60

1$$ )0 ,$ 1$$ ) ++- ) # · c Einheitliche Auslegung im Vorsorge- und im Steuerrecht ... Rechtssicherheit und Treu und Glauben13. Gesetzmässigkeit und Regelhaftigkeit schützen

Embed Size (px)

Citation preview

Separatdruck aus

Nrn. 1 und 2 | 2014

Martin Müller | Paul Müller-Wittwer

Einkauf und Kapitalbezug nach Art. 79b Abs. 3 Satz 1 BVG – konsolidierte Betrachtung zulasten oder zugunsten der versicherten Person?

Anregungen zur Methode der Rechtsanwendung im Vorsorge- und Steuerrecht

mmberatung ag Seilerstrasse 4Postfach3011 Bern

Tel. +41 (0)31 385 8000Fax +41 (0)31 385 [email protected]

EINKAUF UND KAPITALBEZUG

Separatdruck aus

Nrn. 1 und 2 | 2014

Martin Müller | Paul Müller-Wittwer

Einkauf und Kapitalbezug nach Art. 79b Abs. 3 Satz 1 BVG – konsolidierte Betrachtung zulasten oder zugunsten der versicherten Person?

Anregungen zur Methode der Rechtsanwendung im Vorsorge- und Steuerrecht

mmberatung ag Seilerstrasse 4Postfach3011 Bern

Tel. +41 (0)31 385 8000Fax +41 (0)31 385 [email protected]

EINKAUF UND KAPITALBEZUG

Martin MüllerBücherexperte VSB eidg. dipl. Steuerexperte Geschäftsleiter mmberatung ag

Paul Müller-Wittwer*Rechtsanwalt eidg. dipl. Steuerexperte Konsulent mmberatung ag

* Für die sehr wertvolle kritische Durchsicht dieses Arti-kels wird Frau Mirjam Amann, selbstständige Rechts -anwältin (CH/FL, Vaduz) und Vorsitzende der Liechten-steinischen Datenschutzkommission, gedankt.

EINKAUF UND KAPITALBEZUG

Einkauf und Kapitalbezug nach Art. 79b Abs. 3 Satz 1 BVG – konsolidierte Betrachtung zulasten oder zugunsten der versicherten Person?

Anregungen zur Methode der Rechtsanwendung im Vorsorge- und Steuerrecht

Sonderdruck Seite 4

EINKAUF UND KAPITALBEZUG

Inhaltsverzeichnis Teil 1

A Einleitung

B Ausgangsfall

C Fragen

D Ermittlung der einschlägigen Norm

I Vorbemerkung

II Vorsorgerechtlich 1 Recht auf Einkauf 2 Recht auf Kapitalbezug

III Steuerrechtlich 1 Abzug des Einkaufs 2 Sondersteuer bei Kapitalbezug

IV Der klare und der mögliche Wortsinn von Art. 79b Abs. 3 Satz 1 BVG

1 Grundsatz 2 Rechtliche Bedeutung des klaren Wortsinns a Bundesgericht b Zweck schriftlicher Gesetze:

«Government by law and not by men» c Gesetzmässigkeit

(Normstufe und Normdichte) d Publikation von Gesetzen und

Nichtrückwirkung e Ermittlung des klaren Wortsinns f Schlussfolgerungen 3 Umsetzung dieser Grundsätze

im vorliegenden Fall a Einkauf b Daraus resultierende Leistungen c Rückzug aus der Vorsorge d Innerhalb der nächsten drei Jahre e Kapitalform f Verbot g Ergebnis

E Überprüfung der normativen Grundlagen

Inhaltsverzeichnis Teil 2

F Auslegung im engeren Sinn

I Bisherige Fallbeurteilung 1 Wille des historischen Gesetzgebers 2 Bundesamt für Sozialversicherung 3 Urteil Bundesgericht 2C_658/2009 a Sachverhalt b Erwägungen c Beurteilung des Ausgangsfalles 4 Kantonale Gerichte 5 Schweizerische Steuerkonferenz 6 Kantonale Steuerverwaltungen 7 Lehre

II Anhaltspunkte aus dem Gesetz

1 Grammatikalische Auslegung 2 Systematische Auslegung

(äussere Systematik) a Systematische Einordnung b Art. 60c BVV 2

III Zweck des Gesetzes 1 Grundsatz 2 Meinung Bundesgericht 3 Zweck gemäss dem historischen Gesetzgeber a Erleichterung der Einkäufe contra

Verhinderung echter Missbräuche b Eigene Missbrauchsvorschrift, keine

Fortsetzung der Steuerumgehungspraxis des Bundesgerichts

c Einheitliche Auslegung im Vorsorge- und im Steuerrecht

d Förderung der beruflichen Vorsorge bis zum Zeitpunkt der Pensionierung

e Zweck im Fall des WEF-Vorbezugs f Schlussfolgerung 4 Gesetzliche Interessenbeurteilung

Sonderdruck Seite 5

EINKAUF UND KAPITALBEZUG

IV Sachliche Angemessenheit 1 Gesetzliche Interessenbeurteilung als

Ausgangspunkt 2 Vergleich der Fördermassnahmen der

beruflichen Vorsorge 3 Fördermassnahmen und Rechtsgleichheit a Vorüberlegung b Planungsunsicherheit c Planänderungen d Einkommenssteigerungen 4 Weitere Argumente zu konsistenten

Wertentscheidungen a Minimaler Anspruch auf Kapitalbezug

gemäss Art. 37 Abs. 2 BVG b Einkauf und Weiterarbeit nach Alter 64/65 c Einkauf und privilegierte Liquidations -

gewinnbesteuerung 5 Gibt es Fälle, wo die Leistung in Kapitalform

entgegen dem Verbot erfolgen muss? a Grundsatz b WEF-Vorbezug c Barauszahlung d Freizügigkeitspolicen und -konten e Vorsorgeeinrichtungen mit Altersleistun-

gen ausschliesslich in Kapitalform f Angemessene Sanktion 6 Ein Vergleich zu den Lösungen von

öffentlich-rechtlichen Angestellten 7 Praktikabilität 8 Abwägung zwischen Praktikabilität und

Konsolidierung zugunsten der versicherten Person

9 Ergebnis

V Rangordnung

G Ausnahmsweise richterliche Gesetzesergänzung

H Lösung zum Ausgangsfall

Fachliteratur

A Einleitung

Mit der Auslegung von Art. 79b Abs. 3 Satz 1 BVG haben sich Lehre, Verwaltungspraxis und Rechtsprechung bereits eingehend befasst1.

Vorliegend wird der Frage nachgegangen, wie Art. 79b Abs. 3 Satz 1 BVG aus vorsorge- und steuerrechtlicher Sicht anzuwenden ist, wenn eine Person einen Einkauf in eine Vor-sorgeeinrichtung (A) tätigt und innert drei Jahren eine Leistung in Kapitalform aus ei-ner anderen Vorsorgeeinrichtung (B) be-zieht2.

Ziel des Artikels ist, Anregungen zur Methode der Rechtsanwendung im Vorsorge- und Steuerrecht zu geben3.

B Ausgangsfall

Zur besseren Verständlichkeit soll der in Abbil-dung 1 dargestellte Ausgangsfall dienen4.

1 Vgl. z. B. Maute/Steiner/Rufener/Lang, S. 166 – 180, v. a. S. 173 ff.; Schneider, Kommentar zu Art. 79b BVG; Wenger, S. 130 – 136; Moser, S. 20 – 23; Leuch/Kästli, N 40 zu Art. 48 StG; Richner/Frei/Kaufmann/Meuter, N 80 f. zu § 31 StG; Züger, TREX, S. 208 – 212; Henners/Baumgartner, S. 129 – 136; Wäfler-Meier/ Zampieri, S. 374 – 386; Blöchliger, S. 92 – 117.

2 Stand der Bearbeitung: 30. September 2013.3 Im Steuerrecht gilt keine Sondermethode, vgl. Höhn/Wald -

burger, Band I, § 5 N 21; Locher, S. 25; Reich, § 6 N 5.4 Es handelt sich um einen typischen Fall. Vgl. auch

Hinweise in FN 110.

Sonderdruck Seite 6

EINKAUF UND KAPITALBEZUG

Abbildung 1: AusgangsfallDaten berufliche Vorsorge

Vorsorgeeinrichtung A B

Person Meier Meier

Wohnort Gemeinde Y Gemeinde Y

Geburtsdatum 01.01.1950 01.01.1950

Pensionierung 31.01.2015 31.01.2015

Restlebenserwartung nach Pensionierung 20 20

Einkaufszeitpunkt 31.12.2014

Einkauf 100 000

Altersguthaben bei Pensionierung 600 000 500 000

davon BVG-Anteil 300 000 0

Umwandlungssatz effektiv 6,800% n/a

Altersleistungen aus Einkauf

Rente nach Reglement 6800

Kapital

Altersleistungen total

Altersrente 40 800 n/a

Kapital n/a 500 000

Steuerdaten

steuerbares Einkommen vor Einkauf 200 000

steuerbares Einkommen nach Einkauf (?) 100 000

Grenzsteuersatz Einkommen 40%

Grenzsteuersatz Vermögen 0,5%

Steuerbares Einkommen bei Pensionierung 75 000

Grenzsteuersatz Zusatzrente bzw. Sondersteuer 25% (?) 10%

C Fragen

Es stellen sich die nachfolgenden Fragen:(1.) Kann Meier sich per 31. Dezember 2014

in die Vorsorgeeinrichtung A mit CHF 100 000.– einkaufen?

(2.) Kann der Einkauf von CHF 100 000.– in die Vorsorgeeinrichtung A bei der Berechnung des steuerbaren Einkommens im Jahr 2014 abgezogen werden?

(3.) Kann das Altersguthaben von CHF 500 000.– aus der Vorsorgeeinrichtung B per 1. Februar 2015 in Kapitalform bezogen werden?

(4.) Wird diese Kapitalleistung von CHF 500 000.– separat mit einer reduzier-ten Sondersteuer belastet?

D Ermittlung der einschlägigen Norm

I VorbemerkungZur Lösung der Fragen im Ausgangsfall sind zu-erst die möglicherweise anwendbaren Normen zu ermitteln und in ein logisches System von Haupt- und Nebennormen zu gliedern. Mögli-cherweise anwendbar ist eine Norm, wenn der

Sonderdruck Seite 7

EINKAUF UND KAPITALBEZUG

5 Vgl. Ott, Leitsätze, S. 23 ff., Ziff. 4.1 und 4.2.6 Vgl. ausführlich Ott, Methode, Zürich 1979, S. 210 – 216.7 Es wird aus Platzgründen darauf verzichtet, die

kantonalen Rechtsgrundlagen aufzuführen.8 In der Steuerlehre wird der Ausdruck «Tatbestand»

regelmässig als Tatbestand i. w. S. oder als Steuerobjekt verstanden, ein besonderes Element des Tatbestandes i. w. S. Vgl. z. B. Höhn/Waldburger, Band I, § 10 N 1; Locher, S. 153 und 307 – 310; Reich, § 5 N 43 – 62. Für die Methode der Rechtsanwendung ist es u. E. praktikabler, vom Tatbestand i. e. S. auszugehen, so wie er sich aus den Normen und der äusseren Systematik des konkreten Gesetzes ableiten lässt. Im Ergebnis muss dies aber ohne Auswirkung bleiben. Es handelt sich nur um Modellbau. Es besteht Modellierfreiheit. Es sind schlussendlich nicht die Modelle, sondern die Rechts-normen anzuwenden. Vgl. Haft, S. 28 – 49.

Sachverhalt wenigstens in den möglichen sprachlichen Anwendungsbereich sämtlicher Tatbestandvoraussetzungen dieser Norm fällt5.Die Rechtsfolge enthält oft auch Tatbestands-merkmale in einem weiteren Sinn, d. h. die ge-nerell-abstrakte Umschreibung von Sachverhal-ten, die zuerst ermittelt werden müssen, bevor das konkrete Ergebnis der Rechtsanwendung be-kannt ist6.

II Vorsorgerechtlich

1 Recht auf EinkaufMeier stützt sich für das Recht auf einen Ein-kauf in Vorsorgeeinrichtung A zuerst auf deren Reglement.Art. 79b Abs. 3 Satz 1 BVG scheint hier weder nach dem klaren noch möglichen Wortsinn zu einer Einschränkung dieses Rechts zu führen.

2 Recht auf KapitalbezugMeier stützt sich für das Recht auf einen Kapi-talbezug aus Vorsorgeeinrichtung B zuerst auf deren Reglement.Art. 79b Abs. 3 Satz 1 BVG schränkt das Recht auf einen Kapitalbezug für bestimmte Fälle ein.Es wird angenommen, dass Art. 79b Abs. 3 Satz 1 BVG auch in das Reglement der Vorsorgeein-richtung übernommen worden ist. Es handelt sich insoweit um eine ergänzende Norm. An-dernfalls wäre Art. 79b Abs. 3 Satz 1 BVG eine Norm höherer Stufe und an sich im Rahmen der Rechtsgültigkeitsprüfung heranzuziehen. Aus Gründen der Praktikabilität und Effizienz wird nachfolgend Art. 79b Abs. 3 Satz 1 BVG direkt der Rechtsanwendung zugrunde gelegt.

III Steuerrechtlich

1 Abzug des EinkaufsMeier möchte, dass der Einkauf im Steuerjahr 2014 bei der Berechnung des steuerbaren Ein-kommens abgezogen wird.

Die Hauptnorm mit Bezug auf das Einkommens-steuerrecht des Bundes setzt sich zusammen aus einem Tatbestand und einer Rechts folge7.Tatbestand (i. e. S.) ist die steuerliche Zugehö-rigkeit (Art. 3 – 5 DBG), kombiniert mit be-stimmten Sondernormen (z. B. Art. 8, 9 DBG)8.Rechtsfolge ist die Pflicht, Steuern auf dem Ein-kommen zu bezahlen, berechnet nach den Arti-keln 6 DBG (einschränkende Norm), Art. 36 DBG (i. V. m. den Art. 16 – 35, 37, 40 – 42 DBG) bzw. in Sonderfällen z. B. nach dem Art. 38 DBG.Im vorliegenden Fall zeigt sich, dass Art. 33 Abs. 1 Bst. d DBG eine ergänzende Norm im Rahmen der Rechtsfolge (Steuerbemessung) ist.Diese Norm verweist weiter auf «Gesetz, Statut oder Reglement». Das heisst, nun müssen alle Normen, die auf einen Einkauf im Recht der be-ruflichen Vorsorge anwendbar sein könnten, hinzugezogen werden.Art. 79b Abs. 3 Satz 1 BVG scheint hier weder nach dem klaren noch möglichen Wortsinn zu einer Einschränkung des Rechts auf Einkauf zu führen. Ein Normadressat muss grundsätzlich nicht erwarten, dass diese Bestimmung mit Bezug auf Art. 33 Abs. 1 Bst. d DBG relevant ist.

Sonderdruck Seite 8

EINKAUF UND KAPITALBEZUG

2 Rechtliche Bedeutung des klaren Wortsinns

a BundesgerichtNach der Praxis des Bundesgerichts gilt der Grundsatz, dass für die Abweichung von einem klaren Wortsinn triftige Gründe vorliegen müssen.Im Ergebnis läuft dies auf einen Vorrang des klaren Wortsinns hinaus (positive und negative Kandidaten)11.

b Zweck schriftlicher Gesetze: «Government by law and not by men»

Die zentrale Errungenschaft des Rechtsstaates ist der Grundsatz «Government by law and not by men»12.Der Grundsatz des materiellen Gesetzmässigkeits-prinzips (d. h. die Bindung an publizierte, hinrei-chend bestimmte, generell-abstrakte Rechts ätze) garantiert Rechtsgleichheit, Rechtssicherheit und Treu und Glauben13.Gesetzmässigkeit und Regelhaftigkeit schützen vor Willkür, Parteilichkeit und schwankender Gefühlsjurisprudenz durch Gerichte und Verwal-tungen. Das Urteil soll nicht von der persönli-chen, subjektiven Meinung der sich zufällig mit dem Fall befassenden Richter abhängig sein14.Ein gesteigertes Bedürfnis nach klaren Gesetzen besteht insbesondere im Bereich des Gesetzmäs-sigkeitsprinzips. Hier ist die Schranke für eine Abweichung vom klaren Wortsinn (positiver oder negativer Kandidat) eng zu ziehen15.

c Gesetzmässigkeit (Normstufe und Normdichte)

Nach der Unklarheitsregel ist eine unklare Ver-tragsbestimmung, die von einer Partei verfasst worden ist, im Zweifel zu deren Ungunsten aus-zulegen. Dies ist in herrschender Lehre und Rechtsprechung anerkannt16.Dieser Grundsatz sollte erst recht im Verhältnis zwischen Staat und Normadressat gelten.

2 Sondersteuer bei KapitalbezugMeier möchte, dass der Kapitalbezug im Steuer-jahr 2015 der Sondersteuer unterliegt.Die Hauptnorm ist immer noch die Gleiche. Im Rahmen der Steuerbemessung wird jedoch für einen Teil der Berechnungsgrundlage (Kapital-leistungen nach Art. 22 DBG) eine Sondersteuer gestützt auf Art. 38 DBG angeordnet.Dabei stellt sich die Frage, was eine Kapitalleis-tung aus Vorsorge ist und ob eine solche auch dann vorliegt, wenn eine Kapitalleistung aus der beruflichen Vorsorge in Verletzung von Normen der beruflichen Vorsorge erfolgt.Hier müssen alle Normen, die möglicherweise auf Kapitalleistungen aus Vorsorge im Recht der beruflichen Vorsorge anwendbar sind, hinzuge-zogen werden. Art. 79b Abs. 3 Satz 1 BVG könnte hier eine ergänzende Norm sein. Diese Norm schränkt das Recht auf einen Kapitalbezug für bestimmte Fälle ein.

IV Der klare und der mögliche Wortsinn von Art. 79b Abs. 3 Satz 1 BVG

1 GrundsatzBeim Versuch der Subsumtion des Sachverhalts unter einzelne Gesetzesnormen ist zunächst zu prüfen, ob der Sachverhalt9:• im klaren sprachlichen Anwendungsbereich

der Gesetzesnorm liegt (positiver Kandidat, klar anwendbar);

• ausserhalb des möglichen sprachlichen An-wendungsbereiches der Gesetzesnorm liegt (negativer Kandidat, klar nicht anwendbar);

• im möglichen sprachlichen Anwendungsbe-reich der Gesetzesnorm liegt (neutraler Kandidat, möglicherweise anwendbar).

Diese Kategorisierung ist auch als «Dreibe-reichslehre» oder «Drei-Bereiche-Modell» be-kannt10.

Sonderdruck Seite 9

EINKAUF UND KAPITALBEZUG

Der Grundsatz der Gesetzmässigkeit verlangt, dass eine Gesetzesnorm ausreichend bestimmt ist. Je wichtiger der Regelungsinhalt eines Rechtssatzes, desto höher liegen die Anforderun-gen an Normstufe und Normdichte17:• Die schwere Beschränkung bestehender

Rechte oder die Auferlegung schwerer neuer Pflichten bedürfen einer klaren und un-zweideutigen Grundlage im Gesetz selbst.

• Bei weniger schweren Beschränkungen kann eine Delegation an die Exekutive zu-lässig sein.

Aber es müssen die Delegationsgrundsätze und die Anforderungen an den Erlass und die Publi-kation von Verordnungen eingehalten werden.Art. 164 Abs. 1 BV bestimmt: «Alle wichtigen rechtsetzenden Bestimmungen sind in der Form des Bundesgesetzes zu erlassen. Dazu gehören insbesondere (…) die grundlegen-den Bestimmungen über die Rechte und Pflichten von Personen.»Art. 164 Abs. 2 BV ergänzt: «Rechtsetzungs -befugnisse können durch Bundesgesetz über-tragen werden, soweit dies nicht durch die Bundes verfassung ausgeschlossen ist.»Schliesslich ist auf Art. 127 Abs. 1 BV hinzuwei-sen: «Die Ausgestaltung der Steuern, nament-lich der Kreis der Steuerpflichtigen, der Gegen-stand der Steuer und deren Bemessung, ist in den Grundzügen im Gesetz selbst zu regeln.»

Art. 79b Abs. 3 Satz 1 BVG ist unmittelbar eine zwingende Norm des Vorsorgerechts und nur mittelbar eine Norm des Steuerrechts. Mit Bezug auf das BVG-Obligatorium handelt es sich um eine Norm des öffentlichen Rechts18. Diese Norm ist auch im BVG-Überobligatorium anwendbar (Art. 49 Abs. 2 Ziff. 24 und Art. 79a BVG). Inso-weit ist sie eine zwingende Norm des privaten Sozialversicherungsrechts19. Mit Bezug auf diese Bestimmung ist Art. 164 Abs. 1 BV massgebend20. Art. 33 Abs. 1 Bst. d und Art. 38 DBG sind hinge-gen unmittelbar Normen des Steuerrechts. Hier ist zusätzlich Art. 127 Abs. 1 BV anwendbar. Im Ausgangsfall ist diese Differenzierung im Ergeb-nis nicht ausschlaggebend.Soweit vorliegend von Interesse, gibt es zwei Ge-setzesdelegationen an den Bundesrat:• Gestützt auf Art. 182 Abs. 2 BV hat der Bun-

desrat die allgemeine Kompetenz, Vollzie-hungsverordnungen zu erlassen. Diese dür-fen grundsätzlich keine neuen Rechte und Pflichten einführen; namentlich dürfen die-se Ansprüche, die das Gesetz schafft, nicht beseitigen21.

• Gestützt auf Art. 1 Abs. 3 BVG kommt dem Bundesrat die Kompetenz zu, die Grundsät-ze der beruflichen Vorsorge zu präzisieren.

Es gibt hingegen mit Bezug auf Art. 79b Abs. 3 Satz 1 BVG und Art. 33 Abs. 1 Bst. d sowie Art. 38 DBG keine Gesetzesdelegation an die Steuerver-

17 Vgl. Tschannen/Zimmerli/Kiener, § 18, S. 88 ff.; Tschannen, § 45 N 10; vgl. auch Riklin, Schweizeri-sches Strafrecht, § 2 N 9 ff.

18 Vgl. Saner, S. 8 f. Fraglich ist, ob im BVG-Obligatorium überhaupt ein praktischer Anwendungsfall denkbar ist.

19 Weiterführend Saner, S. 61 – 70 und 180 – 182, ins -besondere S. 68.

20 Vgl. Saner, S. 133. Soweit die Rechtsnormen privates und öffentliches Sozialversicherungsrecht nicht unter-schiedlich regeln, ist die Relevanz der Unterscheidung gering. Art. 79b Abs. 3 Satz 1 BVG kann einheitlich ausgelegt werden. Vgl. Saner, S. 7 f. und 90 f. sowie 95.

21 Vgl. Tschannen, § 46 N 20. Vgl. auch Art. 199 DBG.

9 Vgl. Ott, Leitsätze, Ziff. 4.4, S. 26 ff.; vgl. auch Seiler, Praktische Rechtsanwendung, S. 52; Kramer, S. 55 ff.

10 Seiler, Praktische Rechtsanwendung, S. 86 («Dreibe-reichslehre»); Kramer, S. 60 («Drei-Bereiche-Modell»).

11 Vgl. Seiler, Praktische Rechtsanwendung, S. 53 und 86 f.12 Zitiert nach Seiler, Praktische Rechtsanwendung,

S. 100.13 Vgl. Seiler, Praktische Rechtsanwendung, S. 99.14 Vgl. Seiler, Praktische Rechtsanwendung, S. 99 f.15 Vgl. Seiler, Praktische Rechtsanwendung, S. 101.16 Vgl. Gauch/Schluep/Schmid/Rey, N 1231 – 1234; Ott,

Interpretation von Verträgen, S. 42 – 56.

Sonderdruck Seite 10

EINKAUF UND KAPITALBEZUG

waltungen oder die Gerichte. Sie haben die Pflicht, auf der Grundlage und in den Schran-ken des Rechts zu handeln (Art. 5 Abs. 1 BV)22.

d Publikation von Gesetzen und Nichtrückwirkung

Die rechtsetzenden Erlasse von Bundesbehörden müssen fünf Tage vor dem Inkrafttreten in der Amtlichen Sammlung (AS) veröffentlicht wer-den (Art. 7 Abs. 1 PublG).Rechtspflichten aus diesen Erlassen entstehen erst, wenn diese veröffentlicht worden sind (Art. 8 Abs. 1 PublG).Für Erlasse ist die in der AS gedruckte veröf -fentlichte Fassung massgebend (Art. 9 Abs. 1 PublG)23.Eine Rückwirkung verletzt grundsätzlich Treu und Glauben. Eine echte Rückwirkung ist nur ausnahmsweise zulässig, wenn diese vom Gesetz klar gewollt ist, zeitlich vernünftig beschränkt ist, keine schockierenden Ungleich-heiten bewirkt, auf triftigen Gründen beruht und nicht in wohlerworbene Rechte eingreift24.Eine echte Rückwirkung muss vom Gesetz klar gewollt sein. Es kann offensichtlich nicht genü-gen, wenn diese nur von einem Gericht klar ge-wollt ist.Sofern der Normsinn überhaupt vom klaren Wortsinn zu unterscheiden ist, dann müsste zumindest verlangt werden, dass dieser Norm-sinn, nachdem er von einer Behörde entwickelt und in sprachliche Form gegossen worden ist, auch der vorgängigen Publikationspflicht un-terliegt. Gleichzeitig wäre im Grundsatz zu ver-langen, dass der beurteilte Fall gerade nicht nach diesem neuen Normsinn, sondern nach dem bisherigen klaren Wortsinn zu beurteilen ist.Rechtsstaatlich zu fordern ist jedoch, dass der klare Wortsinn grundsätzlich auch als Norm-sinn anerkannt wird25. Andernfalls wird der Zweck des Publikationsgesetzes vereitelt.

e Ermittlung des klaren WortsinnsIn der Lehre ist umstritten, ob sich ein klarer Wortsinn überhaupt ermitteln lässt26.Gerade an Art. 79b Abs. 3 Satz 1 BVG kann ge-zeigt werden, dass diese Gesetzesnorm einen kla-ren, möglichen und nicht mehr möglichen sprachlichen Anwendungsbereich hat.Dabei geht es nicht um den klaren Sinn eines isolierten Ausdrucks, sondern um den klaren sprachlichen Sinn einer Gesetzesnorm unter Berücksichtigung der äusseren Systematik des publizierten Gesetzesrechts27.Ob die Menge der klar zu beurteilenden Sachver-halte grösser oder kleiner ist, hängt von den Normen, der äusseren Systematik und dem zu regelnden Lebensbereich ab28.Welcher Wortsinn als klar zu gelten hat, muss gestützt auf den Grundsatz von Treu und Glauben ermittelt werden. Ebenso muss nach diesem Grundsatz ermittelt werden, welcher Wortsinn noch als möglich (vertretbar) gelten kann29.Massgeblich muss die Frage sein, welchen Wort-sinn ein vernünftiger und korrekter Norm-adressat einer Norm bzw. einem Ausdruck dieser Norm klar oder zumindest noch möglicherweise zumessen würde30.Oder anders gefragt: Von welchem klaren oder zumindest möglicherweise anwendbaren Wort-sinn darf ein vernünftiger und korrekter Gesetz-geber ausgehen.Dies ist ein normativer Massstab, der sich schlussendlich durch Überlegungen der Statis-tik präzisieren liesse.Vernunft setzt auch Wissen im geregelten Le-bensbereich voraus31. Mit Bezug auf Art. 79b Abs. 3 Satz 1 BVG wird damit das Sprachver-ständnis von (vernünftigen und korrekten) Vorsorge- und Steuerberatern massgeblich sein. Dem dürfte grundsätzlich das Sprachverständ-nis von Rechtsdiensten der Vorsorgeeinrich -tungen und von Steuerbeamten, die auf Vorsor-gefragen spezialisiert sind, entsprechen.

Sonderdruck Seite 11

EINKAUF UND KAPITALBEZUG

Die sprachliche Bedeutung eines Ausdrucks ent-steht durch seinen übungsmässigen Gebrauch für bestimmte Lebenssituationen32. Diese Perso-nenkategorien haben Übung mit dem Verständ-nis von sprachlichen Ausdrücken im Bereich der Vorsorge.Umstritten ist die Frage, ob der entstehungszeit-liche oder geltungszeitliche Sprachgebrauch massgebend ist33. Die Frage kann vorliegend offen bleiben, da Art. 79b Abs. 3 Satz 1 BVG eine relativ junge Bestimmung ist und sich der Sprachgebrauch von vernünftigen und korrek-ten Normadressaten nicht geändert hat.Vorauszusetzen ist u. E. immer, dass eine Norm von den rechtsanwendenden Personen bei Erlass

korrekt nach der «Dreibereichslehre» klassifi-ziert worden ist. Wider Treu und Glauben wäre es, wenn Gerichte und Verwaltungsbehörden einer Norm bzw. einem Ausdruck einer Norm bei Erlass einen unvertretbaren Wortsinn zumessen und dann – trotz Protest in der Lehre – behaup-ten würden, ein solcher Gebrauch sei nun ver-tretbar, weil sie ihn in diesem Wortsinn verwen-den.

f SchlussfolgerungenIn der Lehre werden uneinheitlich strenge Schlussfolgerungen gezogen. Die Rechtspre-chung des Bundesgerichts ist nicht einheitlich. U. E. sind die differenzierten Schlussfolgerun-

28 Zahlreiche Beispiele finden sich bei Seiler, Praktische Rechtsanwendung, S. 38 – 42.

29 Art. 9 BV. Vgl. auch die Auslegung von Willenserklärun-gen, Verträgen und Statuten nach Treu und Glauben im Privatrecht bei Gauch/Schluep/Schmid/Rey, N 315 ff. und N 1196 ff. Hervorragend hierzu auch Ott, Inter -pretation von Verträgen, S. 42 – 56.

30 Die Figur des vernünftigen und korrekten Norm - adress aten spielt auf zwei Ebenen eine Rolle: Erstens für die eingeschränkte Frage der Feststellung der Mengen an Sachverhalten mit Bezug auf die «Dreibereichslehre». In einem ähnlichen Sinn von Kramer, S. 135 («Vertrauensargument»), beschrieben, ohne sich selber zu den hier befürworteten Konsequen-zen zu bekennen. Zweitens für die Frage, welcher Sinn einer Norm bei der Auslegung im engeren Sinn und der ausnahmswei-sen richterlichen Gesetzesergänzung zukommt. Es ist dann vom objektiven Sinn anstelle des subjektiven Sin-nes des historischen Gesetzgebers bzw. eines konkreten Rechtsanwenders als Ziel der Auslegung die Rede. In diesem zweiten Sinn wird die Figur normalerwiese, z. B. von Hausheer/Jaun, N 2.53, und Reich, § 6 N 4, verwendet.

31 Ähnlicher Gedanke bei Ott, Methode, S. 116.32 Vgl. Ott, Methode, S. 124.33 Vgl. Ott, Methode, S. 115 f.; vgl. weiter Kramer, S. 87 f.

22 Dies gilt auch insoweit, als zwingende Normen des privaten Sozialversicherungsrechts (BVG-Überobligato-rium) betroffen sind. Art. 1 Abs. 2 ZGB enthält keine Gesetzesdelegation an die Gerichte, vgl. die überzeugen-den Ausführungen von Ott, Methode in der Sackgasse, S. 42 – 45 und 127 – 136.

23 Vgl. aber Botschaft zur Änderung des Publikationsgeset-zes, BBl 2013, S. 7057 ff., mit dem Ziel, dass die elektro-nische Fassung verbindlich sein soll.

24 Vgl. Kiener/Kälin, S. 409 f.25 Vgl. ausführlich Ott, Methode in der Sackgasse,

S. 171 – 177.26 Zur Kontroverse vgl. Kramer, S. 319 – 325, mit dem

Bekenntnis, dass es ein «Drei-Bereiche-Modell» gibt und «das Kind nicht mit dem Bade ausgeschüttet» werden darf. Ein deutliches Bekenntnis zum «Drei- Bereiche-Modell» gibt es auch bei Seiler, Praktische Rechtsanwendung, S. 38 – 42 und 95 – 112, und be -sonders prägnant bei Ott, Methode in der Sackgasse, S. 36 – 42, sowie eingehend und mit überzeugender Argumentation in allen von ihm zitierten Werken.

27 Vgl. vor allem Ott, Leitsätze, S. 23 – 29, insbesondere S. 25; vgl. ähnlich auch Seiler, Praktische Rechts -anwendung, S. 39; vgl. auch Kramer, S. 180. Bei Mehrsprachigkeit der Gesetze sind alle Fassungen zu berücksichtigen. Zur Frage, in welcher Weise dies zu geschehen hat, vgl. Ott, Leitsätze, Ziff. 4.3, S. 25 sowie Anmerkungen 23 – 23a, S. 65, und ausführlicher Ott, Methode, S. 129 f.

Sonderdruck Seite 12

EINKAUF UND KAPITALBEZUG

gen, die Prof. Ott seit vielen Jahren gezogen hat und unermüdlich verteidigt, aus rechtsstaatli-chen Gründen überzeugend. Nachfolgend ori-entieren wir uns daran34.

aa Der klare Anwendungsbereich der Gesetzesnorm

Sind alle Tatbestandselemente nach ihrem im Hinblick auf den Sachverhalt klaren Wortsinn erfüllt, steht die Anwendbarkeit der Norm grundsätzlich unmittelbar fest.Von diesem Grundsatz gibt es die folgenden Aus-nahmen35:• Wenn der Sachverhalt einen ausserordent-

lichen Sonderfall darstellt, an den der Ge-setzgeber nicht unbedingt gedacht haben muss und in Bezug auf welchen es daher unsicher ist, ob ihn der Gesetzgeber in seine Regelung einbeziehen wollte.Es ist dementsprechend davon auszugehen, dass der Gesetzgeber an die ordentlichen (re-lativ gewöhnlichen) Zusatzmomente im Sachverhalt gedacht hat. Es geht nicht an, dass der Normadressat regelmässig nach den Vorstellungen des Gesetzgebers forschen muss36.Hier müsste eigentlich die Figur der Steuer-umgehung eingeordnet werden, soweit es darum geht, dass eine Steuernorm auf einen Fall nicht angewendet werden soll.

• Vervollständigung und Überprüfung der normativen Grundlagen der Gesetzesnorm (Normenergänzung, Textkritik, Behand-lung von Konkurrenzproblemen und Rechtsgültigkeitsprüfung).

bb Der unklare Anwendungsbereich der Gesetzesnorm

Ein unklarer Anwendungsbereich einer Gesetzes-norm liegt in den nachfolgenden Fällen vor37:• Worte, Ausdrücke bzw. Sätze mit verschiede-

nen Bedeutungsmöglichkeiten;• wenn der Sachverhalt einen ausserordent-

lichen Sonderfall darstellt, an den der Ge-setzgeber nicht unbedingt gedacht haben muss und in Bezug auf welchen es daher unsicher ist, ob ihn der Gesetzgeber in seine Regelung einbeziehen wollte.

Auch beim unklaren Anwendungsbereich der Gesetzesnorm ist eine Vervollständigung und Überprüfung der normativen Grundlagen der Gesetzesnorm erforderlich (Normenergänzung, Textkritik, Behandlung von Konkurrenzproble-men und Rechtsgültigkeitsprüfung). Danach ist die Gesetzesnorm auszulegen (Auslegung im engeren Sinn)38.

cc Der normfreie BereichLiegt der Sachverhalt überhaupt nicht im Rahmen der sprachlich möglichen Gesetzes -bedeutung, ist die Gesetzesnorm grundsätzlich nicht anwendbar.Von diesem Grundsatz gibt es nur eine Ausnah-me: die ausnahmsweise richterliche Gesetzeser-gänzung39.Eine solche ist im normenfreien Bereich nur ganz ausnahmsweise zulässig. Bestehen An-haltspunkte dafür, dass das Ergebnis nicht sach-lich angemessen ist, muss geprüft werden, ob besondere materielle Dringlichkeit eine rich-terliche Gesetzesergänzung erfordert. Je nach Grad der Belastung darf eine ausnahmsweise richterliche Gesetzesergänzung sogar nur im Falle eines Rechtsnotstandes erfolgen40.In weniger dringlichen Fällen ist es im Rechts-staat Sache des Gesetzgebers, eine Verbesserung vorzunehmen. Denn der Normadressat muss im normfreien Bereich aus Gründen des Vertrau-ensschutzes und der Rechtssicherheit nicht mit einer Verpflichtung etc. rechnen41.Eine richterliche Gesetzesergänzung kommt nach der Gerichtspraxis von vornherein nicht in Betracht, wenn der historische Gesetzgeber sei-nerzeit eine entsprechende Regelung ausdrück-lich oder zumindest bewusst abgelehnt hat (sog. qualifiziertes Schweigen des Gesetzgebers)42.

Sonderdruck Seite 13

EINKAUF UND KAPITALBEZUG

Aber auch bei Nichtvorhandensein eines qualifi-zierten Schweigens des Gesetzgebers bedeutet das Fehlen einer Gesetzesnorm noch nicht eine «ausfüllungsbedürftige Lücke», da die in sol-chen Fällen normalerweise zutreffende Verhal-tensfreiheit nicht normativ bestätigt werden muss43.Eine ausnahmsweise richterliche Gesetzeser-gänzung kommt u. E. vor allem unter drei ku-mulativen Voraussetzungen in Betracht44:• wenn diese eindeutig sachlich angemessen

ist;• einer Fallbeurteilung des historischen Ge-

setzgebers oder der gesetzlichen Interessen-beurteilung entspricht, zumindest beidem nicht widerspricht;

• und besondere materielle Dringlichkeit vor-liegt.

Diese Voraussetzungen müssten eigentlich für die Annahme einer Steuerumgehung erfüllt

sein, soweit es darum geht, dass eine Steuer-norm auf einen Fall angewendet werden soll, auf den diese Norm weder nach dem klaren noch möglichen Wortsinn anwendbar ist45.

3 Umsetzung dieser Grundsätze im vorliegenden Fall

Art. 79b Abs. 3 Satz 1 BVG bestimmt: «Wurden Einkäufe getätigt, so dürfen die daraus resultie-renden Leistungen innerhalb der nächsten drei Jahre nicht in Kapitalform aus der Vorsorge zu-rückgezogen werden.»Im vorliegenden Fall empfiehlt sich das folgen-de Vorgehen:• Zuerst wird diese Norm analysiert und sinn-

voll strukturiert (vgl. Abbildung 2)46.• Aus dem Vorwissen zum zu regelnden Lebens-

bereich, der Norm und der äusseren Systema-tik wird ein erster, primärer Standardfall ent-wickelt. Dies ist ein Fall, den der Gesetzgeber

39 Vgl. Ott, Leitsätze, Ziff. 4.4, S. 26 ff. Sogenannte «Lücke praeter verba legis», vgl. zum Ausdruck Kramer, S. 196 – 199.

40 Vgl. Ott, Leitsätze, Ziff. 7.2, S. 55.41 Vgl. Ott, Leitsätze, Anmerkung N 82, S. 89.42 Vgl. Ott, Leitsätze, Ziff. 7.2, S. 55.43 Vgl. Ott, Leitsätze, Anmerkung N 86, S. 91.44 Vgl. Ott, Leitsätze, Ziff. 7.2, S. 55.45 Vgl. Locher, S. 33 – 36 (Steuerumgehung generell nur

bei offenbarem Rechtsmissbrauch); Höhn/Waldburger, Band I, § 5 N 77, 78, 83 – 85 (Steuerumgehung generell nur bei offenbarem Rechtsmissbrauch). Vgl. weiter Reich, § 6 N 47 – 51, mit Kritik an der zum Teil ge -äusserten Meinung, dass die Steuerumgehung immer bereits durch eine extensive (bzw. exzessive) Auslegung erfasst werden könne.

46 Zum Vorgehen vgl. z. B. Ott, Methode, S. 108 ff.; Haft, Ju-ristisches Lernen, S. 77 ff. (Strukturbeispiele). Allenfalls wird die Norm auch mehrmals strukturiert. Entschei-dend ist aber, dass auf dieser Stufe die Norm strukturiert und nicht nach dem subjektiv gewünschten, aber nicht vorgefundenen Normsinn zurechtgebogen wird.

34 Vgl. zu den hier dargestellten Schlussfolgerungen Ott, Leitsätze, Ziff. 4.4, S. 26 ff. (mit Hinweisen auf un -einheitliche Rechtsprechung des Bundesgerichts); Ott, Juristische Methode in der Sackgasse, z. B. S. 1 – 18, 32 – 35, 231 – 239. Kramer, S. 55 – 59 und 81 – 88, wendet ebenfalls die «Dreibereichslehre» an. Für ihn ist der Wortsinn des Gesetzes das primäre und wichtigste Indiz für den Normsinn. Die Anforderungen, damit von einem klaren Wortsinn abgewichen werden kann, sind aber weniger griffig formuliert und damit im Ergebnis geringer. Ebenso sind diese Anforderungen bei Locher, S. 35, geringer. Diese Anforderungen dürften bei Höhn/Waldburger, Band I, § 5 N 29, 36, 38, 42, 47, 50, dazwischen liegen.

35 Vgl. Ott, Leitsätze, Ziff. 4.4, S. 26 ff. Sogenannte «Lücke contra verba legis», vgl. zum Ausdruck Kramer, S. 199 – 202.

36 Vgl. eingehend Ott, Methode, S. 140 – 146.37 Vgl. Ott, Leitsätze, Ziff. 4.4, S. 26 ff.38 Vgl. Ott, Leitsätze, Ziff. 4.4, S. 26 ff.

Sonderdruck Seite 14

EINKAUF UND KAPITALBEZUG

Abbildung 2: Struktur zu Art. 79b Abs. 3 Satz 1 BVGTatbestand

Nein Einkauf

Rechtsfolge

Nein daraus resultierende Leistungen

Nein Rückzug aus der Vorsorge

Nein innert 3 Jahren

Nein in Kapitalform

Verbot

(der Leistung in Kapitalform)

kein

Ver

bot

nach allgemeiner Lebenserfahrung zu 100% unter diese Norm subsumieren würde47.BeispielVerboten ist sicher der nachfolgende Fall: Eine Person hat im Alter 64 bereits ein Al-tersguthaben von CHF 1 000 000.–. Sie macht zusätzlich einen Einkauf von CHF 500 000.–, mit der Absicht, im Alter 65 (ordentliche Pensionierung) alle Leis-tungen (vereinfacht CHF 1 500 000.–) in Kapitalform zu beziehen. Diese Person darf sicher nicht das gesamte Altersgutha-ben von CHF 1 500 000.– in Kapitalform zurückziehen. Jedenfalls sofern keine aus-serordentlichen Zusatzmomente im Sach-verhalt hinzukommen.

• Mit diesem ersten Gefühl für die Norm wird anschliessend überlegt, ob die Norm auch auf den zu beurteilenden Fall sprachlich klar, möglicherweise oder klar nicht an-wendbar ist.Der Lösung nähert man sich mit der Metho-de von Norm- und Fallvarianten.

Bei jedem Begriffsmerkmal wird überlegt, welche Fälle hier sprachlich klar dazu gehö-ren, welche möglicherweise und welche klar nicht und in welche Kategorie der zu beur-teilende Fall gehört.Wenn man «stolpert», überlegt man sich, wie die Norm abgeändert werden müsste, damit die Norm auf einen Fall klar, mögli-cherweise oder klar nicht anwendbar wäre.Oder man überlegt sich, wie der Fall abge-ändert werden müsste, damit die Norm auf einen Fall klar, möglicherweise oder klar nicht anwendbar wäre.

• Auch wenn die Norm strukturiert worden ist, müssen immer wieder die Norm insgesamt und die äussere Systematik vergegenwärtigt werden. Es gibt Fragen, die sich nicht auf der Detailebene des Ausdrucks lösen lassen, sondern nur dann, wenn das Zusammen-spiel der Ausdrücke der Norm und der Nor-men unter sich vergegenwärtigt wird.

Sonderdruck Seite 15

EINKAUF UND KAPITALBEZUG

a EinkaufIm Ausgangsfall erfolgt in Vorsorgeeinrichtung A klarerweise ein Einkauf. In Vorsorgeeinrich-tung B erfolgte klarerweise kein Einkauf.

b Daraus resultierende Leistungen

aa Der klare und der mögliche Wortsinn

aaa VorbemerkungNun stellt sich im Ausgangsfall die Frage, wel-ches die aus dem Einkauf in Vorsorgeeinrich-tung A resultierenden Leistungen sind.Für jede im Vorsorge- und Steuerrecht geübte Person ist sofort klar, dass nur Leistungen aus Vorsorgeeinrichtung A Leistungen sein können, die aus dem Einkauf in Vorsorgeeinrichtung A resultieren. Dies jedenfalls so lange, als das Altersguthaben in Vorsorgeeinrichtung A nicht auf die Vorsorgeeinrichtung B übertragen wor-den ist48.Damit ist bereits klar geworden, dass Art. 79b Abs. 3 Satz 1 BVG nach seinem klaren Wortsinn auf den Ausgangsfall nicht anwendbar ist. Damit ist diese Norm grundsätzlich nicht an-wendbar.Es kann nur (aber immerhin) noch geprüft wer-den, ob die Voraussetzungen einer ausnahms-weisen richterlichen Gesetzesergänzung erfüllt sind.Zu diesem Zweck muss die Norm nicht nur mit Bezug auf die negativen Kandidaten, sondern auch die positiven und neutralen Kandidaten verstanden werden, soweit ein relevanter Bezug zum Ausgangsfall besteht. Schliesslich geht es darum, zu analysieren, ob es sich rechtfertigt, den Ausgangsfall vorsorge- und steuerrechtlich gleich zu behandeln wie Fälle, die klarerweise unter das Verbot von Art. 79b Abs. 3 Satz 1 BVG fallen49. Aus diesem Grund setzen wir die Analy-se dieser Norm fort.

bbb GrundsatzDer Normadressat versteht den Ausdruck «da-raus resultierende Leistungen» relativ eindeutig als die aus einem Einkauf konkret resultierende Leistungserhöhung. Dabei handelt es sich im Beitragsprimat grundsätzlich um den Ein-kaufsbetrag zuzüglich Zinsen50.Der Normadressat wird dementsprechend kaum Zweifel haben, dass diese Wendung, in diesem Zusammenhang verwendet, grundsätzlich so zu verstehen ist, dass eine solche Leistungserhö-hung als ein separates Guthaben gilt, das für einen Kapitalbezug während drei Jahren ge-sperrt bleibt. Dem entspricht die First In-First Out-Methode.Denn vom Verbot erfasst sind ja nur die «daraus resultierenden Leistungen» aus Einkäufen der drei letzten Jahre, nicht diejenigen Leistungen, die aus den anderen Beiträgen (inkl. Einkäufe, die mehr als drei Jahre zurückliegen) oder an-deren Gründen resultieren. Nach Treu und Glauben ist dieses Verständnis klar51.Der Wortsinn des Ausdrucks «daraus resultie-rende Leistungen» enthält jedoch einen unkla-ren Anwendungsbereich, je nachdem, ob er

47 Vgl. Haft, Juristisches Lernen, S. 113 ff. (Normalfallme-thode). Dieser Autor befasst sich allerdings nicht mit der Besonderheit des Schutzes des Normadressaten vor einer Rechtsanwendung entgegen dem klaren Wort-sinn mit Hilfe der «Dreibereichslehre». Seine Normal-fallmethode entspricht primär dem in dieser Arbeit vorgestellten Vorgehen im Zusammenhang mit der «gesetzlichen Interessenbeurteilung» und der «sach -lichen Angemessenheit».

48 Z. B. Übertragung der Austrittsleistung bei Stellenwech-sel zwischen Vorsorgeeinrichtungen (Art. 3 Abs. 1 FZG).

49 Vgl. insbesondere nachfolgend Ziff. F.III.4. Gesetzliche Interessenbeurteilung.

50 Insofern auch Urteil des Bundesgerichts vom 12. März 2010, 2C_658/2009, E. 3.3.1; vgl. Moser, S. 22, auch zur Berechnung bei Leistungsprimatplänen.

51 Ebenso z. B. Maute/Steiner/Rufener/Lang, S. 173; Wenger, S. 88 und 134.

Sonderdruck Seite 16

EINKAUF UND KAPITALBEZUG

mehr aus der Sicht einer versicherten Person oder einer Vorsorgeeinrichtung verstanden wird52.

ccc Wortsinn gemäss Sicht der Vorsorgeeinrichtung

Eine Vorsorgeeinrichtung denkt beim Ausdruck «daraus resultierende Leistungen» wohl an Guthaben, die in der technischen Buchhal-tung ausgewiesen werden.Sie wird von «daraus resultierenden Leistungen», die zurückgezogen werden, ausgehen, wenn der Kapitalbezug einem Konto belastet werden muss, auf dem in den vergangenen drei Jahren ein Einkauf erfolgt ist und wenn mehr Geld he-rausgenommen werden soll, als nach der FIFO- Methode herausgenommen werden darf.Es stellt sich die entscheidende Frage, wann im Sinne der technischen Buchhaltung ein separa-tes Konto vorliegt.Bei Vorsorgeplänen nach dem Beitragsprimat sind z. B. die nachfolgenden Angaben in Vorsor-geausweisen ersichtlich:• Austrittsleistung• davon BVG-Anteil• davon Guthaben aus Auskauf für vorzeitige

Pensionierung• davon Guthaben aus Einkauf für AHV-Über-

brückungsrente• davon Guthaben aus ÜberschüssenOb der Ausweis des BVG-Anteils53 als separates «Konto» gilt, kann verschieden interpretiert werden:• Es kann vertreten werden, der Ausweis des

BVG-Anteils sei lediglich eine Schattenrech-nung54.Das Beitragskonto gemäss Reglement erfasst sowohl das BVG-Obligatorium als auch das BVG-Überobligatorium. Nur zum Zweck der Schattenrechnung wird ein Alterskonto ge-mäss BVG geführt55.Zudem werden BVG-Beiträge bei umhüllen-den Vorsorgeplänen nicht getrennt für das

BVG-Obligatorium und das BVG-Überobli-gatorium, sondern in einem Betrag entrich-tet und sie werden im Beitragskonto gemäss Reglement einheitlich erfasst.In der kaufmännischen Buchhaltung gibt es das Konto «Sparkapital». Dieses wird wie-derum nicht danach unterteilt, ob es sich um das BVG-Obligatorium oder das BVG-Überobligatorium handelt56.In einem Reglement einer bekannten Vor-sorgeeinrichtung, das uns vorliegt, steht in Ziff. 8.1: «Das Altersguthaben wird in ei-nem Konto geführt (…). Das Altersgut -haben umfasst einen obligatorischen Teil, welcher aufgrund der gesetzlichen Min-destvorschriften berechnet wird, und ei-nen überobligatorischen Teil (…).»

• Es kann aber auch das Gegenteil vertreten werden.So wird das BVG-Überobligatorium zum Teil anders verzinst und es wird darauf zum Teil ein anderer Umwandlungssatz angewandt als mit Bezug auf das BVG-Obligatorium.Um die «daraus resultierenden Leistungen» genau berechnen zu können, ist die Zuord-nung – sofern das Reglement eine unter-schiedliche Behandlung vorsieht – an sich wichtig (es ist aber auch eine hypothetische Berechnung denkbar).Zudem existiert, wie erwähnt, der Ausdruck «Alterskonto gemäss BVG».

Es stellt sich also die Frage, ob mit Bezug auf die Auslegung von Art. 79b Abs. 3 Satz 1 BVG ein enger oder weiter Kontobegriff gilt.Der weite Kontobegriff wäre im Interesse der Normadressaten57.

ddd Wortsinn gemäss Sicht der versicherten Person

Eine versicherte Person denkt beim Ausdruck «daraus resultierende Leistungen» an die finan -zielle Grösse. Die technische Buchhaltung der Vorsorgeeinrichtung wird eher als interne Ange-

Sonderdruck Seite 17

EINKAUF UND KAPITALBEZUG

legenheit der Vorsorgeeinrichtung angesehen (materieller, nicht formeller Begriff).Die versicherte Person bezieht diese finanzielle Grösse entweder auf den Vorsorgeplan (konkre-ter Leistungsanspruch) oder versteht diese allein als reglementarisch errechneter Betrag, ohne den Bezug zu einem Vorsorgeplan her -zustellen. Die zweite Begriffsvariante wird vor allem im Zusammenspiel mit dem Ausdruck «Rückzug aus der Vorsorge» möglich. Darauf wird bei der Erörterung dieses Ausdrucks noch eingegangen.

bb Der nicht mehr mögliche Wortsinn

aaa LIFO- und DurchschnittsmethodeWenn der Einkauf und der Kapitalbezug innert drei Jahren dem gleichen Konto belastet werden, stellt sich die Frage, ob neben der FIFO-Methode vielleicht doch noch eine andere Methode ver-tretbar wäre58.U. E. ist aber nur die FIFO-Methode sprachlich nach Treu und Glauben vertretbar.

i Konto im weiteren SinnDie Last-In-First Out-Methode und die Ø-Me-thode sind u. E. nach Treu und Glauben wider-sinnig.Denn nach diesen beiden Kriterien wäre für den typischen Fall, bei dem versicherte Personen nur einer Vorsorgeeinrichtung angehören, nur in einem Vorsorgeplan versichert sind und bei denen grundsätzlich das Vorsorgeguthaben in einem Konto (i. w. S.) geführt wird, überhaupt kein Kapitalbezug innert drei Jahren seit dem Einkauf zulässig.Dies deshalb, weil mit jedem einzelnen Kapital-bezug zum Teil oder ganz gegen dieses Verbot verstossen würde. Wäre das der Sinn dieser Norm, so hätte diese nach Treu und Glauben anders formuliert werden müssen. Dies gilt ganz besonders für die LIFO-Methode59.BeispielArbeitnehmer A hat ein Altersguthaben von CHF 1 000 000.–. Davon resultieren CHF 100 000.– aus einem Einkauf vor 2 Jah-ren. Arbeitnehmer A möchte eine Leistung in

Art. 79b Abs. 3 Satz 1 BVG nicht erfasst würden (wenn eine Konsolidierung zulasten der versicherten Person nicht befürwortet wird).

58 Ähnliche Anschlussfragen stellen sich bei der Frage, nach welcher Methode die Ermittlung der Anschaf-fungs- und Herstellungskosten der Vorräte per Bilanz-stichtag vorgenommen werden soll, vgl. hierzu Treu-hand-Kammer, HWP, Band 1, Ziff. 6.10.3, S. 175 ff.

59 In der Lehre wird teilweise vertreten, dass die Ø-Methode mit dem Wortsinn gerade noch vereinbar wäre, vgl. z. B. Fenners/Baumberger, StR 2011, S. 134 (im Ergebnis aber mit sehr guter Begründung für die FIFO-Methode eintretend). Dies setzt aber voraus, dass Art. 79b Abs. 3 Satz 1 BVG vorsorgerechtlich ignoriert und nur steuer-rechtlich bei Art. 33 Abs. 1 Bst. d bzw. Art. 38 DBG an -gewendet wird. Diese Interpretation widerspricht dem klaren Wortsinn unter Berücksichtigung der äusseren Systematik.

52 Der (isoliert betrachtet) naheliegende Begriff der «Leistung» im Sinne der Erfüllungshandlung passt im Übrigen nicht wirklich. Denn mit dem Ausdruck «zurück gezogen werden» würde irgendwie das Gleiche oder Ähnliche aus einer etwas anderen Blickrichtung beschrieben.

53 Die anderen Ausweispositionen im Vorsorgeausweis sind für den Ausgangsfall nicht relevant und werden nicht weiter behandelt.

54 Davon scheint das Bundesgericht im Urteil vom 12. März 2013, 2C_658/2009, E. 3.3.1, auszugehen.

55 Vgl. Carlen/Gianini/Riniker, S. 132.56 Vgl. Carlen/Gianini/Riniker, S. 119, 123 und 127

(mit Verweis auf Swiss GAAP FER 26).57 Natürlich nur, sofern die FIFO-Methode massgebend ist.

Wenn die LIFO- oder Ø-Methode massgebend wäre, wä-re ein enger Kontobegriff vorteilhaft, weil dann wenigs-tens Leistungen in Kapitalform aus anderen Konten von

Sonderdruck Seite 18

EINKAUF UND KAPITALBEZUG

Kapitalform von CHF 200 000.– beziehen. Nach der Ø-Methode darf er das nicht. CHF 20 000.– der CHF 200 000.– sind da-nach durch den Einkauf finanziert. Will er CHF 180 000.– beziehen, so darf er das wie-der nicht, denn CHF 18 000.– sind durch den Einkauf finanziert usw.Für Fälle, wo die Leistung in Kapitalform einem anderen Konto (i. e. S.) entnommen wird als der Einkauf (inkl. Zins) gutgeschrieben worden ist, scheinen die LIFO- und Ø–Methode bereits aus diesem Grund nicht mehr vom möglichen Wort-sinn der«daraus resultierenden Leistungen», die «zurückgezogen» werden, gedeckt zu sein.

ii Konto im engeren SinnAuch wenn das Alterskonto gemäss BVG (Schat-tenrechnung) als ein separates Konto (Konto i. e. S.) gelten würde, wären LIFO-Methode oder Ø-Methode im Zusammenspiel mit der Rege-lung, dass nur die aus dem Einkauf resultieren-den Leistungen nicht in Kapitalform aus der Vorsorge zurückgezogen werden dürfen, nach Treu und Glauben widersinnig:• Teil-Kapitalbezug im Alter

Die Vorsorgeeinrichtungen rechnen diesen zuerst dem BVG-Überobligatorium oder pro-zentual dem BVG-Obligatorium und dem BVG-Überobligatorium zu. Es ist nicht üb-lich, dass ein Teil-Kapitalbezug nur dem BVG-Obligatorium zugerechnet wird.Der Vorsorgenehmer hätte zudem regelmäs-sig ein Interesse, dass ein Rentenbezug dem BVG-Obligatorium zugerechnet würde.Einzig im Rahmen von Art. 37 Abs. 2 BVG könnte allenfalls verlangt werden, dass in diesem Umfang ein Teil-Kapitalbezug dem BVG-Obligatorium entnommen wird. Die Berufung auf diese Vorschrift in diesem Sinn ist in der Praxis aber unüblich.

• WEF-VorbezugDie Vorsorgeeinrichtungen rechnen diesen zuerst dem BVG-Überobligatorium oder pro-

zentual dem BVG-Obligatorium und dem BVG-Überobligatorium zu.

• Eine Wahlmöglichkeit besteht grundsätzlich nicht. Jede Vorsorgeeinrichtung wählt ihr Modell.

• Da Einkäufe immer dem BVG-Überobligato-rium zugerechnet werden, würde bei der LIFO-Methode und der Ø-Methode praktisch in jedem Fall das Verbot verletzt.Damit würde der Ausdruck «die daraus re-sultierenden Leistungen» auch in einem solchen Fall seiner praktischen Bedeutung im Normalfall beraubt, was nach Treu und Glauben nicht der Sinn des Ausdrucks sein kann.

bbb Den Ausdruck «daraus resultierende Leistungen» ignorieren

Das Bundesgericht führt im Urteil vom 12. März 2010, 2C_658/2010, E. 3.3.1, zu Art. 79b Abs. 3 Satz 1 BVG aus, dass die Bestimmung entgegen dem insoweit klaren Wortsinn so ausgelegt wer-den müsse, dass• innerhalb der Dreijahresfrist grundsätzlich

ausnahmslos jegliche Kapitalauszahlung missbräuchlich sei;

• jede während der Sperrfrist erfolgte Einzah-lung vom Abzug ausgeschlossen werden müsse.

Dies gelte selbst dann, wenn eine klare Tren-nung zwischen spätem Einkauf und Leistung in Rentenform einerseits und langfristig angespar-tem Vorsorgeguthaben und Kapitalauszahlung andererseits vollzogen wird60.Dieses Verständnis ist – wie das Bundesgericht nicht wirklich bestreitet – weder vom klaren noch möglichen Wortsinn dieser Bestimmung gedeckt.Ein vernünftiger und korrekter Gesetzgeber hät-te in diesem Fall Art. 33 Abs. 1 Bst. d DBG z. B. wie folgt einschränken müssen:«Ausgeschlossen (von den allgemeinen Abzü-gen) sind Einkäufe in Einrichtungen der be-

Sonderdruck Seite 19

EINKAUF UND KAPITALBEZUG

ruflichen Vorsorge, soweit innert drei Jahren Leistungen in Kapitalform aus der berufli-chen Vorsorge zurückgezogen werden.»Aber nach Treu und Glauben hat eine solche Norm kaum mehr etwas mit Art. 79b Abs. 3 Satz 1 BVG in der geltenden Fassung gemein.Damit ist aber noch nicht gesagt, dass das Urteil des Bundesgerichts vom 12. März 2010, 2C_658/2010, mit Bezug auf jenen Sachverhalt im Ergebnis einer kritischen Prüfung nicht standhalten würde:• Die Norm, welche das Bundesgericht aufge-

stellt hat, könnte allenfalls gelten, wenn mit Bezug auf Art. 79b Abs. 3 Satz 1 BVG die Voraus setzungen einer ausnahmsweisen richterlichen Gesetzesergänzung vorliegen würden.

• Die Norm, die das Bundesgericht aufgestellt hat, könnte gelten, wenn mit Bezug auf Art. 33 Abs. 1 Bst. d DBG ein ausserordentli-cher Sonderfall vorliegen würde, an den der Gesetzgeber nicht hätte denken müssen (und auch nicht gedacht hat).Ohne Art. 79b Abs. 3 Satz 1 BVG wären u. E. aber kaum Fälle vorstellbar, welche als aus-serordentliche Sonderfälle gelten könnten. Denn das Gesetz enthält den Grundsatz, dass Beiträge der beruflichen Vorsorge vom steu-erbaren Einkommen abgezogen werden können.Vorsorgerechtlich können und müssen diese Beiträge grundsätzlich bis zur Pensionie-rung erfolgen61. Es ist offensichtlich, dass diese Beiträge bei einer solchen Bestimmung während der ganzen Laufzeit des Vorsorge-verhältnisses erfolgen werden. Einkäufe in den letzten drei Jahren vor der Pensionie-rung sind ebensowenig ausgesprochene Son-derfälle wie Einkäufe davor. Nachdem Art. 111 Abs. 3 BV als mögliche Massnahme der beruflichen Vorsorge noch extra Steuerer-leichterungen erwähnt, würde es Treu und Glauben widersprechen, wenn dann das

Handeln im Hinblick auf gerade diese Steu-ererleichterungen als ausgesprochener Son-derfall deklariert würde.

• Schliesslich könnte das Urteil des Bundesge-richts allenfalls mit anderer Begründung im Rahmen des möglichen Wortsinns im Er-gebnis ganz oder teilweise schützenswert sein62.

ccc Absicht (subjektive Bedingung)U. E. nicht vertretbar wäre, die daraus resultie-renden Leistungen umzudeuten auf den Sinn, dass zu prüfen sei, in welchem Umfang die ver-sicherte Person ohne den Einkauf die Leistung in Kapitalform bezogen hätte.Wenn diese einen Einkauf tätigt und nur wegen diesem Einkauf eine Leistung in Kapitalform bezieht, die sie andernfalls nicht bezogen hätte, dann sei eben aus diesem Einkauf eine solche Kapitalleistung resultiert (subjektive Bedin-gung)63.

60 Prägnant formuliert im Urteil des Bundesgerichts vom 1. Juli 2011, 2C_20/2011, E. 2.1.

61 Vgl. auch die nachfolgenden Ausführungen im Zusam-menhang mit der Auslegung im engeren Sinn: Ziff. F.III.3.d. Förderung der beruflichen Vorsorge bis zum Zeitpunkt der Pensionierung; Ziff. F.III.4. Gesetz -liche Interessenbeurteilung.

62 Mit Bezug auf den durch das Bundesgericht beurteilten Sachverhalt eventuell dann, wenn gestützt auf die Aus-legung i. e. S. die Sicht der Vorsorgeeinrichtung und ein enger Kontobegriff massgebend wären und die Rente al-lein dem BVG-Obligatorium zugerechnet worden wäre. Denn dann wäre das BVG-Überobligatorium vollum-fänglich in Kapitalform entnommen worden.

63 Personen, welche mit den verfassungsrechtlich und gesetzlich vorgesehenen Einkäufen und Leistungen in Kapitalform Mühe bekunden, werden vielleicht eine solche Auslegungsvariante prüfen oder sich überlegen, ob hier die Figur der Steuerumgehung fruchtbar gemacht werden könnte, vgl. z. B. den Hinweis bei Fenners/Baum berger, S. 132, FN 13, zur Praxis der Steuerverwaltung Thurgau.

Sonderdruck Seite 20

EINKAUF UND KAPITALBEZUG

In allen drei Amtssprachen wird zuerst ein Be-zug zwischen dem Einkauf und den daraus re-sultierenden Leistungen im Allgemeinen ge-macht. Die Kapitalform wird erst in einem zweiten Schritt von Relevanz.Der Gesetzgeber hätte die Norm anders schrei-ben müssen, wäre es ihm um die Absicht der ver-sicherten Person gegangen.Beispiel«Das Recht der versicherten Person, Leistun-gen in Kapitalform zurückzuziehen, wird auf denjenigen Betrag beschränkt, den diese Person ohne Einkäufe während der drei Jahre vor einem solchen Rückzug zurückgezogen hätte.»«Wurden Einkäufe getätigt, so dürfen Leistun-gen in Kapitalform innerhalb der nächsten drei Jahre nicht aus der Vorsorge zurückgezo-gen werden, soweit sie nach dem Willen des Versicherten nur wegen diesem Einkauf er-folgt sind.»Die Deutung des Ausdrucks in diesem Sinne könnte sich im Übrigen im Verhältnis der Deu-tung nach der Sicht der Vorsorgeeinrichtung (technische Buchhaltung) sowohl zugunsten als auch zulasten des Versicherten auswirken64.Beispiel 1 VorteilMeier ist versicherte Person in zwei Vorsorge-einrichtungen. In Vorsorgeeinrichtung A hat er kurz vor Pensionierung ein Altersguthaben von CHF 1 000 000.–. In Vorsorgeeinrichtung B hat er noch ein Altersguthaben von CHF 0.–. Er erwartet eine Kapitalleistung von CHF 1 000 000.–. Wenn er sich in Vorsorge -einrichtung B mit CHF 100 000.– einkauft, so wird er noch eine Altersrente von CHF 6800.– beziehen. Aus welcher Vorsorgeeinrichtung dies erfolgt, ist ihm unwichtig.Selbst wenn er eine Kapitalleistung aus der Vorsorgeeinrichtung B beziehen würde und aus der Vorsorgeeinrichtung A die Rente von CHF 6800.–, würde sich nichts daran ändern, dass nach seinem subjektiven Willen betrachtet

der Einkauf von CHF 100 000.– dazu führte, dass er eine zusätzliche Altersrente bezogen hat.Beispiel 2 NachteilMeier ist versicherte Person in zwei Vorsorgeein-richtungen. Er hat kurz vor Pensionierung je ein Altersguthaben von CHF 500 000.–. Er er-wartet daraus eine Rente von insgesamt CHF 68 000.–. Er kauft sich mit CHF 100 000.– in Vorsorgeeinrichtung A ein, mit der Absicht, eine Kapitalleistung von CHF 100 000.– zu be-ziehen, die er ohne Einkauf nicht beziehen würde. In der Hoffnung, Art. 79b Abs. 3 Satz 1 BVG nicht zu verletzen, bezieht er diese Kapital-leistung aber aus Vorsorgeeinrichtung B.Obwohl Meier vor dem Einkauf das Recht hat, das Altersguthaben von CHF 500 000.– in Vor-sorgeeinrichtung B in Kapitalform zu beziehen, dürfte er seine Absicht im Zusammenhang mit dem neuen Einkauf nicht umsetzen.Beweisthema und BeweislastZu beweisen wäre, dass Meier diese Absicht hatte bzw., dass für ihn der Einkauf eine Bedingung für den Kapitalbezug in diesem Umfang war65.Dieser Beweis dürfte in einem solchen Fall kaum zu erbringen sein, weil es praktisch im-mer auch gute Gründe gibt, sich mit den letzten CHF 100 000.– noch eine Rente zu sichern.Die Unsicherheit, die nach der Beweiswürdigung verbleiben würde, müsste sich zulasten der Vor-sorgeeinrichtung bzw. der Steuerverwaltung auswirken.

cc ErgebnisIm Ausgangsfall fällt die Leistung in Kapital-form aus Vorsorgeeinrichtung B nicht unter den klaren oder möglichen Wortsinn des Ausdrucks «daraus resultierende Leistungen».Damit ist Art. 79b Abs. 3 Satz 1 BVG grundsätz-lich auf Fälle nicht anwendbar, bei denen sich Einkauf und Leistung in Kapitalform nicht auf die gleiche Vorsorgeeinrichtung beziehen.An diesem Ergebnis könnte grundsätzlich nur dann etwas geändert werden, wenn unter den

Sonderdruck Seite 21

EINKAUF UND KAPITALBEZUG

Voraussetzungen einer ausnahmsweisen richter-lichen Gesetzesergänzung eine neue Norm auf-gestellt würde, mit einem Inhalt, der über den möglichen Wortsinn hinausgeht.

dd Übersicht zum möglichen sprach -lichen Anwendungsbereich

In Abbildung 3 werden die nach Treu und Glauben möglichen sprachlichen Anwendungs-bereiche des Ausdrucks «daraus resultierende Leistungen» übersichtlich zusammengestellt.

daraus resultierende Leistungen?

Sicht versicherte Person

finanzielle Grösse

Betrag

FIFO

Anwendungsfälle

Konsolidierung zugunsten der versicherten Person?

Konto i. w. S.

Altersguthaben

Vorsorgeplan

FIFO

Konto i. e. S.

Ausweisposition Vorsorgeausweis

Sicht Vorsorgeeinrichtung

technische Buchhaltung

LIFO

Nein

FIFO

Ja

Ø - Methode

Nein

Abbildung 3: Begriffsvarianten «daraus resultierende Leistungen»

64 Es ist darauf hinzuweisen, dass die Auslegung i. e. S., die Annahme von ausserordentlichen Sonderfällen und die ausnahmsweise richterliche Gesetzesergänzung nicht nur zulasten, sondern auch zugunsten der steuerpflichtigen Personen wirken können, vgl. ähnlich

Locher, S. 33 («Steuerübertreibung» als Pendant zur «echten Steuerumgehung»).

65 Die objektive Beweislast muss u. E. nach der formalen Normentheorie verteilt werden, soweit der Gesetzgeber die Beweislast nicht ausdrücklich geregelt hat. Nach der formalen Normentheorie bestimmt der Gesetzgeber durch Formulierung seiner Rechtsnormen auch über die Verteilung der objektiven Beweislast. Zu beweisen ist das, was in der Rechtsnorm steht, nicht das Gegen-teil. Diese Methode ist in sich stimmig, gewährt ein Höchstmass an Rechtssicherheit, indem die Parteien im Voraus wissen, wo sie für die Beweise besonders vor-sorgen müssen. Damit wird eine Rechtsanwendung nach subjektiven Gerechtigkeitsvorstellungen zurück-gebunden. Vgl. hierzu Ott, Leitsätze, Ziff. 2.7, S. 14 f.; ausführlich Ott, Methode, S. 19 – 47, mit weiteren Hin-weisen darauf, unter welchen Voraussetzungen eine Ausnahme von der formalen Normentheorie gerecht-fertigt erscheint.

Sonderdruck Seite 22

EINKAUF UND KAPITALBEZUG

c Rückzug aus der VorsorgeMit Bezug auf die Prüfung des Ausgangsfalles un-ter dem Gesichtspunkt der ausnahmsweisen rich-terlichen Gesetzesergänzung ist festzuhalten, dass aus Vorsorgeeinrichtung B ein Rückzug aus der Vorsorge erfolgt (die Leistung resultiert allerdings nicht aus einem Einkauf der letzten drei Jahre).Dieser Ausdruck kann im Übrigen insbesondere unter drei Aspekten analysiert werden:

aa Wortsinn «Rückzug»Kann ein Rückzug bei Leistungen vorliegen, die gegen oder unabhängig vom Willen der versi-cherten Person erfolgen?BeispielVorsorgepläne, die im Zeitpunkt der ordentli-chen Pensionierung (ohne Weiterarbeit) nur Leistungen in Kapitalform vorsehen.

bb Wortsinn «Vorsorge»Kann ein Rückzug aus der Vorsorge vorliegen, wenn Leistungen den Vorsorgekreislauf im wei-testen Sinn nicht verlassen?BeispielAustrittsleistung (sicher kein Rückzug), WEF-Vorbezug, Barbezug bei Aufnahme der selbst-ständigen Erwerbstätigkeit zum Zweck der In-vestition.Ein Vergleich der drei amtlichen Sprachen zeigt, dass der deutsche Ausdruck vielleicht zu offen ist: «Vorsorge» einerseits und «institutions de prévoyance» bzw. «instituti di previdenza» an-dererseits sind nicht deckungsgleich.

cc Wortsinn «Rückzug aus der Vorsor-ge» und konsolidierte Betrachtung zugunsten der versicherten Person

Wird davon ausgegangen, dass mit den «daraus resultierenden Leistungen» aus Sicht der versi-cherten Person nur ein errechneter Betrag ge-meint ist, welcher von der Leistung in Kapital-form während drei Jahren ausgeschlossen ist, ergibt sich ein weiterer möglicher Wortsinn.

Da Art. 79b Abs. 3 Satz 1 BVG ausdrücklich von Rückzug aus der «Vorsorge» und nicht aus dem «Vorsorgekonto» oder dem «Vorsorgeplan» spricht, ist es vertretbar, davon auszugehen, dass nur ein Betrag im Umfang der «daraus resultie-renden Leistungen» in der «Vorsorge» gesperrt bleiben muss.D. h. es wäre noch unschädlich, wenn ein Kapi-talbezug ein ganzes Konto umfasst, auf dem in-nert den vergangenen drei Jahren ein Einkauf erfolgt ist, sofern in der übrigen «Vorsorge» der Betrag des Einkaufs zuzüglich Zinsen noch als Guthaben gesperrt ist.Der mögliche sprachliche Anwendungsbereich erfasst auch mittlere Lösungen: Es wird die Sicht der versicherten Person gewählt, diese aber nicht gerade auf die gesamte Vorsorge, sondern nur auf die berufliche Vorsorge, auf eine Arbeitgebe-rin, eine Vorsorgeeinrichtung oder einen Vorsor-geplan bezogen.Ein Vergleich der drei amtlichen Sprachen zeigt, dass der deutsche Ausdruck vielleicht zu offen ist: «Vorsorge» einerseits und «institutions de prévoyance» bzw. «instituti di previdenza» an-dererseits sind nicht deckungsgleich. Aber es fällt auf, dass auch in der französischen und ita-lienischen Fassung übersetzt von Vorsorge -einrichtungen die Rede ist und nicht von Vorsor-geeinrichtung. Dies im Gegensatz zu Art. 79b Abs. 1 BVG.Dieses Thema wird nachfolgend nur am Rande behandelt, da es für die Lösung des Ausgangsfal-les nicht ausschlaggebend ist.

d Innerhalb der nächsten drei JahreMit Bezug auf die Prüfung des Ausgangsfalles unter dem Gesichtspunkt der ausnahmsweisen richterlichen Gesetzesergänzung ist festzuhal-ten, dass aus Vorsorgeeinrichtung B innert drei Jahren seit dem Einkauf in Vorsorgeeinrichtung A eine Leistung aus der Vorsorge zurückgezogen wird (die Leistung resultiert allerdings nicht aus dem Einkauf).

Sonderdruck Seite 23

EINKAUF UND KAPITALBEZUG

e KapitalformMit Bezug auf die Prüfung des Ausgangsfalles unter dem Gesichtspunkt der ausnahmsweisen richterlichen Gesetzesergänzung ist festzuhal-ten, dass aus Vorsorgeeinrichtung B eine Leis-tung in Kapitalform erfolgt (sie resultiert aller-dings nicht aus einem Einkauf der letzten drei Jahre).

f Verbot

aa Verbot der Leistung in Kapitalform, nicht des Einkaufs

Die Bestimmung ist diesbezüglich klar. Verboten ist die Leistung in Kapitalform, nicht der Ein-kauf.Wird das Verbot eingehalten, so bleibt «selbstver-ständlich» (wenn es so etwas in der Praxis der Rechtsanwendung noch gibt) kein Raum, einen Einkauf nicht zu anerkennen.Wenn das Verbot aber im Einzelfall nicht einge-halten wird, stellt sich natürlich die Frage, ob das Gesetz gegen ein solches Verhalten auch ei-ne Sanktion angeordnet hat oder ob das Verbot nur appellatorischen Charakter hat. Darauf wird zurückzukommen sein66.

bb Verbot mit oder ohne Vorwerfbarkeit?Die Wahl des Ausdrucks «dürfen (. . .) nicht» lässt aufhorchen.Ein Verbot hat oft zum Zweck, das Verhalten von Menschen zu steuern. Liegen aber Rechtferti-gungs- oder Schuldausschliessungsgründe vor, sodass es unzumutbar wäre, das Verbot einzu-halten, so würde der Gesetzgeber wohl häufig sagen, «so streng sei das Verbot gar nicht ge-meint, aber an diese ausserordentlichen Sonder-fälle wurde schlicht nicht gedacht».Liegen in diesem Sinne Rechtfertigungs- oder Schuldausschliessungsgründe vor, so stellen diese ausserordentliche Zusatzmomente dar, an die der Gesetzgeber nicht unbedingt gedacht hat. Aus diesem Grund kann nicht gesagt wer-

den, das Verbot von Art. 79b Abs. 3 Satz 1 BVG würde sich zweifellos auch auf diese Fälle be-ziehen.Ein Vergleich der drei amtlichen Sprachen zeigt aber auch hier, dass der deutsche Ausdruck «dürfen nicht» im Verhältnis zu dem französi-schen «ne peuvent être» und dem italienischen «non possono essere» nicht ganz gleich ist.

cc Verbot nur bei Absicht im Zeitpunkt des Einkaufs?

Nicht mehr vertretbar wäre es, allein aus dem Verbot oder dem Missbrauchszweck der Norm abzuleiten, dass es sprachlich möglich sei, zu-sätzlich zur Voraussetzung des Rückzugs der Leistungserhöhung immer noch die Absicht im Zeitpunkt des Einkaufs in diese Norm hineinzu-lesen.Dies mag allenfalls dem Zweck einer solchen Norm im Normalfall entsprechen, vielleicht so-gar dem Sinn, den der historische Gesetzgeber dieser Norm beilegen wollte, und vielleicht wäre dies aus Sicht des Rechtsanwenders sogar die eindeutig sachlich angemessene Lösung.Aber wenn dies eine generelle Voraussetzung sein sollte, dann hätte die Norm anders ge-schrieben werden müssen. Es liegt in einem sol-chen Fall mit Bezug auf diese Norm auch nicht ein ausserordentlicher Sonderfall vor.Die Absicht im Zeitpunkt des Einkaufs dürfte da-mit grundsätzlich nur dann zur zusätzlichen generellen Voraussetzung erhoben werden, wenn die Überprüfung der normativen Grund -lagen von Art. 79b Abs. 3 Satz 1 BVG zu diesem Resultat führen würde.

g ErgebnisIm Ausgangsfall erfolgt ein klarer Einkauf in Vorsorgeeinrichtung A und insoweit ist der Tat-bestand von Art. 79b Abs. 3 Satz 1 BVG erfüllt.

66 Vgl. Ziff. F.IV.5.f. Angemessene Sanktion.

Sonderdruck Seite 24

EINKAUF UND KAPITALBEZUG

Die Leistung in Kapitalform aus Vorsorgeein-richtung B fällt aber weder nach dem klaren noch möglichen Wortsinn unter das Verbot, da die Leistung, die in Kapitalform bezogen wird, keine aus dem Einkauf resultierende Leistung darstellt. Dies unabhängig davon, welche vertretbare Präzisierungsvariante für den Aus-druck «daraus resultierende Leistungen» ge-wählt wird.Eine Regel, wie sie das Bundesgericht vertritt, kann nicht auf dem Weg der Auslegung im en-geren Sinn dem Art. 79b Abs. 3 Satz 1 BVG beige-legt werden.Eine solche Regel könnte aber dann aufgestellt werden, wenn die Voraussetzungen einer aus-nahmsweisen richterlichen Gesetzesergänzung gerade für eine solche Regel vorliegen würden.Um zu prüfen, ob eine ausnahmsweise richterli-che Gesetzesergänzung zulässig ist, müssen die gleichen Prüfschritte vorgenommen werden wie bei der Auslegung im engeren Sinn67:• Analyse Fallbeurteilungen (historische Aus-

legung, Lehre und Überlieferung)• Anhaltspunkte aus dem Gesetz (grammati-

kalische Auslegung und Auslegung mit Be-zug auf äussere Systematik)

• Zweck des Gesetzes• sachliche Angemessenheit (Rechtsfolgeer-

wägungen, Rechtsgleichheit, inneres System der Rechtsordnung, Praktikabilität)

Zuvor sind die normativen Grundlagen von Art. 79b Abs. 3 Satz 1 BVG zu prüfen.

E Überprüfung der normativen Grundlagen

Jede Gesetzesnorm muss vervollständigt werden (mit Bezug auf den Ausgangsfall bereits er-folgt).Zusätzlich sind die normativen Grundlagen ei-ner Kontrolle zu unterziehen, nämlich mit Be-zug auf die nachfolgenden Bereiche68:• Textkritik bei offensichtlichen Textfehlern69

• Behandlung von Konkurrenzproblemen• Rechtsgültigkeitsprüfung70

Mit Bezug auf den Ausgangsfall gibt die Kontrol-le der normativen Grundlagen grundsätzlich zu keinen weiteren Bemerkungen Anlass.

67 Vgl. Ott, Leitsätze, Ziff. 7.2, S. 55.68 Vgl. Ott, Leitsätze, Ziff. 5, S. 31 – 35.69 Es müsste sich um offensichtliche Textfehler handeln.

Ein solcher könnte auch dann vorliegen, wenn der Text im Hinblick auf seine Auswirkungen unmöglich gewollt sein kann. Vgl. Ott, Leitsätze, Ziff. 5.2, S. 31 f., und An-merkung 32a, S. 69. Wir erkennen in Art. 79b Abs. 3 Satz 1 BVG keinen offensichtlichen Textfehler.

70 Erfüllung minimaler Verfahrens- und Formvorschrif-ten, Verbands- und Organkompetenz, kein Verstoss gegen Normen höherer Stufe, keine qualifizierte Un -angemessenheit (vgl. offenbarer Rechtsmissbrauch).

700 Seiten, Loseblattordner,inkl. 11. Nachtrag 2013 CHF 228.–

Durch die regelmässig erscheinendenErgänzungen steht eine kostengün-stige und immer aktualisierte Arbeits-grundlage zur Verfügung.

Die Vielfalt der behandelten Sachver-halte, die Ge nauigkeit der Lösungen(mit konkreten Zah len beispielen undHinweisen auf die bundes ge richt licheRechtsprechung), die Zusam men stel -lung der Ge setzestexte und Verwal -tungs anweisungen zur Materie gebendiesem ein maligen Werk seinen eige-nen Charakter und machen daraus einwertvolles Arbeits instru ment.

Auch in der vorliegenden 3. Auflagewird die steuerliche Behandlungvon Ver sicherungen gesamthaftdargestellt, inklusive der berufli-chen Vorsorge und der gebundenenSelbst vorsorge.

Dr. iur. Wolfgang MauteDr. iur. Martin SteinerLic. iur. Adrian Rufener Dr. iur. Peter Lang

Steuern und VersicherungenÜberblick über die steuerliche Behandlung von Versicherungen

Schweizerische Steuerkonferenz (Herausgeber)

Vorsorge und SteuernAnwendungsfälle zur beruflichen Vorsorge und Selbstvorsorge

3., vollständig überarbeitete, erweiterte und aktualisierte Auflage

488 Seiten, gebunden, CHF 158.–

Sonderdruck Seite 26

EINKAUF UND KAPITALBEZUG

folge ist das ganze, vor dem Einkauf erworbene Vorsorgeguthaben durch diese Bestimmung nicht betroffen74.Eine Unterteilung der Vorsorgepläne in Unter-konten gestützt auf die technische Buchhaltung wird soweit ersichtlich nicht vorgenommen.Art. 79b Abs. 3 Satz 1 BVG ist pro Vorsorge -einrichtung anwendbar; es wird keine konsoli-dierte Betrachtungsweise vorgenommen75.Die Auszahlung eines Viertels des BVG-Altersgut-habens ist unabhängig davon, wann ein Ein-kauf getätigt wurde, in Form einer einmaligen Kapitalabfindung zulässig76.Das BSV hat an seiner Praxis trotz des Urteils des Bundesgerichts vom 12. März 2010, 2C_658/ 2009 (Auslegung und Auswirkung von Art. 79b Abs. 3 Satz 1 BVG mit Bezug auf die Anerkennung von Einkäufen bei der Einkommenssteuer) fest-gehalten77.D. h. der Ausgangsfall verletzt danach das Verbot von Art. 79b Abs. 3 Satz 1 BVG nicht.

3 Urteil Bundesgericht 2C_658/2009

Das Bundesgericht hat bis jetzt Art. 79b Abs. 3 Satz 1 BVG noch nicht vorsorgerechtlich beur-teilt. Solange das BSV seine Praxis nicht ver-schärft, gibt es praktisch auch keinen Anlass hierzu.Es gibt jedoch verschiedene Urteile des Bundes-gerichts, die diese Bestimmung mit Bezug auf die steuerrechtliche Tragweite ausgelegt haben. Es wurde aber soweit ersichtlich mit Bezug auf diese Bestimmung kein Fall beurteilt, bei dem der Ein-kauf und die Leistung in Kapitalform verschiede-ne Vorsorgeeinrichtungen betroffen haben.Das Bundesgericht hat bei der Beurteilung sei-ner Fälle Art. 79b Abs. 3 Satz 1 BVG einen Sinn beigemessen, der allenfalls auch solche Fälle er-fassen könnte. Zuerst ist das Urteil des Bundes-gerichts vom 12. März 2010, 2C_658/2009, nicht amtlich publiziert, gefällt in Fünferbeset-zung, ergangen78.

F Auslegung im engeren Sinn

I Bisherige Fallbeurteilung

1 Wille des historischen Gesetzgebers

Der historische Gesetzgeber hat sich keine Re-chenschaft darüber gegeben, wie Art. 79b Abs. 3 Satz 1 BVG im Ausgangsfall anzuwenden wäre71.Die Bestimmung wurde erst vom Ständerat als Zweitrat in die Beratungen eingebracht.Der historische Gesetzgeber hat keinen Fall be-urteilt:• bei dem Altersleistungen teilweise in Ren-

tenform und teilweise in Kapitalform bezo-gen worden sind;

• bei dem sich Einkauf und Kapitalbezug auf zwei verschiedene Vorsorgepläne oder Vor-sorgeeinrichtungen bezogen haben.

Der historische Gesetzgeber hat keinen Hinweis gemacht, ob ein Vorsorgeplan mit Bezug auf diese Bestimmung im Sinne der technischen Buchhaltung auf verschiedene Konten zu unter-teilen ist oder ob ein Vorsorgeplan als Ganzes zu betrachten ist.Es kann nicht mit Sicherheit gesagt werden, wie sich die Mehrheit von National- und Ständerat verhalten hätte, wenn der Ausgangsfall disku-tiert worden wäre. Wir vermuten aber, dass er von der Mehrheit nicht als Anwendungsfall von Art. 79b Abs. 3 Satz 1 BVG qualifiziert worden wäre72.Im Übrigen wird auf die Frage, welchen Zweck Art. 79b Abs. 3 Satz 1 BVG gemäss der Mehrheits-meinung des Gesetzgebers verfolgt, im Zusam-menhang mit der Analyse des Zweckes dieser Be-stimmung vertieft eingegangen73.

2 Bundesamt für Sozial -versicherung

Nur der dem Einkauf entsprechende Betrag in-klusive Zinsen kann während drei Jahren nicht in Kapitalform zurückgezogen werden. Demzu-

Sonderdruck Seite 27

EINKAUF UND KAPITALBEZUG

a SachverhaltDie Person X (geb. 1943) leistet die nachfolgen-den Einkaufsbeiträge in die Vorsorgeeinrichtung:• CHF 20 000.– im Dezember 2004• CHF 30 000.– im April 2005• CHF 30 000.– im September 2006Im Juli 2007, im Alter 64, bezieht diese Person die nachfolgenden Altersleistungen:• Kapitalleistung von CHF 432 884.–• Altersrente von monatlich CHF 460.–

(jährlich CHF 5520.–)Der Kapitalwert dieser Rente entspricht dem ver-bleibenden Alterskapital von CHF 83 636.–. Die-ses entspricht den Einkäufen von CHF 80 000.– in den Jahren 2004 – 2006 zuzüglich Zins.

b Erwägungen

aa Einkäufe 2004 und 2005Das Bundesgericht beurteilt zuerst die Einkäufe der Jahre 2004 und 2005, die vor dem Inkrafttre-ten von Art. 79b Abs. 3 Satz 1 BVG getätigt wor-den sind.Es beurteilt diese Einkäufe ohne eingehende Analyse als Steuerumgehung.

bb Einkauf 2006Das Bundesgericht beurteilt anschliessend den Einkauf im Jahr 2006. Es führt zu Art. 79b Abs. 3 Satz 1 BVG aus, dass die Bestimmung entgegen dem insoweit klaren Wortsinn so ausgelegt wer-den müsse, dass• innerhalb der Dreijahresfrist grundsätzlich

ausnahmslos jegliche Kapitalauszahlung missbräuchlich sei;

• jede während der Sperrfrist erfolgte Einzah-lung vom Abzug ausgeschlossen werden müsse.

Dies gelte selbst dann, wenn eine klare Tren-nung zwischen spätem Einkauf und Leistung in Rentenform einerseits und langfristig angespar-tem Vorsorgeguthaben und Kapitalauszahlung andererseits vollzogen werde79.Aus diesem Grund sei der Einkauf bei der Be-rechnung des steuerbaren Einkaufs nicht zum Abzug zugelassen.Im Übrigen wird für die Begründung des Bun-desgerichts und unsere Bemerkungen hierzu auf Ziff. F.III. Zweck des Gesetzes verwiesen.

* Für die sehr wertvolle kritische Durchsicht dieses Arti-kels wird Frau Mirjam Amann, selbstständige Rechts -anwältin (CH / FL, Vaduz) und Vorsitzende der Liechten-steinischen Datenschutzkommission, gedankt.

71 Vgl. zu den parlamentarischen Beratungen des Geschäfts 00.027, 1. BVG-Revision, insbesondere Art. 1, 37 und 79a – 79c BVG: Nationalrat als Erstrat: AB 2002 N, S. 493 ff. (einführende Beratungen, Art. 1 BVG), AB 2002 N, S. 548 f. (Art. 37 BVG), AB 2002 N, S. 657 ff. (Art. 79a – 79b BVG). Ständerat als Zweitrat: AB 2002 S, S. 1035 ff. (einführende Bemerkungen, Art. 1, Art. 79a – 79b BVG), AB 2002 S, S. 1047 f. (Art. 37), AB 2002 S, S. 1053 ff., (Art. 79a – 79c BVG). Nationalrat Dif-ferenzen: AB 2003 N, S. 631(Art. 79a – 79c BVG). Stände-rat Differenzen: AB 2003 S, S. 454 (Art. 79a Abs. 3 BVG).

72 Zu tiefe Summe des Einkaufs, zu tiefer Kapitalbezug im Verhältnis zur Rentenleistung, Wille bei Einkauf auf Ren-tenleistung und nicht Kapitalleistung gerichtet (zumin-dest ist das Gegenteil kaum beweisbar), und vor allem,

eindeutige sachliche Angemessenheit spricht gegen die Anwendung von Art. 79b Abs. 3 Satz 1 BVG auf diese Fälle.

73 Vgl. Ziff. F.III. Zweck des Gesetzes.74 BSV, Mitteilungen über die berufliche Vorsorge Nr. 84,

Ziff. 511 (1.).75 BSV, Mitteilungen über die berufliche Vorsorge Nr. 88,

Ziff. 511 (8.).76 BSV, Mitteilungen über die berufliche Vorsorge Nr. 84,

Ziff. 511 (1.).77 BSV, Mitteilungen über die berufliche Vorsorge Nr. 121,

Ziff. 776.78 STE 2010 DBG/TG B 27.1 Nr. 43. Es ergingen danach:

Urteil des Bundesgerichts vom 5. November 2010, 2C_240/2010; Urteil des Bundesgerichts vom 24. November 2010, 2C_614/2010; Urteil des Bundes -gerichts vom 1. Juli 2011, 2C_20/2011; Urteil des Bundes gerichts vom 13. September 2013, 2C_243/2013.

79 Prägnant formuliert im Urteil des Bundesgerichts vom 1. Juli 2011, 2C_20/2011, E. 2.1.

Sonderdruck Seite 28

EINKAUF UND KAPITALBEZUG

c Beurteilung des AusgangsfallesIm Sinne einer Vermutung würde im Ausgangs-fall der Einkauf in Vorsorgeeinrichtung A steuer-rechtlich nicht zum Abzug zugelassen.Aus dem Urteil des Bundesgerichts vom 1. Juli 2011, 2C_20/2011, E. 3.4, nicht amtlich publi-ziert, ist vermutungsweise abzuleiten, dass bei einer Aufrechnung des Einkaufsbetrages in Vor-sorgeeinrichtung A korrespondierend eine Kor-rektur (d. h. Reduktion) der Besteuerung der Kapitalleistung aus Vorsorgeeinrichtung B im gleichen Umfang vorzunehmen ist.

4 Kantonale GerichteDie Praxis vor den kantonalen Gerichten war bis jetzt uneinheitlich. Bereits die publizierten Urteile des Bundesgerichts zeigen, dass die Vor-instanzen teilweise eine andere Auffassung als das Bundesgericht vertreten haben80.Es gibt kantonale Gerichte, welche Fälle beur-teilt haben, bei denen Einkauf und Kapitalbezug verschiedene Vorsorgeeinrichtungen betroffen haben:• Das Steuerrekursgericht des Kantons Basel-

Stadt hat mit Entscheid vom 27. Januar 2011, publiziert in BStPra 2012, S. 187 ff., die konsolidierte Betrachtungsweise zulas-ten der steuerpflichtigen Person bejaht.

• Das Steuergericht des Kantons Basel-Land-schaft hat mit Entscheid vom 18. Januar 2013, publiziert in BStPra 2013, S. 259 ff., die konsolidierte Betrachtungsweise zulas-ten der steuerpflichtigen Person verneint. Es hat aber vorbehalten, im Falle einer Steuer-umgehung einzuschreiten.

5 Schweizerische SteuerkonferenzDie Schweizerische Steuerkonferenz folgt dem Urteil des Bundesgerichts vom 12. März 2010 (2C_658/2009).Bei mehreren Vorsorgeeinrichtungen oder Vor-sorgeplänen geht die Schweizerische Steuerkon-ferenz davon aus, dass eine konsolidierte Be-

trachtung zulasten der versicherten Person Anwendung findet.Bei einer Aufrechnung des Einkaufsbetrages ist korrespondierend eine Korrektur (d. h. Redukti-on) der Besteuerung der Kapitalleistung im glei-chen Umfang vorzunehmen.Einkäufe von geringerem Umfang müssen bei der Anwendung von Art. 79b Abs. 3 BVG nicht be-rücksichtigt werden81.

6 Kantonale SteuerverwaltungenVerschiedene kantonale Steuerverwaltungen ha-ben sich anfänglich der Praxis des Bundesamtes für Sozialversicherung im Grundsatz ange-schlossen (z. B. BE).Die Rechtsprechung des Bundesgerichts hat aber in diesen Kantonen nach unserer Erfah-rung zu einer Verschärfung der Praxis geführt.Die Praxen sind aber nach wie vor nicht einheit-lich82:• Die meisten Kantone wenden entgegen dem

klaren Wortsinn die Last In-First Out-Me-thode zumindest pro Vorsorgeplan an (z. B. BE, SO, TG).

• Wenn Einkauf und Kapitalbezug verschiede-ne Vorsorgeeinrichtungen betreffen, so gibt es Kantone, welche die konsolidierte Be-trachtung zulasten der steuerpflichtigen Person weiterhin als mit Art. 79b Abs. 3 Satz 1 BVG unvereinbar ablehnen (Steuerumge-hung vorbehalten; z. B. TG).Diese Differenzierung wird für den Fall, dass Einkauf und Kapitalbezug verschiedene Konten pro Vorsorgeplan oder verschiedene Vorsorgepläne einer Vorsorgeeinrichtung betreffen, soweit ersichtlich nicht explizit gemacht.

• Die grosse Mehrheit der Kantone berück-sichtigt Art. 79b Abs. 3 Satz 1 BVG bei Art. 33 Abs. 1 Bst. d DBG (z. B. SO, TG). Eine Min-derheit der Kantone wendet stattdessen bei der Kapitalleistung Art. 38 DBG nicht an (zumindest BE).

Sonderdruck Seite 29

EINKAUF UND KAPITALBEZUG

• Es gibt Kantone, welche Art. 79b Abs. 3 Satz 1 BVG nicht anwenden, wenn besondere Ver-hältnisse vorliegen, d. h. wenn der Kapital-bezug im Zeitpunkt des Einkaufs nicht er-wartet werden konnte (zumindest BE).

7 LehreDie Lehre beurteilt die sich im Zusammenhang mit Art. 79b Abs. 3 Satz 1 BVG ergebenden Fra-gen nicht einheitlich.Dies ist nicht weiter verwunderlich, da Lehrmei-nungen einerseits von Vertretern der Vorsorge-einrichtungen, der Steuerberatung, der Steuer-justiz und der Steuerverwaltung publiziert worden sind. Zudem unterscheiden sich die per-sönlichen Gerechtigkeitsvorstellungen der Men-schen. Diese sind versucht, den Normsinn aus diesen Vorstellungen abzuleiten.Nach unserer Kenntnis erachtet die Mehrheit der Lehre die Auffassung des Bundesamtes für Sozi-alversicherung im Grundsatz als rechtlich zu-treffend. Die Praxis des Bundesgerichts wird dementsprechend mehrheitlich abgelehnt83.

II Anhaltspunkte aus dem Gesetz

1 Grammatikalische AuslegungDer klare und mögliche Wortsinn von Art. 79b Abs. 3 Satz 1 BVG wurde, soweit für die Beurtei-

lung des Ausgangsfalls von Interesse, bereits ausführlich vom nicht mehr möglichen Wort-sinn abgegrenzt. Hier geht es noch darum, wel-che Interpretation gestützt auf eine grammati-kalische Auslegung im Rahmen des klaren und möglichen Wortsinns naheliegender ist.Werden alle drei Amtssprachen berücksichtigt, so bestehen die nachfolgenden Vermutungen für die Interpretation des Ausdrucks «die daraus re-sultierenden Leistungen» und «aus der Vorsorge zurückgezogen werden»:• Der Ausdruck «Vorsorge» im deutschen Text

ist nicht bewusst gewählt worden. Es könnte genauso gut stehen «dürfen (. . .) nicht (. . .) aus den Vorsorgeeinrichtungen» zurückge-zogen werden».

• Es geht eher um den Leistungsanspruch in einem konkreten Rechtsverhältnis zwischen einer versicherten Person und einer Vorsor-geeinrichtung mit Bezug auf einen Vorsor-geplan und nicht nur um den errechneten Betrag. Ob im Übrigen mehr auf die Sicht der versicherten Person oder der Vorsorge-einrichtung (weitere Unterteilung in Kon-ten) abzustellen ist, lässt die grammatikali-sche Auslegung offen.

• Wurden Einkäufe getätigt und werden die daraus resultierenden Leistungen auf eine andere Vorsorgeeinrichtung übertragen

82 Vgl. z. B.: Steuerverwaltung des Kantons Bern, TaxInfo Berufliche Vorsorge, Fassung vom 19. Oktober 2012, publiziert in: www.taxinfo.sv.fin.be.ch/taxinfo/display/taxinfo/Berufliche+Vorsorge, 26. September 2013; Steuerverwaltung des Kantons Solothurn, Steuerpraxis 2013 Nr. 3, Berufliche Vorsorge: Einkauf von Beitrags-jahren und Kapitalbezug, publiziert in: http://www.so.ch/departemente/finanzen/steueramt/steuerpraxis.html, 7. Oktober 2013; Steuerverwaltung des Kantons Thurgau, StP 34 Nr. 14, Einkauf Beitragsjahre in die berufliche Vorsorge und Kapitalbezug, publiziert in: http://steuerverwaltung.steuerpraxis.tg.ch /, 26. Sep -tember 2013.

83 Vgl. z. B. Zitate in FN 1.

80 Vgl. Urteil des Bundesgerichts vom 5. November 2010, 2C_240/2010, Sachverhalt B. (beide gerichtlichen Vorinstanzen schützten die Position der steuerpflichti-gen Person); Urteil des Bundesgerichts vom 1. Juli 2011, 2C_20/2011, Sachverhalt C. (Kantonsgericht hat Beschwerde wegen Vertrauensschutz gutgeheissen).

81 Vgl. Schweizerische Steuerkonferenz, Analyse zum Bundesgerichtsentscheid vom 12. März 2010 (2C_658/2009) zur Abzugsberechtigung von Einkäufen bei nachfolgendem Kapitalbezug (steuerrechtliche Tragweite von Art. 79b Abs. 3 BVG), an der Sitzung vom 3. November 2010 vom Vorstand der SSK genehmigt, publiziert in: http://www.steuerkonferenz.ch/?Dokumente:Analysen, 17. September 2013; vgl. auch Schwei-zerische Steuerkonferenz, Anwendungsfall A.4.2.6.

Sonderdruck Seite 30

EINKAUF UND KAPITALBEZUG

(z. B. Freizügigkeitsleistung), so spricht die Formulierung von Art. 79b Abs. 3 Satz 1 BVG dafür, dass diese Bestimmung auch bei einer Leistung in Kapitalform aus der anderen Vorsorgeeinrichtung anwendbar sein kann.Erstens handelt es sich immer noch um «daraus resultierende Leistungen» (in ei-nem kausalen Sinn) und zweitens dürfen diese Leistungen aus der «Vorsorge» bzw. von den «Vorsorgeeinrichtungen» (Mehr-zahl) nicht zurückgezogen werden.

Viel mehr ergibt eine grammatikalische Ausle-gung, soweit vorliegend von Bedeutung, nicht.

2 Systematische Auslegung (äussere Systematik)

a Systematische EinordnungArt. 79b Abs. 3 Satz 1 BVG steht im BVG und nicht in Art. 33 Abs. 1 Bst. d DBG. Nach dem kla-ren sprachlichen Sinn ist Art. 79b Abs. 3 Satz 1 BVG als Nebennorm im Steuerrecht gleich aus-zulegen wie im Vorsorgerecht84.In diesem Zusammenhang stellt sich die An-schlussfrage, ob eine Steuerbehörde bei der Auslegung dieser Norm an die Auslegung durch Vorsorgeeinrichtungen, Aufsichtsbehörden und Sozialversicherungsgerichte gebunden ist.Wenn eine Steuerbehörde Art. 79b Abs. 3 Satz 1 BVG für die Beurteilung des Ausgangsfalles im Einkommenssteuerrecht als Nebennorm für massgeblich erachtet, so hat sie diese Norm im Sinne einer Vorfrage korrekt auszulegen. Wenn bereits die vorsorgerechtlich unmittelbar zu-ständige Behörde über die Anwendung dieser Norm im Einzelfall rechtskräftig entschieden hat, dann wäre die Steuerbehörde daran gebun-den. Dies gilt grundsätzlich für alle Vorfragen aus anderen Rechtsgebieten85.Im Ausgangsfall entscheidet zuerst Vorsorgeein-richtung A, ob ein Einkauf von CHF 100 000.– zulässig ist. Anschliessend entscheidet Vorsorge-einrichtung B, ob eine Leistung in Kapitalform

zulässig ist. Diese Entscheidungen ergehen nicht in Form einer Verfügung. Sofern die versi-cherte Person mit der Entscheidung einer Vor-sorgeeinrichtung nicht einverstanden ist, kann sie Klage erheben (vgl. Art. 73 BVG). Sobald das zuständige Gericht über diese Klage rechtskräf-tig entschieden hat, wäre eine Steuerbehörde an diese Entscheidung im konkreten Einzelfall ge-bunden. Dieser Fall wird in der Praxis kaum eintreten, wenn das BSV seine Praxis nicht ver-schärft, weil versicherte Personen keinen Anlass zur Klage haben.Auch ohne rechtskräftige gerichtliche Entschei-dung sollte eine Steuerbehörde bei der Aus -legung von Art. 79b Abs. 3 Satz 1 BVG nicht ohne triftige Gründe von der übereinstimmenden vor-sorgerechtlichen Beurteilung dieser Bestim-mung durch Vorsorgeeinrichtungen und Auf-sichtsbehörden abweichen:• Art. 79b Abs. 3 Satz 1 BVG ist jeweils Bestand-

teil der Vorsorgereglemente. Die zuständigen Aufsichtsbehörden prüfen diese Reglemente auf Übereinstimmung mit dem BVG86. Die Aufsichtsbehörden überwachen auch, dass die zwingenden Bestimmungen des BVG durch die Vorsorgeeinrichtungen korrekt ausgelegt und eingehalten werden. Zu die-sem Zweck erlassen die Aufsichtsbehörden auch Weisungen. Das BSV hat zahlreiche Mitteilungen erlassen87. Diese Mitteilungen sind zwar nur ein Informationsorgan des BSV und ihr Inhalt gilt nur dann als Wei-sung, wenn dies im Einzelfall ausdrücklich gesagt wird88. In der Praxis wirken sich diese Mitteilungen aber ähnlich wie Verwaltungs-ordnungen aus89.

• Im Zeitpunkt, in dem eine Steuerbehörde Art. 79b Abs. 3 Satz 1 BVG als ergänzende Norm zur Beurteilung eines steuerrechtli-chen Falles heranzieht, liegt bereits eine individuell-konkrete vorsorgerechtliche Be-urteilung dieser Norm durch eine Vorsorge-einrichtung vor. Diese entscheidet vergleich-

Sonderdruck Seite 31

EINKAUF UND KAPITALBEZUG

bar einer Behörde über die zutreffende Auslegung von Art. 79b Abs. 3 Satz 1 BVG im Verhältnis zur versicherten Person. Eine er-folgreiche Klage gegen diese Entscheidung ist nicht mehr möglich, wenn die versicherte Person innert der Verjährungsfrist keine Klage im Sinne von Art. 73 BVG erhebt oder u. U., wenn die versicherte Person die Ent-scheidung der Vorsorgeeinrichtung vorbe-haltlos anerkennt (Treu und Glauben)90. Damit wird die Entscheidung der Vorsorge-einrichtung ähnlich unabänderlich wie ein rechtskräftiges Urteil eines Gerichts.

• Zumindest insoweit, als sich eine Vorsorge-einrichtung bei einer Entscheidung zu Art. 79b Abs. 3 Satz 1 BVG an klare und vor-sorgerechtlich unbestrittene Weisungen und Informationen der Aufsichtsbehörde hält und die versicherte Person diese Entschei-dung vorbehaltlos anerkennt, sollte eine Steuerbehörde sich grundsätzlich daran ge-bunden fühlen und nicht ohne triftige Gründe davon abweichen.

b Art. 60c BVV 2Gestützt auf Art. 1 Abs. 3 BVG kommt dem Bun-desrat explizit die Aufgabe zu, die Grundsätze der

Vorsorge zu präzisieren. Art. 79a – 79c BVG gehö-ren in einem weiteren Sinne auch dazu.Der Bundesrat hat in Art. 60c BVV 2 die konsoli-dierte Betrachtungsweise zulasten der versicher-ten Person für Art. 79c BVG ausdrücklich ange-ordnet.Es ist zu vermuten, dass er dies mit Bezug auf Art. 79b Abs. 3 Satz 1 BVG nicht für erforderlich hielt, weil eine Verletzung dieser Bestimmung bei verschiedenen Vorsorgeverhältnissen a priori ausgeschlossen ist.Es ist aber auch zu vermuten, dass eine konsoli-dierte Betrachtungsweise zugunsten der versi-cherten Person im Grundsatz ebenfalls nicht vorgesehen ist.

III Zweck des Gesetzes

1 GrundsatzDer Zweck des Gesetzes kann sich ergeben91:(1.) ausdrücklich aus dem Gesetz(2.) aus den Gesetzesmaterialien(3.) aus der gesetzlichen Interessenbeurteilung(4.) und in der Praxis teilweise aus der Eigen-

wertung des Rechtsanwenders, die dann un-ter dem Ausdruck «objektiver Zweck» ver-deckt wird

89 Zu den Verwaltungsverordnungen vgl. Reich, § 3 N 34 – 37, insbesondere N 35: «(. . .) In der Gerichts -praxis wird allerdings eher selten von den in Verwal-tungsverordnungen getroffenen Regelungen abgewi-chen, wenn sich aus ihnen eine vertretbare Auslegung der gesetz lichen Bestimmungen ergibt (. . .).»

90 Vgl. z. B. Hausheer/Jaun, N 3.119 f. (widersprüchliches Verhalten) und N 3.137 – 3.142 (Verwirkung wegen ver-zögerter Rechtsausübung).

91 Vgl. Kramer, S. 155 – 157; vgl. auch Seiler, Praktische Rechtsanwendung, S. 45 – 47, mit dem bedenkens -werten Hinweis, dass «in Frage gestellt werden kann, ob die teleologische Auslegung überhaupt ein selbstständiges Element neben den übrigen Auslegungselementen ist.»

84 Dies entspricht auch dem Willen des Gesetzgebers, vgl. Ziff. F.III.3.c. Einheitliche Auslegung im Vorsorge- und im Steuerrecht.

85 Vgl. BGE 131 III 546, E. 2.3, und Tschannen/Zimmerli/Kiener, § 17, S. 82. Weiterführend zur Berücksichtigung von individuell-konkreten Normen bei der Rechts -anwendung, insbesondere auch die Berücksichtigung von Rechtsgeschäften, Ott, Leitsätze, Ziff. 3.7, S. 21; Ott, Methode, S. 69 – 79.

86 Vgl. Moser, S. 21; vgl. auch Maute/Steiner/Rufener/Lang, S. 150 – 153.

87 Vgl. Art. 61 – 64 BVG; vgl. z. B. die zahlreichen «Mittei-lungen über die berufliche Vorsorge» des BSV.

88 Vgl. z. B. den Hinweis auf S. 1 der BSV, Mitteilungen über die berufliche Vorsorge Nr. 84.

Sonderdruck Seite 32

EINKAUF UND KAPITALBEZUG

Es muss beachtet werden, dass dem Gesetz nicht bloss ein Zweck, sondern eine Interessenbeur-teilung zugrunde liegt. Es genügt nicht, wenn die Anwendung der Norm auf den zu beurteilen-den Problemfall von einem Gesetzeszweck her gleichermassen als erwünscht erscheint. Eine echte Schlussfolgerung ist nur möglich, sofern eine gesetzliche Interessenbeurteilung zum Schluss führt, dass die entgegenstehenden Inte-ressen nicht stärker tangiert werden92. Andernfalls liegt eine neue Bewertungssituation vor. Diese erfordert eine relativ selbstständige Interessenbeurteilung durch den Rechtsanwen-der. D. h.93:• Der Rechtsanwender wird hier ermitteln,

welche Auslegungsvariante sachlich am an-gemessensten erscheint.Er wird dabei die Norm und den Fall umfas-send analysieren und dabei besonders Argu-mente aus Rechtsfolgeerwägungen, der Rechtsgleichheit, des inneren Systems der Rechtsordnung und der Praktikabilität ein-fliessen lassen.Danach wird er diese Argumente, sofern sich diese widersprechen, gegeneinander abwägen.Aus rechtsstaatlichen Gründen ist dabei zu erwarten, dass sich der Rechtsanwender be-müht, Wertmassstäbe anzuwenden, welche der gesetzlichen Interessenbeurteilung der anwendbaren Norm und der benachbarten Normen soweit möglich ähnlich sind.

• U. E. ist es vorzugswürdig, diese Analyse und deren Ergebnis nicht unter dem Titel «ob-jektiver Zweck», sondern unter einem sepa-raten Titel «sachliche Angemessenheit» oder «relativ selbstständige Interessenbeur-teilung» darzustellen.

2 Meinung BundesgerichtDas Bundesgericht behauptet im Urteil vom 12. März 2010, 2C_658/2009:• E. 2.1: «(. . .) Das Ziel eines Einkaufs von

Beitragsjahren besteht im Aufbau bzw. der

Verbesserung der beruflichen Vorsorge. Die-ses Ziel wird namentlich dann offensichtlich verfehlt, wenn die gleichen Mittel kurze Zeit später – bei kaum verbessertem Versiche-rungsschutz – der Vorsorgeeinrichtung wie-der entnommen werden (. . .).»

• E. 3.2.2: Die Stellungnahme des BSV beziehe sich ausschliesslich auf die vorsorgerechtli-che Frage, unter welchen Bedingungen ein Rückzug in Kapitalform zulässig sei. Dazu müsse vorliegend nichts gesagt werden, son-dern nur zur steuerrechtlichen Tragweite dieser Bestimmung, d. h. zur Frage, ob die Einzahlung vom steuerbaren Einkommen abgezogen werden könne.

• E. 3.3: »(. . .) Die parlamentarischen Bera-tungen zu Art. 79b Abs. 3 Satz 1 BVG lassen jedoch unmissverständlich erkennen, dass mit der Sperrfrist (soweit ersichtlich) die -selben Missbräuche der Steuerminimierung bekämpft werden sollten, welche schon die bundesgerichtliche Praxis zur Verweigerung der Abzugsfähigkeit wegen Steuerumge-hung (. . .) veranlasst haben (. . .).»

• E. 3.3.1: «Art. 79b Abs. 3 BVG übernimmt und konkretisiert die bundesgerichtliche Rechtsprechung zur Verweigerung der Ab-zugsberechtigung wegen Steuerumgehung (. . .) im Sinne einer einheitlichen und ver-bindlichen Gesetzesregelung (. . .).»

Aus diesen Zwecken leitet das Bundesgericht in E. 3.3.1 und 3.3.2 ab, dass damit die Bestim-mung entgegen dem insoweit klaren Wortsinn so ausgelegt werden müsse, dass• innerhalb der Dreijahresfrist grundsätzlich

ausnahmslos jegliche Kapitalauszahlung missbräuchlich sei;

• jede während der Sperrfrist erfolgte Einzah-lung vom Kapitalabzug ausgeschlossen wer-den müsse.

Dies gelte selbst dann, wenn eine klare Tren-nung zwischen spätem Einkauf und Leistung in Rentenform einerseits und langfristig angespar-

Sonderdruck Seite 33

EINKAUF UND KAPITALBEZUG

tem Vorsorgeguthaben und Kapitalauszahlung andererseits vollzogen wird94.Nachfolgend wird geprüft, ob die Begründung des Bundesgerichts einer kritischen Prüfung standhält.

3 Zweck gemäss dem historischen Gesetzgeber

a Erleichterung der Einkäufe contra Verhinderung echter Missbräuche

Das Bundesgericht behauptet im Urteil vom 12. März 2010, 2C_658/2009:• E. 3.3: »(. . .) Die parlamentarischen Bera-

tungen zu Art. 79b Abs. 3 Satz 1 BVG lassen jedoch unmissverständlich erkennen, dass mit der Sperrfrist (soweit ersichtlich) diesel-ben Missbräuche der Steuerminimierung bekämpft werden sollten, welche schon die bundesgerichtliche Praxis zur Verweigerung der Abzugsfähigkeit wegen Steuerumge-hung (. . .) veranlasst haben (. . .).»

Die Grundlage für diesen Schluss lässt sich in dieser Form nicht als Mehrheitsmeinung der Parlamentarier jeder Kammer ausmachen. Im Gegenteil:Votum Bruno Frick (CVP), für die Kommission des Ständerates95:«Bei der Höchstgrenze haben wir uns wie der Nationalrat für den zehnfachen Höchstbetrag entschieden (. . .). Wir haben aber die we-sentliche Erleichterung eingeführt, wonach bis zum 65. Altersjahr der volle Einkauf ge-mäss Reglement der Pensionskasse erfolgen kann. Das ist eine wesentliche Erleichterung für Selbstständigerwerbende und für Be-triebsinhaber, die ihren Betrieb kurz vor der Pensionierung verkaufen und in diesem Zeitpunkt ausgleichen möchten, was sie in früheren Jahren nicht an Lohn in der Pen-sionskasse versichern konnten. Allerdings soll das Geld nicht sofort wieder bezogen werden können. Wir wollen kein steuerbe-

günstigtes Kontokorrent in der Pensionskas-se, es soll eine dreijährige Sperrfrist für den Rückzug der Gelder bestehen. Der Gestal-tungsspielraum hat sich dadurch insbeson-dere für Selbstständigerwerbende massiv er-höht.»Dies ist ein besonders wertvolles Votum, da es das ausführlichste Votum des Vertreters derjeni-gen Kommission ist, welche Art. 79b Abs. 3 Satz 1 BVG formuliert hat.Bei diesem Beispiel ist sicher der typische Fall gemeint, bei dem ein sehr hoher Kapitalgewinn aus selbstständiger Erwerbstätigkeit erzielt wird. Es wird dann ein sehr hoher Einkauf in die Vor-sorge getätigt. Es ist verboten, nun innert drei Jahren das gesamte Altersguthaben in Kapital-form zu beziehen.Unklar ist jedoch, wie Ständerat Frick den Fall beurteilt hätte, bei dem die daraus resultieren-den Leistungen in Rentenform und nur das übrige Altersguthaben in Kapitalform bezogen worden wäre; d. h. nur dasjenige Altersgutha-ben, das gerade nicht aus diesem Einkauf resul-tierte und über viele Jahre angespart worden ist.Klar ist hingegen, dass das Hauptziel von Art. 79b Abs. 3 Satz 1 BVG die wesentliche Er-leichterung des Einkaufs im Verhältnis zur Vor-gängerbestimmung war. Art. 79b BVG in der bisherigen Fassung hätte ei-nen Kapitalbezug in unserem Ausgangsfall nicht verboten.D. h. bei der Auslegung von Art. 79b Abs. 3 Satz 1 BVG sind ganz gegenläufige Zwecke zu berück-sichtigen.

92 Vgl. Ott, Leitsätze, Ziff. 6.3, S. 41; vgl. ebenso Seiler, Praktische Rechtsanwendung, S. 47 f.

93 Vgl. Ott, Leitsätze, Ziff. 6.3, S. 41. Eingehend zur Interes-senbeurteilung Ott, Methode, S. 287 – 305; Seiler, Prakti-sche Rechtsanwendung, S. 59 – 74 und 89 – 95.

94 Prägnant formuliert im Urteil des Bundesgerichts vom 1. Juli 2011, 2C_21/2011, E. 2.1.

95 AmtlBull 2002 S, S. 1035 f.

Sonderdruck Seite 34

EINKAUF UND KAPITALBEZUG

b Eigene Missbrauchsvorschrift, keine Fortsetzung der Steuerumgehungs -praxis des Bundesgerichts

Das Bundesgericht behauptet im Urteil vom 12. März 2010, 2C_658/2009:• E. 3.3.1: «Art. 79b Abs. 3 BVG übernimmt

und konkretisiert die bundesgerichtliche Rechtsprechung zur Verweigerung der Ab-zugsberechtigung wegen Steuerumgehung (. . .) im Sinne einer einheitlichen und ver-bindlichen Gesetzesregelung (. . .).»

Eine sorgfältige Analyse der parlamentarischen Beratungen zeigt, dass es nicht Zweck der Bestimmung ist, alle Fälle, die das Bundesge-richt oder kantonale Gerichte jemals als Steuer-umgehung qualifiziert haben, nun über eine gesetzliche Regelung zu erfassen.Z. B. sei das nachfolgende Votum zitiert, das im Zusammenhang mit den Art. 79a – 79c BVG ge-macht worden ist:Votum Georges Theiler (FDP):«(. . .) Es liegt am Parlament, die politische Frage zu beantworten, was angemessen ist und was nicht (. . .). Man kann es auch dem Ständerat überlassen, diese Limite noch mehr zu erhöhen, damit wirklich nur der Miss-brauch bekämpft und nicht eine fiskalpoli-tische Idee umgesetzt wird (. . .)96.Der Ständerat hat in der Folge diese Limite in Art. 79c BVG wie der Nationalrat auf den doppel-ten Betrag gemäss Entwurf des Bundesrates fest-gesetzt, Art. 79b BVG gemäss Entwurf des Bun-desrates (aArt. 79a BVG) gestrichen und den neuen Art. 79b BVG eingefügt und auch noch den Art. 1 BVG massgeblich umgestaltet.Die Rechtsprechung des Bundesgerichtes zur Steuerumgehung wurde offensichtlich nicht oh-ne Weiteres übernommen. Von einer Absicht der Verschärfung (ersatzlose Streichung des subjek-tiven Elements der Steuerumgehung) kann kei-ne Rede sein.

c Einheitliche Auslegung im Vorsorge- und im Steuerrecht

Das Bundesgericht behauptet im Urteil vom 12. März 2010, 2C_658/2009:• E. 3.2.2: Die Stellungnahme des BSV beziehe

sich ausschliesslich auf die vorsorgerechtli-che Frage, unter welchen Bedingungen ein Rückzug in Kapitalform zulässig sei. Dazu müsse vorliegend nichts gesagt werden, son-dern nur zur steuerrechtlichen Tragweite dieser Bestimmung, d. h. zur Frage, ob die Einzahlung vom steuerbaren Einkommen abgezogen werden könne.

Interessant ist das Votum von Bundesrätin Drei-fuss im Rahmen der Beratungen der Art. 79a – 79c BVG im Nationalrat mit Bezug auf die Fra-ge, ob es im Vorsorge- und im Steuerrecht ver-schiedene Missbrauchsnormen geben soll.Votum Ruth Dreifuss, Bundesrätin (SP)97:«(. . .) J’envisage, au stade actuel, une formu-lation qui portera à la fois sur la LPP et sur le droit fiscal (. . .).»Der Ständerat hat in der Folge die soeben er-wähnten Änderungen in Art. 1 und 79a–79c BVG vorgenommen. Das Parlament ist aber der Ziel-richtung von Bundesrätin Dreifuss augenschein-lich treu geblieben.Art. 79b Abs. 3 Satz 1 BVG ist nach dem Willen des Gesetzgebers im Vorsorge- und Steuerrecht einheitlich auszulegen. Dies entspricht dem kla-ren Wortsinn (unter Berücksichtigung der äus-seren Systematik) und dem Zweck des Gesetzes.Damit setzt sich das Bundesgericht nicht aus -einander.

d Förderung der beruflichen Vorsorge bis zum Zeitpunkt der Pensionierung

aa Behauptung BundesgerichtDas Bundesgericht behauptet im Urteil vom 12. März 2010, 2C_658/2009:• E. 2.1: «(. . .) Das Ziel eines Einkaufs von

Beitragsjahren besteht im Aufbau bzw. der

Sonderdruck Seite 35

EINKAUF UND KAPITALBEZUG

Verbesserung der beruflichen Vorsorge. Die-ses Ziel wird namentlich dann offensichtlich verfehlt, wenn die gleichen Mittel kurze Zeit später – bei kaum verbessertem Versiche-rungsschutz – der Vorsorgeeinrichtung wie-der entnommen werden (. . .).»

• Das Bundesgericht führt in E. 2.2 zudem aus: Bei einem Einkauf von insgesamt CHF 80 000.– in den drei Jahren vor der Pensionierung mit nachfolgendem Renten-bezug der daraus resultierenden Leistung und Kapitalbezug der übrigen Altersgut -haben werde nicht die Schliessung einer Beitragslücke angestrebt, sondern die Pensi-onskasse als steuerbegünstigtes Kontokor-rent zweckentfremdet.

bb Der massgebliche Zeitpunkt der beruflichen Vorsorge

Art. 1 Abs. 1 BVG bestimmt: «Berufliche Vorsorge umfasst alle Massnahmen auf kollektiver Basis, die den älteren Menschen (. . .) beim Eintreten eines Versicherungsfalles (Alter . . .) zusammen mit den Leistungen der (. . .) AHV (. . .) die Fort-setzung der gewohnten Lebenshaltung in ange-messener Weise erlauben.»Berufliche Vorsorge ist damit erst im Zeitpunkt des Risikofalles Alter (Pensionierung) abgeschlossen. Dies geht auch ausdrücklich aus dem bereits er-wähnten Zitat von Ständerat Frick hervor.Die berufliche Vorsorge wird vom Verfassungsge-ber speziell gefördert, unter anderem mit steuer-rechtlichen Massnahmen. Es ist geradezu ein Zweck dieser steuerrechtlichen Massnahmen, dass sich Personen dadurch bewegen lassen, auf den Zeitpunkt der Pensionierung genügend Mit-tel zur Seite gelegt zu haben, um ihre gewohnte Lebenshaltung in angemessener Weise mit den Mitteln der Säule 1 und 2 fortsetzen zu können. Dieser Sparprozess ist erst im Zeitpunkt der Pen-sionierung abgeschlossen.Solange eine Beitragslücke vorhanden ist, wird mit einem Einkauf die Schliessung dieser Lücke

angestrebt. Damit wird ein Vorsorgeziel verfolgt und damit wird entsprechend der verfassungs-mässig vorgesehenen steuerrechtlichen Förde-rung der beruflichen Vorsorge auch zweckent-sprechend, legitim und legal das Ziel des steuerprivilegierten Vorsorgesparens verfolgt98.Interessant ist ein Vergleich mit der Säule 3a (vgl. Art. 1 ff. BVV 3). Hier behauptet soweit er-sichtlich niemand, dass mit Beiträgen in den drei Jahren vor einer Leistung in Kapitalform kein Vorsorgeziel verfolgt werde.

cc Förderung der Vorsorge, nicht nur der Versicherung

Das Bundesgericht vermengt das Versicherungs-prinzip mit der Vorsorge. Das Wort «Vorsorge» ist einerseits weiter als das Wort «Versicherung» und andererseits enger. Das Wort «Vorsorge» enthält einerseits auch einen Teil der Vermö-gensbildung. Auf der anderen Seite enthält es nicht alle Versicherungen99.Art. 113 Abs. 2 Bst. a BV bestimmt: Die berufliche Vorsorge ermöglicht zusammen mit der AHV die Fortsetzung der gewohnten Lebenshaltung in angemessener Weise.D. h. die zwei Säulen ermöglichen dieses Ziel. Art. 37 BVG zeigt, dass dieses Ziel grundsätzlich gleichberechtigt mit einer Leistung in Kapital-form erreicht werden kann.Daran ändert nichts, dass die Vorsorgeeinrich-tungen dafür sorgen müssen, dass mindestens 6% aller Beiträge eines angeschlossenen Arbeit-gebers für die Risiken Tod und Invalidität bestimmt sein müssen (Art. 1 Abs. 3 BVG i. V. m. Art. 1h BVV 2):

96 AmtlBull 2002 N, S. 566 ff.97 AmtlBull 2002 N, S. 572.98 Vgl. hierzu die weiteren Ausführungen in Ziff. F.III.4.

Gesetzliche Interessen beurteilung.99 Vgl. Höhn/Waldburger, Band II, § 52 N 6 ff.; vgl. weiter

auch Maute/Steiner/Rufener/Lang, S. 35.

Sonderdruck Seite 36

EINKAUF UND KAPITALBEZUG

• Erstens bezieht sich das Versicherungsprin-zip, wie aus der Verordnung klar hervorgeht, auf die Gesamtheit der Beiträge für alle Kol-lektive und Pläne eines angeschlossenen Ar-beitgebers.

• Zweitens dürfen die anderen 94% der Beiträ-ge für die Vorsorge im Alter verwendet wer-den. Dies ist der Hauptzweck der beruflichen Vorsorge.

Sofern das in Art. 1h BVV 2 konkretisierte Versi-cherungsprinzip eingehalten wird, bietet dieses für sich keine Grundlage, Leistungen in Kapital-form gegenüber Leistungen in Rentenform zu diskriminieren. Eine Vorsorgeeinrichtung bietet ein Gesamtpaket an. Dieses muss sich an die gesetzlichen Vorgaben halten. Wenn diese ge-setzlichen Vorgaben als ungenügend erschei-nen, so ist es am Gesetzgeber, diese Vorgaben an-zupassen.Auch hier ist ein Vergleich mit der Säule 3a auf-schlussreich. Art. 1 Abs. 3 BVV 3 regelt als gebun-dene Vorsorgevereinbarungen «Sparverträge», die mit einer «Risiko-Versicherung» ergänzt werden können, aber nicht müssen.

dd Der liberale Zweck des BVGDas BVG ist ein liberales Gesetz. Dies wird durch das nachfolgende, unwidersprochen gebliebene Votum unterstrichen:Votum Christine Egerszegi-Obrist (FDP), für die Kommission des Nationalrates zu Art. 37 BVG100:«Es handelt sich bei den BVG-Geldern um zwangsgespartes Geld. Das BVG ist ein libera-les Gesetz, in das nur Mindestvorschriften aufgenommen werden. Wenn sich jemand ei-nen Teil als Kapitalzahlung ausbezahlen will, dann soll er diese Möglichkeit haben (. . .).»Eine Einschränkung des Kapitalbezugs wäre vor allem dann gerechtfertigt, wenn ein Risiko be-steht, dass staatliche Leistungen beansprucht werden. Je mehr Geld ein Mensch jedoch hat, desto geringer ist diese Wahrscheinlichkeit.

Eine Einschränkung des Kapitalbezugs wäre da-mit im Bereich der obligatorischen beruflichen Vorsorge allenfalls angezeigt. Der Gesetzgeber hat sich ausdrücklich mit diesen Überlegungen auseinandergesetzt. Die Mehrheitsmeinung, die in Art. 37 BVG einen klaren Ausdruck gefunden hat, war:• Die Vorsorgeeinrichtungen sind grundsätz-

lich frei, Kapitalleistungen anstelle von Rentenleistungen anzubieten.

• Die Vorsorgeeinrichtungen sind sogar im obligatorischen Bereich der beruflichen Vor-sorge verpflichtet (nicht nur berechtigt), der versicherten Person zu erlauben, einen Vier-tel des Altersguthabens in Kapitalform zu beziehen.

Mit diesem liberalen Zweck des BVG mit Bezug auf die Wahl der Leistungen in Kapitalform setzt sich das Bundesgericht nicht auseinander.

ee Kein steuerbegünstigtes Konto -korrent, aber steuerbegünstigtes Sparheft

Die Figur des steuerbegünstigten Kontokorrentes wurde im Rahmen der parlamentarischen Bera-tungen erwähnt. Diese Figur darf aber nicht aus dem Zusammenhang gerissen und dann auf ganz neue Fälle übertragen werden, die nie un-ter dem Gesichtspunkt dieser Figur beraten wor-den sind.Das Altersguthaben, das nicht aus Einkäufen der letzten drei Jahre aufgebaut worden ist, stellt kein Kontokorrent, sondern ein Sparguthaben dar. Es ist das Ergebnis eines Sparprozesses.Hinzu kommt:(1.) Der Ausdruck «Kontokorrent» passt nur auf

einen Vorsorgeplan. Hier allenfalls sogar nur auf einen engeren Kontobegriff be-schränkt. Eine konsolidierte Betrachtung zulasten der versicherten Person hat mit ei-nem Kontokorrent kaum etwas zu tun.

(2.) Der Ausdruck passt auch nur auf die weni-gen Fälle, bei denen in sehr kurzer Abfolge

Sonderdruck Seite 37

EINKAUF UND KAPITALBEZUG

(mehrmals im gleichen Jahr) Einkäufe ge-tätigt und Leistungen in Kapitalform bezo-gen werden, ohne dass ein besonderer, vom BVG geschützter Grund vorliegen würde. Die grosse Zahl der anderen Fälle entspricht viel mehr der Figur eines Sparbüchleins. Auch hier wird für bestimmte Zwecke Geld zur Seite gelegt. Treten dann diese Zwecke ein (z. B. Pensionierung, Frühpensionie-rung, Kauf Liegenschaft, Aufnahme selbst-ständige Erwerbstätigkeit), dann wird das Geld entnommen. Deswegen wird das Spar-büchlein nicht zum Kontokorrent.

(3.) Von einer Zweckentfremdung kann zudem keine Rede sein, wenn im Zeitpunkt des Einkaufs keine Absicht bestand, innert drei Jahren die daraus resultierenden Leistun-gen in Kapitalform zu beziehen und sich dann die Situation ändert und auf dieses Geld zur Finanzierung eines von der Ver-fassung und vom BVG vorgesehenen Ver-wendungszweckes zurückgegriffen wird, ja vielleicht sogar zurückgegriffen werden muss!

e Zweck im Fall des WEF-Vorbezugs

aa Nationalrat BortoluzziVotum Toni Bortoluzzi (SVP)101:«Als zweites Beispiel möchte ich Ihnen das fol-gende nennen: Der Vorsorgenehmer erhöht seine Hypothek um ein paar hunderttau-send Franken und tätigt mit dem Geld einen Einkauf in die Vorsorgeeinrichtung. Ein hal-bes Jahr später nimmt er dieses Geld als Vor-bezug für die Amortisation seiner Hypothek wieder heraus. Auch das ist natürlich eine Be-nutzung der Vorsorgeeinrichtung als Steuer-sparinstrument. Hier haben wir Verständnis für das Anliegen der Steuerverwaltung, denn es kann nicht angehen, dass mit dem Instru-ment der beruflichen Vorsorge einfach steuer-liche Verpflichtungen umgangen werden.»

Die Ausführungen von Nationalrat Bortoluzzi weisen auf Folgendes hin:• Art. 79b Abs. 3 Satz 1 BVG soll nur auf Ein-

käufe von mehreren hunderttausend Fran-ken angewendet werden. Daraus dürfte ab-geleitet werden, dass ein Betrag jedenfalls bis CHF 100 000.– unwesentlich ist.

• Nicht angesprochen ist der besondere Fall, bei dem der Vorsorgenehmer im Zeitpunkt des Einkaufs den WEF-Bezug nicht geplant hat.Bei einem WEF-Vorbezug innert sechs Mo-naten kann nach allgemeiner Lebenserfah-rung davon ausgegangen werden, dass dieser bereits im Zeitpunkt des Einkaufs be-absichtigt war.

• Hinzu kommt, dass Nationalrat Bortoluzzi einen ausgesprochenen Sonderfall erwähnt, nämlich die Erhöhung und Amortisation der Hypothek innert sechs Monaten. Es kann aber nicht mit Sicherheit gesagt werden, wie der Fall beurteilt worden wäre, wenn dieses Sachverhaltselement fehlen würde. So ist doch davon auszugehen, dass jede Aussage auch eine Bedeutung hat.

• Er bezieht sich auf «dieses Geld». Was ist aber, wenn es gerade nicht «dieses Geld» ist, weil der Einkaufsbetrag in der Vorsorgeein-richtung rechnungsmässig separat verwaltet wird (z. B. Einkauf in Basisplan, WEF-Vor-bezug aus Kaderplan).

• Er bezieht sich auch nicht auf den Fall, wo dieser Einkauf für den WEF-Vorbezug ohne jede Bedeutung war, weil bereits zuvor genü-gend Mittel in der Vorsorgeeinrichtung an-gespart worden sind. Denn dann wird gerade nicht «dieses Geld» in Kapitalform bezogen, sondern das bereits vorbestehende Geld.

Das Beispiel von Nationalrat Bortoluzzi passt nicht zur Formulierung von Art. 79b Abs. 3

100 AmtlBull 2002 N, S. 548.101 AmtlBull 2003 N, S. 631.

Sonderdruck Seite 38

EINKAUF UND KAPITALBEZUG

Satz 1 BVG. Er hat dieses Beispiel zudem auch gar nicht bei der Beratung dieser Bestimmung, sondern bei der Beratung von Art. 79b Abs. 3 Satz 2 BVG eingebracht. Mit dieser Bestimmung hat das Beispiel nichts zu tun.

bb Ständerat StuderJean Studer (SP), für die Kommission des Stän-derates102:«C’est une des dispositions qui va dans le sens de ce que vient de dire M. le président de la Conféderation, c’est-à-dire qui vise à limiter les détournements qui peuvent être faits lors de rachats pour les acquisitions de propriétés. La decision du conseil national semble par -faitement raisonnable.»Ständerat Studers Aussage spricht dafür, dass beim Einkauf darauf abgestellt werden muss, ob dieser gerade in der Absicht und aus dem Grund gemacht worden ist, kurz darauf einen WEF-Vor-bezug zu tätigen zum Erwerb einer Liegen-schaft.Diese Voraussetzungen sind aber in den nachfol-genden Fällen nicht gegeben:• Sofern dieser Einkauf für den WEF-Vorbezug

ohne jede Bedeutung ist, weil bereits zuvor genügend Mittel in der Vorsorgeeinrichtung angespart worden sind. Ein Einkauf erfolgt dann eigentlich ganz normal zum Aufbau der Vorsorge.

• Ebensowenig kann darauf geschlossen wer-den, wenn eine kontinuierliche Einkaufs-strategie verfolgt wird.

• Diese Voraussetzungen wären nicht einmal dann gegeben, wenn mehr als das ohne Ein-kauf bestehende Altersguthaben bezogen wird, sofern im Zeitpunkt des Einkaufs der WEF-Vorbezug nicht vorausgesehen worden ist.

f SchlussfolgerungDie Analyse der Materialien zeigt, dass bei Art. 79b Abs. 3 Satz 1 BVG verschiedene Zwecke zu berück-

sichtigen sind. Diese Bestimmung will Einkäufe im Verhältnis zur Vorgängerbestimmung erleich-tern und nur echte Missbräuche erfassen.Die Behauptungen des Bundesgerichts zu den Zwecken von Art. 79b Abs. 3 Satz 1 BVG entspre-chen keiner geäusserten Mehrheitsmeinung im Parlament. Die Schlussfolgerungen, die das Bundesgericht zieht, lassen sich durch diese Zwecke nicht ziehen.Die Voten anlässlich der parlamentarischen Be-ratungen lassen im Gegenteil sogar vermuten, dass die Bestimmung nur Einkäufe ab mehreren hunderttausend Franken erfassen soll und auch dies nur dann, wenn im Zeitpunkt des Einkaufs bereits die Absicht besteht, den Einkaufsbetrag wieder in Kapitalform zu entnehmen und wenn der Einkauf für diese Entnahme auch erforder-lich ist (Beschränkung auf Leistungserhöhung).Eine echte Schlussfolgerung ist aus den Mate-rialien aber nicht möglich, da sich die Parla-mentarier zu wenig (besser gesagt fast gar keine) Rechenschaft über die Vielfalt der Vorsor-gesituationen gegeben haben.Soweit Steuerverwaltungen und Gerichte auf an-lässlich der Beratungen genannte Beispiele ab-stellen wollen, dann müssen sie es integral tun. Andernfalls wird dem Gesetzgeber ein Zweck un-tergeschoben, von dem nicht gesagt werden kann, er entspreche einer Mehrheits meinung103.

4 Gesetzliche Interessen -beurteilung

Es verbleibt das aussagekräftigste Instrument zur Ermittlung des Gesetzeszwecks: die gesetzli-che Interessenbeurteilung.Hierbei ist zu prüfen, welche Auswirkungen die Anwendung der Norm auf die typischen Anwen-dungsfälle hat. Diese Auswirkungen sind mit den Auswirkungen bei typischen Nicht-Anwen-dungsfällen zu vergleichen.Daraus ergibt sich, welche Interessen der Gesetz-geber vorgezogen hat und welche Nachteile er als in Kauf zu nehmendes Übel betrachtete104.

Sonderdruck Seite 39

EINKAUF UND KAPITALBEZUG

Schliesslich ist der zu beurteilende Fall darauf zu prüfen, ob er den typischen Anwendungsfäl-len oder Nicht-Anwendungsfällen zuzuordnen ist.Im vorliegenden Fall gibt es zahlreiche typische Fälle. 4 Fälle mögen hier hervorgehoben wer-den:(1.) Person A hat eine gut ausgebaute berufliche

Vorsorge. Sie kauft sich im Alter 64 mit CHF 100 000.– ein. Darauf bezieht sie im Al-ter 65 eine Rente. Dies ist zulässig.

(2.) Person B hat eine gut ausgebaute berufliche Vorsorge. Sie kauft sich im Alter 61, vier Jahre vor der Pensionierung, mit CHF 100 000.– ein. Darauf bezieht sie im Alter 65 Kapital-leistungen. Dies ist zulässig.

(3.) Person C hat eine gut ausgebaute berufliche Vorsorge. Sie verliert ihre Arbeitsstelle im Al-ter 61. Sie lässt sich vorzeitig pensionieren und bezieht Kapitalleistungen. Im Alter 62 findet sie nochmals eine gleichwertige Stel-le. Sie wird wiederum der beruflichen Vor-sorge angeschlossen. Sie kauft sich im Alter 64 neu ein (Einkaufsbedarf unter Anrech-nung der bezogenen Altersleistung errech-net105) und bezieht im Alter 65 eine Alters-rente. Dies ist zulässig.

(4.) Person D hat eine gut ausgebaute berufliche Vorsorge. Sie kauft sich im Alter 64 mit CHF 100 000.– ein. Sie will die gesamten Al-tersleistungen in Kapitalform beziehen. Dies ist in diesem Sinn gemäss Art. 79b Abs. 3 Satz 1 BVG im Grundsatz verboten.

Aus diesen Fällen lässt sich die folgende gesetzli-che Interessenbeurteilung ableiten:(1.) Der Gesetzgeber beurteilt Einkäufe bis zur

Pensionierung als unproblematisch, sofern eine Rente bezogen wird. Problematisch ist damit der Bezug von Leistungen in Kapital-form, nicht der Einkauf.

Es gibt also von daher keinen Grund, Art. 79b Abs. 3 Satz 1 BVG bereits bei Art. 33 Abs. 1 Bst. d DBG heranzuziehen. Art. 38

DBG ist – wenn überhaupt – der zutreffen-de Ort. Es gibt auch keinen Grund, zwi-schen dem Zeitpunkt des Einkaufs und des Kapitalbezugs eine Aufrechnung bei der Vermögenssteuer vorzunehmen.

(2.) Der Gesetzgeber beurteilt den Bezug der Al-tersleistung in Kapitalform als unproblema-tisch, wenn Einkäufe mehr als drei Jahre vor dem Kapitalbezug getätigt worden sind.

(3.) Dieser Schluss wird zusätzlich durch diesen typischen Fall untermauert.

D. h. ziemlich zwingend, dass Altersguthaben, die nicht auf die Leistungserhöhungen aus Ein-käufen innert drei Jahren vor einem Kapitalbe-zug zurückzuführen sind, vom Gesetzgeber mit Blick auf Art. 79b Abs. 3 Satz 1 BVG als unpro-blematisch beurteilt werden.Dies spricht dafür, mit Bezug auf Abbildung 3 die günstigere Sicht der versicherten Person als massgeblich zu erachten und die berufliche Vor-sorge als Ganzes zu beurteilen (konsolidierte Betrachtung zugunsten der versicherten Per-son).Es gibt jedoch im Ausgangsfall bei genauer Ana-lyse eine Differenz zum Fall (3.).In diesem Fall muss sich der Normadressat be-reits drei Jahre zuvor entscheiden, in welchem Umfang er Leistungen in Kapital- bzw. Renten-form beziehen will.

102 AmtlBull 2003 S, S. 454.103 Vgl. zu den Kunstgriffen bei der Anwendung und Aus -

legung von Rechtsnormen, Ott, Juristische Dialektik, insbesondere S. 130 – 134 (Abstellen auf eine scheinbar passende Autorität), S. 136 f. (Unterstellen von Gesetzes-zwecken), S. 138 f. (Einseitige Zweckbetrachtung).

104 Ott, Leitsätze, Ziff. 6.4, S. 43.105 Andernfalls würde kein typischer Fall mehr vorliegen,

sondern ein Problemfall, der unterschiedlich beurteilt werden kann. Vgl. ausführlich hierzu Wenger, S. 185 – 195, mit Kritik an der Praxis des BSV, Art. 60a Abs. 2 BVV 2 analog anzuwenden.

Sonderdruck Seite 40

EINKAUF UND KAPITALBEZUG

D. h. ein eigentlicher Schluss aus der gesetzli-chen Interessenbeurteilung ist nur dann mög-lich, wenn die Höhe der Kapitalleistungen bereits im Zeitpunkt der weiteren Einkäufe feststeht. Dies wäre z. B. der Fall, wenn ein Kaderplan nur Leistungen in Kapitalform vorsehen würde.In den anderen Fällen kann eine Entscheidung nur durch eine zusätzliche Wertung durch den Rechtsanwender herbeigeführt werden.Diese zusätzliche Wertung wird im Rahmen der nachfolgenden Ausführungen zur sachlichen Angemessenheit (relativ selbstständige Interes-senbeurteilung) dargestellt.Die gesetzliche Interessenbeurteilung bietet aber eigentlich nur zwei Entscheidungsoptionen:• eine Auslegungsvariante gemäss Abbildung 3;• ausnahmsweise richterliche Gesetzesergän-

zung und Abstellen auf die Frage, ob die ver-sicherte Person ohne den Einkauf eine ge-ringere Leistung in Kapitalform bezogen hätte106.

Die zusätzliche Wertung ist vor allem bei denje-nigen Fällen erforderlich, bei denen die versi-cherte Person sich erst in Kenntnis des zusätzli-chen Einkaufs für den Umfang der Leistung in Kapitalform entscheidet. In anderen Fällen ist die Handlungsfreiheit ohne praktische Relevanz und eine starke Vermutung spricht dafür, dass diese Fälle einem Fall gleichzusetzen sind, bei dem keine Handlungsfreiheit besteht.Die gesetzeskorrigierende Interpretation des Bundesgerichts wird durch die gesetzliche Inte-ressenbeurteilung nicht unterstützt.

IV Sachliche Angemessenheit

1 Gesetzliche Interessen -beurteilung als Ausgangspunkt

Die gesetzliche Interessenbeurteilung ist der Ausgangspunkt für die Feststellung der sachli-chen Angemessenheit107.

2 Vergleich der Fördermassnahmen der beruflichen Vorsorge

Die strenge Praxis des Bundesgerichts gemäss Urteil vom 12. März 2013, 2C_658/2009, wirft die Frage auf, ob dieser Kampf gegen die Ein-käufe in den letzten drei Jahren vor einem Be-zug von Altersguthaben in Kapitalform eigent-lich sachlich begründet ist.Ein Teil der Gerichte und Steuerverwaltungen glaubt an das Dogma, dass im Falle eines Ein-kaufs innert drei Jahren vor einem Kapitalbezug die Fördermassnahmen exzessiv hoch seien, massiv höher als im Falle eines Rentenbe-zugs108. Darum glaubt dieser Teil, entgegen dem an sich klaren Wortsinn von Art. 79b Abs. 3 Satz 1 BVG, mit ausnahmsweiser richterlicher Geset-zesergänzung unter dem Titel von teleologischer Auslegung praeter oder contra verba legis, Steuerumgehung und offenbarem Rechtsmiss-brauch dagegen ankämpfen zu müssen109.Es ist davon auszugehen, dass auch an das Dog-ma geglaubt wird, dass die Fördermassnahmen bei Einkäufen mit weniger als drei Jahren Ab-stand zu einem Kapitalbezug exzessiv hoch sei-en, massiv höher als im Falle eines Einkaufs, der länger zurückliegt.Ein solches Verhalten der Behörden könnte – wenn überhaupt – nur dann angemessen sein, wenn diese Dogmen bei einer umfassenden Analy-se auch stimmen. Dies ist nachfolgend zu prüfen.Ausgangspunkt sind Art. 111 und 113 BV (Aus-zug):«Art. 111 Alters-, Hinterlassenen- und Invali-denvorsorge1 Der Bund trifft Massnahmen für eine ausrei-chende Alters-, Hinterlassenen- und Invali-denvorsorge. Diese beruht auf drei Säulen, nämlich der eidgenössischen Alters-, Hinter-lassenen- und Invalidenversicherung, der be-ruflichen Vorsorge und der Selbstvorsorge.3 Er kann die Kantone verpflichten (. . .) den Versicherten und ihren Arbeitgeberinnen und Arbeitgebern auf Beiträgen und anwart-

Sonderdruck Seite 41

EINKAUF UND KAPITALBEZUG

schaftlichen Ansprüchen Steuererleichterun-gen zu gewähren.»«Art. 113 Berufliche Vorsorge1 Der Bund erlässt Vorschriften über die be-rufliche Vorsorge.2 Er beachtet dabei die folgenden Grundsätze:a. Die berufliche Vorsorge ermöglicht zusam-men mit der Alters-, Hinterlassenen- und In-validenversicherung die Fortsetzung der ge-wohnten Lebenshaltung in angemessener Weise.4 Vorsorgeeinrichtungen müssen den bundes-rechtlichen Mindestanforderungen genügen; (. . .).»Der Ausdruck «der Bund trifft Massnahmen» hat zu einem ganzen Bündel von Massnahmen geführt. Und nur die umfassende Analyse dieser Massnahmen ermöglicht eine gerechte und rechtsgleiche Beurteilung. Wird die Analyse nur auf die Einkommenssteuer beschränkt, ergibt sich kein sachlich angemessenes Resultat.Eine umfassende Analyse am typischen gesetz-geberischen Fall zeigt, dass die Dogmen falsch sind110. Werden alle Fördermassnahmen kumu-liert ausgerechnet, ergeben sich zwei Schlussfol-gerungen:• Die Summe der Fördermassnahmen ist im

Falle eines Rentenbezuges höher111.• Die Summe der Fördermassnahmen ist im

Falle von Einkäufen, die mehr als drei Jahre

vor dem Bezug von Altersguthaben getätigt werden, höher. Je früher der Einkauf, desto höher die Fördermassnahmen.

Aus diesem Grund kann der Einkauf in den drei Jahren vor einem Kapitalbezug im Normalfall nicht missbräuchlich sein. Der Kampf gegen diese Einkäufe erscheint uns fragwürdig.In der nachfolgenden Abbildung 4 (Tabelle) bzw. Abbildung 5 (Chart) werden diese zwei Schlussfolgerungen untermauert. Analysiert werden vier typische Einkaufsstrategien (Ein-kauf von CHF 100 000.–). Es wird geprüft, wel-che Einkaufsstrategie die meisten Fördermass-nahmen generiert. Dies unter der Prämisse der vorsorge- und steuerrechtlichen Akzeptanz der jeweiligen Strategie.Mit Bezug auf diese Analyse kann allenfalls ein-gewendet werden, dass durch Variierung der In-putdaten Szenarien gerechnet werden können, bei denen die Kapitalform der Rentenform über-legen ist. Z. B. gewährt ein Teil der Vorsorgeein-richtungen, vor allem Sammelstiftungen von Versicherungsunternehmen, im BVG-Überobli-gatorium nur einen deutlich tieferen, risikoge-rechten Umwandlungssatz. Versicherte Personen mit sehr hohen Einkommen nach der Pensio-nierung können zudem einem deutlich höheren Grenzsteuersatz auf den Zusatzrenten unterlie-gen (z. B. 40%).

Wesentliche Einkäufe werden oft in und ab dieser Einkommenskategorie getätigt. Der Umwandlungssatz entspricht demjenigen gemäss BVG-Obligatorium. Verschiedene Vorsorgeeinrichtungen (z. B. verschiedene Verbandsvorsorgeeinrichtungen oder unternehmens -eigene Vorsorgeeinrichtungen) orientieren sich auch im BVG-Überobligatorium daran.

111 Für Frauen gilt dies in noch grösserem Masse (Pensio-nierungsalter 64, längere Lebenserwartung, d. h. der versicherungsmathematische Umwandlungssatz wäre deutlich tiefer als bei den Männern).

106 Vgl. Ausführungen in Ziff. D.IV.3.b.bb.ccc. Absicht (subjektive Bedingung).

107 Vgl. Ott, Leitsätze, Ziff. 6.4, S. 43.108 Vgl. z. B. Züger, Liber amicorum, S. 35 f.109 Urteil des Bundesgerichts vom 12. März 2010,

2C_658/2009, E. 2.1 und 2.2 (Steuerumgehung), E. 3.3.1 (teleologische Auslegung von Art. 79b Abs. 3 Satz 1 BVG praeter verba legis).

110 Die Steuerdaten sind der Situation in der Bundeshaupt-stadt angelehnt. Es erfolgen Rundungen und leichte Vereinfachungen zum besseren rechnerischen Nach-vollzug. Es handelt sich um typische Anwendungsfälle.

Sonderdruck Seite 42

EINKAUF UND KAPITALBEZUG

Abbildung 4: Vergleich Fördermassnahmen bei Einkauf von CHF 100 000.–

Rente Kapital

Einkauf Einkauf Einkauf Einkauf

Alter 64 Alter 44 Alter 64 Alter 44

Daten berufliche Vorsorge

Vorsorgeeinrichtung A A A A

Wohnort versicherte Person Bern Bern Bern Bern

Geburtsdatum 01.01.1950 01.01.1950 01.01.1950 01.01.1950

Pensionierung 31.01.2015 31.01.2015 31.01.2015 31.01.2015

Zeitspanne Einkauf – Pensionierung 0 20 0 20

Restlebenserwartung nach Pensionierung 20 20 20 20

Einkaufszeitpunkt 31.12.2014 31.12.1994 31.12.2014 31.12.1994

Einkauf 100 000 100 000 100 000 100 000

Altersguthaben bei Pensionierung 1 100 000 1 100 000 1 100 000 1 100 000

Umwandlungssatz effektiv 6,800% 6,800% 6,800% 6,800%

Umwandlungssatz versicherungsmathematisch 5,835% 5,835% 5,835% 5,835%

Zinssatz inkl. Überschüsse 2% 2% 2% 2%

Altersleistungen aus Einkauf Nominalbetrag

Rente

nach Reglement 6800 6800

versicherungsmathematisch 5835 5835

Rentenvorteil auf Einkauf 965 965

Kapital 100 000 100 000

Altersleistungen aus kummuliertem Zins

kummulierter Zins 48 595 48 595

Rente

nach Reglement 3304

versicherungsmathematisch 2836

Rentenvorteil 469

Kapital 48 595

Steuerdaten

Steuerbares Einkommen vor Einkauf 200 000 200 000 200 000 200 000

Steuerbares Einkommen nach Einkauf 100 000 100 000 100 000 100 000

Grenzsteuersatz Einkommen 40% 40% 40% 40%

Grenzsteuersatz Vermögen 0,5% 0,5% 0,5% 0,5%

Steuerbares Einkommen nach Pensionierung 100 000 100 000 50 000 50 000

Grenzsteuersatz Zusatzrente bzw. Sondersteuer 26% 26% 10% 10%

Sonderdruck Seite 43

EINKAUF UND KAPITALBEZUG

Dies ist zutreffend. Aber damit rechtfertigt sich der Kampf gegen die Leistungen in Kapitalform noch nicht. Dies aus drei Gründen:• Es gibt zahlreiche Vorsorgeeinrichtungen,

die den gesetzlichen Normalfall im BVG-Überobligatorium abbilden. Das Mass der zulässigen Fördermassnahmen ist u. E. für alle rechtsgleich an diesen Vergleichsfällen auszurichten. Es kann nicht darauf ankom-men, welcher konkreten Vorsorgeeinrich-tung eine versicherte Person angehört.

• Wenn es akzeptabel ist, dass im gesetzlichen Normalfall die Summe der Fördermassnah-

men bei Rentenbezug höher ist als bei Kapi-talbezug, dann ist auch der umgekehrte Fall im Einzelfall akzeptabel, zumindest soweit kein Extremfall vorliegt.

• Schliesslich führt die vom Bundesgericht und der SSK im Sinne einer Gesetzesergän-zung befürwortete LIFO-Methode (im Fall der SSK ausdrücklich kombiniert mit einer Konsolidierung zulasten der versicherten Person) gerade in diesen Fällen zu einem zweckwidrigen Ergebnis:

Abbildung 4: Vergleich Fördermassnahmen bei Einkauf von CHF 100 000.–

Rente Kapital

Einkauf Einkauf Einkauf Einkauf

Alter 64 Alter 44 Alter 64 Alter 44

Daten Vermögensanlage

Zinssatz Obligation 2% 2% 2% 2%

Zinssatz für Aufnahme Darlehen 2% 2% 2% 2%

Vorteile Einkauf gegenüber Anlage in Obligation

Rentenvorteil ab Pensionierung

auf Einkauf 19 300 19 300

auf Zins 9379

Einkommenssteuer

tieferer Grenzsteuersatz bei Altersleistungen

Einkauf Nominalbetrag 14 000 14 000 30 000 30 000

kummulierter Zins auf Einkauf 6803 14 578

Aufschub Steuerlast (≈ zinsloses Darlehen)

ab Pensionierung 5200 5200

bis Pensionierung 800 16 000 800 16 000

Vermögenssteuer

Einkauf Nominalbetrag

ab Pensionierung 5000 5000

bis Pensionierung 500 10 000 500 10 000

kummulierter Zins

ab Pensionierung 2430

bis Pensionierung 2430 2430

Total 44 800 90 542 31 300 73 008

Sonderdruck Seite 44

EINKAUF UND KAPITALBEZUG

BeispielAusgangsfall: Die versicherte Person will im Alter 64 einen Einkauf von CHF 100 000.– in Vorsorgeeinrichtung A tätigen, um die da-raus resultierende Leistung als Rente zu be-ziehen.Variante 1: In einem Teil der Kantone wird dies gegenwärtig im Grundsatz zum Anlass genom-men, CHF 100 000.– der damit nicht in Zusam-menhang stehenden Kapitalleistung aus Vorsor-geeinrichtung B ordentlich zu besteuern. Demzufolge erleidet die versicherte Person einen unerwarteten Steuernachteil in Vorsorgeeinrich-tung B von CHF 30 000.– (100 000 x [40% – 10%]).Diesen Steuernachteil kann die versicherte Per-son durch die Fördermassnahmen mit Bezug auf die aus dem Einkauf resultierende Leistung in Vorsorgeeinrichtung A, die in Rentenform be-

zogen wird, nicht ausgleichen. Zu beachten ist, dass diese Rente bereits ordentlich besteuert wird (in diesem Beispiel mit einem Grenzsteuer-satz von 40%). Die versicherte Person empfindet dies wie eine Doppelbesteuerung.Ohne Rentenvorteil geniesst die Leistung in Ka-pitalform in diesem Fall höhere Fördermass-nahmen als die Leistung in Rentenform. Die versicherte Person ist damit aus Gründen der Schadensbegrenzung gezwungen, auch aus Vor-sorgeeinrichtung A eine Leistung in Kapitalform zu wählen, um zumindest das mit Vorsorgeein-richtung B erreichte Vorsorgeziel nach Steuern zu schützen. Die LIFO-Methode widerspricht da-mit augenscheinlich der gesetzlichen Interes-senbeurteilung und damit dem Zweck von Art. 79b Abs. 3 Satz 1 BVG.Variante 2: Zum vergleichbaren Ergebnis führt es, wenn gemäss der Methode der SSK der Ein-

Abbildung 5: Fördermassnahmen

in C

HF

Rentenvorteil auf Einkauf Rentenvorteil auf kumm. Zins EST-Vorteil auf Einkauf EST-Vorteil auf Bezug kumm. Zins EST-Vorteil Aufschub ab Pensionierung EST-Vorteil Aufschub bis Pensionierung VST-Vorteil Einkauf ab Pensionierung VST-Vorteil Einkauf bis Pensionierung VST-Vorteil kumm. Zins ab Pensionierung VST-Vorteil kumm. Zins bis Pensionierung

100 000

90 000

80 000

70 000

60 000

50 000

40 000

30 000

20 000

10 000

0Rente bei Einkauf Alter 64

Kapital bei Einkauf Alter 64

Rente bei Einkauf Alter 44

Kapital bei Einkauf Alter 44

Sonderdruck Seite 45

EINKAUF UND KAPITALBEZUG

kauf im Alter 64 nachträglich nicht zum Abzug zugelassen wird. Die versicherte Person erleidet gegenüber der Planung einen unerwarteten Steuernachteil von CHF 40 000.– (100 000 x 40%). Die Befreiung der Einkaufssumme von der Sondersteuer auf der Kapitalleistung mildert die-sen Steuernachteil nur um CHF 10 000.– (100 000 x 10%). Netto verbleibt ein Steuernach -teil von CHF 30 000.–. Im Übrigen ergeben sich die gleichen Auswirkungen wie in Variante 1.Exkurs: Dieses zweckwidrige Ergebnis entsteht, unter sonst gleichen Umständen, auch dann, wenn nur eine Vorsorgeeinrichtung involviert ist.

3 Fördermassnahmen und Rechtsgleichheit

a VorüberlegungFördermassnahmen sollten den geförderten Per-sonen rechtsgleich zukommen. Doch welches ist das richtige Kriterium für die Frage, welche Sachverhalte als gleich und welche als ungleich anzuschauen sind112?Es bieten sich zwei Kriterien an:• Kriterium A: Die Fördermassnahmen sollen

allen Personen mit gleichem steuerbarem Durchschnittseinkommen während den rund 40 Jahren des Vorsorgeaufbaus in gleichem Umfang zukommen («Besteuerung nach der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit»).

• Kriterium B: Die Fördermassnahmen sollen bis zur Pensionierung wirken und die Perso-nen darin fördern, ab diesem Zeitpunkt die gewohnte Lebenshaltung in angemessener Weise aufgrund der Vorsorgeansprüche der 1. und 2. Säule fortsetzen zu können.

Der Verfassungsgeber und der Gesetzgeber ha-ben sich augenscheinlich für das Kriterium B entschieden. Andernfalls wäre die Möglichkeit von Einkäufen für Fälle von Einkommenssteige-rungen im Grundsatz ausgeschlossen worden (soweit Einkäufe nicht zugleich bei einem opti-malen Plan zulässig wären).

Vor diesem Hintergrund wird nachfolgend ana-lysiert, in welchen Fällen ein sachlicher Grund besteht, Leistungen in Kapitalform nach einem Einkauf in den letzten drei Jahren gegenüber ei-nem Einkauf, der länger her ist, zu diskriminie-ren. Geprüft werden drei typische Fälle:• Planungsunsicherheit (Unsicherheit der

Einkommens-, Liquiditäts-, Investitions- und Pensionierungsplanung)

• Vorsorgeplanänderungen• EinkommenssteigerungenEs wird sich zeigen, dass in den meisten Fällen ein sachlicher Grund für eine Differenzierung fehlt und Art. 79b Abs. 3 Satz 1 BVG mit dem Ge-bot der Rechtsgleichheit (Art. 8 BV) und dem Willkürverbot (Art. 9 BV) in Konflikt gerät.Wohl allein im Fall einer extremen Einkom-menssteigerung liegt ein sachlicher Grund für eine Ungleichbehandlung vor (vgl. Ziff. F.IV.3.d. Einkommenssteigerungen).

b PlanungsunsicherheitEs gibt sehr vielfältige Gründe, warum sich eine Person innert drei Jahren vor einem Kapitalbe-zug einkauft.Zum Teil ist der Kapitalbezug innert drei Jahren voraussehbar. Zum Teil ist dies aber nicht der Fall.Und die Möglichkeit, Einkäufe zu tätigen, stellt sich auch nicht ohne Weiteres in jedem Jahr, denn einerseits ist hierzu praktisch ein genü-gendes steuerbares Einkommen und anderer-seits eine genügende Liquidität vorausgesetzt.Gibt es nun einen sachlichen Grund, Menschen, die keine Planungssicherheit haben, gegenüber anderen Menschen, die glücklicherweise Pla-nungssicherheit haben, zu benachteiligen?

112 Vgl. hierzu Ott, Methode, S. 299 – 303, zur Ermittlung der angemessenen Entscheidungsmöglichkeit bei über-einstimmenden Interessen und bei Interessengegensatz zwischen Allgemeinheit und Einzelnen.

Sonderdruck Seite 46

EINKAUF UND KAPITALBEZUG

BeispielDie Arbeitgeberin A hat einen gut ausgebau-ten Vorsorgeplan. Die Altersgutschriften betra-gen 25% auf dem gesamten Lohn.Arbeitnehmerin A hat seit dem Alter 35 einen Lohn von CHF 200 000.–. Im Alter 45 hat sie ein Altersguthaben von CHF 500 000.– + CHF 500 000.– aus Einkäufen (Verzinsung vernachlässigt). Sie sieht voraus, dass sie in drei Jahren einen WEF-Vorbezug tätigen will zum Kauf eines Einfamilienhauses (Traum-haus!). Sie bezieht dann das gesamte Vorsor-geguthaben von CHF 1 150 000.–.Arbeitnehmerin B hat seit dem Alter 35 einen Lohn von CHF 200 000.–. Im Alter 45 hat sie ein Altersguthaben von CHF 500 000.–. Sie konnte keine Einkäufe tätigen. Denn bis Al-ter 45 hatte sie jedes Jahr ihre drei Kinder und die Eltern mit insgesamt CHF 50 000.– unterstützt. Die Kinder sind nun selber er-werbstätig und die Eltern sind gestorben. Nun tätigt sie im Alter 46 – 48 je einen Einkauf von CHF 50 000.–. Sie verfügt im Alter 48 über ein Vorsorgeguthaben von CHF 500 000.– + 150 000.– + 150 000.–. Sie lebt in einer schönen Wohnung. Der Vermieter will diese nun verkaufen. Sie hat die Wahl, diese zu kaufen oder auszuziehen. Gibt es nun einen sachlichen Grund, ihr zu verwehren, einen WEF-Vorbezug von CHF 800 000.– zu tätigen?Arbeitnehmerin A hat grössere Fördermassnah-men der beruflichen Vorsorge genossen. Es gibt keinen sachlichen Grund zu einer Einschrän-kung bei Arbeitnehmerin B.In diesem Standardfall erscheint Art. 79b Abs. 3 Satz 1 BVG an sich – in jeder Auslegungsvarian-te – als eine Verletzung des Gleichheitsgebotes gemäss Art. 8 BV113.

c PlanänderungenBeispielUnternehmen X hat bisher einen Vorsorge-plan, der dem BVG-Minimum entspricht. Neu hat es einen gut ausgebauten BVG-Plan mit Altersgutschriften von 25% auf dem vollen Lohn. Durch diese Massnahme entstehen für alle Mitarbeiter, besonders für diejenigen, die kurz vor der Pensionierung stehen, hohe Bei-tragslücken.Arbeitnehmer A ist 25 Jahre alt. Er hat einen Lohn von CHF 200 000.– pro Jahr. Angenom-men, er kann diesen Lohn bis Alter 65 halten. In diesem Fall kann er rund CHF 2 000 000.– steuerprivilegiert vorsorgesparen. Er hat kei-nen Einkaufsbedarf. Er ist frei, ob er im Alter 65 sein Altersguthaben in Renten- oder Kapi-talform beziehen will.Arbeitnehmer B ist 62 Jahre alt. Er hat auch einen Lohn von CHF 200 000.– pro Jahr seit seinem 25 Altersjahr. Er hat einen sehr hohen Einkaufsbedarf. Er möchte einen Teil der Altersleistungen als Kapital bezie-hen.Variante: Was wäre, wenn B 60 Jahre alt wäre? Er kauft sich im Hinblick auf die ordentliche Pensionierung im Alter 65 ein und wird im Alter 62 zur vorzeitigen Pensionierung ge-zwungen.Es gibt u. E. in beiden Fällen keinen sachlichen Grund, Arbeitnehmer B den Abzug des Einkaufs vom steuerbaren Einkommen oder die privile-gierte Besteuerung des Kapitalbezugs zu verwei-gern und ihn damit gegenüber Arbeitnehmer A ungleich zu behandeln.In beiden Fällen erscheint Art. 79b Abs. 3 Satz 1 BVG an sich – in jeder Auslegungsvariante – als eine Verletzung des Gleichheitsgebotes gemäss Art. 8 BV.Ebenfalls in die Kategorie der Planänderungen fallen selbstständigerwerbende Personen, die sich neu einer Vorsorgeeinrichtung anschlies-sen.

Sonderdruck Seite 47

EINKAUF UND KAPITALBEZUG

d Einkommenssteigerungen

aa NormalfallBeispielUnternehmen X hat einen gut ausgebauten Vorsorgeplan. Die Altersgutschriften betragen 25% auf dem vollen Lohn.Arbeitnehmerin A hat bisher CHF 100 000.– pro Jahr verdient. Ab Alter 45 verdient sie CHF 200 000.– pro Jahr. Sie hat dadurch ei-nen Einkaufsbedarf von rund CHF 500 000.–. Sie kauft sich in den nächsten fünf Jahren je-des Jahr mit CHF 50 000.– ein. Sie bezieht im Alter 64 alle Leistungen in Kapitalform.Arbeitnehmerin B hat bisher CHF 100 000.– pro Jahr verdient. Ab Alter 60 verdient sie CHF 200 000.– pro Jahr. Der Einkaufsbedarf beträgt rund CHF 875 000.–. Sie möchte sich we-nigstens noch die verbleibenden fünf Jahre mit je CHF 50 000.– einkaufen. Sie möchte im Alter 64 auch alle Leistungen in Kapitalform bezie-hen. Sie vertraut nämlich nicht darauf, dass die Vorsorgeeinrichtung ewig zahlungsfähig bleibt.Es gibt kaum einen sachlichen Grund, Arbeit-nehmerin B den Abzug des Einkaufs vom steuer-baren Einkommen oder die privilegierte Be-steuerung des Kapitalbezugs zu verweigern und sie gegenüber Arbeitnehmerin A ungleich zu be-handeln. Arbeitnehmerin B möchte nach der Pensionierung doch den Lebensstandard der letzten Jahre auch weiterführen können.In diesem Standardfall erscheint Art. 79b Abs. 3 Satz 1 BVG an sich – in jeder Auslegungsvarian-te – als eine Verletzung des Gleichheitsgebotes gemäss Art. 8 BV.

bb ExtremfallBeispielUnternehmen X hat einen gut ausgebauten Vorsorgeplan. Die Altersgutschriften betragen 25% auf dem vollen Lohn.Arbeitnehmer A hat seit dem 25. Altersjahr ei-nen Lohn von CHF 200 000.– pro Jahr.

Arbeitnehmer B wird im Alter 64 neu in diese Vorsorgeeinrichtung aufgenommen. Er hat bisher nur unwesentlich Altersguthaben ge-bildet und in den letzten vier Jahrzehnten auch kaum ein Einkommen versteuert (z. B. unrentable Forschung und Entwicklung, ge-lebt von Eltern und Vermögensverzehr; viel-leicht aber auch viele Jahre Hausmann). Aufgrund ausserordentlicher Umstände (er- folg reiche Erfindungen für Unternehmen) erzielt er einen Lohn von CHF 8 000 000.–. Der versicherte Lohn beträgt gerundet CHF 800 000.–. Der ordentliche BVG-Beitrag beträgt CHF 200 000.–. Der Einkaufsbedarf beträgt CHF 7 800 000.–.Zuerst ist einmal festzuhalten, dass Arbeitneh-mer B im heutigen Steuersystem gegenüber Ar-beitnehmer A diskriminiert wird. Arbeitnehmer A hat jedes Jahr, vor allem im Einkommensbe-reich bis CHF 100 000.–, reduzierte Steuersätze, dies während 40 Jahren (vgl. Abbildung 6/Fall 1). Arbeitnehmer B hingegen wird praktisch mit dem maximal möglichen Steuersatz belastet (vgl. Abbildung 6/Fall 2). Unter Gesichtspunk-ten der Rechtsgleichheit müsste das Einkom-men von Arbeitnehmer B eigentlich einfach ge-rechnet zu 1/40 satzbestimmend besteuert werden.Da dies nicht gemacht wird, ist es grundsätzlich nicht gerechtfertigt, wenn bei jedem Vorteil, der diese Diskriminierung mindert, eingeschritten wird. D. h. hier muss Zurückhaltung geübt wer-den, andernfalls würde sich nicht Arbeitnehmer B, sondern die rechtsanwendende Behörde miss-bräuchlich verhalten.Die vollumfängliche Zulassung dieses Einkaufs mit nachfolgendem Kapitalbezug würde nun aber dazu führen, dass die durchschnittliche Einkommenssteuerbelastung des Lebensein-

113 Vgl. auch Wenger, S. 132 f., mit guter Begründung, wa-rum WEF-Vorbezüge generell nicht von Art. 79b Abs. 3 Satz 1 BVG erfasst werden sollten.

Sonderdruck Seite 48

EINKAUF UND KAPITALBEZUG

kommens von B 12% statt 41% (Bern) betragen würde (vgl. Abbildung 6/Fall 3). Bei isolierter Betrachtung erscheint dies kaum als angemes-sen.Je näher eine Person ihrem Rentenalter kommt, desto grösser ist der Einkaufsbedarf. Die Proble-matik ist aus diesem Grund vor allem kurz vor der Pensionierung am grössten.Dieses Ergebnis wird bei isolierter Betrachtung mit Bezug auf die Einkommenssteuer gemil-dert, wenn bei einem Einkauf in den letzten drei Jahren vor einem Kapitalbezug die daraus resul-tierende Leistung – d. h. die reglementarische Leistungserhöhung – nicht in Kapitalform be-zogen werden darf. Wird in diesem Fall die aus dem Einkauf resultierende Leistung in Renten-form bezogen, beträgt diese Rente nach dem ge-setzlichen Umwandlungssatz CHF 530 400.– und die Grenzsteuerbelastung rund 40%.Aber auch in diesem Fall erscheint Art. 79b Abs. 3 Satz 1 BVG teilweise – in jeder Ausle-gungsvariante – als eine Verletzung des Gleich-heitsgebots gemäss Art. 8 BV:• Arbeitnehmer A darf CHF 2 000 000.– seines

Lebenseinkommens in seine 2. Säule inves-tieren und in Kapitalform beziehen. Das üb-rige Einkommen wird mit 29% besteuert. Seine durchschnittliche Steuerbelastung be-trägt 25% und nicht 40% (Rente) bzw. 41% (bei Verzicht auf Einkauf).

• Interessanterweise wäre die Rentenstrategie selbst in diesem Fall bei einer umfassenden Analyse u. U. immer noch leicht besser als ei-ne Kapitalbezugsstrategie. Vorausgesetzt, die Vorsorgeeinrichtung würde im BVG-Über -obligatorium die gleichen Umwandlungs-sätze anwenden wie im BVG-Obligatorium. Die kumulierte Wirkung von Rentenvorteil und diversen Steuervorteilen (vgl. Abbil-dung 4) darf nicht unterschätzt werden.

In der Zukunft wäre eine gesetzliche Regelung zu wünschen, die Art. 79b Abs. 3 Satz 1 BVG durch eine sachlich angemessene Regelung er-

setzt. Eine neue gesetzliche Regelung sollte sich auf extreme, nicht nachhaltige Einkommens-steigerungen fokussieren und für diese und nur diese Fälle den maximal zulässigen Einkauf an-gemessen limitieren. Dies unabhängig davon, ob die Leistung in Renten- oder Kapitalform be-zogen wird. Dafür müsste das Prinzip von Art. 37 DBG (Kapitalabfindungen für wiederkehrende Leistungen) auf diese Einkommenssteigerun-gen angewendet werden.Eine gewisse Diskriminierung der Leistungen in Kapitalform gegenüber den Leistungen in Ren-tenform ist gestützt auf Art. 190 BV nach gelten-dem Recht hinzunehmen. Es gibt aber auch im vorliegenden Fall keinen sachlichen Grund, im Rahmen der Auslegung des Ausdrucks «daraus resultierende Leistungen» nicht die für die versi-cherte Person günstigste Auslegungsmöglichkeit zu wählen (vgl. Abbildung 3).Dieser Fall zeigt zudem, dass es bei Art. 79b Abs. 3 Satz 1 BVG im Grundsatz nicht um die Ab-sicht (subjektive Bedingung) gehen kann, son-dern um die objektive Leistungserhöhung.In der nachfolgenden Abbildung 6 sind diese Überlegungen in Form einer Tabelle zusam-mengefasst:

4 Weitere Argumente zu konsisten-ten Wertentscheidungen

a Minimaler Anspruch auf Kapitalbezug gemäss Art. 37 Abs. 2 BVG

Gemäss Art. 37 Abs. 2 BVG hat die versicherte Person auch ohne reglementarische Grundlage das Recht, einen Viertel des Altersguthabens nach BVG in Kapitalform zu beziehen.Der Gesetzgeber hat sich mit dem Verhältnis von Art. 37 Abs. 2 BVG und Art. 79b Abs. 3 Satz 1 BVG nicht befasst.Er hatte dazu auch keinen Grund. Einkäufe wer-den nie dem BVG-Obligatorium zugerechnet. Sie sind ungeeignet, um zu einem höheren An-spruch gemäss dieser Bestimmung zu führen114.

Sonderdruck Seite 49

EINKAUF UND KAPITALBEZUG

BeispielArbeitnehmerin A hat im Alter 62 immer noch einen hohen Einkaufsbedarf. In den letzten beiden Jahren stimmt ihre Liquidität. Sie kauft sich im Alter 62 nochmals mit CHF 100 000.– ein. Sie wird aus den daraus resultierenden Leistungen eine Rente beziehen. Im Alter 64 verfügt sie über ein Altersguthaben von

CHF 1 100 000.–. Darf sich Arbeitnehmerin A nun auf Art. 37 Abs. 2 BVG berufen und we-nigstens einen Viertel des BVG-Guthabens in Kapitalform beziehen (z. B. CHF 75 000.–)?

114 Vgl. Fenners/Baumberger, S. 135.

Abbildung 6: Analyse nicht-nachhaltige Einkommenssteigerung

Einkommen Sparsatz Beitrag ordentlich Einkauf Netto Steuersatz Steuer

Fall 1 Einkommen CHF 200 00.–

Jahr 1

200 000 25% 50 000 0 150 000 29% 43 500

Jahr 1 – 39

7 800 000 25% 1 950 000 0 5 850 000 29% 1 696 500

Jahr 40

200 000 25% 50 000 0 150 000 29% 43 500

Kapitalform 2 000 000 11% 220 000

Kummuliert

2 000 000 0 8 000 000 25% 1 960 000

Fall 2 Einkommen CHF 0.–, Einkommenssprung, kein Einkauf

Jahr 1 – 39

0 25% 0 0 0 0% 0

Jahr 40

8 000 000 25% 200 000 0 7 800 000 42% 3 276 000

Kapitalform 200 000 6% 12 000

Kummuliert

2 00 000 0 8 000 000 41% 3 288 000

Fall 3 Einkommen CHF 0.–, Einkommenssprung, Einkauf

Jahr 1 – 39

0 25% 0 0 0 0% 0

Jahr 40

8 000 000 25% 200 000 7 800 000 0 0% 0

Kapitalform 8 000 000 12% 960 000

Kummuliert

200 000 7 800 000 8 000 000 12% 960 000

Sonderdruck Seite 50

EINKAUF UND KAPITALBEZUG

In diesem Fall besteht nicht der Hauch eines Missbrauchs. Ein solcher Fall wäre, wenn er im Parlament zur Sprache gekommen wäre, von der Mehrheit mit hoher Wahrscheinlichkeit als vorsorge- und steuerrechtskonform akzeptiert worden.

b Einkauf und Weiterarbeit nach Alter 64/65

BeispielUnternehmen X hat einen gut ausgebauten Vorsorgeplan. Die Altersgutschriften betragen 25% auf dem vollen Lohn.Arbeitnehmer A hat bisher CHF 100 000.– pro Jahr verdient. Ab Alter 62 verdient er CHF 200 000.– pro Jahr. Er hat dadurch einen Einkaufsbedarf von rund CHF 925 000.–. Arbeitnehmer A hat das Glück, dass er bis Alter 70 arbeiten darf. Er kauft sich bis Alter 66 jährlich mit 50 000.– ein. Im Alter 70 bezieht er die Altersleistungen in Kapitalform.Arbeitnehmer B hat bisher CHF 100 000.– pro Jahr verdient. Ab Alter 62 verdient er CHF 200 000.– pro Jahr. Der Einkaufsbedarf beträgt rund CHF 925 000.–. Er kauft sich im Alter 62, 63 und 64 jährlich mit CHF 50 000.– ein. Er möchte auch weiterar-beiten. Aber der Arbeitgeber will nicht. Er muss sich also im Alter 65 pensionieren las-sen. Er möchte die Altersleistungen auch gerne in Kapitalform beziehen.Es gibt kaum einen sachlichen Grund, Arbeit-nehmer B gegenüber Arbeitnehmer A ungleich zu behandeln. In diesem Fall erscheint Art. 79b Abs. 3 Satz 1 BVG an sich – in jeder Auslegungs-variante – als eine Verletzung des Gleichheitsge-botes gemäss Art. 8 BV.

c Einkauf und privilegierte Liquidations-gewinnbesteuerung

Mit Art. 37b DBG wird mit Bezug auf den «fikti-ven Einkauf» sichergestellt, dass die selbststän-digerwerbende Person so behandelt wird, als

würde sie einer Vorsorgeeinrichtung angehören, sich im Umfang des fiktiven Einkaufs effektiv einkaufen und die Leistung in Kapitalform be-ziehen (vgl. Art. 5 ff. LGBV). In diesen Fällen sind die «fiktiven Leistungen in Kapitalform» damit sogar dann privilegiert zu besteuern, wenn sie aus «fiktiven Einkäufen» der drei Vor-jahre resultieren115.Gestützt auf welchen sachlichen Grund soll dies nun bei einer selbstständigerwerbenden Person anders sein, nur weil diese im gleichen Umfang einen effektiven Einkauf vornimmt und innert drei Jahren eine daraus resultierende effektive Leistung in Kapitalform bezieht?Es gibt kaum einen sachlichen Grund, zumin-dest so lange, als der effektive Einkauf den ma-ximal möglichen «fiktiven Einkauf» nicht überschreitet.D. h. Art. 79b Abs. 3 Satz 1 BVG erscheint hier an sich – selbst unter Heranziehung der FIFO-Me-thode – in jeder Auslegungsvariante als eine Ver-letzung des Gleichheitsgebotes gemäss Art. 8 BV.Es stellt sich sogar die Frage, ob diese Bestim-mung in einem solchen Fall wegen qualifizier-ter Unangemessenheit (offenbarer Rechtsmiss-brauch) ungültig ist116. Allenfalls kann in diesen Fällen aber auch die Vorwerfbarkeit der Leistung in Kapitalform verneint werden und damit ein gerechtes Ergebnis im Rahmen der Auslegung im engeren Sinn erzielt werden.

5 Gibt es Fälle, wo die Leistung in Kapitalform entgegen dem Verbot erfolgen muss?

a GrundsatzWird bei der Auslegung von Art. 79b Abs. 3 Satz 1 BVG die für die versicherte Person günstigste Auslegungsmöglichkeit gewählt, so wird in den meisten Fällen eine sachlich angemessene Lö-sung gefunden werden können.Wird zusätzlich verlangt, dass der Bezug der Leistung in Kapitalform vorwerfbar sein muss,

Sonderdruck Seite 51

EINKAUF UND KAPITALBEZUG

so werden unbillige Fälle praktisch ausgeschlos-sen.Damit sind die Anwendungsfälle dieser Norm bereits reduziert. Bei den verbleibenden Anwen-dungsfällen kommt es noch darauf an, ob ein Teilkapitalbezug oder ein Aufschub der Leistung bis zum Ablauf der Frist möglich ist.

b WEF-VorbezugWEF-Vorbezüge bieten normalerweise kein Pro-blem, weil bei diesen ein Teilkapitalbezug zuläs-sig ist117.

c Barauszahlung

aa WegzugArt. 5 Abs. 1 Bst. a FZG bietet normalerweise kein Problem. In diesem Fall kann die Barauszah-lung bis zur Entstehung des Rechts auf Alters-leistungen verlangt werden118.

bb GeringfügigkeitArt. 5 Abs. 1 Bst. c FZG bietet normalerweise kein Problem. Erstens aufgrund der geringen Höhe und zweitens, weil in diesem Fall die Barauszah-lung jederzeit verlangt werden kann119.

cc Aufnahme selbstständige Erwerbs tätigkeit

Problematischer ist die Beurteilung der Baraus-zahlung im Falle von Art. 5 Abs. 1 Bst. b FZG. Ge-mäss Praxis des BSV muss die Barauszahlung innert eines Jahres seit der Aufnahme der selbst-ständigen Erwerbstätigkeit verlangt werden120.Die Zulässigkeit einer Teilauszahlung ist an sich umstritten121. Zulässig muss jedoch sein, wenn eine selbstständigerwerbende Person die Bar-auszahlung bei Aufnahme der selbstständigen Erwerbstätigkeit verlangt, sich anschliessend ei-ner Vorsorgeeinrichtung freiwillig anschliesst und denjenigen Teil der Kapitalleistung, der nach Art. 79b Abs. 3 Satz 1 BVG nicht in Kapital-form erfolgen dürfte, in diese Einrichtung als Einkauf einbringt. Diese Zahlung könnte u. E. auch direkt von Vorsorgeeinrichtung zu Vorsor-geeinrichtung erfolgen (vgl. Art. 24 Bst. c DBG).

d Freizügigkeitspolicen und -kontenIm Falle von Freizügigkeitskonten und Freizü-gigkeitspolicen sollte normalerweise kein Pro-blem bestehen, da ein Aufschub des Barbezuges bis fünf Jahre nach Erreichen des Rentenalters nach Art. 13 Abs. 1 BVG möglich ist (Art. 16 Abs. 1 FZV)122.

120 BSV, Mitteilungen über die berufliche Vorsorge Nr. 86, Ziff. 501.

121 Für die Zulässigkeit im Sinne ad maiore minus, Geiser/Senti, Kommentar zu Art. 5 FZG N 12.

122 Kritisch Schweizerische Steuerkonferenz, Anwendungsfall A.5.3.1. U. E. sind die von der Schweizerischen Steuer -konferenz vorgebrachten Gründe nicht überzeugend. Gerade Art. 79b Abs. 3 Satz 1 BVG zeigt, wie wichtig es wäre, wenn bei der Gesetzgebung und der Rechtsanwen-dung vermehrt eine Gesamtsicht der Situation vorge-nommen würde und gestützt darauf sachlich angemes-sene Lösungen im Rahmen des möglichen sprachlichen Anwendungsbereiches des Wortlautes angestrebt wür-den. Eine einseitig fiskalisch motivierte Sichtweise führt nicht zu einer gerechten und einfachen Rechtsordnung.

115 Dies soll nach der Auffassung der Eidgenössischen Steuer verwaltung aber nicht gelten, wenn ein (effekti-ver) Einkauf vorgenommen wird und eine (effektive) Leistung in Kapitalform daraus resultiert, vgl. ESTV, Erläuterungen vom Januar 2010 zur Verordnung über die Besteuerung der Liquidationsgewinne bei definitiver Aufgabe der selbstständigen Erwerbstätigkeit (Art. 37b DBG).

116 Vgl. Ott, Leitsätze, Ziff. 5.4, S. 35.117 Vgl. BSV, Mitteilungen über die berufliche Vorsorge

Nr. 88, Ziff. 511 (7.).118 Geiser/Senti, Kommentar zu Art. 5 FZG N 24, mit

Verweis auf die Praxis des Bundesgerichts.119 Geiser/Senti, Kommentar zu Art. 5 FZG N 27.

Sonderdruck Seite 52

EINKAUF UND KAPITALBEZUG

Im Übrigen vertritt das BSV die Meinung, dass in einem solchen Fall ein Teilkapitalbezug zuläs-sig sei123.

e Vorsorgeeinrichtungen mit Alters leistungen ausschliesslich in Kapitalform

Bei solchen Vorsorgeeinrichtungen kann es zu einem Konflikt mit Art. 79b Abs. 3 Satz 1 BVG kommen.Grundsätzlich sind die Vorsorgeeinrichtungen angehalten, ihre Reglemente in Übereinstim-mung mit Art. 79b Abs. 3 Satz 1 BVG auszuge-stalten. D. h. sie haben für diesen speziellen Fall den Bezug der Altersleistungen in Rentenform vorzusehen124.Umstritten ist, ob ein Aufschub über die Pensio-nierung bis zum Ablauf der Dreijahresfrist zu-lässig ist125.Sofern Art. 79b Abs. 3 Satz 1 BVG im Einzelfall nicht eingehalten wird, kann sich für die Steuer-verwaltung die Frage stellen, wie darauf zu rea-gieren ist.

f Angemessene SanktionSofern es ausnahmsweise zu einer Verletzung des Verbots gemäss Art. 79b Abs. 3 Satz 1 BVG kommt, ist u. E. im Rahmen von Art. 38 DBG zu prüfen, ob es sich bei einer solchen Leistung tat-sächlich noch um eine Kapitalleistung nach Art. 22 DBG handelt.Dies ist eine Auslegungsfrage, da nicht ohne Weiteres klar sein kann, ob eine Kapitalleistung, welche die Anforderungen des Rechts der beruf-lichen Vorsorge verletzt, noch als solche Kapi-talleistung gelten kann. In einem solchen Fall wird es sachlich angemessen sein, Art. 38 DBG nicht anzuwenden126. D. h. Art. 79b Abs. 3 Satz 1 BVG ist u. E. mit Bezug auf Art. 38 DBG eine Gültigkeits- und nicht nur eine Ordnungsvor-schrift.Es muss jedoch in einem solchen Fall geprüft werden, ob Art. 37 DBG anwendbar ist. Dies ist

u. E. im Falle eines Bezugs von Altersleistungen bei Pensionierungsfällen zu bejahen127.

6 Ein Vergleich zu den Lösungen von öffentlich-rechtlichen Angestellten

Im Kaderplan 2 des Vorsorgewerkes des Bundes können im Alter 55 – 70 Altersgutschriften von 36% zur Anwendung gelangen (vgl. Art. 24 Abs. 2 Bst. c i.V.m. Art. 25 Abs. 3 VRAB). Bei so hohen ordentlichen Beiträgen wird ein Einkauf in vie-len Fällen obsolet (es sei diesen Personen grundsätzlich gegönnt!).Bei der Auslegung von Art. 79b Abs. 3 Satz 1 BVG darf dies aber nicht ausser Acht gelassen wer-den.Es gibt keinen sachlichen Grund, Menschen, welche nicht das Glück haben, dass ihr Arbeitge-ber einen optimierten Vorsorgeplan entworfen hat, im Ergebnis zu benachteiligen.

7 PraktikabilitätArt. 79b Abs. 3 Satz 1 BVG muss von den versi-cherten Personen und den Vorsorgeeinrichtun-gen verstanden und eingehalten werden.Aus Sicht der versicherten Personen am prakti-kabelsten wäre es, wenn• Art. 79b Abs. 3 Satz 1 BVG pro Vorsorgeplan

angewendet würde128

• und die daraus resultierenden Leistungen mit dem Einkauf gleichgesetzt würden129.

Diese Variante wäre auch aus Sicht der Vorsorge-einrichtungen sehr einfach umzusetzen. Frag-lich ist, ob die Gleichsetzung des Einkaufsbetra-ges mit den «daraus resultierenden Leistungen» noch Auslegung im engeren Sinn sein kann. So-lange die Zinsen unwesentlich sind, erscheint es als vertretbar, dies noch als Auslegung im enge-ren Sinn zu bezeichnen.Wenn jedoch die Zinsen einzurechnen sind, dann stellt sich für die Vorsorgeeinrichtungen ein Problem, sofern sie die daraus resultieren-den Leistungen nicht gestützt auf die technische

Sonderdruck Seite 53

EINKAUF UND KAPITALBEZUG

Buchhaltung ermitteln können. In diesem Fall würde die Praktikabilität für ein Abstellen auf die technische Buchhaltung sprechen. Eine an-dere Lösung wäre, dass der Zins auf dem Ein-kauf hypothetisch berechnet wird.

8 Abwägung zwischen Praktikabili-tät und Konsolidierung zugunsten der versicherten Person

Solange die versicherte Person bei mehreren Vorsorgeplänen wählen kann, bei welchem der Einkauf bzw. Kapitalbezug stattfinden soll, hat sie es in vielen Fällen in der Hand, Nachteile ab-zuwenden.Es gibt aber auch Fälle, bei denen die Nachteile nicht abgewendet werden können.BeispielVgl. Ausgangsfall: Vorsorgeeinrichtung A hat ei-nen Deckungsgrad von 90%. Vorsorgeeinrich-tung B hat einen Deckungsgrad von 110%. Die versicherte Person muss den Einkauf von CHF 100 000.– in Vorsorgeeinrichtung B täti-gen, um einen möglichen Schaden abzuwen-

123 BSV, Mitteilungen über die berufliche Vorsorge Nr. 110, Ziff. 678. Mit Rücksicht auf Art. 12 FZV (nur zwei Frei-zügigkeitseinrichtungen) ist diese Lösung nicht selbst-verständlich. Zur rechtsmethodischen Herleitung vgl. z. B. Ott, Leitsätze, Ziff. 7.1, S. 53 f.

124 BSV, Mitteilungen über die berufliche Vorsorge Nr. 88, Ziff. 511 (2.). Das BSV erachtet es selbst ohne reglemen-tarische Bestimmung als zulässig, wenn die Vorsorge-einrichtung für diesen Zweck eine Leibrente bei einer Versicherungsgesellschaft einkauft.

125 Vgl. in diesem Sinn bei entsprechender reglementari-scher Grundlage Maute/Steiner/Rufener/Lang, S. 174.

126 Dies entspricht der Praxis der Steuerverwaltung des Kantons Bern, vgl. Steuerverwaltung des Kantons Bern, TaxInfo Berufliche Vorsorge, Fassung vom 19. Oktober 2012, publiziert in: www.taxinfo.sv.fin.be.ch/taxinfo/display/taxinfo/Berufliche+Vorsorge, 26. September 2013; ebenso eigentlich Urteil des Bundesgerichts vom 7. Juni

2011, 2C_156/2010, mit Hinweis auf die unterschiedli-chen Auffassungen in der Lehre. Es ging um einen Fall eines unberechtigten Barbezugs mangels Aufnahme der selbstständigen Erwerbstätigkeit. A. A. Maute/Steiner/ Rufener/Lang, S. 199, und Wenger, S. 52 (Art. 38 DBG müsse immer angewendet werden).

127 Im Fall eines unberechtigten Barbezugs mangels Auf-nahme der selbstständigen Erwerbstätigkeit will das Bundesgericht Art. 37 DBG nicht zur Anwendung brin-gen, vgl. Urteil des Bundesgerichts vom 7. Juni 2011, 2C_156/2010, E. 5.2, mit Hinweis auf die unterschied -lichen Auffassungen in der Lehre.

128 Sie hätten natürlich trotzdem das Interesse, dass eine konsolidierte Betrachtung zu ihren Gunsten im Sinne von Abbildung 3 zulässig wäre. Aber dies ist keine For-derung der Praktikabilität.

129 Dies entspricht der Praxis der Steuerverwaltung des Kantons Bern, FN 126.

den. Wenn Vorsorgeeinrichtung B reglementa-risch nur Leistungen in Kapitalform vorsieht, so hat die versicherte Person grundsätzlich kei-ne Wahlmöglichkeit. Sie muss ihren Bedarf an Leistungen in Kapitalform aus Vorsorgeeinrich-tung B decken (angenommen, Altersguthaben in Vorsorgeeinrichtung B wäre CHF 500 000.– inkl. Einkauf von CHF 100 000.– und Kapital-bedarf wäre CHF 500 000.–).Würde die versicherte Person nur einer Vorsor-geeinrichtung angehören, ergäbe sich mit Be-zug auf Art. 79b Abs. 3 Satz 1 BVG keine Ein-schränkung, wenn z. B. die Sicht der versicherten Person mit Bezug auf einen Vor-sorgeplan gemäss Abbildung 3 massgebend wäre. Die bezogene Rente wäre immer noch mehr als genügend hoch.Sachlich eindeutig angemessen wird sein, wenn grundsätzlich eine Betrachtung pro Vorsorge-plan erfolgt, aber ausnahmsweise, wenn wichti-ge Gründe für eine konsolidierte Betrachtung zugunsten der versicherten Person sprechen, eine solche zugelassen wird.

Sonderdruck Seite 54

EINKAUF UND KAPITALBEZUG

9 ErgebnisWir kommen bei einer Gesamtwürdigung zum nachfolgenden Ergebnis:• In den meisten Fällen ist die eindeutig sach-

lich angemessene Auslegungsvariante mit Bezug auf Abbildung 3 die aus Sicht der ver-sicherten Person günstigste.

• D. h. der Ausdruck «daraus resultierende Leistungen» wird aus der Sicht der versi-cherten Person definiert. Die technische Buchhaltung ist ohne Relevanz. Es findet die FIFO-Methode Anwendung. Die Zinsen auf den Einkäufen sind, sofern nicht anders möglich, hypothetisch zu rechnen.

• Aus Gründen der Praktikabilität wird sach-lich eindeutig angemessen sein, wenn grundsätzlich eine Betrachtung pro Vorsor-geplan erfolgt. Eine konsolidierte Betrach-tung zugunsten der versicherten Person sollte aber ausnahmsweise zugelassen wer-den, wenn wichtige Gründe vorliegen.

• Es ist eindeutig sachlich angemessen, Art. 79b Abs. 3 Satz 1 BVG im Falle, wo bei ei-ner Gesamtwürdigung keine Vorwerfbarkeit vorliegt, nicht anzuwenden.Dies wird vor allem der Fall sein, wenn die versicherte Person im Zeitpunkt des Ein-kaufs keine Absicht hatte, daraus resultie-rende Leistungen in Kapitalform innert drei Jahren zu beziehen und im Zeitpunkt des Leistungsbezugs ihr nicht zugemutet wer-den kann, auf die Leistung in Kapitalform zu verzichten. Zu berücksichtigen ist, dass sich die fehlende Vorwerfbarkeit auch nur auf einen Teil der Leistung in Kapitalform beziehen kann.Zudem fehlt die Vorwerfbarkeit, wenn statt eines Einkaufs ein «fiktiver Einkauf» ge-mäss Art. 37b DBG zulässig gewesen wäre.Weitere Fälle können sich gestützt auf eine umfassende Würdigung der Umstände im Einzelfall ergeben.

V RangordnungDas Bundesgericht kennt keine einheitliche Pra-xis zur Rangordnung bei der Methode der Rechtsanwendung130.Eine Methode der Rechtsanwendung muss sich aber um eine Rangordnung bemühen131.Hier wird grundsätzlich die nachfolgende Rang-ordnung bei der Auslegung im engeren Sinn be-fürwortet132:(1.) Präjudizien, bei überragender Bedeutung

der Rechtssicherheit (z. B. prozessuale Frist-bestimmungen, was vorliegend nicht der Fall ist)

(2.) eindeutige sachliche Angemessenheit(3.) Schlussfolgerungen (nicht nur Vermutun-

gen) aus der gesetzlichen Ordnung und dem Zweck des Gesetzes, vor allem aus der gesetzlichen Interessenbeurteilung

(4.) bedeutende bisherige Fallbeurteilung(5.) Vermutungen aufgrund der gesetzlichen

Ordnung(6.) Vermutungen betreffend AngemessenheitDamit ist Art. 79b Abs. 3 Satz 1 BVG im Sinne der eindeutig angemessenen Lösung im Rahmen des klaren bzw. möglichen Wortsinns zu präzi-sieren133.

G Ausnahmsweise richterliche Gesetzesergänzung

Mit Bezug auf den Ausgangsfall entspricht es nicht der eindeutig angemessenen Lösung, Art. 79b Abs. 3 Satz 1 BVG über den klaren bzw. möglichen Wortsinn hinaus vorsorgerechtlich anzuwenden oder allein für Steuerzwecke zu er-gänzen.Damit sind die Voraussetzungen für eine aus-nahmsweise richterliche Gesetzesergänzung be-reits aus diesem Grund nicht erfüllt.Zudem wird eine ausnahmsweise richterliche Gesetzesergänzung nicht einmal durch eine klare Fallbeurteilung durch die Mehrheit des historischen Gesetzgebers, durch Anhaltspunkte

Sonderdruck Seite 55

EINKAUF UND KAPITALBEZUG

aus dem Gesetz oder den Zweck des Gesetzes nahe gelegt. Eine besondere materielle Dring-lichkeit liegt natürlich auch nicht vor.Exkurs: Rein steuerrechtlich kann nochmals (etwas vertiefter) geprüft werden, ob im Aus-gangsfall die Anwendung von Art. 33 Abs. 1 Bst. d DBG bzw. Art. 38 DBG – unabhängig von Art. 79b Abs. 3 Satz 1 BVG – verweigert werden könnte:134

• Zuerst ist festzuhalten, dass beide steuer-rechtlichen Bestimmungen nach ihrem im Hinblick auf den Ausgangsfall klaren Wort-sinn erfüllt sind. Es müssen demnach die strengen Voraussetzungen eingehalten wer-den, die für diesen Fall gelten (vgl. Ziff. D.IV.2.f.aa.).

• Ein Einkauf in den drei Jahren vor einer Pensionierung mit Wahl der Leistung in Ka-pitalform ist für sich kein ausserordentli-cher Sonderfall, an den der Gesetzgeber

nicht unbedingt gedacht haben muss135. In jedem Fall müsste zusätzlich eine Ausle-gung im engeren Sinn erfolgen. Die sachli-che Angemessenheit würde sich aber im Ausgangsfall wie vorstehend dargestellt prä-sentieren (vgl. Ziff. F.IV.).

• Wenn kein ausserordentlicher Sonderfall vorliegt, so kann nur (aber immerhin) im Rahmen der Überprüfung der normativen Grundlagen von Art. 33 Abs. 1 Bst. d DBG bzw. Art. 38 DBG allenfalls die Anwendung dieser Bestimmung verweigert werden. Zu erwähnen ist der Fall eines offenbaren Rechtsmissbrauchs. Die sachliche Angemes-senheit würde sich aber ebenfalls wie vorste-hend dargestellt präsentieren (vgl. Ziff. F.IV.). Bei dieser Sachlage ist die Annahme eines offenbaren Rechtsmissbrauchs im Ausgangsfall erst recht ausgeschlossen.136

134 Vgl. bereits Ziff. D.IV.3.b.bb.bbb. Art. 79b Abs. 3 Satz 1 BVG behandeln wir im Vorsorgerecht als Hauptnorm (vgl. Ziff. D.II.). Von dieser Norm her gedacht geht es um die Frage nach der Zulässigkeit einer ausnahmswei-sen richterlichen Gesetzesergänzung. Mit Bezug auf Art. 33 Abs. 1 Bst. d DBG bzw. Art. 38 DBG ist Art. 79b Abs. 3 Satz 1 BVG nur eine Nebennorm (vgl. Ziff. D.III.). Es geht damit um die Frage, ob die Steuernorm, die nach dem klaren sprachlichen Sinn anwendbar scheint, nicht angewendet werden darf. Soweit es um eine Er-gänzung von Art. 79b Abs. 3 Satz 1 BVG allein für Steuer zwecke geht, gibt es eine Überschneidung. Grund-sätzlich befürworten wir, dass sowohl von dieser Norm als auch von den beiden Steuernormen her argumen-tiert werden kann. Es muss jedoch eine Harmonisie-rung vorgenommen werden. In diesem Punkt wohl restriktiver Ott, Methode in der Sackgasse, S. 45, FN 199, S. 125 f. und 203 – 206. Im Ergebnis ist dies für die Beurteilung des Ausgangsfalles jedoch ohne Relevanz.

135 Im Zusammenhang mit extremen Einkommenssteige-rungen könnten hingegen ausserordentliche Sonder- fälle vorliegen, wenn es Art. 79b Abs. 3 Satz 1 BVG nicht geben würde. Mit dieser Bestimmung sind aber gerade solche Fälle für das Vorsorge- und Steuerrecht einheit-lich geregelt.

130 In diesem Sinne Seiler, Praktische Rechtsanwendung, S. 4.

131 Vgl. auch Kramer, S. 179.132 Vgl. ausführlich und überzeugend hierzu Ott, Methode,

S. 305 – 314; vgl. auch Ott, Methode in der Sackgasse, S. 18 – 21; Ott, Leitsätze, S. 49 – 51.

133 Vgl. hier Art. 1 Abs. 2 ZGB: «Kann dem Gesetz keine Vorschrift entnommen werden, so soll das Gericht (. . .) nach der Regel entscheiden, die es als Gesetzgeber auf-stellen würde.» Diese Norm bezieht sich primär auf die Rechtsfindung im unklaren Anwendungsbereich des Gesetzes. Es geht damit um die Präzisierung einer Norm (im Unterschied zur Konkretisierung, vgl. Art. 4 ZGB) und allenfalls mit Zurückhaltung um eine aus-nahmsweise richterliche Gesetzesergänzung, wenn we-der Anwendung noch Nicht-Anwendung befriedigen und damit bei einer Interessenabwägung das kleinere Übel nach dem Grundsatz «in maiore minus» gewählt wird. In diesem Fall entfällt u. U. die Voraussetzung der besonderen materiellen Dringlichkeit. Art. 1 Abs. 2 ZGB beinhaltet hingegen keine pauschale Gesetzesdelega -tion an Gerichte (vgl. Literaturhinweis in FN 22). Für die Anforderungen an «Lücken contra verba legis» vgl. Ziff. D.IV.2.f.aa. bzw. an «Lücken praeter verba legis» Ziff. D.IV.2.f.cc.

Sonderdruck Seite 56

EINKAUF UND KAPITALBEZUG

• Art. 33 Abs. 1 Bst. d DBG bzw. Art. 38 DBG sind dementsprechend im Ausgangsfall defi-nitiv anzuwenden137.

H Lösung zum Ausgangsfall

Gestützt auf die hier zugrunde gelegte Methode der Rechtsanwendung sind die Fragen der Per-son Meier im Ausgangsfall wie folgt zu beant-worten:(1.) Meier kann sich per 31. Dezember 2014 in die

Vorsorgeeinrichtung A mit CHF 100 000.– ein-kaufen.

(2.) Der Einkauf von CHF 100 000.– in die Vor-sorgeeinrichtung A kann bei der Berech-nung des steuerbaren Einkommens im Jahr 2014 abgezogen werden.

(3.) Das Altersguthaben von CHF 500 000.– aus der Vorsorgeeinrichtung B kann per 1. Feb-ruar 2015 in Kapitalform bezogen werden.

(4.) Diese Kapitalleistung von CHF 500 000.– wird separat mit einer reduzierten Sonder-steuer belastet.

Ob diese Antworten sich im Wohnsitzkanton der Person Meier durchsetzen lassen, erscheint auf-grund der bisherigen Fallbeurteilungen von Steuerverwaltungen und Steuergerichten unge-wiss.Vielleicht werden die Ausführungen in diesem Artikel helfen, Steuerverwaltungen und Gerichte zu überzeugen.

136 Die Interventionsschwelle der «besonderen materiellen Dringlichkeit» im normfreien Bereich und des «offen-baren Rechtsmissbrauchs» im klaren Anwendungs -bereich erachten wir grundsätzlich als ähnlich. Vgl. aber Hinweise bei Ott, Methode in der Sackgasse, S. 45, FN 199, und S. 125 f.

137 Wird trotz Verletzung der hier dargelegten Grundsätze die Anwendung von Art. 33 Abs. 1 Bst. d DBG auf einen Einkauf verweigert, so ist es folgerichtig, korrespondie-rend eine Korrektur (d. h. Reduktion) der Besteuerung der Kapitalleistung im gleichen Umfang vorzunehmen. Denn mit Bezug auf Art. 38 DBG würde ein ausser -ordentlicher Sonderfall vorliegen. Eine Auslegung im engeren Sinn würde dieses Ergebnis erfordern.

Sonderdruck Seite 57

EINKAUF UND KAPITALBEZUG

Literaturverzeichnis

Blöchliger, Die steuerliche Behandlung des Ein-kaufs und des Kapitalbezugs von Vorsorgeleis-tungen, in: StR 2012, S. 92 – 117

Carlen/Gianini/Riniker, Finanzbuchhaltung 2, Sonderfälle der Finanzbuchhaltung, 5. Auflage, Zürich 2007

Gauch/Schluep/Schmid/Rey, Schweizerisches Obligationenrecht, Allgemeiner Teil, Band I, 7. Auflage, Zürich 1998

Geiser/Senti, in: Schneider/Geiser/Gächter (Hrsg.): BVG und FZG, Bern, 2010, Kommentar zu Art. 5 FZG

Haft, Einführung in das juristische Lernen, 5. Auf-lage, Bielefeld 1991 (Haft, Juristisches Lernen)

Hausheer/Jaun, Die Einleitungstitel des Schwei-zerischen Zivilgesetzbuches, Bern 1998

Henners/Baumgartner, Missbrauch der 2. Säule als steuerbegünstigtes Kontokorrent? Kritische Würdigung von BGE 2C_658/2009 vom 12. März 2010, in: StR 2011, S. 129 – 136

Höhn/Waldburger, Steuerrecht, Band I, 9. Auf -lage, Bern/Stuttgart/Wien 2001 (Höhn/Wald-burger, Band I)

Höhn/Waldburger, Steuerrecht, Band II, 9. Auf-lage, Bern/Stuttgart/Wien 2002 (Höhn/Wald-burger, Band II)

Kiener/Kälin, Grundrechte, 2. Auflage, Bern 2013

Kramer, Juristische Methodenlehre, 4. Auflage, Bern 2013

Leuch/Kästli, Praxis-Kommentar zum Berner Steuergesetz, Artikel 1 – 125, Muri-Bern 2006

Locher, System des schweizerischen Steuer-rechts, 6. Auflage, Zürich 2002

Maute/Steiner/Rufener/Lang, Steuern und Ver-sicherungen, 3. Auflage, Muri/Bern 2011

Moser, Die (nicht mehr ganz) neuen Einkaufs-bestimmungen: Viele Köche und ein Brei von Fragen …, in: Schaffhauser/Stauffer (Hrsg.): BVG-Tagung 2007, St. Gallen 2008, S. 9 – 26

Ott, Die Interpretation von Verträgen und Statu-ten, Basel/Genf/München 2000 (Ott, Interpreta-tion von Verträgen)

Ott, Die Methode der Rechtsanwendung, Zürich 1979 (Ott, Methode)

Ott, Juristische Dialektik, 3. Auflage, Zürich/ St. Gallen 2008 (Ott, Juristische Dialektik)

Ott, Juristische Methode in der Sackgasse? 46 fragwürdige Theorien in der heutigen juristi-schen Methodenlehre, Zürich 2006 (Ott, Metho-de in der Sackgasse)

Ott, Leitsätze der juristischen Fallbearbeitung, 2. Auflage, Basel/Frankfurt am Main 1993 (Ott, Leitsätze)

Reich, Steuerrecht, 2. Auflage, Zürich/Basel/Genf 2012

Richner/Frei/Kaufmann/Meuter, Kommentar zum Zürcher Steuergesetz, 3. Auflage, Zürich 2013.

Sonderdruck Seite 58

EINKAUF UND KAPITALBEZUG

Tschannen, Staatsrecht der Schweizerischen Eidgenossenschaft, 3. Auflage, Bern 2011

Tschannen/Zimmerli/Kiener, Allgemeines Verwal-tungsrecht, Bern 2000

Wäfler-Meier/Zampieri, Missbrauchsfälle in der 2. Säule: Erkenntnisse aus der Rechtsprechung des Jahres 2010, in: StR 2011, S. 374 – 386

Wenger, Probleme rund um die vorzeitige Pen-sionierung in der beruflichen Vorsorge, Diss. ZH, Zürich/Basel/Genf 2009

Züger, Berufliche Vorsorge mittels Steuerrecht – Geht die Rechnung auf?, in: Peter Mäusli-Allens - pach/Michael Beusch (Hrsg.): Steuern und Recht – Steuerrecht! Liber amicorum für Martin Zweifel, Basel 2013, S. 31 – 41 (Züger, Liber ami-corum)

Züger, Neue steuerlich motivierte Bestimmun-gen im BVG, in: TREX 2007, S. 208 – 212 (Züger, TREX)

Riklin, Schweizerisches Strafrecht, Allgemeiner Teil I, Verbrechenslehre, 3. Auflage, Zürich 2007 (Riklin, Schweizerisches Strafrecht)

Saner, Das Vorsorgeverhältnis in der obligatori-schen und weitergehenden beruflichen Vorsor-ge, Diss. ZH, Zürich/Basel/Genf 2012

Schneider, in: Schneider/Geiser/Gächter (Hrsg.): BVG und FZG, Bern 2010, Kommentar zu Art. 79b BVG

Schweizerische Steuerkonferenz, Vorsorge und Steuern, Anwendungsfälle zur beruflichen Vor-sorge und Selbstvorsorge, 11. Nachtrag, Muri/Bern 2013

Seiler (Bundesrichter), Praktische Rechtsan-wendung, Bern 2009 (Seiler, Praktische Rechts-anwendung)

Treuhand-Kammer, Schweizer Handbuch der Wirtschaftsprüfung, Band 1, Buchführung und Rechnungslegung, Zürich 2009 (Treuhand-Kammer, HWP, Band 1)