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www.reporter-forum.de UNTER BRÜDERN Als sie Teenager waren, trieben sie nur Sport und hingen ab. Dann rief sie Allah. Heute sind sie junge Männer und voll heiligen Ernstes. Die Geschichte von Serkan, Ahmet, Rahim und Abd al-Hadi – neuen Fundamentalisten des Islams in Deutschland. Von Jan Rübel, Erschienen in "Berliner Zeitung Magazin", Nr. 70/2013 An diesem grauen Spätnachmittag lässt sich Gott nicht blicken. Nicht draußen, in diesem von Müllcontainern und totem Busch bestandenen Hinterhof, durch den Serkan eilt. Es ist Frühling. Oder schon wieder Herbst? Kerzengerade und dennoch den Blick nach unten gerichtet, erklimmt Serkan rasch die Treppe im Hinterhaus in Berlin-Neukölln. Wie kurz er atmet, wie sich die Tiefe, im ersten Stock angekommen, vor ihm öffnet. Der Gebetssaal. Zwei Jungs in Fliegerjacken eilen an Serkan vorbei, „www.Einladung zum Paradies.de“ und „Don’t Panic, I’m Islamic“ steht auf ihren T-Shirts. Er 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28

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www.reporter-forum.de

UNTER BRÜDERN

Als sie Teenager waren, trieben sie

nur Sport und hingen ab. Dann rief sie

Allah. Heute sind sie junge Männer und

voll heiligen Ernstes. Die Geschichte von

Serkan, Ahmet, Rahim und Abd al-Hadi –

neuen Fundamentalisten des Islams in

Deutschland.

Von Jan Rübel, Erschienen in "Berliner

Zeitung Magazin", Nr. 70/2013

An diesem grauen Spätnachmittag lässt

sich Gott nicht blicken. Nicht draußen,

in diesem von Müllcontainern und totem

Busch bestandenen Hinterhof, durch den

Serkan eilt. Es ist Frühling. Oder schon

wieder Herbst? Kerzengerade und dennoch

den Blick nach unten gerichtet, erklimmt

Serkan rasch die Treppe im Hinterhaus in

Berlin-Neukölln. Wie kurz er atmet, wie

sich die Tiefe, im ersten Stock

angekommen, vor ihm öffnet. Der

Gebetssaal. Zwei Jungs in Fliegerjacken

eilen an Serkan vorbei, „www.Einladung

zum Paradies.de“ und „Don’t Panic, I’m

Islamic“ steht auf ihren T-Shirts. Er

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saugt am Eingang geschäftige Stille ein:

Kinder spielen lautlos auf dem weiten

Teppich Fangen, Alte lehnen an der

Ostwand. Unterm silberhellen Licht der

zahllosen 18-Watt-Neonröhren riecht es

nach frisch gewaschenen Tüchern und

Weihrauch. Nach Moschus und Mann. Nach

ausgetretenen Socken. Und nach gebratenem

Lamm.

Gehetzt lässt Serkan, 20, seinen Blick

wandern. Heute ist nicht sein Tag. Da war

der arabische Friseur, der seinen Bart

abrasierte – weil Serkan doch noch nicht

so gut Arabisch versteht, sein Bärtchen,

es wuchs für den Flaum zwei Jahre lang.

Und dann war da dieser Mann vom

Verfassungsschutz, der sich ihm in den

Weg gestellt hatte. Berichte solle er

schreiben, jede Spur könne hilfreich

sein. „4000 Euro haben sie einem Kumpel

von mir geboten“, wird er später

erzählen. „Der Typ hat mir alle meine

früheren Telefonnummern gezeigt. Was

wollen die von mir?“

Am Saaleck, unweit der Predigtkanzel,

schart sich eine Gruppe um einen Mann im

Schneidersitz; Serkan eilt hinzu. „Als

ich aus Ägypten wieder nach Deutschland

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heimkehrte“, sagt der Mann, „da taten mir

die Augen weh. So viel Nacktheit, so

wenig Scham!“ Ferid Heider, 33, Prediger,

mustert seine Zuhörer beim Islam-

Unterricht des „Islamischen Kultur- und

Erziehungszentrum“, dem IKEZ:

milchgesichtige Kinder in

Trainingsanzügen, Jugendliche in breiten

Rapperjeans und noch dralleren Basecaps –

und junge Männer, graue Stoffhosen, die

Knöchel so frei gerollt, wie es schon

Muhammad der Prophet wegen des lästigen

Wüstensandes angewiesen hatte, mit Bärten

aller Art. „Ihr sollt Bärte tragen, um zu

zeigen, dass Ihr Muslime seid“, mahnt

Ferid Heider. „Ich wette, dass ich bei

jedem Bart auf der Straße erkennen kann,

ob er einem Muslim gehört oder nicht. Die

Demut macht den Unterschied. Kümmert euch

nicht, wenn sie in der Klasse über euch

scherzen: Eure wahren Freunde sind in der

Moschee.“ Serkan lehnt sich an die Wand.

Jetzt ist er wirklich angekommen.

Ferid Heiders Murmeln erinnert an

Stimmbruch, das macht ihn jünger. Er

beugt sich vor. „Die Gefährten des

Propheten wollten immer die Schnellsten

und Besten bei den guten Taten sein“,

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raunt er. Der Tod klopfe so schnell an

die Tür. „Es könnten eure letzen Tage

sein, nutzt sie also. Vergesst nicht, was

ihr Allah versprochen habt.“ Sein rechter

Daumen schnellt in die Höhe, er zitiert

die siebte Sure des Koran, Vers 5: „Allah

kennt das Innerste der Brüste. Er weiß

alles von euch.“

In einer Viertelstunde ist Abendgebet.

Noch Zeit also für ein paar Anliegen,

mehrere Finger steigen hoch. „Darf ich

Judo machen?“, fragt ein Teenager. Ferid

Heider schmunzelt. „Klar, ich habe früher

selbst Karate trainiert, der Koran

verbietet das nicht.“ Ein anderer will

wissen: „Darf man Insekten töten?“ „Ja,

aber nur schädliche, und das schnell.

Mäuse im Haus schon, das sagte der

Prophet, aber keine Ameisen und Bienen.“

Serkan meldet sich: „Was mache ich, wenn

sich eine Frau für den Islam

interessiert?“ Ferid Heider, große Augen,

rotbraunes Haar auf etwas gelblicher

Haut, lehnt sich zurück. „Tja, verweise

sie am besten an die Frauen in der

Moschee.“

Wer hier sitzt, will die Wahrheit

wissen. Ist weniger auf der Suche nach

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theologischem Wissen, sondern nach

Glauben. Einen, der den Alltag regelt,

mit einem Daumen, der klar nach oben oder

nach unten weist. Diskussionen gibt es

kaum. Nicht, dass der Prediger sie

unterbinden wollte. Aber seine

Koranschule ist eine Art Vorlesung; nur

sitzen vor ihm nicht nur Studenten,

sondern auch Hauptschüler. Sie alle

lauschen einem sehr konservativen Islam,

den Ferid Heider lehrt – mal tritt er im

IKEZ auf, mal im Interkulturellen Zentrum

für Dialog und Bildung (IZDB) in Berlin-

Wedding oder hin und wieder in der

Neuköllner Nur-Moschee: alle unter der

Beobachtung des Verfassungsschutzes. Mit

den Honoraren finanziert er sein

Arabistik-Studium an der Freien

Universität Berlin. Ferid Heider,

religiös ausgebildet bei einer den

islamistischen Muslimbrüdern nahe

stehenden französischen Hochschule,

gründet mit den Predigern Abd al-Adhim

Kammous und Nasr al-Isa in Berlin ein

Dreieck charismatischer junger

deutschsprachiger Imame, die für eine

radikale Hinwendung zum Islam

missionieren; die als Richtschnur fürs

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21. Jahrhundert das Leben Muhammads des

Propheten und seiner Gefährten aus dem

frühen Mittelalter vorgeben. Ihre Lehre

mutet schlicht an, und mit ihr füllen sie

Säle wie kaum eine andere religiöse

Organisation. Sicherheitsdienste schauen

ihnen dabei über die Schulter: Mit

Grundgesetzverletzungen, Gewalt oder gar

Terror haben die drei nichts zu tun. Aber

sie predigen in einem Milieu, dem mancher

Terrorwillige entsteigt. Der sich von

ihnen schließlich lossagt, weil sie Hass

und Ignoranz verdammen. Und immer wieder

Hausverbote gegen jene aussprechen, die

in ihren Augen übertreiben; wie ein

Motor, der heiß läuft.

Kurz vor dem Abendgebet noch ein

kleiner Höhepunkt. Rahim, 20, der seinen

deutschen Namen nicht nennen will, laufen

Tränen die Wangen herunter. Vorne bei

Scheich Ferid steht sein Zwillingsbruder,

er spricht die Schahada, das

Glaubensbekenntnis. „Es gibt keinen Gott

außer Gott“, sagt er, schielt von der

Seite zu seinem Bruder. „Muhammad ist der

Gesandte Gottes.“ Und wird in diesem

Moment Muslim, neun Monate nachdem sein

Bruder Rahim konvertierte. Beide eilen

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zueinander, greifen nach sich, bleiben

wie versteinert stehen, inmitten einer

Traube von Gratulanten. Serkan lächelt

abseits leise.

Alle stehen auf. Einige Besucher

fragen, was der Reporter hier vorhat.

„Wir vertrauen Ihnen nicht!“, sagt ein

Mann, Anfang 20, ganz ruhig. In seiner

braunen Kutte ähnelt er einem

Franziskaner. „Sie alle wollen den Islam

doch nur niederschreiben.“ Die anderen

schauen weg. Serkans Knopfaugen blitzen

neugierig auf.

Auf dem Weg zur U-Bahn schart sich

eine handvoll Jungs um Rahim und Abd al-

Hadi, wie er seit heute heißt. Sie reden

laut durcheinander, eilen durch die

Sonnenallee, vorbei an Bars und

Wettlokalen; der Schritt ist zackig. Wie

anders dagegen die Menge auf dem

Bürgersteig: Ihr Rhythmus ist langsamer

und doch irgendwie schneller. Weicher.

Aus einem Café dringt süßer Rauch von

Wasserpfeifen. „Du musst standhaft

bleiben“, sagt Ahmet zu Rahim. „Sie wird

das nie verstehen.“ Rahim hat sich von

seiner Freundin getrennt, „Allah

verbietet den Kontakt zu Frauen vor der

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Ehe“. Rahim fasst sich an den Kopf. „Sie

ist total sauer. Wenn ich ihr vom Koran

erzähle, hört sie weg.“ Ahmet schaut

grimmig. „Das hast du für Gott getan. Mit

der Versuchung kommst du schon klar.“

Ahmet ist eine Autorität unter den Jungs.

Er ist schmächtig, fein laufen die Züge

in seinem Gesicht zu einer Denkerstirn

zusammen. Ahmet hat gerade Abi und

Zivildienst hinter sich – und von einer

saudischen Stiftung ein Stipendium, zum

Religionsstudium in Riad. Der Koffer ist

schon gepackt.

Die Besucher in Ferid Heiders

Koranschule sind Kinder einer neuen

Strömung – des Neofundamentalismus.

Früher war der Islamismus politisch,

wollte Gesellschaften umkrempeln. Die

Jungs hier aber interessieren sich für

die Geschehnisse in Ägypten und Libyen

nur bedingt; ihre Heimat ist Deutschland.

Für sie ist Religion privat, und sie

trägt christliche Züge, die neu für den

Islam sind: die Angst um Stärke und

Schwäche des Glaubens, den Trend zur

Religiosität, die Betonung des

Individuellen und das Interesse am

Selbst. Er hat mit der Zeit verstanden,

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sagt Serkan, worum es in der Sache mit

den Mädchen geht. „Der Koran lehrt den

Blick zu senken.“ Es ist der nächste

Morgen, er durchstreift Gropiusstadt im

Südosten Berlins: weiße Wohnblocks in

Endlosschleife. Die Familie war kurz vor

seiner Geburt aus Kreuzberg hierher

gezogen, als erste türkische der

Trabantenstadt. Serkan ist unterwegs zur

Arbeit in einer Kita: er lässt sich als

Erzieher ausbilden. „Das hat mit meiner

Religion nichts zu tun, mir macht

Sozialarbeit Spaß.“ Auf der

Erzieherschule sind fast nur Frauen.

„Manche Jungs belegen dort anfangs nur

Seminare, um an die Mädchen ranzukommen“,

lacht er. Und er? „Na, ganz normal. In

meinem Kopf habe ich Klick gemacht. Ich

bin locker mit ihnen, Mann, nur denke ich

dabei nie an das Körperliche.“

Nie?

„Okay, am Eingang zur Moschee darf man

mal kurz rüberschauen zu den Frauen.

Alles andere ist Sünde.“

Was macht junge Männer wie Serkan,

Rahim und Ahmet so keusch?

„Weil Verbote wie Dämme sind. Sie

schützen das gute Leben, wie es Muhammad

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der Prophet vormachte.“

Warum?

„Weil sich am besten jedes Verhalten

auf eine Norm bezieht – und unsere Norm

ist Muhammad, wir kennen keinen, der ihn

toppen kann. Außerdem trägt jeder einen

gewissen Teil an Liebe mit sich, die ihm

gegeben wurde. Die konzentriert er besser

auf die Ehe.“

Hat Liebe etwa ein Gewicht?

Serkan kratzt sich am Hinterkopf.

„Gott regelt alles. Es gibt doch

Sympathie auf den ersten Blick, oder? Man

muss ja nicht schon vor der Heirat auf

dem Top-Niveau der Liebe sein. “ Er sei

doch kein Detektiv.

Am Park passiert Serkan die Gropius-

Gesamtschule. Zwei Sicherheitsleute

patrouillieren am Eingang. Er mustert

sie, als wäre er vor etwas auf der Hut.

„Islam wird in meiner Familie nicht

bewusst gelebt, meine Eltern sind

säkular“, sagt er und streicht sich über

den lilafarbenen Sportanzug. Den Glauben

gefunden habe er dort drinnen, er zeigt

auf das grauflache Gebäude.

Bis zur zehnten Klasse besuchte er den

Bau. „Damals herrschte echter Krieg.“

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Stühle flogen gegen Lehrer, „mit

gehangen, mit gefangen“, beschreibt er

seine Schulzeit. „Wir hatten eine Clique,

und wir haben uns damals voll isoliert

von den Deutschen.“ Die „Krassen“ unter

ihnen seien es auch gewesen, die ihn zum

Islam brachten. „Wir wurden aufmerksam

auf geheime Treffen der Hizb al-Tahrir.“

Serkan und seine Gang wunderte es, dass

man sich privat traf und nicht in einer

Moschee, und dass die Handys

ausgeschaltet werden sollten. „Aber

spannend war es anfangs schon.“ Die

Tahriris sind in Deutschland verboten,

sie wollen hoch hinaus: eine weltweite

Kalifatsherrschaft. „Die redeten ständig

nur darüber, wo überall unsere Brüder

gefoltert werden. Sollen die ihren Staat

doch allein machen.“ Selbst Schwarzfahren

sei erlaubt, hätten die behauptet, weil

Deutschland kein islamischer Staat ist.

„So ein Quatsch.“

Die Jungs verloren die Lust an

islamischer Revolution, sie zogen weiter,

in eine echte Moschee. Und dort erwischte

es ihn. Das war vor vier Jahren. „Ich

hatte unbewusst darauf gewartet, dass man

mich ruft, ohne Plan.“ Die Stille. Die

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Gemeinschaft im Gebet. Der Plan. Zehn

Mann war die Clique stark. Drei wurden

religiös, „die einzigen, die beruflich

etwas geworden sind. Die anderen zogen

weiter und hängen noch heute ab“.

Es sind oft nicht die Verlierer, die

zurück ins Frühmittelalter streben, die

Schulabbrecher und Halbstarken. In

Deutschland bildet sich eine neue

Jugendbewegung heraus. Kein cooler Pop-

Islam ist unter ihren Anhängern angesagt,

sondern strenger Regelkodex. In einer

Studie des Bundesinnenministeriums aus

dem Jahr 2007 hatten sich bereits 44

Prozent aller muslimischen Jugendlichen

als fundamental erklärt, die Religion sei

ihr zentrales Orientierungssystem. Und

vier Jahre später kommt eine

Ministeriumsstudie zum Ergebnis, unter

befragten deutschen und nicht deutschen

Muslimen zwischen 14 und 32 Jahren lasse

sich eine Subgruppe identifizieren, die

als „streng Religiöse mit starken

Abneigungen gegenüber dem Westen,

tendenzieller Gewaltakzeptanz und ohne

Integrationstendenz“ bezeichnet werden

könne. „Diese Subgruppe umfasst in der

Teilstichprobe der deutschen Muslime rund

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15 Prozent und in der Gruppe der

nichtdeutschen Muslime rund 24 Prozent.“

Die Besucher von Ferid Heiders

Koranschule hat niemand gefragt. Aber

einige von ihnen meinen es jedenfalls

ernst mit ihrem Glauben – und ihrem

Berufsweg. Serkan will unbedingt

Sozialarbeiter werden. Rahim und Abd al-

Hadi studieren Jura, Ahmet plant ein

Leben als Theologe. Religion ist für sie

ein Code. Und das Leben ein Ritual.

In Serkans Kopf klopft gerade die Sure

26 an. Gebannt hört er der Rezitation auf

seinem MP3-Player zu, die hohen Häuser

und engen Seitenstraßen verwandeln

Neukölln in einen Tunnel. Es ist ein paar

Wochen später, Serkan schlendert zur

Moschee. „Ich höre gar keine Musik mehr,

das war eine Entwicklung. Je mehr

Koranlesungen ich lauschte, desto weniger

Verlangen hatte ich nach Musik. Ich quäle

mich nicht mehr.“ So viele Songtexte voll

schlechten Inhalts, oder Liebe. „Die

Leute fangen ja an zu weinen, kriegen

Kummer. Da ist zuviel Emotion.“ Von den

Suren aber, davon kriegt er nicht genug.

Vor dem Unterricht im IKEZ schaut Serkan

noch in einem kleinen Parfümladen vorbei,

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hunderte kleine Flaschen stehen in

schmalen Regalen. Es gebe vier Dinge,

sagt Serkan, die dem Propheten wichtig

waren, die zu seiner Sunna gehörten: „Die

Schamhaftigkeit, schöne Düfte, die

Vermählung und das Zähneputzen.“

Im Laden trifft er Younes, einen

Kumpel von Ferid Heiders Koranschule.

„Hast du schon das neuste Stück von

Mishari Ibn Rashid al-Afasi gehört?“,

fragt Serkan, und beide zücken ihre

Player. Die Jungs von der Koranschule

tauschen Rezitationen wie Panini-

Fußballbilder. Und mögen es gesellig:

„Treffen wir uns zum Bundesligagucken?“,

fragt Serkan. Seine neue Gang hat vor

zwei Wochen ein interreligiöses

Fußballturnier organisiert, Handreichung

bei einem Straßenfest und

Nachbarschaftshilfen stehen bald an. Man

ist streng und brav zugleich.

Vor dem Unterricht hat Serkan noch

eine Verabredung mit seinem Lehrer. Er

kniet auf dem Teppich, vor ihm ein Koran.

Doch Serkans Augen sind geschlossen, er

singt die Sure aus dem Kopf. „Trage vor,

im Namen deines Herrn, der geschaffen

hat“, summt er auf Arabisch. Der Koran

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ist ihm ein liturgischer Text, seine

Lesung ein Gebet. Serkans Stimme dehnt

die Buchstaben, schwingt sich auf, hält

inne und endet tief, als würde er von

weit weg singen. Wer lernt, den Koran

richtig zu rezitieren, sagen die

Gelehrten, der versteht auch besser

seinen Sinn. „Das ist ja schon ganz gut“,

lobt Scheich Ferid am Ende. „Du musst

aber noch die Buchstaben

unterschiedlicher betonen.“ Irgendwann

will Serkan ein Hafiz sein, wie sein

Lehrer. Einer, der den Koran auswendig

kennt. Der festhält, was ihm wichtig ist.

In der Koranstunde selbst spricht

Ferid Heider immer wieder aus, was ihn

bewegt: In 65 Minuten sagt er heute 21

Mal „Allah“ und 55 Mal „Muhammad“ – stets

mit dem Zusatz „Sallah Allah Alleihi Wa

Sallam“, Gott preiste und grüßte ihn.

„Die unterste Glaubensstufe im Islam ist

eine verdammt wichtige“, sagt er. „Sie

bedeutet, den Dreck, der andere Menschen

stört, auf der Straße wegzuräumen.“ Er

blickt in die Runde. „Warum ist Neukölln

dann so schmutzig?“ Jeder Muslim solle

der Gesellschaft nutzen. „Ihr sollt

arbeiten, euch einbringen. Es ist schon

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komisch, wenn manche Leute fünf Mal am

Tag in der Moschee sitzen. Ein besonderer

Glaubensbeweis ist das nicht.“

Integration ist für niemanden hier

eine Frage. Die aktuelle Studie aus dem

Bundesinnenministerium, wonach die

religiös Extremen integrationsunwillig

seien, sie widerspricht der Realität in

diesem Saal: Alle sehen sich als Teil des

Landes, ihres Landes, beanspruchen ihren

Platz. Parallelgesellschaften verachten

sie. Die Frommsten unter den religiösen

Muslimen, die Hardliner, verhalten sich

ziemlich deutsch: Halten es gern korrekt

und mit der Disziplin. Reden nur Deutsch

miteinander und lachen kaum. Als Ferid

Heider 15 wurde, war Schluss mit lustig.

Dem irakischen Vater und der polnischen

Mutter passte es nicht, dass Ferid jeden

Tag kiffte, in den Straßen von

Charlottenburg lungerte. Sie schickten

ihn für ein Jahr in eine ägyptische

Gastfamilie, eine disziplinierende

Auszeit. An Religion dachten sie nicht.

Doch aus dem Jahr wurden drei. Zurück kam

ihr Sohn mit einer Mission.

Scheich Ferid schaut in die Runde.

„Ihr seid Vorbilder! Euch geht es in

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Deutschland so wie Muhammad in Mekka.

Anfangs stand er allein mit seinem

Glauben, und er sammelte mehr und mehr

Anhänger.“ Integration ist für Ferid

Heider selbstverständlich. Und sie ist

auch Schmierstoff für die Mission. In

jedem Menschen sieht er eine Seele, die

gerettet werden kann.

Am Ende seiner Lektion steht Ferid

Heider auf, gleich beginnt das

Abendgebet. „Ferid…“, murmelt Serkan und

zeigt auf das kleine Funkmikro am Revers.

Beide grinsen. Ferid Heider nimmt es

schnell ab. Einmal hatte ein Imam in der

Nur-Moschee nach seiner Predigt das Mikro

mit aufs Klo genommen; live lauschten 200

Brüder über die Lautsprecher mit.

An der Garderobe räuspert sich zaghaft

ein Teenager, er schaut seinen Imam

unsicher an. „Mein Vater will meiner

Schwester die Heirat verbieten. Darf er

das?“ Die Frage zieht sofort drei, vier

Zuhörer an. Scheich Ferid setzt sich noch

einmal auf den Teppich. „Ja, er darf Veto

einlegen. Aber nur mit einer islamischen

Begründung.“ Klar, zwischen Frauen und

Männern herrsche im Islam

Gleichberechtigung, „aber nicht mit

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identischen Rechten, sondern angepasst an

die Natur“. Er drechselt jetzt jedes

Wort. „Der Mann hat wegen seiner

körperlichen Stärke mehr

Führungskompetenzen. In der Familie soll

er im Zweifel das letzte Wort haben.“ Die

Jungs sind ganz Ohr.

Was hat denn Muskelkraft mit

Erziehungskompetenz zu tun?

„Frauen sind in der Regel emotionaler,

und Männer agieren eher rational.“

Steht das im Koran?

„Das sagt mir meine Erfahrung.“ Er

fragt: „Ist immer alles, was altmodisch

ist, schlecht?“ Es klingt trotzig.

In den folgenden Monaten macht sich

Serkan rar. Er wechselt zweimal die

Handynummer, beantwortet keine Mails.

Dann plötzlich ein Anruf. „Komm am

Sonntag in die Nur-Moschee. Da gibt es

ein Mega-Event.“ Serkan ist ein

Organisator. Einer, der Kongresse und

Seminare in der fundamentalistischen

Szene ganz Deutschlands zusammenstellt.

Einer, der in seiner Freizeit islamisch

netzwerkt. Durchs Land fährt, Brüder

mobilisiert, Predigern lauscht.

Mal gehen er und seine Freunde zu

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Ferid Heider, für den Islam und Moderne

nicht im Widerspruch zueinander stehen –

auch wenn er in kumpelhaftem Ton die

Regeln vergangener Zeitalter bemüht. Mal

zu Abdul Adhim Qammous, der ruft und

singt und schreit bei seinen Predigten

vor Begeisterung; den evangelikalen

Predigern im US-Fernsehen nicht

unähnlich. Oder sie ziehen zu Nasr al-

Isa, der redet ihnen zwar ein wenig dröge

und monoton, gilt aber als besonders

streng. Und manchmal treffen all diese

Strömungen des Neofundamentalismus

zusammen, wie an diesem Sonntag.

Aus ganz Deutschland sind sie

gekommen. Vor der Nur-Moschee stauen sich

Autos mit Kennzeichen aus Hamburg,

Stuttgart und München. Serkan hat einen

Star in die Moschee geladen: Loon, einen

US-Rapper, der stand früher mit Puff

Diddy auf der Bühne und nennt sich heute

Amir Junaid. Er soll Zeugnis ablegen, wie

er zum Islam kam, wie aus einem Bad Boy

ein Good Boy wurde. In der Moschee

drängeln sich viele Dutzend junger

Männer, draußen warten Fernsehkameras auf

Loon. „Ex-Rapper will Hass in Berlin

predigen“, titelt eine Boulevardzeitung

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heute. Stickig ist es im Saal. Vor drei

Tagen wurden zwei junge Männer aus einer

Weddinger Moschee festgenommen, sie

sollen an einer Bombe gebastelt haben.

Einer von ihnen war früher Schüler bei

Ferid Heider gewesen, dann kehrte er sich

von ihm ab und ein in eine andere Welt.

Grüßte ihn kaum und suchte den Bruch,

weil er in ihm keinen richtigen Muslim

mehr sah.

Gleich hinterm Eingang sitzen Rahim

und Abd al-Hadi, mit gespannten

Gesichtszügen lauschen sie den Vorwürfen

eines hochgewachsenen Jungen in langem

Gewand. „Wie könnt ihr bloß Jura

studieren?“, schimpft der. „Das ist

verboten. Für uns gilt nur das islamische

Recht.“ Rahim stöhnt. „Nun lass mal die

Moschee im Dorf. Auch Muslime brauchen

einen Rechtsvertrag, und in Deutschland

sind das die Gesetze. Wir kennen doch

auch nichts anderes.“ Der Junge schüttelt

den Kopf, zieht weiter. „Immer diese

Takfiris“, murmelt Rahim. „Sie sind aber

trotzdem Brüder.“ Takfiris erklären

andere zu Ungläubigen, sie sind die

Inquisitoren des radikalen Islams.

Nebenan redet ein roter Lockenkopf auf

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einen Teenager ein, zum ersten Mal ist

der in einer Moschee, „ich wollte mir das

mal anschauen“, sagt er schüchtern. „Hey,

ich krieg nicht genug vom Beten“,

schwärmt der Hausherr, einen

Ministaubsauger in der Hand. „Davon

kriegst du den Geschmack vom Paradies.

Was hält dich davon ab, jetzt zum Islam

zu konvertieren?“ Rahim grinst. „Der hat

es aber eilig.“ Er beugt sich vor. So sei

es bei ihm auch gewesen. Serkan habe ihn

beim ersten Moscheebesuch abgefangen,

„zugetextet hat der mich, ich sollte

sofort die Schahada sprechen“.

Serkan selbst ruht auf seinen

Hinterbeinen in der Saalmitte. Wie

erstarrt sitzt er da, den Blick im

Nirgendwo. Duft von Brathähnchen zieht

von der Küche her, erwartungsvoll wandern

viele umher, schütteln Hände, klopfen

sich auf die Schulter. Sie schauen

entschlossen und weise, als wüssten sie,

was anderen verborgen bleibt. Sie

strahlen Antworten aus, keine Fragen.

Doch Serkans Gesicht wirkt fahl, er weiß

mehr als sie. Er schaut noch einmal auf

die SMS in seinem Handy: Loon hat spontan

abgesagt, das Flugzeug in seiner neuen

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Heimat Kairo nach Berlin gar nicht

genommen. „Man hat ihm gesagt, die

Prediger in Deutschland seien auf dem

falschen Weg“, murmelt Serkan. „Wir seien

ihm zu tolerant und zu offen für andere

Meinungen.“ In einer Halle würde er

auftreten, aber in keiner Moschee.

Serkans Schultern hängen schlaff, wie

ein Boxer, den ein Punch aus unvermuteter

Richtung traf. Schon einmal hatte es ihn

so hingehauen, vor ein paar Wochen, hatte

sein Blick ihn weggetragen. Damals hatte

er geflüstert, nur der Islam sei der Weg

zum Paradies. Es klang flehend.

„Manchmal, in der U-Bahn mit den vielen

Leuten ohne den richtigen Glauben, da

wird mir traurig.“ Wenn die so bleiben,

wie sie sind. Und ihr Zug im Paradies nie

ankommt.

Fein gemacht hatte sich Serkan heute,

seine schwarze Stoffhose angezogen, und

das gestreifte Hemd mit einem Kragen so

weiß wie der eines Priesters. Wer hat nun

die Wahrheit auf seiner Seite, Gott?

Serkan reißt sich hoch, „ich muss mal

telefonieren“. Und geht raus.

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