analyse

dieser Zusammenhänge mögliche Störgrößen mit einzubeziehen (was systematisch ge-

macht wurde), sowie (4) die Zusammenhänge für verschiedene Kriteriumsvariablen zu

replizieren (was für 4 Gesundheitsindikatoren systematisch gemacht wurde). Die Tatsache,

dass bei all diesen Maßnahmen keine wesentlichen Änderungen der ursprünglich beobach-

teten Zusammenhänge beobachtet wurden, spricht dafür, die Ergebnisse vorläufig als zu-

verlässig zu betrachten, in der Annahme, dass sie durch weitere Auswertungen prospekti-

ver Daten gestützt werden.

Eine weitere methodische Begrenzung ergibt sich aus der nicht vollständigen Messung der

beiden Arbeitsstressmodelle. Aufgrund restriktiver Vorgaben bezüglich des Umfangs der

zu diesem Thema zu berücksichtigenden Fragen konnten nur Kurzfassungen der Original-

skalen einbezogen werden. Auch beschränkte sich die Messung des Anforderungs-

Kontrollmodells auf die Kontrolldimension. Allerdings korrelieren die beiden Skalen ‚Ver-

ausgabung’ (‚effort’) und ‚Anforderung’ (‚demand’) sehr hoch miteinander (zwischen 0.5

und 0.75), so dass durch Einbeziehung einer Kurzversion der Skala ‚Anforderung’ kaum

ein zusätzlicher Erkenntnisgewinn zu erwarten gewesen wäre. Weitere Aspekte psychoso-

zialer Arbeitsbelastungen (z. B. mangelnde soziale Unterstützung, Organisationsungerech-

Zusammenfassende Diskussion der Ergebnisse 78

tigkeit etc.) wurden nicht untersucht, ebenso wenig wurden etablierte physische, physikali-

sche und chemische Stressoren in die Analyse einbezogen, so dass mit dieser Studie ledig-

lich ein – u. E. jedoch relevanter, bisher vernachlässigter –Ausschnitt aus dem gesamten

gesundheitsrelevanten Belastungsspektrum thematisiert wurde.

Einen vorläufigen Charakter besitzen schließlich die von uns durchgeführten Analysen auf

der Basis von Wohlfahrtsstaatstypologien. Das Ziel dieser Kategorisierung war es, statisti-

sche Unterschiede zwischen den beobachteten Ländern mit Hilfe der den Typologien

zugrunde liegenden theoretisch-empirischen Grundannahmen auf sozial- und arbeitspoliti-

sche Rahmenbedingungen zurück zu führen. Diese Vorgehensweise der theoriegeleiteten

Verknüpfung makropolitischer Strukturen und individueller empirischer Befunde ist der

Sozialepidemiologie entlehnt (z.B. Eikemo et al. 2008) und wurde hier erstmals für eine

Fragestellung aus der Arbeitsbelastungsforschung übernommen. Wie bei einem innovati-

ven Ansatz nicht anders zu erwarten war, sind im Laufe der Auswertungen Schwächen der

Methode sichtbar geworden. Zum einen sind die Wohlfahrtsstaatstypen durch eine unter-

schiedliche Zahl von Ländern repräsentiert. Besonders kritisch ist die Tatsache, dass das

liberale Modell ausschließlich durch ein Land, Großbritannien, repräsentiert wird. Das

britische System ist jedoch kein sehr typisches Beispiel, da es in Teilaspekten durchaus

eine Verwandtschaft mit universalistischen Regelungen aufweist. Zum andern ist es empi-

risch schwierig, die wohlfahrtsstaatlichen Aspekte von dem Nord-Süd-Gefälle zu trennen,

das sowohl bezüglich der Prävalenz von Arbeitsbelastungen wie auch bezüglich der sub-

jektiv berichteten gesundheitlichen Einschränkungen besteht. Eine Lösung dieser Probleme

wäre die Erweiterung der Studie um zusätzliche Länder, und zwar vorzugsweise solcher,

die liberale und marktorientierte Wohlfahrtsstaaten repräsentieren. Derzeit wird geprüft, ob

im Rahmen neuerer Kooperationen der SHARE Studie weitere Studiendaten (z.B. aus den

USA oder Japan) für einen Vergleich herangezogen werden können.

Während die vorgenannten Argumente die Logik der wohlfahrtsstaatlichen Analyse nicht

problematisieren, sind im Zuge dieses Projektes grundsätzliche Fragen der Interpretierbar-

keit aufgetreten. Die Typologisierung von wohlfahrtsstaatlichen Regimen in der Tradition

Esping-Andersens beruht auf globalen Kriterien, was es erschwert die gefundenen Unter-

schiede einzelnen sozial- oder arbeitspolitischen Maßnahmen zuzuschreiben. Typologisie-

rungen in der Wohlfahrtsstaatsforschung basieren notwendigerweise auf eher globalen

Kriterien und zentralen Paradigmen der wohlfahrtsstaatlichen Verfassung eines Landes –

z.B. dem Verhältnis zwischen Markt, Staat und Familie –, da sie zuvorderst entwickelt

werden, um allgemeine Ordnungsprinzipien und –traditionen von Wohlfahrtsstaatsmodel-

Zusammenfassende Diskussion der Ergebnisse 79

len nachzuvollziehen (Schmid 2003). Entsprechend können nur bedingt konkrete Verbin-

dungen zwischen Makro- und Mikroprozessen abgeleitet werden und diese Beschränkung

gilt insbesondere dann, wenn wie im Fall dieser Analyse, ein spezieller Bereich von vor

allem arbeitspolitischen Strategien von Interesse ist. Hier ist es kaum möglich, aus der Fül-

le der Bausteine, welche einen Wohlfahrtsstaat ausmachen, die relevanten Einflüsse theo-

retisch und empirisch zu isolieren. Daraus ergibt sich für die Zukunft die Aufgabe, Typo-

logisierungen zu entwickeln, die spezifischere Rückschlüsse auf die Bedeutung einzelner

politischer Maßnahmen auf die arbeitsbezogene Gesundheit zulassen. Ein vielversprechen-

der Ansatz findet sich beispielsweise bei Frieder Naschold, der in seinen Analysen typi-

sche Merkmale von Arbeitspolitik beschreibt, indem er länderübergreifende Prinzipien

entlang zentraler Dimensionen wie dem normativen Verhältnis von Staat und Privatwirt-

schaft herausarbeitet (Naschold und de Vroom 1994).

Allerdings wurde im Rahmen dieses Projektes bereits eine alternative Möglichkeit getestet,

um jenseits globaler Typlogien den Einfluss konkreter sozial- und arbeitspolitischer Rah-

menbedingungen auf die arbeitsbezogene Gesundheit in vergleichender Perspektive analy-

sieren zu können. Anstatt Länder zu gruppieren, wurden aussagekräftige Makro-

Indikatoren erhoben, welche Auskunft über bestimmte Aspekte der Arbeit älterer Beschäf-

tigter in einem Land geben. Ein solcher Indikator ist beispielsweise die allgemeine Er-

werbsquote Älterer. Im hier untersuchten Jahr 2005 war diese Quote in denjenigen Län-

dern hoch, die bereits vor längerer Zeit integrierte Programme zur Erwerbsbeteiligung Äl-

terer gestartet hatten. Integriert heißt, ein gezieltes Zusammenwirken verschiedener Poli-

tikbereiche von der Renten- zur Arbeitpolitik und eine Flankierung durch gesonderte Pro-

gramme zur Stärkung der Rolle Älterer in den Betrieben. Da die Ergebnisse dieser Studie

zeigen, dass eine hohe Erwerbsbeteiligung mit gesunden Arbeitsbedingungen korreliert,

lassen sich daraus Schlüsse ziehen, etwa dergestalt, dass die Länder, die bisher die Lissa-

bon-Ziele erreicht haben, dies auch vergleichsweise guten Arbeitsbedingungen für Ältere –

seien sie nun durch politische Maßnahmen erzeugt oder durch die spezifische Wirtschafts-

kultur im Umgang mit Arbeitnehmerrechten zurück zu führen – zu verdanken haben.

Insgesamt hat die Methode der Einbeziehung von Makro-Indikatoren wichtige Erkenntnis-

se gebracht und sich als brauchbares Instrument sowohl für einen ökologischen Studienan-

satz erwiesen, bei dem die Makro-Indikatoren mit aggregierten Individualmerkmalen kor-

reliert werden (siehe z.B. Abb. 8). Gleiches gilt für Mehrebenenanalysen, bei denen Mak-

ro- und Mikrodaten in gemeinsamen Modellen analysiert werden.

Zusammenfassende Diskussion der Ergebnisse 80

Trotz der vorgenannten methodischen Begrenzungen halten wir die erzielten Ergebnisse

für inhaltlich bedeutsam, sodass abschließend aus ihnen erste praktische Folgerungen für

verbesserte Bedingungen gesunden Alterns und fortgesetzter Beschäftigungsfähigkeit älte-

rer Erwerbstätiger gezogen werden können.

Praktische Folgerungen für die betriebliche und überbetriebliche Gesundheitspolitik 81

KAPITEL 5: PRAKTISCHE FOLGERUNGEN FÜR

DIE BETRIEBLICHE UND ÜBERBETRIEBLICHE

GESUNDHEITSPOLITIK

Unter dem Vorbehalt einer Bestätigung durch weiterführende Befunde, insbesondere sol-

chen, die aus prospektiven Daten abgeleitet werden, lassen sich aus den in Abschnitt 3

dargestellten Ergebnissen vier Bündel praktischer Folgerungen für die betriebliche und

überbetriebliche Gesundheitspolitik ableiten.

Ein erstes Bündel von Maßnahmen betrifft die Verbreitung neuer wissenschaftlicher Er-

kenntnisse, zu denen u.a. auch die hier dargestellten Befunde gehören, insbesondere ihre

Zurkenntnisnahme durch Entscheidungsträger auf verschiedenen Ebenen. Gegenwärtig

herrscht in weiten Kreisen weiterhin ein Kenntnisdefizit bezüglich der Art und des Um-

fangs von Auswirkungen psychosozialer Arbeitsbelastungen auf die Gesundheit Erwerbs-

tätiger. Zum Teil ist dies auf eine unqualifizierte, oft irreführende Berichterstattung zum

Thema ‚Stress’ in Massenmedien zurückzuführen, zum Teil aber auch auf eine inkonsis-

tente Diskussion in unterschiedlichen wissenschaftlichen Kreisen sowie auf bisher unzu-

reichende Bemühungen der Vermittlung von Forschungsergebnissen in die betriebliche

und überbetriebliche Praxis hinein. Ein weiterer Grund besteht darin, dass insbesondere

das Thema psychischer Störungen als Folge von Arbeitsbelastungen noch immer vielerorts

tabuisiert wird. Schließlich ist es bisher kaum gelungen, eine betriebswirtschaftlich ausge-

richtete Unternehmenspolitik und eine gesundheitspolitisch und präventivmedizinisch aus-

gerichtete Politik der Personal- und Organisationsentwicklung eng miteinander zu ver-

flechten.

Neben der qualitätsgesicherten Berichterstattung über belastbare wissenschaftliche Er-

kenntnisse, die sich an Akteure in Betrieben, Tarifpartner, Entscheidungsträger in Verbän-

den, Ministerien und andern wichtigen Behörden richten, erscheint eine verbesserte und

systematisierte Erfassung psychosozialer Arbeitsbelastungen bei Beschäftigten in den je-

weiligen Organisationen und Unternehmungen wünschenswert. Hierzu stehen verschiede-

ne Verfahren zur Verfügung, so z. B. anonymisierte, standardisierte Mitarbeiterbefragun-

gen, Auswertung administrativer Daten durch Experten, innerbetriebliche Gesundheitszir-

Praktische Folgerungen für die betriebliche und überbetriebliche Gesundheitspolitik 82

kel, Ausweitung von Begehungen und Untersuchungen durch Betriebsärzte und Arbeitssi-

cherheitsbeauftragte, Zertifizierungsverfahren etc.

Eine motivierte Unternehmensführung kann, unter verstärkter Mitwirkung von Arbeitneh-

merseite und gestützt auf eine zuverlässige innerbetriebliche Datenbasis, der betrieblichen

Gesundheitsförderung einen hohen Stellenwert einräumen und diesbezügliche Initiativen

der Organisations- und Personalentwicklung ergreifen (s.u.). Ebenso können Forderungen

von Arbeitnehmerseite bei Tarifverhandlungen, die sich auf eine Verbesserung der Qualität

von Arbeitsbedingungen beziehen, durch Einbeziehung belastbarer wissenschaftlicher Er-

kenntnisse gestützt werden.

Ein zweites Bündel von Maßnahmen betrifft die Identifizierung gesundheitlich gefährdeter

beruflicher Risikogruppen und die Verbesserung der Qualität entsprechender Arbeitsbe-

dingungen. Dem vorliegenden Bericht können konkrete Anhaltspunkte zu einer Identifizie-

rung entsprechender Risikogruppen entnommen werden. Hierzu zählen ältere Beschäftigte

mit niedrigem Qualifikationsniveau und in entsprechend niedrigen Lohngruppen, ältere

Beschäftigte mit befristeten Arbeitsverträgen bzw. hoher Arbeitsplatzunsicherheit sowie

ältere Beschäftigte in Branchen, die durchschnittlich besonders hohe psychosoziale Belas-

tungswerte aufweisen. In unserer Studie gehören hierzu die Branchen Landwirtschaft,

Gastgewerbe, verarbeitendes Gewerbe einschließlich Holzgewerbe, Maschinen- und Fahr-

zeugbau, Metallindustrie, Baugewerbe, Transportgewerbe und Fahrzeughandel. Manche

Beschäftigungsverhältnisse in diesen Branchen sind zusätzlich durch starke physische Ar-

beitsbelastungen, durch Schichtarbeit oder durch eine erhöhte Unfallgefahr gekennzeich-

net, so dass Mehrfachbelastungen das Gesundheitsrisiko weiter erhöhen.

Hier überall besteht vordringlicher Handlungsbedarf bei betrieblicher Gefährdungsbeurtei-

lung, bei Maßnahmen des Arbeitsschutzes und der betrieblichen Gesundheitsförderung,

ebenso bei überbetrieblichen Vereinbarungen.

Ein drittes Bündel von Maßnahmen bezieht sich auf strukturelle Maßnahmen der Arbeits-

bzw. Organisationsentwicklung sowie der Personalentwicklung in den Betrieben bzw. Or-

ganisationen, die implizit oder explizit dem Ziel dienen, die Gesundheit und Beschäfti-

gungsfähigkeit älterer Erwerbstätiger zu fördern bzw. zu erhalten. Solche Maßnahmen sind

nach gegenwärtigem Kenntnisstand bereits in manchen Großbetrieben, Konzernen und

führenden Organisationen und Unternehmen bekannt und erprobt, jedoch ist ihre Breiten-

wirkung, vor allem in mittleren und kleineren Betrieben, bisher begrenzt. Zu solchen Maß-

nahmen zählen die aus der Organisations- und Betriebspsychologie und –soziologie be-

kannten Verfahren der Ersetzung repetitiver Teilarbeit durch vollständige Tätigkeiten, zu-

Praktische Folgerungen für die betriebliche und überbetriebliche Gesundheitspolitik 83

mindest durch Elemente des ‚job enrichment’ und ‚job enlargement’, der Förderung von

Teamarbeit, der ‚job rotation’, der Einführung von Querschnittstätigkeiten, Mischarbeits-

plätzen, Planungs- bzw. Koordinierungsaufgaben sowie Mentorentätigkeiten speziell bei

älteren Beschäftigten, schließlich der flexiblen Arbeitszeitgestaltung und der Begrenzung

von Expositionszeiten bei quantitativ oder qualitativ besonders hohen Anforderungen. E-

benso wichtig sind Investitionen in inner- und überbetriebliche Qualifizierungs- und Wei-

terbildungsmaßnahmen, wiederum speziell bei den bisher stark vernachlässigten älteren

Erwerbstätigen. Hierzu ist u.a. eine verbesserte Abstimmung von Personaleinsatzstrategien

mit Weiterbildungsangeboten erforderlich, ebenso eine Förderung des sozialen und organi-

satorischen Kompetenztrainings bei Älteren, da solche ‚extrafunktionalen’ Qualifikationen

einen flexiblen Personaleinsatz und einen altersadäquaten Positionswechsel erleichtern.

Mit der Einführung des Modells beruflicher Gratifikationskrisen in die Erforschung von

Zusammenhängen zwischen Arbeit und Gesundheit und mit dem Nachweis bedeutender

negativer Auswirkungen dieser Belastungskomponente auf die Gesundheit Beschäftigter

sind verschiedene Maßnahmen der Personalentwicklung in ihrer Bedeutung für die betrieb-

liche Gesundheitspolitik in den Vordergrund gerückt. Dies gilt insbesondere für eine ver-

stärkte Berücksichtigung von Modellen der Lebensarbeitszeit sowie der Sicherung von

Gratifikationen einschließlich des Ausbaus von Bonussystemen und anderen Formen der

Gewinnbeteiligung. Ebenso dürften Investitionen in verbessertes Führungsverhalten, in

sog. Sozialkapital von Unternehmen, in verbesserte Wertschätzung der von Mitarbeitern

erbrachten Leistungen, insbesondere auch der Leistungsvorteile älterer Mitarbeiter, eine

stärkere Beachtung finden.

Das Spektrum struktureller Maßnahmen auf betrieblicher Ebene zur Förderung bzw. zum

Erhalt von Gesundheit und Beschäftigungsfähigkeit Älterer ist damit nicht erschöpft, je-

doch sind mit den genannten Stichworten vordringliche, durch wissenschaftliche Erkennt-

nisse begründete Handlungsfelder identifiziert worden (siehe Siegrist und Dragano 2007).

Überbetriebliche Maßnahmen bilden schließlich ein viertes Bündel praktischer Folgerun-

gen. Hierbei handelt es sich zum einen um tarifpolitische Vereinbarungen zwischen der

Arbeitgeber- und der Arbeitnehmerseite, zum andern um gesetzliche Regelungen auf regi-

onaler, nationaler und supranationaler Ebene. Eine herausragende Rolle kommt dabei der

nationalen Sozial- und Wirtschaftspolitik zu. So zeigt das Beispiel Finnlands, wie weitrei-

chend die Wirkungen einer koordinierten politischen Initiative zur Verbesserung und Er-

haltung von Gesundheit und Beschäftigungsfähigkeit Älterer sein können. Dies ist ein typi-

sches Beispiel erfolgreicher intersektoraler Politik, unterstützt durch eine nationale For-

Praktische Folgerungen für die betriebliche und überbetriebliche Gesundheitspolitik 84

schungs- und Koordinierungsinstitution, das Nationale Institut für Arbeit und Gesundheit.

Ähnliche Initiativen sind aus Großbritannien, Schweden, Dänemark und den Niederlanden

bekannt. Dabei geht es nicht allein um Qualifizierungsmaßnahmen, Ausweitung von Teil-

zeitarbeit und flexible Renteneintrittsgestaltung, sondern auch um den Schutz besonders

gefährdeter Beschäftigtengruppen (z. B. Kündigungsschutz und aktive Wiedereingliede-

rungspolitik chronisch Kranker in Schweden) oder um Ausweitung betriebsärztlicher Un-

tersuchungs- und Betreuungsangebote über Stammbelegschaften hinaus, welche auch pre-

kär Beschäftigte einbeziehen, wie z. B. in Frankreich. Auch in Deutschland sind in jüngster

Zeit von verschiedenen Akteuren Initiativen angestoßen worden, die sich um eine bessere

Integration Älterer in den Arbeitsmarkt, eine bessere Annerkennung ihrer Arbeit und einen

verbesserten Gesundheitsschutz bemühen. Zu nennen ist hier beispielsweise die ‚Initiative

Neue Qualität der Arbeit (INQA)’, in der staatliche und private Institutionen zusammen

arbeiten, um eine beschäftigtenfreundliche betriebliche Gesundheitspolitik zu forcieren.

Ebenfalls bemerkenswert sind erste Versuche, das Thema `alternde Belegschaften´ und

deren Gesundheit in tarifliche Verhandlungen einzubringen. Wie das Beispiel des jüngsten

Tarifabschlusses der Chemie 2008 in Lahnstein zeigt, ist es durchaus möglich, in Tarifver-

trägen verbindliche Regelungen zum Umgang mit dem demographischen Wandel für gan-

ze Branchen festzuschreiben.

Solche überbetrieblichen Maßnahmen sind geeignet, die nach wie vor bestehenden deutli-

chen sozialen Ungleichheiten der Morbidität und Mortalität im Erwerbsalter ein Stück weit

zu verringern, da diese durch Bedingungen des Arbeitsmarktes und der Qualität der alltäg-

lichen Arbeit mit beeinflusst werden- ein Befund, der auch in der vorliegenden Studie er-

härtet werden konnte.

Supranationale Initiativen müssen sich in Europa im Wesentlichen auf ‚soft law’ stützen,

also auf Gemeinschaftsinitiativen, die über gemeinsame, meist unverbindliche Koordinati-

on der nationalen Politik Fortschritte zu erzielen. Das bekannteste Instrument ist die Me-

thode der offenen Koordinierung (MOK), die entwickelt wurde, um auch in Bereichen. in

denen die Organe der Gemeinschaft keine Rechtssetzungskompetenz haben – und dazu

zählt in weiten Teilen auch die Sozial- und Arbeitspolitik – eine Abstimmung der Politik

zu erreichen und zudem die angewandten Maßnahmen zu optimieren, indem etwa in

Benchmark-Verfahren Modelle guter Praxis herausgefiltert werden, an denen sich andere

Staaten in ihrer Politikgestaltung orientieren können (Bauer und Knöll 2003). Verglei-

chende Projekte wie das hier vorgestellte könnten Impulse für Verfahren der MOK geben,

die Bezug zu Gesundheit im Erwerbsleben haben. Angesichts des deutlichen Gefälles von

Praktische Folgerungen für die betriebliche und überbetriebliche Gesundheitspolitik 85

Arbeitsschutz und Qualität von Arbeitsbedingungen zwischen Nord- und Südeuropa und

zwischen West- und Osteuropa, aber auch angesichts der Heterogenität nationaler sozial-

und arbeitsmarktpolitischer Programme erscheint der Spielraum einer fortschrittlichen Be-

schäftigungs- und Gesundheitspolitik mit Schwerpunktsetzung auf demographisches Al-

tern sehr groß. Die Ausführungen dieses Berichts haben gezeigt, wo vordringlicher Hand-

lungsbedarf auf den verschiedenen Ebenen besteht und welche Chancen für aktiv alternde

Gesellschaften sich eröffnen, wenn dieser Handlungsbedarf realisiert wird.

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