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DONNERSTAG, 19. MÄRZ 2015 | SEITE 16 HISTORIE [email protected] Ihr Ansprechpartner Nico Wendt Tel. 03421 721052 Im Stadtgebiet von Torgau in eine russische Falle geraten Paul Reucher, als Jugendlicher aus Köln / Poll evakuiert, schreibt über seine Erlebnisse zu Kriegsende in Mehderitzsch (Teil 4) MEHDERITZSCH. Tante Kathr. war mor- gens schon zu den Russen gegangen, die mich gefangen hielten. Ihr forsches und bestimmendes Auftreten hatte denen wohl imponiert. Ihr Argument: Das gefan- gen genommene Kind sei erst 14 Jahre alt! Man schickte sie zum Kommandanten, aber der schlief noch. Ein späterer Versuch hatte Erfolg, nachmittags ließ man mich laufen. Die Freude war bei Mutter und Be- kannten groß. Ab dann schliefen wir bei Krauschens in einem kleinen Gästezim- mer, direkt neben der Familie Engelmann. Kochen, essen, Aufenthalt – weiter bei Fa- milie Bongartz. Ich wagte mich jetzt weniger nach drau- ßen, weil täglich über die Landstraße ge- fangene deutsche Soldaten abgeführt wurden. Fehlte jemand beim Zählappell, so wurde willkürlich ein Mann aufgegrif- fen und in die Kolonne eingereiht. Auf der Straße blieb vieles zurück. Tote Pferde lagen im Straßengraben, sie ver- westen dort. Kaputte Wagen, leere Fässer und reparaturbedürftige Panzer gab es auch. Die zurückgebliebenen Besatzun- gen waren gefährlich, da sie überall nach Essen und Frauen suchten. Die Nachhut bildete eine besondere Einheit mit einem kleinen korpulenten Major. Zu spät hat- ten wir erkannt, dass er sich wegen der blonden Lore (ehemalige junge Wehr- machtshelferin) bei uns einquartiert hatte und auf dem Grundstück einen Soldaten als Aufpasser zurückließ. Prompt hat er sich abends mit Lore eingeschlossen und sie vergewaltigt. Das Mädchen konnte schnell aus dem Zimmer flüchten, begab sich in die Obhut von Frau Bongartz und meine Mutter, die sie erst einmal trösteten und versorgten. Ich war schon bei Krau- schens. Der Russe verließ daraufhin das Haus und fuhr nach dem Gut Kranichau, wo er ein dunkelhaariges Mädchen fest- gesetzt hatte und vergewaltigte. Lore hat mir am nächsten Tag genau den Ablauf ihrer Vergewaltigung unter Tränen er- zählt. Sie wollte das Erlebte loswerden, obwohl sie schon vorher einige Sex-Erfah- rungen mit deutschen Offizieren gehabt hatte. So wurde die vergangene Nacht eine große seelische Belastung. Die Be- richte bedeuteten für mich, eine weitere Stufe älter und erfahrener zu werden. Man hörte von vielen solchen Vergewal- tigungen, sodass die Bevölkerung auf- merksamer und viel vorsichtiger wurde. Trotzdem geschahen noch viele Plünde- rungen, Übergriffe, Prügeleien und so weiter. Immer wieder kamen Soldaten, die die Häuser durchsuchten und für uns wertvolle Sachen mit sich nahmen. Ob- wohl ich mein Fahrrad demontiert und im Stall versteckt hatte, fand es ein Russe und nahm zusätzlich noch von Mutter Kopfkis- sen mit. Zum Glück hatte ich Schmuck und wertvolle Dinge von uns und Familie Bongartz im Rollladenkasten versteckt, die nicht gefunden wurden. Jeden Tag hörte man neue gute und schlechte Nachrichten. Aus einer Gruppe Polen, die gen Torgau zogen, kam einer auf mich zu, als ich mit Werner an der Stra- ße stand. Er nahm meinen geschnitzten Stock und hieb mir mit diesem einen über den Kopf. Einige Tage Kopfschmerzen wa- ren die Folge. Dann kam der 8. Mai, Kriegsende, Kapitulation der Deutschen. Langsam beruhigte sich die Lage. Die Russen zogen wei- ter gen Westen und besetzten Thüringen und so weiter. Die Nahrungssuche war erst mal unser Hauptproblem, denn es gab vorerst keine geordnete Verwaltung. Wir hörten, dass die Russen auf ihrem Marsch hinter Belgern im Wald ein Lager errichtet und bald wieder ver- lassen hätten. Man fände dort geraubte Sachen wieder. Wir machten uns zu meh- reren auf, fanden das Lager, doch nicht unsere ge- suchten Gegenstände. Dafür nahmen wir an- dere dort liegende brauchbare Dinge mit. Man wollte wissen, was in Torgau los war, so bin ich auf Wunsch der Einheimischen mitgegangen. Die Elbbrücke war ge- sprengt, die Stadt wimmelte von Fremdar- beitern, Polen, Russen und so weiter, die alle mit viel Gepäck über die Elbe nach Osten in ihre Heimat wollten. Für sie stan- den Transportzüge bereit, doch die Mit- nahme des vielen Gepäcks wurde verhin- dert. Wir waren äußerst vorsichtig, trotz- dem liefen wir in eine Falle. Eine russi- sche Transportabteilung brauchte Hilfskräfte und sperrte plötzlich mehrere Straßen. Die kräftigen Männer, zu denen wir alle gehörten, wurden abgeführt und auf Lkw verladen. In einem Getreidesilo mussten wir den dort noch lagernden Wei- zen in Säcke abfüllen. Nach einigen Stun- den waren die Lkw beladen, die bewaff- neten Aufpasser fuhren, ohne was zu sa- gen, weg. Wir hauten natürlich schnell ab. Wieder eine neue Erkenntnis. Die ersten deutschen Soldaten, die nicht in Gefan- genschaft geraten waren, kamen heimlich und misstrauisch nach Hause. Unter die- sen war auch Erich Krausch. Er kam aus Bayern und hatte sich jede Nacht etwa 40 Kilometer durchgeschlagen. Uns war im- mer gesagt worden, dass Erich auf Usedom in einer Lungenheilanstalt läge, doch er war als Elektrofachmann am Bau der V1 beteiligt gewesen. Nach wenigen Tagen verschwand er wieder, er wollte nicht von den Russen aufgegriffen werden. Doch er hatte sofort unsere blonde Lore entdeckt, mit der er ein sehr kurzes Liebesverhältnis einging. Wöchentlich erhielten wir neue Anordnungen oder Befehle. Auf deren Nichtbefolgen stand fast immer die Todes- strafe. So mussten alle Radiogeräte abge- geben werden, trotzdem sickerten Nach- richten durch, dass die Grenze in Thürin- gen leicht zu überwinden wäre. Man könn- te also in die Heimat. Daher verließen nach und nach Westdeutsche Mehderitzsch. So packte auch Lore, das Mädchen aus Duis- burg, ihre Sachen und fuhr westwärts. Natürlich war immer noch viel russisches Militär unterwegs. Jedoch hatte man sei- ne Erfahrungen, dass man auswich bezie- hungsweise schnell einen Unterschlupf suchte, wenn sie anrückten. Einmal bat mich Werner Engelmann, ihm zu helfen. Eine russische Einheit, die für Verpflegung zuständig war, hatte auf ei- nem Bauernhof zwei sehr große schwere Schweine requiriert. Diese waren ihnen vom Lkw gesprungen, daraufhin hatten sie beide Tiere erschossen. Die Schweine hat- ten einige Einschüsse und waren bei der Temperatur sofort aufgebläht. Der Lkw stand in Mehderitzsch bei Albrecht und sie wollten nun von Werner, dem Metzger, wissen, ob das Fleisch noch genießbar wäre. Sie erhielten die Schinken, alles an- dere könnten wir haben. Wir schnitten uns etwas Fleisch ab, aber den Schmalz nah- men wir uns. Er kam ausgelassen in die schwarzen Plastikdosen, die noch aus dem Torgauer Versorgungsmagazin stammten. So hatten wir über lange Zeit bestes Fett. Fortsetzung folgt. Quelle: Paul-Heinz Bongartz DOMMITZSCH. Vom 3. zum 4. Mai 1945 zog die ganze Nacht eine russische Brigade durch den Ort. Pferdegespanne mit Kut- schern wurden requiriert zum Transport von Bagage und Verpflegung. Meist kehr- ten nur die Kutscher zurück, wenn sie ent- kommen konnten. Ab 5. Mai wurden Häu- ser laufend geplündert, meist bei Beginn der Dunkelheit; Frauen mussten die Flucht ergreifen. In den folgenden Tagen zogen immer wie- der Armeekolonnen durch und verstopf- ten teilweise völlig die Straßen. Im Haus Bahnhofstraße 1 befand sich die politische Abteilung der Sowjets. Sie verhaftete vom 5. bis 20. Mai 26 der örtlichen Parteiführer vom kleinsten Kassierer angefangen und deportierte sie. Keiner von ihnen war als Kriegsverbrecher zu bezeichnen, es ge- nügte, dass er ein Parteibuch der NSDAP besaß. Wenige von ihnen kamen zurück. Nachdem am 8. Mai die Wehrmacht kapi- tuliert hatte, fuhr der Bürgermeister im Pkw durch die Stadt. Aus dem Autofens- ter heraus klingelte der Stadtbote Nitzsch- ke und rief: „ Rote Fahnen heraus, der Krieg ist beendet!“ Hier war davon noch nichts zu merken! Am 9. Mai wurde die Elbfähre von Großtreben in Dommitzsch eingesetzt zum Rücktransport von Flücht- lingen aus den östlichen Gebieten, welche in unendlichen Kolonnen durch die Stra- ßen zogen. Am 15. Mai mussten alle Schreibmaschinen und Radios abgeliefert werden. Viele Häuser erhielten Einquar- tierungen oder mussten völlig geräumt werden. Sowjetische Truppen erbauten im Labaun und Gränigk Erdhütten und Blockhäuser als Unterkünfte. Das Materi- al wurde requiriert. Am 23. Mai zogen die serbischen Kriegsge- fangenen aus dem Ort ab. Am 24. Mai tausch- ten Kom- mandantur und Stadt- verwaltung ihre Unter- künfte. Ab 30. Mai ver- kehrten wieder Züge zwischen Torgau und Pratau. Am 3. Juni wur- de mit dem Bau einer Elbfähre begonnen (Tragfähigkeit 3 Ton- nen). Auf den Elbwie- sen wimmelte es von Pferden, Schafen und Kühen, die hier auch geschlachtet wurden; die weggewor- fenen Köpfe holten z. T. die Einwohner, zur Verbesserung ihrer Fleischversorgung. Durch den Ort wurden laufend große Her- den getrieben. Ab 8. Juni wurde von russischen Pionie- ren, die auf dem Anger in Zelten biwakier- ten, eine Pfahlbrücke über die Elbe ge- schlagen. Am 23. Juni war sie fertig. Am 10. Juni wurde im Kino wieder der erste Film gezeigt – ein russischer Kriegsfilm. An den Straßenrändern zwischen Torgau und Dommitzsch standen viele Fahrzeug- wracks, auf der Fährstraße am Rand die Transportwagen, die einst die Pontons der Elbbrücke trugen. Am 15./16. Juni belu- den sowjetische Truppen auf dem Bahn- hof 2 Güterzüge mit Fahrzeugen und Ge- schützen. Auf dem Mittelstreifen der Torgauer Straße wurden drei russische Soldaten begraben; Todesursachen Unfall und Alkohol. Am 19. Juni wurden wieder deutsche Poli- zisten einge- setzt, ihre „Uniform“, eine rote Arm- binde. Am 28. Juni zogen Tau- sende Polen mit Fahrrädern und Pferdefuhrwer- ken durch Dommitzsch, auf dem Rückweg in ihre Heimat. Ab 28. Juli wurde wieder Bier ausgeschenkt. Es enthielt wenig Alkohol und wurde als „Hopfenblüte“ bezeichnet. Im Wohnlager der Wasag, am Weidenhainer Weg, waren Flüchtlinge untergebracht; einige Häuser wurden als Krankenstationen eingerich- tet. In den Osterbergbaracken wohnten ebenfalls Flüchtlinge. Von den Opfern die- ser Zeit zeugten einige Massengräber auf dem Friedhof. Die Versorgung der Bevöl- kerung war äußerst schwierig. In der Woche um den 21. September gab es weder Fleisch noch Fett noch Milch. Ab 25. Oktober mussten erneut viele Häuser geräumt werden. Die Bewohner versuch- ten, bei Bekannten unterzuschlüpfen. Auf dem Bahnhof lagen Unmengen von Ge- päck und Lebensmitteln der Russen. Im Betrieb Köchermann und im Geschäft Andreas waren Verpflegungsmagazine für die Besatzung eingerichtet. Am Osterberg auf der Feldspitze war eine Panzerkolon- ne untergebracht. Anlässlich des Tages der Oktoberrevolution fand am 7. Novem- ber ein Platzkonzert statt, mit anschließen- dem Fackelzug. Am 23. Dezember veran- staltete die Stadt in der Konzerthalle eine Weihnachtsfeier für Umsiedler, Kinder und Rentner, die sehr gut besucht war. Bis zum 9. Februar 1946 blieben sowjeti- sche Truppen in Dommitzsch. Der Krieg war beendet, viele Dinge des täglichen Be- darfs fehlten. Jedes Stück Land wurde ge- nutzt zum Anbau von Gemüse und Kartof- feln. In jedem Garten wurde Tabak ange- baut, welcher dann noch mit Rosenblättern und anderem gestreckt wurde. Rübenmus war einer der häufigsten Brotaufstriche. Molkequark wurde zugeteilt; aus Hefe, viel Majoran und anderen Zutaten wurde Er- satzleberwurst hergestellt. Die Fahrräder hatten Vollgummireifen oder eine „Berei- fung“ aus Starkstromkabeln. Die Zeit ging vorüber, blieb aber im Gedächtnis derer er- halten, die sie miterlebt hatten. (Quellen: Erlebtes, Gehörtes, Schulchronik Greud- nitz ) Hermann Förster TORGAU. Der Schwarze Graben war für die Kinder unseres Viertels in den 50er-Jahren die beliebte Badeanstalt. Ich kenne kein Kind aus unserer Straße, das in dieser Zeit jemals bei Herrn Trümpel- mann im Strandbad am Großen Teich an der Angel hing, um schwimmen zu ler- nen. Wir lernten das selbstständig im Schwarzen Graben, sogar Kopfsprünge übten einige von den großen viereckigen Betonklötzen aus, die aller paar Hundert Meter die Regenabwasserrohre der Stra- ßen beinhalteten. Ich traute mir immer nur „Bomben“ zu, wie wir das Hineinspringen mit angezo- genen Beinen damals nannten. Als wir später von der Schule aus zum Schwim- men in das Strandbad gingen, war es für uns keine Schwierigkeit, das Frei- oder Fahrtenschwimmerzeugnis zu erhalten. Eine Stelle am Grabenufer war seltsamer- weise wie eine Sandbank gestaltet. Da la- gen wir dann oft und sonnten uns. Manchmal erbettelten wir uns zu Hause die langen Zinkbadewannen, in die zwei Mann hineinpassten und paddelten mit den Händen den Schwarzen Graben ent- lang. Teilweise hingen die Zweige der Weiden weit über das Wasser, und wir meinten, im Spreewald könnte es nicht herrlicher sein. Da es in unseren alten Häusern kein Badezimmer gab; sogar die Toilette war im Treppenhaus eine Etage tiefer, wurde beim großen Waschtag, wenn das Wasser im riesigen Kessel des Waschhauses brodelte, auch die lange Zinkwanne zum Baden genutzt. Sonst war es üblich, einmal in der Woche in die Badeanstalt in der Fischerstraße zu gehen und ein Fichtennadelbad zu genießen. Ab und zu wurde der Schwarze Graben gesäubert; dann türmten sich die Schlammberge am Ufer, und wir Kinder suchten nach irgendwelchen nützlichen Dingen, die einmal jemand verloren hat- te. Die großen Schalen der hellbraunen Flussmuscheln eigneten sich vortrefflich als Schälchen für allerlei Utensilien. Mit den dunklen kleinen Muscheln, die noch geschlossen waren, konnten wir nichts anfangen und warfen sie wieder zurück. Im Winter war manchmal der Graben zu- gefroren, und wir konnten mit den Schlitt- schuhen bis zur Mahla fahren. Am liebs- ten waren wir natürlich auf der Eisbahn (Wolffersdorffstraße bis zum Bahnhof). Kurz vor dem Winter wurde das Wehr un- ter der Brücke an der Wolffersdorffstraße geschlossen und die Wiese am Glacis überflutet, sodass sich dann bei Frost die herrlichste Eisbahn bildete. Einige Zeit lang wurden plötzlich für das Fahren fünf Pfennige verlangt, angeblich, weil die Eisbahn vom Schnee freigehalten werden musste. Dabei hatten einige Jungen stets einen Schneeschieber dabei, um eine freie Bahn für ihr Eishockeyspiel (mit selbst gebauten Schlägern) zu schieben. Da uns diese tägliche Ausgabe zu teuer war, wichen wir halt auf den Graben oder die Glaciswiese an unserer Straße aus. Die teuren Schlittschuhe blieben für uns Kinder lange ein unerfüllter Wunsch, und so schusselten wir die erste Zeit über die Eisbahn. Dann aber bekam eine Freun- din von mir zu einem Weihnachtsfest na- gelneue funkelnde Schlittschuhe, und es war aus mit der bisherigen Zufriedenheit. Meiner Mutter fiel ein, dass ihre eigenen, noch vor dem Krieg getragenen Schlitt- schuhe eingepackt in der Bodenkammer liegen müssten. „Aber sie sind doch viel zu groß“, mein- te sie. „Damals fuhren keine Kinder, son- dern die Jugendlichen. Die jungen Da- men saßen sogar auf Stuhlschlitten und ließen sich von den jungen Herren schie- ben.“ Das soll auch auf Torgaus Eisbahn vor dem 1. Weltkrieg so gewesen sein. Aus einer riesigen Peddigrohrkiste holte meine Mutter in Ölpapier eingewickelte Schlittschuhe. Sogar die Riemchen waren dabei und natürlich die Schlüssel zum Anschrauben der Schlittschuhe an den Schuhen. Was machte es, dass die Schlitt- schuhe wirklich viel zu groß waren. Min- destens vier Zentimeter standen sie vorn an den Schuhen über, und ich musste die Füße stets erst seitwärts einknicken, um in Schwung zu kommen, damit ich über das Eis gleiten konnte. Mit der Zeit wur- de der Überstand der Schlittschuhspitzen immer kürzer, bis sie eines Tages richtig passten. Jetzt konnte ich mit den Spitzen Schwung holen, richtig über das Eis flit- zen, aber nun trat ein anderes Problem auf, obwohl mehrere Riemchen Halt ga- ben: Ständig rissen die Schuhhacken ab und mussten vom Schuhmacher wieder angebracht werden. Die Schuhmacher hatten damals viel Arbeit. Auch die Schlosser kamen nicht zu kurz. Interes- sant war für uns auch, wenn Arbeiter der Torgauer Brauerei das Eis an einer Stelle der Eisbahn in rechteckige Stücke sägten und sie zu einem großen Haufen auf- türmten. Mit einer Pferdekutsche, davor die stadtbekannten kräftigen Brauerei- pferde, wurden die Eisstücke dann zum Kühlen des Bieres abgeholt. Der Eisberg regte meine Fantasie sehr an, und ich lieh mir in der Schulbibliothek sämtliche Bü- cher über Polarforscher wie den Englän- der Robert Falcon Scott und den Norwe- ger Roald Amundsen aus. Margot Weiß Mit der Zinkbadewanne über’n Schwarzen Graben Torgauer Gewässer lockte die Kinder im Sommer zum Baden und im Winter zum Schlittschuhlaufen Auf den Elbwiesen wurden Kühe geschlachtet Erlebtes Kriegsende 1945 in Dommitzsch: Armeekolonnen und Flüchtlingstrecks bestimmten das Bild Eine Pontonbrücke überspannte die Elbe bei Torgau. Foto: Archiv Förderverein Europa Begegnungen e.V. Die alten Schlittschuhe. Foto: M. Weiß Alliiertengeld Quelle: H. Förster Glas und Altpapier waren begehrt Annahmestellen für das VEB Kombinat SERO TORGAU. Der VEB Kombinat SERO war in der DDR ein republikweit arbeitender Betrieb, der dafür zu sorgen hatte, dass das Aufkommen an Sekundärrohstoffen wie Altpapier, Altpappe, Alttextilien, Flaschen, Gläser, die nicht im Pfandsys- tem gehandelt wurden, Spraydosen, Kleinschrott (wie Kronenverschlüsse, Sil- berpapier oder Metallfolien) der Volks- wirtschaft wieder zugeführt wurde. Der Betrieb unterhielt ein Netz von Auf- kaufstellen, in der der Bürger seine ge- sammelten Sekundärrohstoffe schaffte und dafür entsprechend ausgezahlt wur- de. Da das Sammeln von Sekundärroh- stoffen ein recht lukratives Geschäft war, ordnete vor allem der Jugendverband (Freie Deutsche Jugend und die Pionier- organisation) immer wieder Altstoff- sammlungen an, um das Aufkommen an Sekundärrohstoffen zu erhöhen. Das Alt- stoffsammeln gehörte auch in unserem Kreis zur Ehre eines Pioniers. Es gab Wettbewerbe an den Schulen, die tat- kräftig von den Eltern, aber auch von den Omas und Opas unterstützt wurden. Es gab sogar Lieder, Gedichte und The- aterstücke zu dieser Thematik, wie das Auftreten eines Pumpelmännchens. Günther Fiege Eine SERO-Annahmestelle von Georg Goroll befand sich in Torgau in der Heinrich-Zil- le-Straße. Frau Wagner nutzte damals einen Sport-Kinderwagen, um ihre gebündelten Zeitungen und im Beutel gesammeltes Papier zur SERO-Annahmestelle zu transportie- ren. Foto: Erdmute Bräunlich

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DONNERSTAG, 19. MÄRZ 2015 | SEITE 16

HISTORIE [email protected]

Ihr Ansprechpartner

Nico WendtTel. 03421 721052

Im Stadtgebiet von Torgau in eine russische Falle geraten Paul Reucher, als Jugendlicher aus Köln / Poll evakuiert, schreibt über seine Erlebnisse zu Kriegsende in Mehderitzsch (Teil 4)

MEHDERITZSCH. Tante Kathr. war mor-gens schon zu den Russen gegangen, die mich gefangen hielten. Ihr forsches und bestimmendes Auftreten hatte denen wohl imponiert. Ihr Argument: Das gefan-gen genommene Kind sei erst 14 Jahre alt! Man schickte sie zum Kommandanten, aber der schlief noch. Ein späterer Versuch hatte Erfolg, nachmittags ließ man mich laufen. Die Freude war bei Mutter und Be-kannten groß. Ab dann schliefen wir bei Krauschens in einem kleinen Gästezim-mer, direkt neben der Familie Engelmann. Kochen, essen, Aufenthalt – weiter bei Fa-milie Bongartz. Ich wagte mich jetzt weniger nach drau-ßen, weil täglich über die Landstraße ge-fangene deutsche Soldaten abgeführt wurden. Fehlte jemand beim Zählappell, so wurde willkürlich ein Mann aufgegrif-fen und in die Kolonne eingereiht. Auf der Straße blieb vieles zurück. Tote Pferde lagen im Straßengraben, sie ver-westen dort. Kaputte Wagen, leere Fässer und reparaturbedürftige Panzer gab es auch. Die zurückgebliebenen Besatzun-gen waren gefährlich, da sie überall nach Essen und Frauen suchten. Die Nachhut bildete eine besondere Einheit mit einem kleinen korpulenten Major. Zu spät hat-ten wir erkannt, dass er sich wegen der blonden Lore (ehemalige junge Wehr-machtshelferin) bei uns einquartiert hatte und auf dem Grundstück einen Soldaten als Aufpasser zurückließ. Prompt hat er sich abends mit Lore eingeschlossen und

sie vergewaltigt. Das Mädchen konnte schnell aus dem Zimmer flüchten, begab sich in die Obhut von Frau Bongartz und meine Mutter, die sie erst einmal trösteten und versorgten. Ich war schon bei Krau-schens. Der Russe verließ daraufhin das Haus und fuhr nach dem Gut Kranichau, wo er ein dunkelhaariges Mädchen fest-gesetzt hatte und vergewaltigte. Lore hat mir am nächsten Tag genau den Ablauf ihrer Vergewaltigung unter Tränen er-zählt. Sie wollte das Erlebte loswerden, obwohl sie schon vorher einige Sex-Erfah-rungen mit deutschen Offizieren gehabt hatte. So wurde die vergangene Nacht eine große seelische Belastung. Die Be-richte bedeuteten für mich, eine weitere Stufe älter und erfahrener zu werden.Man hörte von vielen solchen Vergewal-tigungen, sodass die Bevölkerung auf-merksamer und viel vorsichtiger wurde. Trotzdem geschahen noch viele Plünde-rungen, Übergriffe, Prügeleien und so weiter. Immer wieder kamen Soldaten, die die Häuser durchsuchten und für uns wertvolle Sachen mit sich nahmen. Ob-wohl ich mein Fahrrad demontiert und im Stall versteckt hatte, fand es ein Russe und nahm zusätzlich noch von Mutter Kopfkis-sen mit. Zum Glück hatte ich Schmuck und wertvolle Dinge von uns und Familie Bongartz im Rollladenkasten versteckt, die nicht gefunden wurden.Jeden Tag hörte man neue gute und schlechte Nachrichten. Aus einer Gruppe Polen, die gen Torgau zogen, kam einer

auf mich zu, als ich mit Werner an der Stra-ße stand. Er nahm meinen geschnitzten Stock und hieb mir mit diesem einen über den Kopf. Einige Tage Kopfschmerzen wa-ren die Folge. Dann kam der 8. Mai, Kriegsende, Kapitulation der Deutschen.Langsam beruhigte sich die Lage. Die Russen zogen wei-ter gen Westen und besetzten Thüringen und so weiter. Die Nahrungssuche war erst mal unser Hauptproblem, denn es gab vorerst keine geordnete

Verwaltung. Wir hörten, dass die Russen auf ihrem Marsch hinter Belgern im Wald ein Lager errichtet und bald wieder ver-lassen hätten. Man fände dort geraubte Sachen wieder. Wir machten uns zu meh-reren auf, fanden das Lager,

doch nicht unsere ge-suchten Gegenstände. Dafür nahmen wir an-dere dort liegende brauchbare Dinge mit. Man wollte wissen, was in Torgau los war,

so bin ich auf Wunsch der Einheimischen mitgegangen. Die Elbbrücke war ge-sprengt, die Stadt wimmelte von Fremdar-beitern, Polen, Russen und so weiter, die alle mit viel Gepäck über die Elbe nach Osten in ihre Heimat wollten. Für sie stan-den Transportzüge bereit, doch die Mit-nahme des vielen Gepäcks wurde verhin-dert. Wir waren äußerst vorsichtig, trotz-dem liefen wir in eine Falle. Eine russi-sche Transportabteilung brauchte Hilfskräfte und sperrte plötzlich mehrere Straßen. Die kräftigen Männer, zu denen wir alle gehörten, wurden abgeführt und auf Lkw verladen. In einem Getreidesilo mussten wir den dort noch lagernden Wei-zen in Säcke abfüllen. Nach einigen Stun-den waren die Lkw beladen, die bewaff-neten Aufpasser fuhren, ohne was zu sa-gen, weg. Wir hauten natürlich schnell ab. Wieder eine neue Erkenntnis. Die ersten deutschen Soldaten, die nicht in Gefan-genschaft geraten waren, kamen heimlich und misstrauisch nach Hause. Unter die-sen war auch Erich Krausch. Er kam aus Bayern und hatte sich jede Nacht etwa 40 Kilometer durchgeschlagen. Uns war im-mer gesagt worden, dass Erich auf Usedom in einer Lungenheilanstalt läge, doch er war als Elektrofachmann am Bau der V1 beteiligt gewesen. Nach wenigen Tagen verschwand er wieder, er wollte nicht von den Russen aufgegriffen werden. Doch er hatte sofort unsere blonde Lore entdeckt, mit der er ein sehr kurzes Liebesverhältnis einging. Wöchentlich erhielten wir neue

Anordnungen oder Befehle. Auf deren Nichtbefolgen stand fast immer die Todes-strafe. So mussten alle Radiogeräte abge-geben werden, trotzdem sickerten Nach-richten durch, dass die Grenze in Thürin-gen leicht zu überwinden wäre. Man könn-te also in die Heimat. Daher verließen nach und nach Westdeutsche Mehderitzsch. So packte auch Lore, das Mädchen aus Duis-burg, ihre Sachen und fuhr westwärts. Natürlich war immer noch viel russisches Militär unterwegs. Jedoch hatte man sei-ne Erfahrungen, dass man auswich bezie-hungsweise schnell einen Unterschlupf suchte, wenn sie anrückten. Einmal bat mich Werner Engelmann, ihm zu helfen. Eine russische Einheit, die für Verpflegung zuständig war, hatte auf ei-nem Bauernhof zwei sehr große schwere Schweine requiriert. Diese waren ihnen vom Lkw gesprungen, daraufhin hatten sie beide Tiere erschossen. Die Schweine hat-ten einige Einschüsse und waren bei der Temperatur sofort aufgebläht. Der Lkw stand in Mehderitzsch bei Albrecht und sie wollten nun von Werner, dem Metzger, wissen, ob das Fleisch noch genießbar wäre. Sie erhielten die Schinken, alles an-dere könnten wir haben. Wir schnitten uns etwas Fleisch ab, aber den Schmalz nah-men wir uns. Er kam ausgelassen in die schwarzen Plastikdosen, die noch aus dem Torgauer Versorgungsmagazin stammten. So hatten wir über lange Zeit bestes Fett. Fortsetzung folgt. Quelle: Paul-Heinz Bongartz

DOMMITZSCH. Vom 3. zum 4. Mai 1945 zog die ganze Nacht eine russische Brigade durch den Ort. Pferdegespanne mit Kut-schern wurden requiriert zum Transport von Bagage und Verpflegung. Meist kehr-ten nur die Kutscher zurück, wenn sie ent-kommen konnten. Ab 5. Mai wurden Häu-ser laufend geplündert, meist bei Beginn der Dunkelheit; Frauen mussten die Flucht ergreifen. In den folgenden Tagen zogen immer wie-der Armeekolonnen durch und verstopf-ten teilweise völlig die Straßen. Im Haus Bahnhofstraße 1 befand sich die politische Abteilung der Sowjets. Sie verhaftete vom 5. bis 20. Mai 26 der örtlichen Parteiführer vom kleinsten Kassierer angefangen und deportierte sie. Keiner von ihnen war als Kriegsverbrecher zu bezeichnen, es ge-nügte, dass er ein Parteibuch der NSDAP besaß. Wenige von ihnen kamen zurück. Nachdem am 8. Mai die Wehrmacht kapi-tuliert hatte, fuhr der Bürgermeister im Pkw durch die Stadt. Aus dem Autofens-ter heraus klingelte der Stadtbote Nitzsch-ke und rief: „ Rote Fahnen heraus, der Krieg ist beendet!“ Hier war davon noch nichts zu merken! Am 9. Mai wurde die Elbfähre von Großtreben in Dommitzsch eingesetzt zum Rücktransport von Flücht-lingen aus den östlichen Gebieten, welche in unendlichen Kolonnen durch die Stra-ßen zogen. Am 15. Mai mussten alle Schreibmaschinen und Radios abgeliefert werden. Viele Häuser erhielten Einquar-tierungen oder mussten völlig geräumt

werden. Sowjetische Truppen erbauten im Labaun und Gränigk Erdhütten und Blockhäuser als Unterkünfte. Das Materi-al wurde requiriert. Am 23. Mai zogen die serbischen Kr iegsge-f a n g e n e n aus dem Ort ab. Am 24. Mai tausch-ten Kom-mandantur und Stadt-verwaltung ihre Unter-künfte. Ab 30. Mai ver-kehrten wieder Züge zwischen Torgau und Pratau. Am 3. Juni wur-de mit dem Bau einer Elbfähre begonnen (Tragfähigkeit 3 Ton-nen). Auf den Elbwie-sen wimmelte es von Pferden, Schafen und Kühen, die hier auch geschlachtet wurden; die weggewor-fenen Köpfe holten z. T. die Einwohner, zur Verbesserung ihrer Fleischversorgung. Durch den Ort wurden laufend große Her-den getrieben. Ab 8. Juni wurde von russischen Pionie-ren, die auf dem Anger in Zelten biwakier-ten, eine Pfahlbrücke über die Elbe ge-schlagen. Am 23. Juni war sie fertig. Am 10. Juni wurde im Kino wieder der erste Film gezeigt – ein russischer Kriegsfilm.

An den Straßenrändern zwischen Torgau und Dommitzsch standen viele Fahrzeug-wracks, auf der Fährstraße am Rand die Transportwagen, die einst die Pontons der Elbbrücke trugen. Am 15./16. Juni belu-den sowjetische Truppen auf dem Bahn-hof 2 Güterzüge mit Fahrzeugen und Ge-schützen. Auf dem Mittelstreifen der Torgauer Straße wurden drei russische Soldaten begraben; Todesursachen Unfall und Alkohol. Am 19. Juni wurden wieder

deutsche Poli-zisten einge-setzt, ihre „ U n i f o r m “ , eine rote Arm-binde. Am 28. Juni zogen Tau-sende Polen mit Fahrrädern und Pferdefuhrwer-ken durch Dommitzsch, auf dem Rückweg in ihre Heimat. Ab

28. Juli wurde wieder Bier ausgeschenkt. Es enthielt wenig Alkohol und wurde als „Hopfenblüte“ bezeichnet. Im Wohnlager der Wasag, am Weidenhainer Weg, waren Flüchtlinge untergebracht; einige Häuser wurden als Krankenstationen eingerich-tet. In den Osterbergbaracken wohnten ebenfalls Flüchtlinge. Von den Opfern die-ser Zeit zeugten einige Massengräber auf dem Friedhof. Die Versorgung der Bevöl-kerung war äußerst schwierig.

In der Woche um den 21. September gab es weder Fleisch noch Fett noch Milch. Ab 25. Oktober mussten erneut viele Häuser geräumt werden. Die Bewohner versuch-ten, bei Bekannten unterzuschlüpfen. Auf dem Bahnhof lagen Unmengen von Ge-päck und Lebensmitteln der Russen. Im Betrieb Köchermann und im Geschäft Andreas waren Verpflegungsmagazine für die Besatzung eingerichtet. Am Osterberg auf der Feldspitze war eine Panzerkolon-ne untergebracht. Anlässlich des Tages der Oktoberrevolution fand am 7. Novem-ber ein Platzkonzert statt, mit anschließen-dem Fackelzug. Am 23. Dezember veran-staltete die Stadt in der Konzerthalle eine Weihnachtsfeier für Umsiedler, Kinder und Rentner, die sehr gut besucht war. Bis zum 9. Februar 1946 blieben sowjeti-sche Truppen in Dommitzsch. Der Krieg war beendet, viele Dinge des täglichen Be-darfs fehlten. Jedes Stück Land wurde ge-nutzt zum Anbau von Gemüse und Kartof-feln. In jedem Garten wurde Tabak ange-baut, welcher dann noch mit Rosenblättern und anderem gestreckt wurde. Rübenmus war einer der häufigsten Brotaufstriche. Molkequark wurde zugeteilt; aus Hefe, viel Majoran und anderen Zutaten wurde Er-satzleberwurst hergestellt. Die Fahrräder hatten Vollgummireifen oder eine „Berei-fung“ aus Starkstromkabeln. Die Zeit ging vorüber, blieb aber im Gedächtnis derer er-halten, die sie miterlebt hatten. (Quellen: Erlebtes, Gehörtes, Schulchronik Greud-nitz ) Hermann Förster

TORGAU. Der Schwarze Graben war für die Kinder unseres Viertels in den 50er-Jahren die beliebte Badeanstalt. Ich kenne kein Kind aus unserer Straße, das in dieser Zeit jemals bei Herrn Trümpel-mann im Strandbad am Großen Teich an der Angel hing, um schwimmen zu ler-nen. Wir lernten das selbstständig im Schwarzen Graben, sogar Kopfsprünge übten einige von den großen viereckigen Betonklötzen aus, die aller paar Hundert Meter die Regenabwasserrohre der Stra-ßen beinhalteten. Ich traute mir immer nur „Bomben“ zu, wie wir das Hineinspringen mit angezo-genen Beinen damals nannten. Als wir später von der Schule aus zum Schwim-men in das Strandbad gingen, war es für uns keine Schwierigkeit, das Frei- oder Fahrtenschwimmerzeugnis zu erhalten. Eine Stelle am Grabenufer war seltsamer-weise wie eine Sandbank gestaltet. Da la-gen wir dann oft und sonnten uns. Manchmal erbettelten wir uns zu Hause die langen Zinkbadewannen, in die zwei Mann hineinpassten und paddelten mit den Händen den Schwarzen Graben ent-lang. Teilweise hingen die Zweige der Weiden weit über das Wasser, und wir meinten, im Spreewald könnte es nicht herrlicher sein. Da es in unseren alten Häusern kein Badezimmer gab; sogar die Toilette war im Treppenhaus eine Etage tiefer, wurde beim großen Waschtag, wenn das Wasser im riesigen Kessel des

Waschhauses brodelte, auch die lange Zinkwanne zum Baden genutzt. Sonst war es üblich, einmal in der Woche in die Badeanstalt in der Fischerstraße zu gehen und ein Fichtennadelbad zu genießen. Ab und zu wurde der Schwarze Graben gesäubert; dann türmten sich die Schlammberge am Ufer, und wir Kinder suchten nach irgendwelchen nützlichen Dingen, die einmal jemand verloren hat-te. Die großen Schalen der hellbraunen Flussmuscheln eigneten sich vortrefflich als Schälchen für allerlei Utensilien. Mit den dunklen kleinen Muscheln, die noch geschlossen waren, konnten wir nichts anfangen und warfen sie wieder zurück. Im Winter war manchmal der Graben zu-gefroren, und wir konnten mit den Schlitt-schuhen bis zur Mahla fahren. Am liebs-ten waren wir natürlich auf der Eisbahn (Wolffersdorffstraße bis zum Bahnhof).

Kurz vor dem Winter wurde das Wehr un-ter der Brücke an der Wolffersdorffstraße geschlossen und die Wiese am Glacis überflutet, sodass sich dann bei Frost die herrlichste Eisbahn bildete. Einige Zeit lang wurden plötzlich für das Fahren fünf Pfennige verlangt, angeblich, weil die Eisbahn vom Schnee freigehalten werden musste. Dabei hatten einige Jungen stets einen Schneeschieber dabei, um eine freie Bahn für ihr Eishockeyspiel (mit selbst gebauten Schlägern) zu schieben. Da uns diese tägliche Ausgabe zu teuer war, wichen wir halt auf den Graben oder die Glaciswiese an unserer Straße aus. Die teuren Schlittschuhe blieben für uns Kinder lange ein unerfüllter Wunsch, und so schusselten wir die erste Zeit über die Eisbahn. Dann aber bekam eine Freun-din von mir zu einem Weihnachtsfest na-gelneue funkelnde Schlittschuhe, und es war aus mit der bisherigen Zufriedenheit. Meiner Mutter fiel ein, dass ihre eigenen, noch vor dem Krieg getragenen Schlitt-schuhe eingepackt in der Bodenkammer liegen müssten. „Aber sie sind doch viel zu groß“, mein-te sie. „Damals fuhren keine Kinder, son-dern die Jugendlichen. Die jungen Da-men saßen sogar auf Stuhlschlitten und ließen sich von den jungen Herren schie-ben.“ Das soll auch auf Torgaus Eisbahn vor dem 1. Weltkrieg so gewesen sein. Aus einer riesigen Peddigrohrkiste holte meine Mutter in Ölpapier eingewickelte

Schlittschuhe. Sogar die Riemchen waren dabei und natürlich die Schlüssel zum Anschrauben der Schlittschuhe an den Schuhen. Was machte es, dass die Schlitt-schuhe wirklich viel zu groß waren. Min-destens vier Zentimeter standen sie vorn an den Schuhen über, und ich musste die Füße stets erst seitwärts einknicken, um in Schwung zu kommen, damit ich über das Eis gleiten konnte. Mit der Zeit wur-de der Überstand der Schlittschuhspitzen immer kürzer, bis sie eines Tages richtig passten. Jetzt konnte ich mit den Spitzen Schwung holen, richtig über das Eis flit-zen, aber nun trat ein anderes Problem auf, obwohl mehrere Riemchen Halt ga-ben: Ständig rissen die Schuhhacken ab und mussten vom Schuhmacher wieder angebracht werden. Die Schuhmacher hatten damals viel Arbeit. Auch die Schlosser kamen nicht zu kurz. Interes-sant war für uns auch, wenn Arbeiter der Torgauer Brauerei das Eis an einer Stelle der Eisbahn in rechteckige Stücke sägten und sie zu einem großen Haufen auf-türmten. Mit einer Pferdekutsche, davor die stadtbekannten kräftigen Brauerei-pferde, wurden die Eisstücke dann zum Kühlen des Bieres abgeholt. Der Eisberg regte meine Fantasie sehr an, und ich lieh mir in der Schulbibliothek sämtliche Bü-cher über Polarforscher wie den Englän-der Robert Falcon Scott und den Norwe-ger Roald Amundsen aus. Margot Weiß

Mit der Zinkbadewanne über’n Schwarzen GrabenTorgauer Gewässer lockte die Kinder im Sommer zum Baden und im Winter zum Schlittschuhlaufen

Auf den Elbwiesen wurden Kühe geschlachtetErlebtes Kriegsende 1945 in Dommitzsch: Armeekolonnen und Flüchtlingstrecks bestimmten das Bild

Eine Pontonbrücke überspannte die Elbe bei Torgau. Foto: Archiv Förderverein Europa Begegnungen e.V.

Die alten Schlittschuhe. Foto: M. Weiß

künfte. Ab 30. Mai ver-kehrten wieder Züge zwischen Torgau und

und Alkohol. Am 19. Juni wurden wieder

eine rote Arm-binde. Am 28. Juni zogen Tau-sende Polen mit Fahrrädern und Pferdefuhrwer-ken durch Dommitzsch, auf dem Rückweg in

Alliiertengeld Quelle: H. Förster

Glas und Altpapier waren begehrt

Annahmestellen für das VEB Kombinat SEROTORGAU. Der VEB Kombinat SERO war in der DDR ein republikweit arbeitender Betrieb, der dafür zu sorgen hatte, dass das Aufkommen an Sekundärrohstoffen wie Altpapier, Altpappe, Alttextilien, Flaschen, Gläser, die nicht im Pfandsys-tem gehandelt wurden, Spraydosen, Kleinschrott (wie Kronenverschlüsse, Sil-berpapier oder Metallfolien) der Volks-wirtschaft wieder zugeführt wurde. Der Betrieb unterhielt ein Netz von Auf-kaufstellen, in der der Bürger seine ge-sammelten Sekundärrohstoffe schaffte und dafür entsprechend ausgezahlt wur-de. Da das Sammeln von Sekundärroh-

stoffen ein recht lukratives Geschäft war, ordnete vor allem der Jugendverband (Freie Deutsche Jugend und die Pionier-organisation) immer wieder Altstoff-sammlungen an, um das Aufkommen an Sekundärrohstoffen zu erhöhen. Das Alt-stoffsammeln gehörte auch in unserem Kreis zur Ehre eines Pioniers. Es gab Wettbewerbe an den Schulen, die tat-kräftig von den Eltern, aber auch von den Omas und Opas unterstützt wurden. Es gab sogar Lieder, Gedichte und The-aterstücke zu dieser Thematik, wie das Auftreten eines Pumpelmännchens. Günther Fiege

Eine SERO-Annahmestelle von Georg Goroll befand sich in Torgau in der Heinrich-Zil-le-Straße. Frau Wagner nutzte damals einen Sport-Kinderwagen, um ihre gebündelten Zeitungen und im Beutel gesammeltes Papier zur SERO-Annahmestelle zu transportie-ren. Foto: Erdmute Bräunlich