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Studienbereich C – Sozialer Wandel und Sozialisationstheorien Prof. Dr. Renate Nestvogel 34 4 Sozialisation in der Familie 4.1 Familienformen/-typen (Geschichte, Gegenwart/international) Die Familie spielt in allen Kulturen eine wichtige, normalerweise die wichtigste Rolle in der Phase der Kindheit und in unterschiedlichen Ausmaßen in späteren Lebensphasen. Was als Familie definiert, wie Familienleben gestaltet wird, welche sozialisatorischen und gesellschaftlichen Funktionen sie hat, weist allerdings in den verschiedenen Gesellschaften, interkulturell wie auch intrakulturell sowie im historischen Verlauf, eine große Variabilität auf. In Industrieländern hat sich in den letzten gut 100 Jahren v. a. die zwei Generationen umfassende Kern- oder Kleinfamilie (Eltern/Kind/er) herausgebildet. Sie wurde in Europa vom Bürgertum ausgeformt und als Ideal durchgesetzt. Bis in die 1950er und 1960er Jahre hinein war sie als Leitbild in Deutschland besonders weit verbreitet, doch in den 1970er Jahren zeigten sich bereits Auflösungserscheinungen bzw. Pluralisierungstendenzen. Neben der Kernfamilie bildeten sich die Teilfamilie/ segmentierte Familie oder Alleinerzieherfamilie (mit nur einem Elternteil, meistens der Mutter und den Kindern) heraus sowie weitere Variationen, z.B. die Zweitfamilie, nichteheliche Lebensgemeinschaften oder sog. Patchwork-Familien (früher: Stieffamilien) (vgl. Macha 1997: 19, Kramer 2006: 205). Zwar hat es schon immer verschiedene Familienformen gegeben: „Neu ist aber der gesellschaftliche Grad an Legitimität und Anerkennung diesen Familienformen gegenüber“ (Kramer, ebd.). Ebenso ist zu unterscheiden zwischen „kulturellen Leitbildern und empirischer Realität von Familien“ (Huinink/Konietzka 2007: 24). Ein Blick in die Geschichte zeigt, dass Familien weltweit v. a. als Großfamilien organisiert waren: "Aus älteren Kulturen ist einerseits die Groß-F. (familia) des römischen und griechischen Raumes, auch in China, bekannt - eine patriarchalisch organisierte Hausgemeinschaft, zu der über die engeren Blutsverwandten hinaus auch Sklaven, Leibeigene, das Gesinde, Diener und Lehrlinge zählten, andererseits die Sippen-F. (gentes) des german. Raumes, bestehend aus einem blutsverwandtschaftlich organisierten dörflichen System von Paarehen und Klein-F.n. Ein Zwang zur Monogamie bestand für den Mann in diesen F.typen nicht" (Milhoffer/Pöggeler 1977: 298). In eher geschlechteregalitären/geschlechtssymmetrischen Gesellschaften gab/gibt es auch sozial-ökonomische Familieneinheiten mit weiblichen Haushaltsvorständen und matrilinearen Erbfolgen, in denen für Frauen kein Zwang zur Monogamie bestand (vgl. Lenz/Luig, Hg. 1990). Allgemein werden hierunter Gesellschaften gefasst, „in denen Gleichheit als eine gleichheitliche Verteilung von Macht und sozialen Chancen zwischen den erwachsenen Mitgliedern […] verstanden [wird]“. Kulturell definierte Unterschiede zwischen den Geschlechtern wurden dabei nicht zum „Ausgangspunkt von Ungleichheit und Unterordnung“ (Lenz 2002: 29).

05 Sozialisation in der Familie Stand04 - uni-due.de · In all diesen in den Sozial- und Erziehungswissenschaften gebräuchlichen Definitionen sind Voraussetzungen, Prämissen, enthalten,

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4 Sozialisation in der Familie

4.1 Familienformen/-typen (Geschichte, Gegenwart/international) Die Familie spielt in allen Kulturen eine wichtige, normalerweise die wichtigste Rolle in der Phase der Kindheit und in unterschiedlichen Ausmaßen in späteren Lebensphasen. Was als Familie definiert, wie Familienleben gestaltet wird, welche sozialisatorischen und gesellschaftlichen Funktionen sie hat, weist allerdings in den verschiedenen Gesellschaften, interkulturell wie auch intrakulturell sowie im historischen Verlauf, eine große Variabilität auf.

In Industrieländern hat sich in den letzten gut 100 Jahren v. a. die zwei Generationen umfassende Kern- oder Kleinfamilie (Eltern/Kind/er) herausgebildet. Sie wurde in Europa vom Bürgertum ausgeformt und als Ideal durchgesetzt. Bis in die 1950er und 1960er Jahre hinein war sie als Leitbild in Deutschland besonders weit verbreitet, doch in den 1970er Jahren zeigten sich bereits Auflösungserscheinungen bzw. Pluralisierungstendenzen. Neben der Kernfamilie bildeten sich die Teilfamilie/ segmentierte Familie oder Alleinerzieherfamilie (mit nur einem Elternteil, meistens der Mutter und den Kindern) heraus sowie weitere Variationen, z.B. die Zweitfamilie, nichteheliche Lebensgemeinschaften oder sog. Patchwork-Familien (früher: Stieffamilien) (vgl. Macha 1997: 19, Kramer 2006: 205). Zwar hat es schon immer verschiedene Familienformen gegeben: „Neu ist aber der gesellschaftliche Grad an Legitimität und Anerkennung diesen Familienformen gegenüber“ (Kramer, ebd.). Ebenso ist zu unterscheiden zwischen „kulturellen Leitbildern und empirischer Realität von Familien“ (Huinink/Konietzka 2007: 24).

Ein Blick in die Geschichte zeigt, dass Familien weltweit v. a. als Großfamilien organisiert waren: "Aus älteren Kulturen ist einerseits die Groß-F. (familia) des römischen und griechischen Raumes, auch in China, bekannt - eine patriarchalisch organisierte Hausgemeinschaft, zu der über die engeren Blutsverwandten hinaus auch Sklaven, Leibeigene, das Gesinde, Diener und Lehrlinge zählten, andererseits die Sippen-F. (gentes) des german. Raumes, bestehend aus einem blutsverwandtschaftlich organisierten dörflichen System von Paarehen und Klein-F.n. Ein Zwang zur Monogamie bestand für den Mann in diesen F.typen nicht" (Milhoffer/Pöggeler 1977: 298).

In eher geschlechteregalitären/geschlechtssymmetrischen Gesellschaften gab/gibt es auch sozial-ökonomische Familieneinheiten mit weiblichen Haushaltsvorständen und matrilinearen Erbfolgen, in denen für Frauen kein Zwang zur Monogamie bestand (vgl. Lenz/Luig, Hg. 1990). Allgemein werden hierunter Gesellschaften gefasst, „in denen Gleichheit als eine gleichheitliche Verteilung von Macht und sozialen Chancen zwischen den erwachsenen Mitgliedern […] verstanden [wird]“. Kulturell definierte Unterschiede zwischen den Geschlechtern wurden dabei nicht zum „Ausgangspunkt von Ungleichheit und Unterordnung“ (Lenz 2002: 29).

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Großfamilien im Sinne von Gruppen "von Blutsverwandten in mehreren Generationsschichten" (Weber-Kellermann 1974: 12) stellen vor allem im landwirtschaftlichen, handwerklichen und kaufmännischen Bereich eine "wirtschaftlich bedingte Sozialform" (ebd.) dar. In Industrieländern finden sie sich heutzutage seltener als in Ländern des Südens, wo sie in verschiedenen Variationen bis heute verbreitet sind, insbesondere in sog. kollektivistischen Kulturen (die sich - graduell – von individualistischen Kulturen unterscheiden; vgl. Thomas 1993: 394f). Großfamilien existieren aber nicht nur traditionsbedingt. Auch Modernisierungs- und Marginalisierungsprozesse können Großfamilien fördern, weil sie unter Armutsbedingungen, bei kriegerischen Konflikten, Flucht und Migration Lebenschancen sichern helfen.

Zusammenfassend: Wenn Familien untersucht werden, so konzentriert man sich normalerweise auf die sog. Haushaltsfamilie, bei der historisch mindestens fünf Formen unterschieden werden können: „1. die Zwei-Generationen-Familie oder Kernfamilie […]; 2. die Mehrgenerationenfamilie oder Abstammungsfamilie als Familienhaushalt, in dem mehr als zwei Generationen zusammenleben; 3. die erweiterte Familie, in der neben der Kernfamilie weitere Verwandte leben; 4. die polynukleare oder multifokale Familie als Haushalt, im dem mehrere Kernfamilien zusammenleben; 5. das „Ganze Haus“ als Haushalt, in dem neben der Kernfamilie nicht verwandte Personen (Mägde, Knechte und Gesinde) leben“ (Huinink/Konietzka 2007: 25f).

Darüber hinaus können sich Familien im weiteren Sinne über mehrere Haushalte erstrecken. So können verschiedene Generationen in jeweils getrennten Haushalten leben, auch an verschiedenen Orten, aber trotzdem in enger Kommunikation und Interaktion zueinander stehen und “ein relativ eng aufeinander abgestimmtes Familienleben über räumliche Distanzen hinweg“ (ebd.: 26) praktizieren. Solche Familien werden „multilokale Mehrgenerationenfamilien“ genannt (ebd.)

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4.2 Definitionen zur Familie Bei der Lektüre von Studien zum Thema Familie fällt auf, dass der Begriff sehr unterschiedlich und manchmal auch gar nicht definiert wird.

Im „Wörterbuch der Pädagogik“ von 1977 wird Familie z.B. „verstanden als dauerhafte Organisierung blutsverwandtschaftlicher bzw. Eltern-Kind-Beziehungen zum Zwecke gemeinschaftlicher Lebens- und Arterhaltung“.

In „Pädagogische Grundbegriffe“ von 1989 wird auf eine Definition von 1973 rekurriert, derzufolge von Familie die Rede sein kann, wenn „wenigstens zwei gegengeschlechtliche psychosozial erwachsene Menschen eine weitere Generation produzieren und mindestens so erziehen, dass diese nächste Generation‘ psychosozial erwachsen werden kann“ (Mollenhauer 1989: 605).

Macha (1997: 19) postuliert als allgemeinste Definition: „Wann immer sich Erwachsene Kindern annehmen und sie dauerhaft erziehen und diese Verantwortung staatlich anerkannt ist, bilden sie eine Familie.“

Im „Wörterbuch Erziehungswissenschaft“ von 2006 wird mit Familie „das nicht berufsförmige Zusammenleben von über Ehe bzw. Partnerschaft und Verwandtschaft bzw. Nachkommenschaft verbundenen Personen, also eine private Lebensform von Eltern und ihren Kindern“ bezeichnet (Kramer, in: Krüger/Grunert, Hg. 2006: 202).

In all diesen in den Sozial- und Erziehungswissenschaften gebräuchlichen Definitionen sind Voraussetzungen, Prämissen, enthalten, die den Begriff Familie einschränken. (Was wird ausgegrenzt?)

Eine sehr weite Definition erhält der Familienbegriff in statistischen Erhebungen: Im Kinder- und Jugendbericht der Landesregierung NRW (2000: 44) ist die statistische Erhebungseinheit der Privathaushalt. Familien werden als „Personengemeinschaften innerhalb von Privathaushalten definiert, die im Wesentlichen durch - Ehe oder - Abstammung bzw. - das Sorgerecht miteinander verbunden sind.“ Im Einzelnen handelt es sich um - alle Ehepaare (mit oder ohne ledige Kinder im Haushalt), - allein stehende (d.h. ledige, verheiratet getrennt lebende, geschiedene oder verwitwete)

Mütter und Väter, die mit ihren ledigen Kindern im gleichen Haushalt leben (Alleinerziehende),

- alle nichtehelichen Lebensgemeinschaften mit Kind/ern sowie - geschiedene oder verwitwete Alleinlebende (sog. Restfamilien) (ebd.).

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4.3 Merkmale heutiger Familien in Deutschland Der Wandel in den Familienformen erfolgte im Rahmen eines sozialen Wandels hin zu einer demokratischen, kapitalistischen, liberalen, pluralistischen und individualistischen etc. Gesellschaftsformation (siehe Kapitel 1), die u. a. Folgendes mit sich brachte: - eine Wertepluralisierung stellte die Ehe als Bund fürs Leben ebenso in Frage wie die

patriarchalisch organisierte Familie, - im Rahmen der Demokratisierung haben sich die Geschlechterrollen in den letzten

Jahrzehnten hin zu mehr Gleichberechtigung gewandelt, - zunehmende weibliche Erwerbsarbeit ermöglichte eine größere ökonomische

Unabhängigkeit, soziale, geographische und berufliche Mobilität kann zu Auflösungserscheinungen der Familie führen,

- die Heiratsneigung ist gesunken, das Heiratsalter gestiegen, desgl. das Alter bei der Geburt des ersten Kindes,

- Scheidungsraten haben zugenommen, - die Anzahl nicht-ehelicher Lebensgemeinschaften ist gestiegen (Wegfall des

Kuppeleiparagraphen 1973), - die Kinderzahl pro Paar hat abgenommen, - Generationen- und Geschlechterbeziehungen haben sich informalisiert („Verschiebung

von Machtbalancen zwischen Eltern und Kindern“, „Entwicklung von Aushandlungshaushalten zwischen den Generationen“; Busse/Helsper 2004: 442; „von der Unterordnung zum Gegenüber“; Münchmeier 1997; „vom Befehls- zum Verhandlungshaushalt“; „Enthierarchisierung des Eltern-Kind-Verhältnisses“ vgl. Walper 2004: 219).

Neben Familien als häufigster Lebensform haben Ein-Personen-Haushalte zugenommen. So gab es 1998 in NRW - 8,2 Mio Privathaushalte, davon - 5,3 Mio Familien - = Ehepaare (82%), - = Alleinerziehende, davon 20% männlich und 80% weiblich (16%), - = nichteheliche Lebensgemeinschaften (2% der Familien mit Kindern unter 18 Jahren)

(Kinder- und Jugendbericht der Landesregierung NRW (2000: 44).

Es wird geschätzt, dass auch in Zukunft Ein- oder Zweipersonenhaushalte aufgrund von steigender Lebenserwartung, niedrigen Geburtenraten, Partnerschaften mit getrennten Haushalten und beruflicher Mobilität zunehmen.

Die Situation von Familien in NRW wird im Sozialbericht NRW 2007 (S. 255) wie folgt beschrieben: „Im Jahr 2005 lebten insgesamt 2 Millionen Familien mit Kindern unter 18 Jahren in Nordrhein-Westfalen. Bei der Mehrheit handelt es sich um Ehepaare mit minderjährigen

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Kindern (78,8%). 16% der Familien sind Ein-Eltern-Familien und bei 5,2% handelt es sich um nicht eheliche Lebensgemeinschaften, in denen minderjährige Kinder aufwachsen.1 Die Zahl der Ehepaare mit minderjährigen Kindern ist rückläufig. Die Zahl der nicht ehelichen Lebensgemeinschaften mit Kindern und die Zahl der Ein-Eltern-Familien haben dagegen im Vergleich zu 1996 deutlich zugenommen. Über die Hälfte (53,7%) der Ehepaare mit Kindern entscheiden sich für mehr als ein Kind. Im Gegensatz dazu lebt in den nicht ehelichen Lebensgemeinschaften sowie bei den Alleinerziehenden überwiegend nur ein Kind (68,4 % bzw. 64.4 %).“

Entgegen verbreiteter Annahmen verdeutlichen die Zahlen, dass die Mehrheit der Kinder bei beiden Elternteilen und überwiegend mit einem weiteren Geschwister aufwächst. Hinter den Durchschnittsangaben können sich allerdings beträchtliche regionale sowie Stadt-Land-Unterschiede verbergen. Auch im Lebenslauf kann es zu unterschiedlichen Familienmustern kommen.

Ca. 30% aller Kinder in Deutschland stammen aus Familien mit Migrationshintergrund. In NRW lebten 2005 über 4 Millionen Personen mit Migrationshintergrund (22,4% der Bevölkerung): „Dieser Personenkreis umfasst neben den 1,93 Millionen Ausländerinnen und Ausländern (ohne deutschen Pass) auch Aussiedlerinnen und Aussiedler, Eingebürgerte, sofern sie selbst zugewandert sind, sowie Kinder, deren Eltern einen Migrationstatus haben“ (Sozialbericht NRW 2007, Zusammenfassung, S. 27f).2 Um 2010 wird etwa die Hälfte aller Kinder in NRW-Städten mit über 100.000 Einwohnern einen Migrationshintergrund aufweisen.

Generell beziehen sich die bisherigen Ausführungen zur Familie selbstverständlich auch auf Familien mit Migrationshintergrund. Graduell gibt es kleinere Abweichungen von der Durchschnittsfamilie in Deutschland, indem die Anzahl der Kinder sowie die Familiengröße über dem Durchschnitt liegt, sich aber im Laufe der Generationen der „Norm“ des Aufnahmelandes anpasst.

Oft bestehen unter Deutschen stereotype Vorstellungen von der Einheitlichkeit ausländischer/türkischer Eltern. De facto sind Migrantenfamilien in Deutschland sehr heterogen, und sie stammen auch nicht aus homogenen Kulturen (ebenso wenig wie es die deutsche Kultur gibt, gibt es die türkische oder italienische Kultur). Je nach Bildungsstand, sozialer Schichtzugehörigkeit, geographischer Herkunft (Stadt/Land), Familiensituation, Sozialisationserfahrungen etc. ist das Erziehungsverhalten sehr unterschiedlich. Abgesehen davon kann man nicht unterstellen, dass Migrantenfamilien einfach ihre Erziehungsvorstellungen aus der Herkunftskultur mitbringen und auf hiesige Verhältnisse übertragen, wie das in der deutschen Mehrheitsgesellschaft oft gedacht wird. Vielmehr

1 Von den ca. 3,3 Millionen Kindern und Jugendlichen im Alter von unter 18 Jahren in NRW (bei einer Gesamtbevölkerung von ca. 18 Millionen!) leben 81,2% in einer ehelichen, 4,4% in einer nicht ehelichen Lebensgemeinschaft und 13,9% bei einem allein erziehenden Elternteil (Sozialbericht NRW 2007, Zusammenfassung: 24). 2 Einem Kind wird dann ein Migrationshintergrund zugesprochen, wenn mindestens ein Elternteil im Ausland geboren wurde.

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entstehen vielfältige neue Muster aus mitgebrachten kulturellen Wahrnehmungs-, Deutungs- und Handlungsmustern sowie dem Umgang mit hiesigen Lebensbedingungen. Diese Muster können von Anpassung bis hin zur Rückbesinnung reichen und sind auch Reaktionen auf Zuschreibungen, die MigrantInnen hier erfahren.

Türkischen Eltern3 wird oft ein autoritäres Verhalten nachgesagt, was aber nicht der Fall sein muss. Soweit dies zutrifft, kann es mit einer sehr liebevollen Behütung verbunden sein, die bei deutschen autoritären Eltern oft nicht gegeben ist. Auch ein planend-kontrollierendes Verhalten ist nicht primär als einengend zu verstehen, sondern kann Kinder vor Unsicherheiten schützen, ihre Zukunft sichern und Abwertungen auffangen. Im inneren, privaten Bereich gibt es häufig eine geschlechtsspezifische Arbeitsteilung, die evtl. Benachteiligungen für Mädchen mit sich bringt. Im äußeren schulischen Bereich finden beide Geschlechter oft die gleiche Unterstützung, d.h., türkische Eltern wünschen auch für ihre Töchter einen möglichst hohen Bildungsabschluss (vgl. BFSFJ 2000, Boos-Nünning/Karakasoglu 2005, Otyakmaz 2007).

4.4 Sozialstrukturelle Faktoren Sozialstrukturelle Faktoren (hier die soziale Herkunft; vgl. Bourdieu) werden im Folgenden bezogen auf die Armutsforschung in Deutschland diskutiert. Unter sozialisatorischen Gesichtspunkten interessieren hier insbesondere die psychosozialen Folgen von Armut im Kindes- und Jugendalter.

Zunächst ist festzuhalten, dass Deutschland im internationalen Vergleich ein reiches Land ist und zu den reichsten Ländern Europas und der Welt gehört. Allerdings sind Einkommen und Wohlstand in der deutschen Gesellschaft sehr ungleich verteilt, und der Abstand zwischen den Vermögen reicher Haushalte zu den übrigen ist in den letzten Jahren gestiegen. Armut wird in Deutschland „zumeist nicht als ‚absolute Armut’, also als Fehlen des zum Überleben Notwendigen, sondern als ‚relative Armut’ verstanden“ (vgl. BFSFJ 2002: 138). Relative Armut bezieht sich auf die Ungleichheit der Lebensbedingungen und die Ausgrenzung von einem gesellschaftlich als Minimum akzeptierten Lebensstandard (Sozialbericht NRW 2007, Zusammenfassung: 7). Sie wird auch als Armutsrisiko oder –gefährdung bezeichnet. Die Armutsgrenze wird bei 50% des gewichteten durchschnittlichen Haushaltseinkommens festgelegt und die Reichtumsgrenze bei 200% desselben (BFSFJ 2002: 139).

Zu den primär gefährdeten Bevölkerungsgruppen zählen solche, die von Erwerbslosigkeit betroffen sind, eine geringe Qualifikation aufweisen, viele Kinder zu versorgen haben, Alleinerziehende sowie MigrantInnen (ca. 30% von ihnen).

Der Ansatz, der als Bemessungsgrundlage für Armut nur die finanziellen Ressourcen (Einkommen, Vermögen) verwendet, wird Ressourcenansatz genannt. Daneben gibt es noch

3 Im 10. Kinder- und Jugendbericht des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BFSFJ) (1998) wird exemplarisch auf türkische Familien eingegangen, die neben den AussiedlerInnen die größte zugewanderte Gruppe stellen und 2 Mio. der knapp 82 Mio. Menschen in Deutschland ausmachen.

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den Lebenslagen-Ansatz, der darüber hinaus auch „Faktoren wie Wohnsituation, schulische und berufliche Ausbildung, soziale Kontakte, Gesundheit und subjektives Wohlbefinden einbezieht“ (ebd.: 142).

Nach dem Ressourcenansatz gelten 14% aller Kinder in Deutschland als arm. Jedes sechste Kind unter sieben Jahren lebt von Sozialhilfe (FR 16.11.2007, nach dem Kinderreport 2007 des Kinderhilfswerks). In NRW lebt fast jedes vierte Kind unter 18 Jahren in einem einkommensarmen Haushalt (Sozialbericht NRW 2007: 10) und jedes dritte ausländische Kind unter 15 Jahren von Hartz IV, in Gelsenkirchen oder Köln sogar jedes zweite (FR, ebd.).

In den folgenden Zitaten kommt der Lebenslagen-Ansatz zum Ausdruck: „Viele Kinder im Ruhrgebiet wachsen in steigendem Maße in Armut, häufig auch in gescheiterten Familien auf, die meisten von ihnen in ‚armen’ Stadtvierteln (im sog. Westviertel von Essen leben z.B. ein Drittel aller Kinder unter sechs Jahren von der Sozialhilfe). Der Anteil der Armutsbevölkerung im Ruhrgebiet ist um 20 bis 30% höher als sonst im Land NRW. Etwa jedes fünfte Kind ist nicht deutscher Nationalität, nicht eingerechnet die jungen Aussiedler, die als deutsche Staatsangehörige der deutschen Sprache nicht mächtig sind. Arbeitslosigkeit und Lehrstellenmangel, Nichtteilhabe am öffentlichen Leben und soziale Ausgrenzung, gescheiterte Familien, Resignation und möglicherweise Gewalt und Vernachlässigung werden als alltäglich und normal erlebt“ (Kunze 2000: 3). „In den armen Vierteln seien Vorsorgeuntersuchungen und Impfungen seltener, der TV-Konsum höher, die Gespräche mit den Eltern kürzer“ (FR, ebd.).

Die hier geschilderten Tatbestände sollen nicht verharmlost werden, dürfen aber auch nicht dahingehend interpretiert werden, dass Kinder/Jugendliche, die unter Armutsbedingungen aufwachsen, zwangsläufig psychosozial geschädigt werden/sein müssen. Die Armutsforschung erfolgte zunächst aus einer solchen Defizitperspektive. Also: Was können, was haben, was wissen Jugendliche nicht, die unter armutsbelastenden Bedingungen aufwachsen? Die Frage sollte aber anders lauten: Müssen Kinder/Jugendliche, die unter Armutsbedingungen aufwachsen, zwangsläufig psychosozial geschädigt werden/sein? Damit wird der Blick geöffnet für differenzielle (unterschiedliche) Entwicklungsverläufe von Kindern und Jugendlichen, die unter ähnlichen ökonomischen/materiellen Bedingungen aufwachsen.

In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, ob es neben Belastungs- und Risikofaktoren auch Schutzfaktoren gibt. Diese Frage ist insofern wichtig, als das „Konzept der Risikofaktoren vor allem zu einer Strategie des Vermeidens und Kompensierens von nachteiligen Bedingungen geführt hat“, während mit der „Vorstellung der Schutzfaktoren das Aufsuchen und Bewahren von entwicklungsfördernden und stabilisierenden Elementen hervorgehoben“ (Merten 2003: 137) wird. Damit wird eine einseitige Defizit- und Opferperspektive verlassen, die „die Kompetenzen von Kindern und Jugendlichen zur Bewältigung ihrer Lebenssituation unterbelichtet oder gar ausblendet“ (ebd.).

Eine kindbezogene Armutsforschung, die das Kind als Akteur „in seinen prekären Lebensverhältnissen wahrnimmt und (be)achtet“ (ebd.), ohne die Risikofaktoren zu verharmlosen, entspricht auch dem heutigen Sozialisationsverständnis, demzufolge sich das

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Individuum aktiv mit seiner Umwelt auseinander setzt. Allerdings geht es nicht nur um das handlungsfähige Subjekt, sondern auch um seine Einbettung in einen familiären Zusammenhalt und um das Maß wechselseitiger Unterstützung. Forschungen zufolge stellte sich die Beziehungs- und Konfliktlösungskompetenz sowie die wechselseitige Unterstützung der Familienmitglieder untereinander „als der zentrale Schutzfaktor für einen der Krisensituation angemessenen Umgang miteinander heraus“ (Elder 2000, nach Grundmann 2006: 163). Darüber hinaus geht es, in Anlehnung an Bronfenbrenner, um den gesamten Kontext der Mikrosysteme, in die ein Individuum direkt eingebunden ist (oder sein könnte), also auch um soziale Netzwerke, Nachbarschaft und Institutionen (z.B. die Schule).

Eine Tabelle von Lange, Lauterbach und Becker (in: Butterwegge/Klindt, Hg. 2003: 169) gibt eine Übersicht über Risiko- und Schutzfaktoren und wird in der Vorlesung unter der Frage diskutiert, welche Anregungen sie für Lehrkräfte enthält, um SchülerInnen zu fördern.

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4.5 Einfluss der eigenen Erziehungserfahrungen auf das spätere Erzieherverhalten Anhand einiger Ergebnisse aus der Bindungsforschung (attachment research)4 soll im Folgenden der Frage nachgegangen werden, inwiefern erzieherische Verhältnisse von den Erfahrungen beeinflusst sind, die Erwachsene selbst als Kind gemacht haben.

Bildlich gesprochen steht „der Erzieher vor zwei Kindern: dem zu erziehenden vor ihm und dem verdrängten in ihm. Er kann gar nicht anders, als jenes zu behandeln wie er dieses erlebte“ (Siegfried Bernfeld: Sisyphos oder die Grenzen der Erziehung. 1967: 140f; zitiert nach Göppel 1995: 785).

In der Wissenschaft werden hierzu zwei Thesen diskutiert: - Das menschliche Schicksal ist durch frühkindliche Erfahrungen vorgeformt. - Frühkindliche Erfahrungen haben keine nachhaltige persönlichkeitsprägende Kraft.

Welche Position vertreten Sie?

Die Bindungsforschung hat versucht, über empirisch abgesicherte Untersuchungen die eine oder die andere These zu erhärten.

Das methodische Setting war die sog. „fremde Situation“ (= standardisierte Testsituation: kurze Trennung der 1-1,5jährigen von ihrer Bezugsperson und Beobachtung der Reaktion bei der späteren Wiedervereinigung; Göppel 1995: 789). Hierbei ließen sich drei kindliche Reaktionsmuster unterscheiden, die etwas über die Beziehung Vater/Mutter – Kind aussagen. Die Reaktionsmuster des Kindes wurden als: - Sicher (B) - unsicher-vermeidend (A) - unsicher ambivalent (C) klassifiziert (ebd.)

Unabhängig davon wurde das Merkmal mütterlicher Feinfühligkeit über Interaktionsbeobachtungen im natürlichen häuslichen Lebensraum ermittelt.

Die Hälfte bis zwei Drittel der 1-1,5jährigen zeigten eine sichere Beziehung zur Mutter oder zu einer anderen primären Bezugsperson. Longitudinalstudien ergaben, dass die Beziehungen auch Jahre später noch ähnlich waren. Die Beziehung zwischen Eltern und sicher gebundenen Kindern (B) war harmonisch und vertrauensvoll; Gespräche waren flüssiger und wechselseitiger. Im Kindergarten waren solche Kinder selbständiger und unabhängiger von einer Anleitung. Sie spielten phantasievoller, konzentrierter, planvoller, emphatischer und sozial kompetenter und waren beliebter bei anderen Kindern. Im Alter von 10 und 11 Jahren waren solche Kinder aktiver, initiativer, selbständiger, kooperativer, kamen besser mit komplexen Gruppensituationen zurecht und bildeten intensivere Freundschaften (ebd.: 790).

4 Begründet wurde sie von Bowlby und Ainsworth

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(A) und (C) entwickeln nicht mit Sicherheit Entwicklungsstörungen, aber sie haben ein erhöhtes Risiko bzgl. Selbstwert und Sozialkompetenzen.

25% der 10-13jährigen nennen ernste Konflikte und Kommunikationsstörungen im Elternhaus (Bundesministerium für Familie… 1998: 28).

Die Bindungsforschung geht davon aus, dass die Bindungsthematik (Erikson u.a.: Urvertrauen), die am unmittelbarsten direkt am Kleinkind beobachtbar ist, auch für später von Bedeutung ist, z.B. hinsichtlich - der Entwicklung von Selbst- und Fremdbildern, - generalisierter Vorstellungen von der Verlässlichkeit der Welt, - der Vertrauenswürdigkeit der Mitmenschen, - der Bedeutung enger persönlicher Beziehungen, - des eigenen Selbstwertgefühls, - der eigenen Fähigkeit, mit Problemen und Herausforderungen fertig zu werden, - der basalen Überzeugung, der Zuwendung anderer wert zu sein (Göppel 1995: 791).

Deshalb wurden auch Forschungen zur Bindungssicherheit von Erwachsenen durchgeführt. Dabei wurden drei Reaktionstypen ermittelt: (F) a/b: Autonomous (D): Dismissing (E): Preoccupied

(F) a/b: haben eine große Bewusstheit bezüglich der eigenen Vergangenheit, und zwar sowohl in negativer als auch in positiver Hinsicht. Sie präsentierten entweder ein glaubhaftes Bild von einer stabilen und verlässlichen frühkindlichen Beziehungssituation oder berichteten von schlimmen Erfahrungen in einer Weise, dass deutlich wurde, dass sie sich damit auseinander gesetzt haben (keine Selbsttäuschung). Sie konnten die Angewiesenheit auf andere Menschen anerkennen und Mängel an Perfektion bei sich und den Eltern akzeptieren (ebd.).

(D): Dismissing (bagatellisierend, abwehrend): Personen, die dieser Kategorie zugeordnet wurden, hatten wenige Erinnerungen an ihre Kindheit; negative Erfahrungen wurden tendenziell eher geleugnet, Kritik und offene Auseinandersetzung vermieden. Es war keine kritische Aufarbeitung der eigenen Kindheit erkennbar. Die Berichte waren stark von Abwehr gekennzeichnet sowie von indirekten Hinweisen, die auf Vernachlässigung, Zurücksetzung, Abwertung, Beschämung oder Lächerlichmachen schließen lassen. Häufig wurden die Eltern idealisiert. Die eigene Stärke und Unabhängigkeit wurden betont und Prügel als angemessen, als verdient oder heilsam (hat nicht geschadet) dargestellt. D.h., es waren Tendenzen zur Normalisierung, Billigung oder Irrelevanzerklärung von negativen Erfahrungen erkennbar (ebd.: 792).

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(E): Preoccupied (besorgt):

Diese Kategorie umfasst Personen, die noch sehr in familiäre Beziehungskonflikte der Kindheit verwickelt waren. Das äußerte sich in langen, konfusen, sprunghaften Gesprächen sowie in Hinweisen auf prekäre Rollen oder traumatische Erfahrungen durch Verlust oder Missbrauch. Betroffene schienen in ungeklärter, verworrener psychischer Verfassung. Bezüglich ihrer Eltern äußerten sie Enttäuschung, Ressentiments, Ärger und die Sehnsucht, doch noch angenommen zu werden (ebd.).

Nimmt man diese Personen als Eltern, so stellt sich die Frage, welche Gruppe wohl am ehesten Kinder haben wird, die ein sicheres Bindungsverhalten zeigen. Selbst in 3-Generationen-Untersuchungen ergaben sich in 65% der Fälle die gleichen Klassifikationen. Des Weiteren wurden solche Personen genauer untersucht, bei denen keine Übereinstimmungen vorlagen, d.h. wo die Mutter vielleicht schwierige Lebenserfahrungen, ein unsicheres Bindungsverhalten hatte, aber ihr Kind ein sicheres Bindungsverhalten aufwies. In all diesen Fällen stellte sich heraus, dass es mehr hilfreiche Beziehungen zu anderen Personen, also verlässliche Bezugspersonen gab. Ein Drittel dieser Mütter hatte sich einer Psychotherapie unterzogen, und außerdem waren die Partnerbeziehungen besser (intakter, stabiler) (ebd.: 795).

Im Ergebnis hat sich also herausgestellt, dass „weniger die konkreten Umstände und Erfahrungen aus der Kindheit der Eltern entscheiden, welche Macht später die ‚Geister‘ in der Erziehung der eigenen Kinder bekommen, als vielmehr die Art und Weise der psychischen Verarbeitung dieser Erfahrungen“ (Göppel 1995: 793). Was im Elternhaus erworben wurde, kann leicht im späteren Alter wiederholt werden: Problematische Kinder können zu problematischen Erwachsenen werden, die wiederum problematische Kinder haben. Dies muss aber nicht so sein, die Kette kann – unter bestimmten Bedingungen – durchbrochen werden. Im Rückblick vom Jugendlichen auf das Kind lässt sich vieles erklären, aber nicht umgekehrt als Prognose vom Kind zum Erwachsenen.

Von einem problematischen Elternhaus muss also kein Wiederholungszwang ausgehen, eine benachteiligte soziale Lage muss keine lebenslangen Schädigungen nach sich ziehen, wenn es hilfreiche andere Beziehungen gibt. Folgende Maßnahmen wären dabei denkbar: - positive Beziehungserfahrungen anbieten - Schule (LehrerInnen): Wertschätzung, Respekt für die Person von der Kritik am

(problematischen) Verhalten trennen; Grenzen aufzeigen - Kinder- und Jugendarbeit - Unterstützung durch weitere Netzwerke - Verständnisvolle Partner - Therapie - selbstreflexiv-biographische Form der (Eltern-) Bildung.

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Differenziert wurde die Bindungsforschung dahingehend, dass - das Umfeld genauer untersucht wurde, also nicht nur die Vater-Mutter-Kind-Beziehungen

(sozialökologisches Entwicklungsmodell) - mehr die Gegenseitigkeit (Reziprozität), d.h. die Beziehungsqualität und nicht nur der

Einfluss der Eltern auf das Kind untersucht wurde - und, damit zusammenhängend, der Erziehungsstil im Elternhaus (Gerris/Grundmann

2002: 7).

4.6 Erziehungsstile In der empirischen Erziehungsforschung wird ein „Zusammenhang zwischen Sozialisations- bzw. Erziehungspraktiken und der kindlichen Entwicklung“ (Gerris/Grundmann 2002: 10) gesehen, der als Indikator für Sozialisationserfolg gilt. Die Erziehungsstilforschung geht auf Diana Baumrind (1971) zurück, die den Zusammenhang von elterlichem Verhalten (parenting style) und der Entwicklung von Kindern untersuchte. Aufbauend auf den Kategorien Unterstützung (responsiveness) und Anspruchsetzung (demandingness) ermittelte sie vier Erziehungsstile, die elterliche Erziehungsziele und –praktiken erfassen: autoritär, autoritativ, permissiv (indulgent) und gleichgültig/indifferent (uninvolved).

Der autoritäre Erziehungsstil ist durch einen hohen Grad an Anspruchsetzung und wenig Unterstützung, m.a.W. durch emotionale Strenge und Kälte gekennzeichnet. „Autoritäre Eltern lassen ihren Kindern nur wenige Freiräume, setzen kaum positive Verstärkung ein und bestrafen ihre Kinder bei Fehlverhalten stark“ (Otyakmaz 2007: 69). Der autoritative Erziehungsstil zeichnet sich durch einen hohen Grad sowohl an Unterstützung als auch an Anspruchsetzung aus, d.h., autoritative Eltern „verknüpfen klare und entwicklungsangemessene Regeln und Anforderungen mit emotionaler Wärme“ (ebd.). Der permissive Erziehungsstil ist eine Kombination aus Unterstützung und geringer Anspruchsetzung, der Kindern große Freiräume lässt, einen hohen Grad an Nachsichtigkeit aufweist und Konfrontationen vermeidet. Der indifferente Erziehungsstil betrifft ein elterliches Verhalten, das geringe Unterstützung mit geringer Anspruchsetzung verknüpft, d.h. Kindern wenig Anleitung und Aushandeln anbietet und sie weitgehend ohne Orientierung/Grenzen aufwachsen lässt.

Als erfolgreich wird eine Sozialisation erachtet, wenn sie zur Entwicklung eines sozial kompetenten Verhaltens, von Selbstvertrauen und Normbewusstsein führt (Gerris/Grundmann 2002:10). Diese Persönlichkeitsmerkmale stehen in engem Zusammenhang mit „unterstützenden und gleichzeitig lenkenden Erziehungspraktiken“ (ebd.), die auch demokratisch-autoritativ genannt werden. In einer longitudinalen Studie (Langzeitstudie) wurde nachgewiesen, dass „ein autoritatives Erziehungsmuster (gemessen über eine Kombination von Akzeptanz und Unterstützung, Aushandeln von Interessen und Entfaltungsmöglichkeiten der Person) einen positiven Einfluss auf Lernerfolg und Schulorientierung sowie negative Auswirkungen auf Delinquenz hat.

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Ein autoritäres Erziehungsmuster dagegen (das über eine Kombination von wenig Unterstützung, geringer Akzeptanz und Wärme und einem Übermaß restriktiver Kontrolle gemessen wurde), zeigte niedrige Schulergebnisse und eine höhere Delinquenzrate“ (ebd.: 11; Markierungen R.N.).5

Ein weiterer Erziehungsstil, der inkonsistente Erziehungsstil, bezeichnet ein elterliches Verhalten, bei dem sich autoritäres Verhalten und Nachgiebigkeit oder Gleichgültigkeit abwechseln.

Neuere Untersuchungen machen auf den Wandel von Erziehungsstilen in Migrantenfamilien aufmerksam und weisen ebenfalls darauf hin, dass sie, in Abhängigkeit von verschiedenen Faktoren, sehr vielfältig sind: „Das Erziehungsverhalten der Eltern in Einwandererfamilien enthält sowohl autoritär-bestimmende wie auch zärtlich-behütende Elemente und ist nur im Kontext der Minoritätenlebenslage erklärbar. Dies gilt auch für Aussiedler und Aussiedlerinnen, [die] […] einer so genannten ‚kontrollierenden’ Erziehungseinstellung (unter der autoritär-bestimmende Verhaltensweisen mit erfasst sind) stark zu[stimmen], […] aber zugleich den eher dem westlichen Kontext zuzuordnenden Stil der Permissivität (Nachgiebigkeit) [befürworten]“ (Herwartz-Emden 1997, zitiert nach Boos-Nünning/Karakasoglu 2005: 101). Befragt nach der Art der elterlichen Erziehung gaben 1% der befragten Mädchen und Frauen mit Migrationshintergrund (Aussiedlerinnen, Griechinnen, Italienerinnen, Jugoslawinnen und Türkinnen) an, die Erziehung sei zu streng, 7% empfinden sie als streng (Türkinnen: 6%), 59% als streng, aber liebevoll (T: 53%), 31% als locker (T: 38%) und 2% als zu locker (T: 2%) (Boos-Nünning/Karakasoglu 2005: 113).

4.7 Familie als (Sub-)System: Einbindung in das Strukturmodell der Sozialisationsbedingungen Die Familie hat Funktionen im Rahmen der Gesellschaft und für das Individuum. D.h., Familie als Sozialisationsinstanz kann aus verschiedenen Perspektiven betrachtet werden: aus einer gesellschaftlichen/institutionellen, aus einer innerfamilialen sowie aus der Perspektive eines jeden Familienmitglieds.

Zunächst die gesellschaftliche Perspektive: Formen und Funktionen der Familie hängen von Entwicklungen innerhalb der Gesellschaft ab. Ein Beispiel: In Gesellschaften, in denen es keine staatliche Altersversorgung gibt und die Kinder für die Eltern aufkommen müssen, wenn sie erwachsen sind, hat Familie

5 Die Konzepte, auf denen diese Ergebnisse basieren, lassen sich nicht auf alle Gesellschaften übertragen. So stellte Chao (2001) „in einer Vergleichsstudie fest, dass chinesisch-amerikanische Jugendliche im Schnitt nicht nur über bessere Schulleistungen verfügten als anglo-amerikanische Jugendliche, sondern dass ihre Schulleistung auch unabhängig war vom autoritativen oder autoritären Erziehungsstil der Eltern, während anglo-amerikanische Jugendliche mit autoritativen Eltern besser abschnitten als diejenigen mit autoritären Eltern“ (Otyakmaz 2007:71). Ebenso ist in manchen Kulturen ein autoritärer Erziehungsstil nicht mit emotionaler Kälte, individueller Schuldzuweisung etc. verbunden, sondern mit behütender Fürsorglichkeit (zu differenzierten Ausführungen hierzu vgl. Otyakmaz, ebd.: 73f).

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umfassendere und z.T. andere Funktionen als in solchen, in denen der Staat über Renten dafür aufkommt und Kinder weniger eine ökonomische als eine emotionale Funktion für die Familie haben. Das gleiche gilt für Bildung oder Gesundheit: Je geringer der Grad einer institutionalisierten Bildungs- oder Gesundheitsversorgung, desto höher die Verantwortung der Familie, ihre Nachkommen selbst zu schulen und auszubilden sowie sich um die Gesundheit der einzelnen Familienmitglieder zu kümmern.

Gesellschaftliche Rahmenbedingungen, ökonomische, politische, soziale, technologische Entwicklungen einer Gesellschaft, nehmen Einfluss auf die Familie, z. B. durch qualitative und quantitative Veränderungen auf dem Arbeitsmarkt (zu-/abnehmende Arbeitslosigkeit, Arbeitsplatz-(Un)Sicherheit, Zunahme/Rückgang des materiellen Wohlstands für Teile der Bevölkerung oder der Zwang/die Chance zur beruflichen Mobilität). Diese Faktoren haben unterschiedliche Auswirkungen auf die Familie; sie können zu einem größeren Zusammenhalt, aber auch zur Auflösung von Familien führen und ebenso deren Gründung fördern oder behindern. An Gesetzen und der Familienpolitik eines Staates lässt sich ablesen, welche Bedeutung der Familie für die Stabilität der Gesellschaft beigemessen wird: - Steuerliche Vergünstigungen für Familien - Anrechnung der Kindererziehungszeiten auf die Renten von Frauen - Kindergeld, Erziehungsgeld, Elterngeld, - Kindergartenplätze für alle Kinder, - Kinder- und Jugendhilfemaßnahmen etc.

Ebenso stellt sich die Frage, welchen Einfluss Familien auf die Gesellschaft haben. - Bei einer zurückgehenden Geburtenrate reagiert der Staat vielleicht mit Anreizen fürs

Kinderkriegen (s.o.). - Die Auflösung von Kernfamilien und die Entstehung neuer Familienmuster erzeugen

einen Druck auf den Staat, letztere politisch und gesetzlich anzuerkennen. - Wenn Eltern ihrer Fürsorgepflicht, Erziehungsverantwortung nicht nachkommen

(können), müssen Institutionen eingerichtet werden, die Eltern in ihren Aufgaben unterstützen (Beratung, Betreuung von Kindern/Familien, Ganztagsschulen etc.).

- Familien wiederum können sich für oder gegen Ganztagsschulen oder ein einheitliches Bildungssystem für die ersten 8 Schuljahre aussprechen oder am mehrgliedrigen Schulsystem festhalten (und damit Einfluss auf die Politik ausüben).

Aus einer strukturfunktionalistischen Sicht (Parsons) ist Familie ein Subsystem der Gesellschaft, das bestimmte Rollen, Aufgaben und Funktionen für die Aufrechterhaltung des Gesamtsystems wahrzunehmen hat (Fortpflanzung, Kindererziehung, Verinnerlichung von gesellschaftlich wünschenswerten Normen und Werten durch eine entsprechende Erziehung im Elternhaus etc.). Den gesamtgesellschaftlichen Interessen entsprechend wäre das Subsystem Familie wiederum z.B. über Gesetze, Bildungseinrichtungen etc. zu beeinflussen.

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Theorien der Individualisierung oder der gesellschaftlichen Differenzierung finden u.a. Anwendung, um Ursachen für die „Pluralisierung der Lebensformen und für die Deinstitutionalisierung des bürgerlichen Ehe- und Familienmusters“ zu ermitteln (vgl. die Ausführungen von Peukert 2002: 311ff).

Sozialökologische Sozialisationskonzepte (s. u.) fragen eher danach, welche Art von Sozialisation in der Familie in Auseinandersetzung mit der jeweils gegebenen Umwelt stattfindet und was förderliche Bedingungen für den Einzelnen sind. In diesem Zusammenhang stellt sich auch die Frage nach dem Einfluss von Institutionen (z.B. Schule) auf die Familie sowie dem Einfluss der Familie auf die Schule (Interesse/Desinteresse der Familie am schulischen Geschehen) sowie den daraus hervorgehenden Sozialisationsbedingungen für das Individuum (vgl. hierzu Kramer/Helsper/Busse 1997; Busse/Helsper 2004). Gerris/Grundmann (2002: 4) schreiben hierzu: „Es ist eine Besonderheit des sozialökologischen Modells, dass Familienbeziehungen nicht isoliert, sondern multiperspektivisch, eben aus der Sicht aller Betroffenen, und als Teil einer sozialstrukturell hochgradig differenzierten sozialen Umwelt analysiert werden. [...] So informieren die sozialen, kulturellen und ökonomischen Ressourcen der Familie, die sozialen Netzwerke, Lebensstile und Erziehungsvorstellungen der Eltern über die Möglichkeiten der sozialen Lebensführung und über Risiken der Beziehungsgestaltung.“ Nestmann (1997) nennt dies „Familie als soziales Netzwerk und Familie im sozialen Netzwerk“.

Aus einer Binnenperspektive ist Familie – auch als System betrachtet - "ein lebendiger, sich beständig wandelnder Komplex aus einzelnen Mitgliedern, die in einem Austausch stehen und sich dadurch weiterentwickeln" (Macha 1997: 16f). Die Familie hat eine zentrale Bedeutung v.a. für jüngere Familienmitglieder. Sie wirkt quasi als lebenslagenspezifischer Umweltvermittler (s. Strukturmodell). - Wo ist die Familie im sozialen Raum verortet? (vgl. Bourdieu) - Welche soziale Rolle, welchen Status nimmt sie in der Gesellschaft ein? - Wie sehen Vater und Mutter die Gesellschaft? - Welche Einstellungen haben sie zu Schule, Medien, Erwerbstätigkeit? - Wie gestalten sie ihre Freizeit? - Lesen sie Bücher? Welche Bücher, Zeitungen lesen sie? Bilden sie sich weiter oder nicht?

Schlagen sie, wenn sie etwas nicht wissen, in Lexika nach oder ermuntern sie ihre Kinder dazu?

- Wie gestalten sie ihren Tagesablauf? - Was erwarten sie von ihren Kindern bezüglich Einstellungen und Verhaltensweisen? - Werden Kindern „gute“ oder „schlechte“ Gewohnheiten anerzogen/vorgelebt? - Welche Normen und Werte vertreten die Eltern? - Wie gestalten sich die Interaktionen zwischen Eltern und Kindern? - Welchen Erziehungsstil praktizieren sie? - Welche Bildung erhalten Kinder in der Familie? In den Begriffen von Bourdieu: Über

welches ökonomische, soziale und kulturelle Kapital verfügt die Familie, und was vermittelt sie wie ihren Kindern?

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Die jeweilige Qualität und der Zuschnitt der im Elternhaus vermittelten Kompetenzen erweisen sich als folgewirksam für den außerfamiliaren Handlungsbereich (Hurrelmann 1995: 243). Die These, dass das, was sich in der Familie abspielt, Auswirkungen auf den außerfamiliaren Handlungsbereich hat, wird in der neueren Sozialisationsforschung zur Familie aufgegriffen. Diese Familienforschung geht davon aus, dass „die konkreten Reziprozitäts6- und Beziehungserfahrungen in der Familie [...] ein idealtypisches Beziehungskonzept bereit[stellen], das auf alle weiteren Beziehungen übertragen wird und sich im Laufe des Lebens zu einem allgemeinen Beziehungskonzept verfestigt“ (Gerris, Grundmann 2002: 4).

Diese Ausführungen knüpfen konzeptuell an die Prämissen der bereits skizzierten Armutsforschung wie auch der Bindungsforschung an, indem das Individuum ebenso wie die Familie nicht als isolierte Einheit betrachtet wird, wie dies oft in alltagstheoretischen Vorstellungen der Fall ist, sondern als Bestandteil seiner jeweiligen Umwelt.

6 Reziprozität wird definiert als sinnhaftes, aufeinander bezogenes Handeln von Akteuren (ebd.: 3), wobei sich die Art der Reziprozität im Lebenslauf verändert.