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1 1 Einführung in die physikalisch-chemischen Betrachtungsweisen, Grundbegriffe und Arbeitstechniken Das Gesamtgebiet der Physikalischen Chemie wird üblicherweise in die Sparten Chemische Thermo- dynamik, Statistische Thermodynamik, Transport- erscheinungen, Aufbau der Materie (Quantenche- mie, Spektroskopie und chemische Bindung), Reak- tionskinetik und Elektrochemie gegliedert. Die Rei- henfolge, in der diese Teilgebiete im Hochschulun- terricht behandelt werden, ist sehr unterschiedlich; teilweise werden sie völlig von einander getrennt an- geboten. Wir wollen den entgegengesetzten Weg ge- hen und die Physikalische Chemie als ein Ganzes betrachten. In diesem ersten Kapitel werden wir die Betrach- tungsweisen kennenlernen, die den einzelnen Teilge- bieten zu Grunde liegen, die Grenzen sehen, die gera- de die Betrachtungsweisen den Aussagemöglichkeiten setzen und erkennen, in wie starkem Maße jede Spar- te der Physikalischen Chemie von den Erkenntnissen lebt, die in den anderen Teilgebieten gewonnen wer- den. Wir werden mit einer Einführung in die chemi- sche Thermodynamik beginnen und sehr bald fest- stellen, dass es uns in Anbetracht der angewandten Vorgehensweise nicht gelingen kann, thermodynami- sche Größen absolut zu berechnen. Die Suche nach einer Berechnungsmöglichkeit wird uns dann über die kinetische Gastheorie zur statistischen Thermo- dynamik führen. Die Beschäftigung mit dieser Me- thode wird uns zeigen, dass sie prinzipiell in der La- ge ist, die gewünschten Daten zu liefern, wenn man die Energiezustände kennt, in denen ein Molekül vor- liegen kann. Die Suche nach diesen Energiezuständen wird uns zwangsläufig zur Quantentheorie führen. Die Frage nach dem Einfluss der Zeit haben wir bis jetzt nicht gestellt. Wollen wir auch zeitliche Veränderun- gen behandeln, so kommen wir zur chemischen Ki- netik, unserem fünften einführenden Abschnitt. Den Abschluss des ersten Kapitels wird eine Einführung in die Elektrochemie bilden. In diesem Abschnitt werden wir uns erstmals mit geladenen Teilchen beschäftigen. Obwohl uns das erste Kapitel motivieren soll, die Physikalische Chemie als ein Ganzes zu sehen, sind seine Abschnitte so angelegt, dass sie auch als selbstständige Einführung in die folgenden Kapitel Chemische Thermodynamik, Aufbau der Materie, Transporterscheinungen, Kinetik und die Beugungs- erscheinungen als Grundlage der Strukturbestim- mung dienen. Der Elektrochemie ist kein gesondertes Kapitel gewidmet, da es sich als zweckmäßig erweisen wird, die elektrochemischen Aspekte in den Kapiteln Thermodynamik, Transporterscheinungen und Kine- tik mit zu behandeln. 1.1 Einführung in die chemische Thermodynamik In diesem ersten Abschnitt wollen wir uns mit den Methoden der thermodynamischen Betrachtungs- weise vertraut machen. Wir werden versuchen, den Zustand der Materie oder Änderungen dieses Zu- standes zu beschreiben. Zunächst wird es darauf ankommen, Begriffe, For- mulierungen und mathematische Methoden ken- nenzulernen, die in der Thermodynamik immer wie- der verwendet werden. Viele dieser Begriffe, wie Gleichgewicht oder Arbeit , sind uns aus der Mecha- nik bekannt, andere, wie System, Umgebung, Phase, Temperatur, Wärmemenge, müssen wir neu einfüh- ren (Abschnitte 1.1.2 bis 1.1.9). Wir werden erfahren, dass der Zustand einer Phase mithilfe einer Zustandsgleichung beschrieben werden kann, die sog. Zustandsgrößen miteinander verknüpft. Als Beispiel werden wir uns vornehm- lich auf das ideale Gas beziehen (Abschnitte 1.1.10 und 1.1.11). Die Betrachtung der Energieumsätze, mit denen eine Zustandsänderung verbunden ist, wird uns zum Ersten Hauptsatz der ermodynamik , der kalori- schen Zustandsgleichung , und zu den Zustandsgrö- ßen Innere Energie U und Enthalpie H führen (Ab- schnitt 1.1.12). Wir werden die Bedeutung des tota- len Differentials von U und H für die Berechnung Lehr- und Arbeitsbuch Physikalische Chemie, 7. Auflage. Gerd Wedler und Hans-Joachim Freund. © 2018 WILEY-VCH Verlag GmbH & Co. KGaA. Published 2018 by WILEY-VCH Verlag GmbH & Co. KGaA.

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Gerd Wedler und Hans-Joachim Freund: Lehr- und Arbeitsbuch Physikalische Chemie — 2018/7/2 — Seite 1 — le-tex

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Einführung in die physikalisch-chemischen Betrachtungsweisen,Grundbegriffe und Arbeitstechniken

Das Gesamtgebiet der Physikalischen Chemie wirdüblicherweise in die Sparten Chemische Thermo-dynamik, Statistische Thermodynamik, Transport-erscheinungen, Aufbau der Materie (Quantenche-mie, Spektroskopie und chemische Bindung), Reak-tionskinetik und Elektrochemie gegliedert. Die Rei-henfolge, in der diese Teilgebiete im Hochschulun-terricht behandelt werden, ist sehr unterschiedlich;teilweise werden sie völlig von einander getrennt an-geboten. Wir wollen den entgegengesetzten Weg ge-hen und die Physikalische Chemie als ein Ganzesbetrachten.In diesem ersten Kapitel werden wir die Betrach-

tungsweisen kennenlernen, die den einzelnen Teilge-bieten zu Grunde liegen, die Grenzen sehen, die gera-de die Betrachtungsweisen denAussagemöglichkeitensetzen und erkennen, in wie starkem Maße jede Spar-te der Physikalischen Chemie von den Erkenntnissenlebt, die in den anderen Teilgebieten gewonnen wer-den.Wir werden mit einer Einführung in die chemi-

sche Thermodynamik beginnen und sehr bald fest-stellen, dass es uns in Anbetracht der angewandtenVorgehensweise nicht gelingen kann, thermodynami-sche Größen absolut zu berechnen. Die Suche nacheiner Berechnungsmöglichkeit wird uns dann überdie kinetische Gastheorie zur statistischen Thermo-dynamik führen. Die Beschäftigung mit dieser Me-thode wird uns zeigen, dass sie prinzipiell in der La-ge ist, die gewünschten Daten zu liefern, wenn mandie Energiezustände kennt, in denen ein Molekül vor-liegen kann. Die Suche nach diesen Energiezuständenwird uns zwangsläufig zurQuantentheorie führen. DieFrage nach dem Einfluss der Zeit haben wir bis jetztnicht gestellt. Wollen wir auch zeitliche Veränderun-gen behandeln, so kommen wir zur chemischen Ki-netik, unserem fünften einführenden Abschnitt. DenAbschluss des ersten Kapitels wird eine Einführung indie Elektrochemie bilden. In diesemAbschnitt werdenwir uns erstmals mit geladenen Teilchen beschäftigen.Obwohl uns das erste Kapitel motivieren soll,

die Physikalische Chemie als ein Ganzes zu sehen,

sind seine Abschnitte so angelegt, dass sie auch alsselbstständige Einführung in die folgenden KapitelChemische Thermodynamik, Aufbau der Materie,Transporterscheinungen, Kinetik und die Beugungs-erscheinungen als Grundlage der Strukturbestim-mung dienen. Der Elektrochemie ist kein gesondertesKapitel gewidmet, da es sich als zweckmäßig erweisenwird, die elektrochemischen Aspekte in den KapitelnThermodynamik, Transporterscheinungen und Kine-tik mit zu behandeln.

1.1 Einführung in die chemischeThermodynamik

In diesem ersten Abschnitt wollen wir uns mit denMethoden der thermodynamischen Betrachtungs-weise vertraut machen. Wir werden versuchen, denZustand der Materie oder Änderungen dieses Zu-standes zu beschreiben.Zunächst wird es darauf ankommen, Begriffe, For-

mulierungen und mathematische Methoden ken-nenzulernen, die in der Thermodynamik immerwie-der verwendet werden. Viele dieser Begriffe, wieGleichgewicht oder Arbeit, sind uns aus der Mecha-nik bekannt, andere, wie System, Umgebung, Phase,Temperatur, Wärmemenge, müssen wir neu einfüh-ren (Abschnitte 1.1.2 bis 1.1.9).Wir werden erfahren, dass der Zustand einer

Phase mithilfe einer Zustandsgleichung beschriebenwerden kann, die sog. Zustandsgrößen miteinanderverknüpft. Als Beispiel werden wir uns vornehm-lich auf das ideale Gas beziehen (Abschnitte 1.1.10und 1.1.11).Die Betrachtung der Energieumsätze, mit denen

eine Zustandsänderung verbunden ist, wird uns zumErsten Hauptsatz der Thermodynamik, der kalori-schen Zustandsgleichung, und zu den Zustandsgrö-ßen Innere Energie U und Enthalpie H führen (Ab-schnitt 1.1.12). Wir werden die Bedeutung des tota-len Differentials von U und H für die Berechnung

Lehr- und Arbeitsbuch Physikalische Chemie, 7. Auflage. Gerd Wedler und Hans-Joachim Freund.©2018WILEY-VCHVerlagGmbH&Co.KGaA. Published 2018 byWILEY-VCHVerlagGmbH&Co.KGaA.

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2 1 Einführung in die physikalisch-chemischen Betrachtungsweisen, Grundbegriffe und Arbeitstechniken

von Energieumsetzungen bei Zustandsänderungendurch Temperatur, Volumen- oder Druckänderun-gen oder chemische Reaktionen behandeln und dieBedeutung der partiellen Differentialquotienten er-kennen (Abschnitte 1.1.13 bis 1.1.16).Die Besprechung des Carnot’schen Kreisprozes-

ses (Abschnitte 1.1.17 bis 1.1.18) wird die Gele-genheit bieten, auf Reversibilität und Irreversibilitäteinzugehen und schließlich zur Einführung der En-tropie und zur Behandlung des Zweiten Hauptsatzesder Thermodynamik überleiten (Abschnitte 1.1.19bis 1.1.20).

1.1.1 Zustand

Unter einem bestimmten Zustand der Materie verste-hen wir in der chemischen Thermodynamik ihre au-genblickliche, durchmakroskopische Größen, die sog.Zustandsgrößen (z. B. Temperatur, Volumen, Druck),beschreibbare Beschaffenheit. Der strukturelle Auf-bauderMaterie ist für die chemischeThermodynamikuninteressant. Es spielt nicht einmal eine Rolle, ob siekontinuierlich oder diskontinuierlich (aus individuel-len Teilchen) aufgebaut ist.

1.1.2 System und Umgebung

Bei der Materie, über deren Verhalten wir etwas aus-sagen wollen, wird es sich im Allgemeinen nicht umdas ganze Universumhandeln, sondern um einen win-zigen, begrenzten Teil davon. Es kann beispielsweiseder Inhalt eines Becherglases, der Inhalt eines abge-schmolzenenBombenrohres oder der Inhalt einer ver-schlossenen Thermosflasche sein. Wir nennen diesen,uns interessierenden Teil des Universums das Systemund alles das, was nicht zu dem System gehört, dieUmgebung.Die drei genannten Beispiele scheinen zunächst

wahllos aus der Arbeitswelt des Chemikers herausge-griffen zu sein, dochwerdenwir erkennen, dass es sichum die Vertreter dreier, voneinander streng zu unter-scheidender Typen von Systemen handelt.Beim Inhalt eines Becherglases ist lediglich eine

räumliche Abgrenzung gegeben. Es ist möglich, ausdem Becherglas Materie zu entnehmen und durchneue zu ersetzen. Man kann einen Bunsenbrennerdarunterstellen und so Wärmeenergie zuführen oderdas Becherglas mit seinem Inhalt von außen kühlen.Ein solches System, bei dem mit der Umgebung einMaterie- und Energieaustausch möglich ist, bezeich-nen wir als offenes System.Im Fall des abgeschmolzenen Bombenrohres kön-

nen wir mit der Umgebung keinen Materieaustauschmehr vornehmen, wohl aber einen Energieaustausch,

(a) (b) (c)

Abb. 1.1-1 (a) Offenes System, sowohl Energie- als auch Ma-terieaustausch mit der Umgebung, (b) geschlossenes System,Energie-, aber kein Materieaustausch mit der Umgebung,(c) abgeschlossenes System, weder Energie- noch Materieaus-tausch mit der Umgebung.

z. B. durch Erwärmen oder Abkühlen. Ein solches Sys-tem nennen wir ein geschlossenes System.Kann schließlich, wie bei der allseitig verschlosse-

nen Thermosflasche, mit der Umgebung weder Mate-rie noch Energie ausgetauscht werden, so spricht manvon einem abgeschlossenen System.In Abb. 1.1-1 werden diese drei Systemtypen einan-

der noch einmal gegenübergestellt.

1.1.3 Phase

Nachdem wir die Systeme bezüglich ihres Verhaltensgegenüber der Umgebung charakterisiert haben, wol-len wir uns dem inneren Aufbau der Systeme zuwen-den. Ein System kann ein- oder mehrphasig sein. Un-ter einer Phase wollen wir dabei einen Bereich ver-stehen, innerhalb dessen keine sprunghafte Änderungirgendeiner physikalischen Größe auftritt. An einerPhasengrenze, d. h. beim Übergang von einer Phasein die benachbarte, ändern sich dagegen die physikali-schen Größen wie beispielsweise Dichte, Brechungs-index oder elektrische Leitfähigkeit sprunghaft, ge-nauer gesagt, innerhalb einer nur wenige Molekül-durchmesser dicken Schicht. Im allgemeinen ist dieZahl der Teilchen in der Phasengrenzfläche so kleingegenüber der im Phaseninnern, dass der Einfluss derGrenzfläche auf die thermodynamischen Eigenschaf-ten der Phase vernachlässigt werden kann. Ist dasnicht der Fall, so müssen die im Abschnitt 2.7 behan-delten Phänomene berücksichtigt werden.Wir wollen einige ein- und mehrphasige Systeme

betrachten. Ein System, in dem sich ausschließlichGa-se befinden, kann nur einphasig sein, unabhängig da-von, ob es sich um einen reinen Stoff oder um eineMischung verschiedener Stoffe handelt. Ein System,das aus mehreren Flüssigkeiten besteht, kann einpha-sig sein, wenn sich die Flüssigkeiten mischen, wie z. B.

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Gerd Wedler und Hans-Joachim Freund: Lehr- und Arbeitsbuch Physikalische Chemie — 2018/7/2 — Seite 3 — le-tex

31.1 Einführung in die chemische Thermodynamik

(a) (b) (c)

Abb. 1.1-2 (a) Stabiles Gleichgewicht, (b) labiles (instabiles) Gleichgewicht, (c) metastabiles Gleichgewicht.

Heptan und Octan, oder mehrphasig, wenn sich dieFlüssigkeiten nicht vollständigmischen, wie z. B.Was-ser und Diethylether. Wird ein System aus reinemWasser und einem Salz aufgebaut, so ist das Systemeinphasig, wenn sich das gesamte Salz löst, zweipha-sig, wenn neben der Lösung noch ungelöstes Salz vor-liegt. Dabei spielt es keine Rolle, wie viele Salzkristal-le als Bodenkörper vorliegen, da eine Phase nicht zu-sammenhängend sein muss, sondern aus räumlich ge-trennten Bereichen bestehen kann. Setzt sich ein Sys-tem ausGas, Flüssigkeit und Festkörper zusammen, somuss es mindestens dreiphasig sein.

1.1.4 Gleichgewicht

Aus der Mechanik kennen wir die Begriffe der Sta-bilität, der Instabilität und der Metastabilität. InAbb. 1.1-2 sind diese Begriffe am Beispiel einer Kugelerläutert: In der Position (a) befindet sich die Kugel inder energetisch tiefsten Lage. Von selbst kann sie die-se Lage nicht verlassen.Wird sie durch die Einwirkungeiner Kraft aus dieser Lage entfernt, so kehrt sie nachdem Fortfall der Kraft von selbst in die Position desstabilen Gleichgewichts zurück.Ebenso bezeichnen wir ein System als im stabilen

Gleichgewicht befindlich, wenn es nur durch Einwir-kung von außen diesen Zustand verlassen kann, abernach dem Aufheben der Einwirkung von selbst in die-sen Zustand zurückkehrt.Die Position (b) stellt ein labiles Gleichgewicht dar.

Die Kugel wird, sobald sie nur ein wenig aus ihrerLage verrückt wird, in die Position (a), in das stabileGleichgewicht, übergehen. Es ist unmöglich, dass sievon selbst wieder in die Ausgangsposition (b) zurück-gelangt. Ebenso sprechen wir bei einem thermody-namischen System von einem labilen Gleichgewichtoder von Instabilität, wenn es nach Aufhebung ei-ner möglicherweise vorliegenden Hemmung spontan,d. h. von selbst in den Zustand des stabilen Gleichge-wichts übergeht.Von Interesse ist noch die Position (c). Wird die Ku-

gel nur wenig aus ihrer Ruhelage entfernt, so geht sie

von selbst in diese zurück. Bei einer stärkeren Aus-lenkung wird sie jedoch über das kleine Hindernisrollen und in die stabile Gleichgewichtslage (a) ge-langen. Geht ein System nach einer nur geringfügi-gen Einwirkung von außen in den ursprünglichen,nach einer stärkeren Einwirkung jedoch in einen ener-getisch günstigeren Gleichgewichtszustand über, sonennt man den ursprünglichen Zustand einen meta-stabilen Gleichgewichtszustand.Wir werden uns später damit zu beschäftigen haben,

die Kriterien für das Vorliegen eines stabilen, metasta-bilen oder instabilen Gleichgewichts aufzustellen.

1.1.5 Arbeit

Wir werden sehr bald sehen, dass die Betrachtungvon Energien, Energieänderungen und Energieüber-tragungen eine große Rolle in der Thermodynamikspielt. Von der Physik her wissen wir, dass es zwei qua-litativ verschiedene Möglichkeiten gibt, Energie voneinem makroskopischen Körper auf einen anderen zuübertragen, nämlich durch Leisten von Arbeit oderdurch Wärmeaustausch. In diesem Abschnitt wollenwir uns mit dem Begriff der Arbeit beschäftigen, denwir bereits aus derMechanik kennen. Dem Begriff derWärme wenden wir uns im Abschnitt 1.1.7 zu.Die Arbeit W ist gegeben durch das skalare Produktaus denVektoren Kraft F undWeg s. Für den Fall, dassdie Richtungen von Kraft und Weg zusammenfallen,gilt

dW = F ⋅ ds (1.1-1)

W =

s2

∫s1

F ⋅ ds (1.1-2)

Die Arbeit ist also die Fläche unter der Kurve F(s) zwi-schen den Abszissenwerten s1 und s2 (Abb. 1.1-3).Die Kraft F kann in verschiedener Weise ausge-

drückt werden. Beim Heben einer Masse m von derHöhe h1 auf die Höhe h2 leisten wir die Hubarbeit

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Gerd Wedler und Hans-Joachim Freund: Lehr- und Arbeitsbuch Physikalische Chemie — 2018/7/2 — Seite 4 — le-tex

4 1 Einführung in die physikalisch-chemischen Betrachtungsweisen, Grundbegriffe und Arbeitstechniken

(Abb. 1.1-3b) gegen die Gewichtskraft m ⋅ g. F ist dieder Gewichtskraft entgegenwirkende Kraft:

WHub =

h2

∫h1

F ⋅dh =

h2

∫h1

mg ⋅dh =mg(h2 − h1) (1.1-3)

Beim Beschleunigen einer Masse m von der Ge-schwindigkeit v = 0 auf die Geschwindigkeit v1 leistenwir Beschleunigungsarbeit (Abb. 1.1-3c). Die Kraft Fberechnen wir nach dem Newton’schen Kraftgesetz:

WBeschl =

s1

∫s=0

F ⋅ ds =

s1

∫s=0

ma ⋅ ds =

t1

∫t=0

m ⋅dvdt

⋅ v ⋅ dt

=

v1

∫v=0

mv ⋅ dv = 12mv21

(1.1-4)

Für uns sind von besonderem Interesse Arbeiten, dieein thermodynamisches System leisten kann oder diean einem solchen System geleistet werden können.Das System bestehe aus einem Gas, das sich in einemZylinder befindet, der mit einem reibungslos beweg-lichen Stempel versehen ist. Bei der Expansion leis-tet das Gas eine Arbeit gegen die von außen wirken-de Kraft F, die gegeben ist durch das Gewicht G, wel-ches sich zusammensetzt aus dem Gewicht des Stem-pels, dem Gewicht der aufgelegten Gewichtsstückeund dem Gewicht der über dem Stempel stehendenLuftsäule (Abb. 1.1-4). Wir fragen nun nach der Ar-beit, die das System leistet, wenn es sich gegen dieKraft F unter Vergrößerung seines Volumens von V1auf V2 ausdehnt und dabei den Stempel von der Positi-on s1 in die Position s2 hebt. Bei der Berechnung dieserVolumenarbeit WVol müssen wir beachten, dass KraftundWeg einander entgegengesetzt gerichtet sind, alsoschreiben wir

WVol = −

s2

∫s1

F ⋅ ds (1.1-5)

Ersetzen wir die Kraft F durch den von außen auf dieFläche A des Stempels wirkenden Druck p gemäß

p = FA

(1.1-6)

und die Strecke s durch die Volumenänderung dV =A ⋅ ds, so ist

(a)

(d) (e)

(b) (c)

Abb. 1.1-3 Graphische Darstellung der geleistetenArbeit(a) allgemein, (b) Hubarbeit, (c) Beschleunigungsarbeit, (d) Vo-lumenarbeit (für den reversiblen, isothermen Fall), (e) elektri-sche Arbeit.

Abb. 1.1-4 Zur Ableitung der Volumenarbeit.

WVol = −

V2

∫V1

p ⋅ A ⋅dVA

= −

V2

∫V1

p ⋅ dV (1.1-7)

Prinzipiell rechnen wir alle Energiebeträge, die in dasSystem hineingesteckt werden, positiv, alle Energiebe-träge, die das System abgibt, negativ, so, wie es sichaus Gl. (1.1-5) durch das Minuszeichen automatischergibt.Das System könnte auch an Stelle einer Volumenar-

beit elektrische Arbeit leisten, beispielsweise, wenn dasSystem eine galvanische Zelle ist. Die Kraft F ist danndurch das Produkt aus der LadungQ und der Feldstär-ke E gegeben:

F = Q ⋅ E (1.1-8)

wobei die Feldstärke wiederum aus dem Spannungs-abfall dU längs des Weges ds zu berechnen ist. Es giltalso

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51.1 Einführung in die chemische Thermodynamik

Welektr =−

s2

∫s1

QE ds =−

U2

∫U1

QdUds

ds =−Q(U2−U1)

(1.1-9)

Abbildung 1.1-3d veranschaulicht die Volumenarbeit(für den Fall einer isothermen und reversiblen Expan-sion eines idealenGases, wie wir sie ausführlich in Ab-schnitt 1.1.7 behandeln werden), Abb. 1.1-3e die elek-trische Arbeit.

1.1.6 Temperatur – Nullter Hauptsatz derThermodynamik

Die Erfahrung zeigt uns, dass nicht alle Größen, dieden Zustand eines thermodynamischen Systems be-schreiben, bereits in der klassischen Mechanik ver-wendet werden.Nehmen wir zwei identische Systeme, z. B. zwei Be-

chergläser, die mit der gleichen Menge Wasser gefülltsind, und stellen eins davon auf eine eingeschalteteHeizplatte, während das andere auf dem Labortischstehen bleibt, so werden wir nach kurzer Zeit feststel-len, dass sich die Zustände der Systeme unterschei-den. Wir brauchen die beiden Bechergläser nur anzu-fassen: Das auf dem Labortisch verbliebene erscheintuns kalt im Vergleich zu dem auf der Kochplatte ste-henden. Hätten wir das eine Glas jedoch nicht auf eineKochplatte, sondern in einen Kühlschrank gestellt, sowäre das auf dem Labortisch verbliebene Glas von unsals warm imVergleich zu dem imKühlschrank befind-lichen empfunden worden.Wir haben damit eine neue Eigenschaft unseres Sys-

tems entdeckt, die wir bislang jedoch nur durch ei-ne subjektive Empfindung charakterisiert haben. Da-bei haben wir erkannt, dass ein und dasselbe System,das seinen Zustand nicht geändert hat, von uns ein-mal als kalt, das andere Mal als warm bezeichnet wur-de. Wir suchen nun nach einer eindeutigen Definitionfür diese Eigenschaft. Dazu wollen wir einen Versuchdurchführen, der in Abb. 1.1-5 skizziert ist.Wir nehmen zwei Systeme, A und B, von denen sich

jedes in einem Gleichgewichtszustand befindet. Wirerkennen das daran, dass sich die Zustände der Sys-teme mit der Zeit nicht ändern. Das System A könntebeispielsweise ein mit einer bestimmten Wassermen-ge gefülltes Dewar-Gefäß, das System B ein in einemthermostatisierten Ofen lagerndes Metallstück sein.Wenn wir nun beide Systeme zu einem neuen Ge-samtsystem A+B vereinigen, indem wir das Metall indas Wasser fallen lassen, so laufen in beiden Teilsys-temen messbare Prozesse, z. B. Volumenänderungen,

(a)(b)

Abb. 1.1-5 Zur Definition der Temperatur. Die Systeme Aund B (a) vor der Vereinigung, (b) nach der Vereinigung.

ab, bis sich ein neuer Gleichgewichtszustand einge-stellt hat. Wir sagen, das Gesamtsystem befinde sichnun im thermischen Gleichgewicht.Hätten wir bei der Vereinigung unserer Systeme A

und B zum Gesamtsystem A+B keinerlei Verände-rungen in den Teilsystemen feststellen können, dannwären die beiden Systeme bereits vor der Vereinigungmiteinander im thermischen Gleichgewicht gewesen.Auf den ersten Blick mag uns diese Feststellung trivialvorkommen. Tatsächlich ist sie aber von so großer Be-deutung, dass man sie als Nullten Hauptsatz der Ther-modynamik bezeichnet; denn durch sie wird eine derwichtigsten Größen der Thermodynamik, die Tempe-ratur, eingeführt.

Der Nullte Hauptsatz der Thermodynamik lautet:Alle Systeme, die sich mit einem gegebenen Sys-tem im thermischen Gleichgewicht befinden, ste-hen auch untereinander im thermischen Gleichge-wicht. Diese Systeme haben eine gemeinsame Ei-genschaft, sie haben dieselbe Temperatur.

Damit wir die Temperatur als eine Größe zur Be-schreibung des Zustandes eines Systems verwendenkönnen, benötigen wir zweierlei: ein geeignetes Mess-verfahren und die Definition von Fixpunkten.Wirwis-sen aus der Erfahrung, dass sich die Körper im Allge-meinen mit der Erwärmung ausdehnen. Wir definie-ren die Temperatur θ nun so, dass ein linearer Zu-sammenhang zwischen ihr und einer Messgröße x,z. B. dem Volumen, aber auch dem Druck, dem elek-trischen Widerstand oder vielen anderen Größen, be-steht:

θ(x) = ax + b (1.1-10)

Um eine – zunächst empirische – Temperaturskalafestzulegen, setzen wir willkürlich zwei Fixpunkte fest:den Schmelzpunkt (θ = 0 °C) und den Siedepunkt (θ =100 °C) des Wassers unter einem Druck von 1.013 bar

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6 1 Einführung in die physikalisch-chemischen Betrachtungsweisen, Grundbegriffe und Arbeitstechniken

(Celsius-Skala). Wir erhalten also

0 °C = ax0 + b100 °C = ax100 + b

Daraus ergeben sich die Konstanten a und b zu

a = 100 °Cx100 − x0

und b =−100 °C ⋅ x0x100 − x0

(1.1-11)

Die sog. Celsius-Temperatur θ lässt sich dann mes-sen als

θ(x) = 100 °C ⋅x − x0x100 − x0

(1.1-12)

wenn x die Messgröße bei der Temperatur θ, x0 undx100 diejenigen beim Schmelz- bzw. Siedepunkt desWassers unter einem Druck von 1.013 bar sind.Oft verwendet man als Messgröße ein Volumen

(z. B. im Quecksilberthermometer). Besonders exak-te Ergebnisse erhält man jedoch, wenn man als Mess-größe denDruck eines in einem bestimmten Volumenabgeschlossenen Gases benutzt. Damit die Linearitätzwischen θ und p gewahrt bleibt,mussman sehr nied-rige Drücke anwenden:

θ°C

= limp0→0

100 ⋅p − p0p100 − p0

, wenn V = const.

(1.1-13)

Dabei stellt man fest, dass unabhängig von der Art desGases

limp0→0

100 ⋅p0

p100 − p0= 273.15 ± 0.01 (1.1-14)

gilt. Man kann Gl. (1.1-13) also auch in der Form

θ°C

= limp0→0

100 ⋅p

p100 − p0− 273.15 (V = const.)

(1.1-15)

schreiben. Die in Celsius-Graden ausgedrückte Tem-peratur erscheint also als Differenz zweier Terme, vondenen der letztere dem Eispunkt des Wassers zu-kommt. Führen wir gemäß

θ°C

= TK

− 273.15 (1.1-16)

eine neue Temperaturskala ein, so gilt für diese

thermodynamische Temperatur

T = limp0→0

100 ⋅p

p100 − p0K , wenn V = const.

(1.1-17)

Für beide Temperaturskalen, d. h. für θ und T , beträgtnach Gl. (1.1-15) bzw. (1.1-17) der Unterschied zwi-schen dem Schmelz- und Siedepunkt desWassers 100Einheiten. Als solche verwenden wir bei der Celsius-Temperatur die Celsius-Grade ( °C), bei der thermody-namischen oder absoluten Temperatur Kelvin (K).Die theoretischeBegründung für die Einführungder

thermodynamischen Temperatur, die wir im Allge-meinen verwendenwerden, könnenwir erst später be-handeln.

1.1.7 Wärmeaustausch undWärmekapazität

Nach der Einführung der Temperatur wollen wir unsnun der Besprechung der zweiten in Abschnitt 1.1.5angesprochenen Möglichkeit zur Energieübertra-gung, demWärmeaustausch, zuwenden.Wir haben beobachtet, dass bei der Vereinigung der

Systeme A (Dewar-Gefäß mit Wasser) und B (heißesMetallstück) eine Zustandsänderung in diesen Syste-men eintrat, die sich beim System A in einem An-stieg der Temperatur äußerte. Dieselbe Zustandsän-derung können wir aber auch erreichen, wenn wir –dem historischen Versuch von Joule folgend – demWasser durch einen Rührer mechanische Arbeit zu-führen. Wir müssen daraus folgern, dass auch im ers-teren Fall Energie, allerdings in einer von der mecha-nischen Energie unterscheidbaren Form, auf das Sys-tem A übergegangen ist. Wir bezeichnen diese Formder Energie als Wärme, den Vorgang als Wärmeaus-tausch.Wir wollen die Verhältnisse quantitativ erfassen: Ein

System A habe die MassemA und die Temperatur TA.Ein zweites SystemB habe dieMassemB und die Tem-peratur TB, die höher als TA sein möge. Beim Zusam-menfügen der Systeme stellt sich (vgl. Abb. 1.1-5) eineTemperatur TA+B ein, für die gilt

TA < TA+B < TB .

Wenn bei diesem Vorgang eine gewisse Wärmemen-geQ von BnachA übergeht, dannmüssen die Systemeoffenbar auch vorher schon Energie in Form vonWär-me besessen haben. Beachten wir nun noch den unsaus der Physik bekannten Energieerhaltungssatz (vgl.auch Abschnitt 1.1.12), nach dem die gesamte, in ei-nem abgeschlossenen System enthaltene Energie un-verändert bleibt, unabhängig von den im System ab-laufenden Prozessen, so können wir folgendes aussa-gen: Die Systeme A und B bilden zusammen ein abge-schlossenes System, denn wir haben nur eine Wech-selwirkung zwischen den beiden Systemen, nicht abermit der Umgebung zugelassen. Infolgedessenmuss dieübergehendeWärmemengeQ gleich der Änderung ir-gendeiner Energiefunktion der Systeme A und B sein,

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71.1 Einführung in die chemische Thermodynamik

die eintritt, wenn sich die Systeme vonTA auf TA+B er-wärmen bzw. von TB auf TA+B abkühlen. Wir wollendiese Energiefunktion, die wir später genauer bespre-chen werden, mit H symbolisieren:

Q = HA(TA+B) − HA(TA) = −[HB(TA+B) − HB(TB)](1.1-18)

Die zum Erwärmen eines Systems erforderlicheWärmemenge erweist sich als der Temperaturdif-ferenz und der Stoffmenge n des Systems propor-tional:

Q = C(T2 − T1) = c ⋅ n(T2 − T1) (1.1-19)

Wir nennen den Proportionalitätsfaktor CWärme-kapazität, die durch die Stoffmenge n dividierteWärmekapazität c diemolare Wärmekapazität.

Aus Gl. (1.1-18) und Gl. (1.1-19) ergibt sich dann füreine Temperaturänderung zwischen den Temperatu-ren T1 und T2

c = 1n⋅HT2 − HT1T2 − T1

(1.1-20)

Da, wie wir später erfahren werden, die molare Wär-mekapazität temperaturabhängig ist, müssen wir beiihrer Ermittlung die Temperaturdifferenz T2 − T1klein genug wählen.Wir formulieren deshalb richtiger

c = 1n⋅dQdT

= 1n⋅dHdT

(1.1-21)

1.1.8 Isotherme und adiabatische Prozesse

Bei derUntersuchungder Einstellung des thermischenGleichgewichts machen wir die Erfahrung, dass sichdieses Gleichgewicht bisweilen sehr schnell, biswei-len aber auch sehr langsam einstellt. Die Geschwin-digkeit ist davon abhängig, wie die Wände beschaffensind, in die das System eingeschlossen ist. Durchman-che Wände (z. B. Metallwände) erfolgt der Tempera-turausgleich sehr schnell, durch andere (z. B. Dewar-Gefäß) sehr langsam. Erstere bezeichnen wir als dia-thermische, letztere als adiabatischeWände.Sind wir daran interessiert, Prozesse bei konstanter

Temperatur (isotherm) ablaufen zu lassen, so bringenwir das System in einen hinreichend großen Thermo-staten, nachdemwir es in diathermischeWände einge-schlossen haben, um einen schnellen Temperaturaus-gleich mit der Umgebung zu gewährleisten. Adiabati-scheWände verhindern den Temperaturausgleich mitder Umgebung, in ihnen ablaufende Prozesse heißenadiabatische Prozesse.

1.1.9 Intensive und extensive Größen

Bei näherer Betrachtung der Größen, mit denen wirden Zustand eines Systems beschreiben können, stel-len wir fest, dass sie sich in zwei Gruppen einteilenlassen. Die eine Gruppe bezeichnet Eigenschaften, dievon der Masse des Systems unabhängig sind. Mannennt sie intensive Größen; dazu gehören beispiels-weise Temperatur oder Druck. Die andere Gruppeenthält die extensiven Größen. Sie sind von der Massedes Systems abhängig, wie z. B. das Volumen oder dieStoffmenge. Wir erkennen dies sofort bei der Verei-nigung zweier miteinander im thermischen Gleichge-wicht befindlicher, identischer Systeme zu einem Ge-samtsystem. DasGesamtsystem zeigt dieselbe Tempe-ratur und denselben Druck wie die beiden einzelnenSysteme, aber das doppelte Volumen und die doppelteStoffmenge.Intensive Eigenschaften werden durch kleine Buch-

stabensymbole, extensive durch große Buchstaben-symbole angegeben. Eine Ausnahme bilden die ther-modynamische Temperatur T und die Masse m.Dividiert man eine extensive Größe durch die Mas-

se m, so erhält man eine spezifische Größe. So ist dasspezifische Volumen

v = Vm

(1.1-22)

Da spezifische Größen von der Masse unabhängigsind, werden sie wie die intensiven durch kleine Buch-staben symbolisiert.Häufiger als die spezifischen Größen werden in der

Chemie diemolaren Größen verwendet, weil sich letz-tere auf gleiche Teilchenzahlen beziehen. Das ist beimVergleich der Eigenschaften unterschiedlicher Stoffeund bei der Behandlung chemischer Reaktionen vongroßem Vorteil.

Man erhält die molaren Größen, indem man dieextensiven Größen durch die Stoffmenge n divi-diert. Zur Charakterisierung verwendet man denIndex m:

Vm = Vn

(1.1-23)

Wenn keine Verwechslungen möglich sind, kannman nach den IUPAC-Vorschriften den Index fort-lassen oder auch wie bei den spezifischen Größenein kleines Buchstabensymbol verwenden. Von derletzteren Möglichkeit werden wir allgemein Ge-brauch machen.

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8 1 Einführung in die physikalisch-chemischen Betrachtungsweisen, Grundbegriffe und Arbeitstechniken

Wir können demnach für die molare WärmekapazitätGl. (1.1-21), auch schreiben

c = 1n⋅dHdT

=d(Hn

)dT

= dhdT

(1.1-24)

Wie die Erfahrung lehrt, sind alle intensiven Grö-ßen einer aus einem reinenStoff bestehendenPhaseeindeutig bestimmt, wenn zwei der intensiven Grö-ßen festgelegt sind.

Besteht das System beispielsweise aus einer reinenFlüssigkeit und sind als intensive Größen Viskositätund Brechungsindex bekannt, so sind damit im Allge-meinen gleichzeitig z. B. Temperatur, Druck undDich-te gegeben. Zu den wenigen Fällen, in denen dieseeindeutige Zuordnung nicht gilt, zählt die Dichte desWassers, die in Abhängigkeit von der Temperatur einMaximum durchläuft.Prinzipiell hat keine der intensiven Größen einen

Vorrang vor der anderen, dennoch ist es zweckmäßig,den Betrachtungen leicht messbare Größen als unab-hängige Variable zugrunde zu legen.Oft verwendet man den Druck und die Temperatur

als unabhängigeVariable. Dann ist z. B. dasmolare Vo-lumen eine eindeutige Funktion von p und T . Da dieseGrößen den Zustand des Systems beschreiben, nenntman sie Zustandsgrößen und die Gleichung, die eineBeziehung zwischen den drei Variablen herstellt, dieZustandsfunktion.Da das Arbeiten mit Zustandsfunktionen eine der

häufigsten Aufgaben in der Thermodynamik ist, solldas Verfahren an einem einfachen Beispiel, der ther-mischen Zustandsgleichung des idealen Gases, erläu-tert werden.

1.1.10 Die thermische Zustandsgleichung desidealen Gases

Nach dem bisher Gesagten ist das Volumen einer rei-nen, homogenen Phase – gleichgültig, welchenAggre-gatzustandes – eine eindeutige Funktion von Druck,Temperatur und Stoffmenge. V ist also eine Funktionvon drei Variablen:

V = f (p, T, n) (1.1-25)

nennt man thermische Zustandsgleichung.

Sie lässt sich nicht dreidimensional darstellen. Be-trachtet man jedoch das molare Volumen

v = f (p, T) (1.1-26)

so reduziert sich die Zahl der unabhängigen Variablenauf zwei; Gl. (1.1-26) stellt in einem p, v, T-Diagrammeine Fläche, die Zustandsfläche, dar. Um die Form die-ser Fläche näher zu erfassen, ist es zweckmäßig, zu-nächst eine der beiden unabhängigen Variablen als Pa-rameter festzuhalten und die Funktionen

v = f (p) bei T = const. (1.1-27)

und

v = f (T) bei p = const. (1.1-28)

d. h. die Isothermen (T = const.) und die Isobaren (p =const.) zu betrachten. Genauso gut kann man natür-lich auch das molare Volumen konstanthalten (Isocho-re) und denZusammenhang zwischen p und T studie-ren

p = f (T) bei v = const. (1.1-29)

Dies soll zunächst an einem sehr einfachen Beispiel,dem idealen (keinerlei Wechselwirkungen unterwor-fenen) Gas, geschehen und dann mathematisch exaktund allgemeingültig erfasst werden.Abbildung 1.1-6 zeigt die Zustandsfläche des

idealen Gases, d. h. den Zusammenhang zwischenden Zustandsgrößen p, v, T . Waagerecht liegt diep, T-Ebene, senkrecht dazu steht die v-Achse. Wäh-len wir für die unabhängigen Variablen p und T be-stimmte Werte, d. h. einen bestimmten Punkt in derp, T-Ebene, und errichten darauf das Lot, so gibtuns der Durchstoßpunkt des Lotes durch die Zu-standsfläche den zum gewählten p und T gehören-den Wert von v. Betrachten wir eine Ebene parallelzur p, v-Ebene, so haben alle Punkte auf dieser Ebe-ne gleiches T , die Schnittkurve dieser Ebene mit derZustandsfläche ist also eine Isotherme [Gl. (1.1-27)].Die Isothermen sind in Abb. 1.1-6 ausgezogen. DieSchnittkurven der zur v, T-Ebene parallelen Ebenenmit der Zustandsfläche müssen konstantes p auf-weisen, sind also Isobaren [Gl. (1.1-28)]. Sie sind inAbb. 1.1-6 punktiert dargestellt. Die Schnittkurvender zur p, T-Ebene parallelen Ebenen mit der Zu-standsfläche sind entsprechend die in Abb. 1.1-6 ge-strichelt eingezeichneten Isochoren [Gl. (1.1-29)].Zu jedemWertepaar p, T gehört nur einWert von v,

d. h. v ist eindeutig bestimmt, also eine Zustandsfunk-tion, wie esGl. (1.1-26) ausdrückt. Ändernwir denZu-stand des Systems, indem wir andere Werte der Zu-standsgrößen p und T vorgeben, so ändert sich auchder Wert der Zustandsgröße v. Dabei ist es wegender eindeutigen Zuordnung von p, T und v gleichgül-tig, wie diese Zustandsänderung geschieht, ob erst p,dann T , oder erst T , dann p, oder ob beide gleichzeitigverändert werden.

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91.1 Einführung in die chemische Thermodynamik

Abb. 1.1-6 Zustandsfläche des idealen Gases.⋯⋯ Isobaren (vgl. Abb. 1.1-7a)− − − Isochoren (vgl. Abb. 1.1-7b)−−−−−− Isothermen (vgl. Abb. 1.1-8).

Die Änderung einer Zustandsgröße ist unabhän-gig vom Weg (I→III→II, I→IV→II oder I→II inAbb. 1.1-6, auf dem die Zustandsänderung erfolgt.

Deshalb wollen wir zunächst die Isobaren, Isocho-ren und Isothermen des idealen Gases betrachten unddann durch ihre Verknüpfung das ideale Gasgesetz ge-winnen.1802 fand Gay-Lussac, dass bei genügend verdünn-

ten Gasen eine lineare Beziehung zwischen demVolu-men und der Celsius-Temperatur besteht, sofern derDruck konstant gehalten wird.

1. Gay-Lussac’sches Gesetz:

v = ν0(1 + α′θ) bei p = const. (1.1-30)

In Abb. 1.1-7 a ist das für drei verschiedene Drückedargestellt. Differenziert man Gl. (1.1-30) nach derCelsius-Temperatur, so erhält man(

𝜕v𝜕θ

)p= v0 ⋅ α′ (1.1-31)

Die Größe

α′ = 1v0

(𝜕v𝜕θ

)p

(1.1-32)

gibt den auf das molare Volumen bei θ = 0 °C bezo-genen Quotienten aus der durch eine Temperaturän-derung bewirkten Änderung des molaren Volumensund der Temperaturänderung an.Man bezeichnet die-se Größe, die der Steigung der Geraden in Abb. 1.1-7 aproportional ist, als den auf v0 bezogenen thermischenAusdehnungskoeffizienten. Er beträgt für ideale Gase,unabhängig von der Temperatur, 1∕(273.15 °C). Setzt

(a)

(b)

Abb. 1.1-7 (a) Isobaren des idealen Gases, (b) Isochoren desidealen Gases.

man diesen Wert in Gl. (1.1-30) ein, so ergibt sich

v = v0(1 + θ

273.15 °C

)(1.1-33)

v = v0 ⋅1

273.15 °C(273.15 °C + θ) (1.1-34)

und mit Gl. (1.1-16)

v =v0

273.15KT (1.1-35)

Während zwischen v und θ eine lineare Beziehung be-steht, herrscht Proportionalität zwischen v und T (vgl.auch Abb. 1.1-7a).Für die Isochore findet man experimentell ganz ent-

sprechend

p = p0(1 + β′θ) bei v = const. (1.1-36)(𝜕p𝜕θ

)v= p0β′ (1.1-37)

β′ = 1p0

(𝜕p𝜕θ

)v

(1.1-38)

Für β′ findet man experimentell bei den idealen Ga-sen ebenfalls einenWert von 1/(273.15 °C), so dass aus

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10 1 Einführung in die physikalisch-chemischen Betrachtungsweisen, Grundbegriffe und Arbeitstechniken

Abb. 1.1-8 Isothermen des idealen Gases.

Gl. (1.1-36) und (1.1-16)

p =p0

273.15KT (1.1-39)

also eine Proportionalität zwischen p und T folgt,wie schon in Abschnitt 1.1.6 in Gl. (1.1-17) festgestelltwurde. Die Verhältnisse werden in Abb. 1.1-7b deut-lich, in der drei Isochoren wiedergegeben sind.Den Zusammenhang zwischen dem Volumen und

dem Druck bei konstanter Temperatur untersuchtenunabhängig voneinander Boyle und Mariotte (1664bzw. 1676). Sie fanden das nach ihnen benannte

Boyle-Mariotte’sche Gesetz,

v = const ⋅ 1p

bei T = const. (1.1-40)

Gleichbedeutend damit ist

pv = const. (1.1-41)

d(pv)T = 0 (1.1-42)

p dv + v d p = 0 (1.1-43)

dvv

= −d pp

(1.1-44)

Man erkennt daraus ein wichtiges Charakteristikumder in Abb. 1.1-8 dargestellten Isothermen: Eine be-stimmte relative Änderung des Volumens ruft einegleich große relative Änderung des Druckes (mit ent-gegengesetztem Vorzeichen) hervor.Unsere nächste Aufgabe soll darin bestehen, aus den

Isothermen, Isobaren und Isochoren die vollständigeZustandsgleichung zu entwickeln. Graphisch ist dasbereits in Abb. 1.1-6 geschehen. Anstatt unmittelbarunter gleichzeitiger Änderung von Druck, Tempera-tur und Volumen von einem Zustand I in einen Zu-stand II zu gelangen, können wir zunächst isobar vonI nach III gehen und dann von III isotherm nach II

(vgl. Abb. 1.1-6): Der Ausgangspunkt sei v0 bei p0 =1.013 bar undT0 = 273.15K. Zunächst führenwir eineisobare Zustandsänderung durch und kommen zumZustand III, gegeben durch v′ , p0, T :

v′ =v0T0

⋅ T (1.1-45)

Dann folgt die isotherme Zustandsänderung nach p, v,T:

p0v′ = pv (1.1-46)

Eliminiert man v′ aus Gl. (1.1-45) und Gl. (1.1-46), soergibt sich

pv =v0T0p0 ⋅ T (1.1-47)

Da sich dasmolare Volumen v0 bei p0 = 1.013 bar undT0 = 273.15K für alle sich ideal verhaltendenGase ex-perimentell zu 22.42 dm3 ergibt, lassen sich diese dreiGrößen zu einer sog.

allgemeinen Gaskonstanten

R = 8.314 41 J K−1 mol−1

zusammenfassen. Aus Gl. (1.1-47) folgt dann das

ideale Gasgesetz (die Zustandsgleichung des idea-len Gases)

pv = RT (1.1-48)

bzw.

pV = nRT (1.1-49)

Mit dem idealenGasgesetz habenwir die gesuchte Be-ziehung zwischendenZustandsgrößenp, v und T bzw.p, V, T und n gefunden.Bei der Herleitung des idealen Gasgesetzes haben

wir davon Gebrauch gemacht, dass das Volumen eineZustandsfunktion ist, seine Änderung deshalb nichtvon dem Weg abhängt, auf dem diese erfolgte. Ma-thematisch bedeutet dies, dass wir die Änderung ei-ner Zustandsgröße als totales Differential schreibenkönnen. Wegen der grundlegenden Bedeutung die-ser Aussage wollen wir uns näher damit beschäfti-gen. In Abb. 1.1-9 stellt die graue Fläche einen Teileiner Fläche z = f (x, y) dar, der dadurch entstandenist, dass diese Fläche zweimal mit Ebenen geschnit-tenwurde, die parallel zur y, z-Ebene liegen (beimAb-stand x entstand die Schnittlinie AD, bei x + Δx dieSchnittlinie BC) und zweimal mit Ebenen, die paral-lel zur x, z-Ebene liegen (beim Abstand y entstand dieSchnittlinie AB, bei y + Δ y die Schnittlinie DC).

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111.1 Einführung in die chemische Thermodynamik

Abb. 1.1-9 Zur Ableitung des totalen Differentials.

Wir wollen nun danach fragen, um welchen Betragdz sich die Funktion z = f (x, y) ändert, wenn sich diebeiden unabhängigen Variablen x und y um kleine Be-träge dx und dy ändern. Wir betrachten zunächst ei-ne endlicheÄnderung Δz, die wir beimÜbergang vomPunkt A zum Punkt C feststellen. Zweckmäßigerweisehalten wir zunächst die y-Koordinate fest und gelan-gen vom Punkt A zum Punkt B. Der Höhenzuwachs(Δz)y ergibt sich einfach als Δx ⋅ tan α. Nun gehen wirbei festgehaltener x-Koordinate (x+Δx) zum Punkt Cund stellen einen weiteren Höhenzuwachs (Δz)x+Δxfest, der sich als Δ y ⋅ tan γ ergibt. Es gilt also für dengesamten Höhenzuwachs

Δz = tan α ⋅ Δx + tan γ ⋅ Δ y

=(ΔzΔx

)yΔx +

(ΔzΔ y

)x+Δx

Δ y(1.1-50)

Lassen wir jetzt die Punkte A bis D nahe aneinan-der herankommen, betrachten also nicht mehr end-liche, sondern differentielle Änderungen dx und dy,dann werden die Sekanten AB und BC mit den Tan-genten an die Fläche z = f (x, y) im Punkt A in x- bzw.y-Richtung identisch. Insbesondere wird dann auchderWinkel γ gleich demWinkel β. Gleichung (1.1-50)geht dann über in

dz =(𝜕z𝜕x

)ydx +

(𝜕z𝜕 y

)xd y (1.1-51)

Die Differentialquotienten(𝜕z𝜕x

)yund(

𝜕z𝜕 y

)xschrei-

ben wir mit rundem 𝜕 und nennen sie partielle Dif-ferentialquotienten. Damit drücken wir aus, dass beider Differentiation der von zwei Variablen abhängi-gen Größe jeweils die als Index aufgeführte Variable

festgehalten wurde, dass es sich also um die Tangen-tensteigungen in der durch den Nenner angegebenenRichtung handelt.Gleichung (1.1-51) nennt man ein totales Differenti-

al. Aus derHerleitung ergibt sich unmittelbar, dass wirdz nur dann als totales Differential schreiben können,wenn z eine eindeutige Funktion von x und y ist, d. h.wenn die Änderung von z unabhängig vom Weg ist,auf dem wir sie erreichen. Dann sind auch die parti-ellen Differentialquotienten stetige Funktionen von xund y, und es existiert in dem betrachteten Punkt eineTangentialebene an die Fläche.In ganz entsprechender Weise, wie wir es hier

für eine Funktion von zwei Veränderlichen durchge-führt haben, kann man auch die totalen Differentialevon Funktionenmehrerer Veränderlicher ausdrücken,z. B. ergibt sich für u = f (x, y, z)

du =(𝜕u𝜕x

)y,z

dx +(𝜕u𝜕 y

)x ,z

d y +(𝜕u𝜕z

)x , y

dz

(1.1-52)

Aus Gl. (1.1-51) können wir noch eine wichtige Bezie-hung zwischen den partiellen Differentialquotientenherleiten, wenn wir dz = 0 setzen. Es ist dann wegen

0 =(𝜕z𝜕x

)ydx +

(𝜕z𝜕 y

)xd y(

𝜕x𝜕 y

)z⋅(𝜕z𝜕x

)y= −(𝜕z𝜕 y

)x

(1.1-53)

Im Folgenden werden wir viel mit totalen Differentia-len und partiellen Differentialquotienten zu tun ha-ben, insbesondere werden wir erkennen, dass die par-tiellen Differentialquotienten wichtige physikalischeGrößen darstellen. Wir wollen deshalb die Verhältnis-se anhand der Zustandsgleichung des idealen Gasesnoch etwas näher studieren.

Die Änderung des molaren Volumens können wirals totales Differential schreiben:

dv =(𝜕v𝜕T

)pdT +

(𝜕v𝜕p

)Td p (1.1-54)

(𝜕v𝜕T

)pgibt an, wie sich das molare Volumen als Fol-

ge einer isobaren Temperaturänderung ändert, be-schreibt also die thermische Ausdehnung. Der partiel-le Differentialquotient gibt gleichzeitig eine Messvor-schrift: Man soll messen, welche Volumenänderungbei einer Temperaturänderung um 1K auftritt, wennman dabei den Druck konstant hält.Entsprechend ist

(𝜕v𝜕p

)Tzu interpretieren. Bezieht

man den Wert der Differentialquotienten auf das vor-

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12 1 Einführung in die physikalisch-chemischen Betrachtungsweisen, Grundbegriffe und Arbeitstechniken

liegende molare Volumen, so erhält man den thermi-schen Ausdehnungskoeffizienten α bzw. den Kompres-sibilitätskoeffizienten β. Für ein ideales Gas ergibt sichunter Berücksichtigung von Gl. (1.1-48)

(𝜕v𝜕T

)p=⎛⎜⎜⎜⎝𝜕(RTp

)𝜕T

⎞⎟⎟⎟⎠p= Rp= vT

(1.1-55)

(𝜕v𝜕p

)T=⎛⎜⎜⎜⎝𝜕(RTp

)𝜕p

⎞⎟⎟⎟⎠T= −RT

p2= − v

p(1.1-56)

Unter Beachtung vonGl. (1.1-53) gilt für die Druckän-derung bei isochorer Temperaturänderung(

𝜕p𝜕T

)v= −(𝜕v𝜕T

)p⋅(𝜕p𝜕v

)T

(1.1-57)

wofür sichmit Gl. (1.1-55) undGl. (1.1-56) derWert pTergibt, was natürlich auch unmittelbar aus Gl. (1.1-54)folgt. Beziehen wir die Differentialquotienten auf dasvorliegendeVolumen bzw. den vorliegendenDruck, soergeben sich für das ideale Gas

thermischer Ausdehnungskoeffizient

α = 1v

(𝜕v𝜕T

)p= 1T

(1.1-58)

Spannungskoeffizient

β = 1p

(𝜕p𝜕T

)v= 1T

(1.1-59)

Kompressibilitätskoeffizient

κ = −1v

(𝜕v𝜕p

)T= 1p

(1.1-60)

Gleichung (1.1-57) führt auf den allgemein gültigen,d. h. nicht auf ein ideales Gas beschränkten Zusam-menhang zwischen den drei Koeffizienten

κ = 1p⋅ αβ

(1.1-61)

Wir erkennen aus dieser Beziehung, dass wir die Er-mittlung eines experimentell schwer zugänglichenKo-effizienten durch die Messung von zwei leichter mess-baren ersetzen können.

1.1.11 Mischungen idealer Gase, Partialdruckund Molenbruch

Bislang ist die thermische Zustandsgleichung nur fürreine Stoffe behandelt worden. Wie sehen die Verhält-nisse in idealen Gasmischungen aus?Wird eine ideale Gasmischung aus n1 mol der Gas-

art 1, n2 mol der Gasart 2 usw. hergestellt, die sämtlichdie gleiche Temperatur haben und unter dem gleichenDruck stehen, so setzt sich das Volumen additiv ausden Volumina zusammen, die die einzelnen Gasarteneinnehmen:

V = V1 + V2 +…+ Vk = n1v1 + n2v2 +…+ nkvk

V =k∑1nivi

(1.1-62)

Ersetzt man unter dem Summenzeichen das molareVolumen durch das ideale Gasgesetz, so folgt

V =k∑1ni ⋅

RTp

(1.1-63)

wobei p der Druck ist, unter dem die Gasmischungsteht. Durch Multiplizieren mit p und Dividierendurch V folgt

p =k∑1ni ⋅

RTV

=k∑1

RTV∕ni

=k∑1pi (1.1-64)

Dies ist die mathematische Formulierung des Dal-ton’schen Gesetzes. Es besagt, dass die Summe derPartialdrücke pi gleich dem gemessenen Gesamt-druck ist. Unter dem Partialdruck pi verstehen wirdabei den Druck, den das Gas i annehmen wür-de, wenn ihm allein das Gesamtvolumen zur Ver-fügung stünde.Aus Gl. (1.1-64) folgt weiterhin

pip

=niRT∕V∑k1 niRT∕V

=ni∑k1 ni

= xi (1.1-65)

wobei wir gleich den Molenbruch xi der Kom-ponente i eingeführt haben, der definitionsgemäßdurch den Quotienten aus der Stoffmenge ni derKomponente i und der Summe der Stoffmengen al-ler Komponenten der Phase gegeben ist. In eineridealen Gasmischung ergibt er sich also auch alsVerhältnis des Partialdrucks zum Gesamtdruck.

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131.1 Einführung in die chemische Thermodynamik

1.1.12 Der Erste Hauptsatz der Thermodynamikund die kalorische Zustandsgleichung

Aus der Mechanik kennen wir den Energiesatz, derfür konservative Systeme gilt, also für solche, in de-nen nur Umwandlungen von kinetischer und potenti-eller Energie auftreten. Er besagt, dass die Summe vonkinetischer und potentieller Energie konstant ist. Ihman die Seite stellen wollenwir in diesemAbschnitt denErsten Hauptsatz der Thermodynamik. Er ist wie derEnergiesatz ein Postulat, das auf der Erfahrung beruhtund nicht abgeleitet werden kann. Seine Formulie-rung wäre nichtmöglich gewesen ohne die berühmtenVersuche von Joule (1843–1849). Er schloss eine be-stimmteWassermenge in adiabatischeWände ein undführte ihrmechanischeArbeit, elektrischeArbeit oderVolumenarbeit zu, und zwar durch Reibung, über ei-nen Heizdraht oder über Kompression oder Expansi-on eines Gases, wie wir sie imAbschnitt 1.1.17 im Ein-zelnen besprechenwerden. Er stellte dabei fest, dass erfür die Erwärmung von1 kgWasser von14 °C auf 15 °Cstets eine Arbeit von 4.18 kJ aufwenden musste.Schon ein Jahr vor den ersten Joule’schen Versu-

chen (1842) hatte Robert Mayer die Wesensgleichheitvon Wärmemenge und mechanischer Arbeit erkanntund den Satz vertreten, dass Energie weder geschaf-fen werden noch verschwinden, sondern nur von einerForm in die andere umgewandelt werden kann. Wirhaben im Abschnitt 1.1.5 deshalb davon gesprochen,dass es zwei Möglichkeiten gibt, Energie von einemmakroskopischen Körper auf einen anderen zu beför-dern, durch Arbeitsleistung oder durch Wärmeüber-tragung.Wir wollen uns nun überlegen, was sich ereignet,

wenn wir einem geschlossenen System von außen Ar-beit undWärme zuführen. In jedem Fall wird eine Zu-standsänderung eintreten. Bei der Zufuhr von Hubar-beit erhöht sich die äußere potentielle Energie des Sys-tems, indem die Ortskoordinaten verändert werden.Bei Zufuhr von Beschleunigungsarbeit nimmt die ki-netische Energie zu, indemdieGeschwindigkeitskoor-dinaten verändertwerden. In beidenFällen tritt jedochnur eine Veränderung der äußeren Koordinaten ein,die den inneren Zustand des Systems nicht beeinflus-sen. Denn dieser ist unabhängig davon, ob wir unserSystem auf dem Fußboden oder auf dem Labortisch,im haltenden oder im fahrenden Zug betrachten.Anders liegen die Verhältnisse, wenn wir an un-

serem System Volumenarbeit oder elektrische Arbeitleisten oder ihm eine Wärmemenge zuführen. Hier-durch ändert sich sein Volumen, sein Druck, seine Zu-sammensetzung oder seine Temperatur, d. h. seine In-nere Energie. Nur diese ist für die Thermodynamik vonInteresse.

Abb. 1.1-10 Zur Unmöglichkeit eines Perpetuummobileerster Art.

Führen wir einem System von außen eine ArbeitWund eine Wärmemenge Q zu, so müssen wir also un-terscheiden, ob die Arbeit innere (ohne Index) oderäußere (Index e) Koordinaten des Systems verändert.Bezeichnen wir die Gesamtenergie des Systems vorder Energiezufuhr mit Ev, danach mit En, so gilt nachdem Energieprinzip

En − Ev = We +W + Q (1.1-66)

En − Ev = (Ee)n − (Ee)v +W + Q (1.1-67)

(E − Ee)n − (E − Ee)v = W + Q (1.1-68)

E − Ee ist der Anteil der Energie des Systems, dernicht der äußeren (äußeren potentiellen und kine-tischen) Energie zukommt. Wir bezeichnen ihn alsInnere Energie U . Für Gl. (1.1-68) könnenwir damitschreiben

Un − Uv = W + Q (1.1-69)

Das ist die Formulierung des Ersten HauptsatzesderThermodynamik, der inWorten ausgedrückt solautet:Die von einem System mit seiner Umgebung

ausgetauschte Summe von Arbeit und Wärme istgleich der Änderung der Inneren Energie des Sys-tems. Die Innere Energie ist, wie z. B. das Volumen,eine Zustandsfunktion.

Wäre dies nicht der Fall, so wäre die Änderung der In-neren Energie bei einer Zustandsänderung nicht un-abhängig vomWeg. Dann könnte man bei der Durch-führung eines Kreisprozesses (Abb. 1.1-10) dadurchEnergie gewinnen, dass man nichts weiter tut, als dasSystem auf einem Wege 1 vom Zustand I in den Zu-stand II übergehen und auf einem anderen Wege 2 indenAusgangszustand zurückkehren zu lassen. Ein sol-ches Perpetuum mobile erster Art würde gegen denEnergieerhaltungssatz verstoßen.

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14 1 Einführung in die physikalisch-chemischen Betrachtungsweisen, Grundbegriffe und Arbeitstechniken

Im Gegensatz zur Inneren Energie ist weder die Ar-beitW noch die Wärmemenge Q eine Zustandsfunk-tion. Auf den Wegen 1 und 2 ist (ohne Berücksichti-gung desVorzeichens) die SummevonW undQ, nichtaber ihr Verhältnis gleich. Wir werden hierfür späterBeispiele kennenlernen. Diesen Unterschied vonU ei-nerseits und W und Q andererseits drücken wir inder infinitesimalen Schreibweise dadurch aus, dasswirfür die Zustandsfunktion U , die als totales Differenti-al dargestellt werden kann, das Differentialzeichen d,für die Arbeit und die Wärmemenge, für die das nichtmöglich ist, das Zeichen δ für Variationen benutzen:

dU = δW + δQ (1.1-70)

Die Innere Energie ist wie das Volumen eine extensi-ve Größe, d. h. zu ihrer Bestimmung müssen nicht nurzwei andere Zustandsgrößen, sondern auch dieMassedes Systems – bei zusammengesetzten Systemen dieMassen der einzelnen Komponenten – bekannt sein.Welche beiden Zustandsgrößen manwählt, p und T, pund V oder V und T , ist dabei völlig gleichgültig, weildiese Zustandsgrößen alle miteinander in unmittelba-rem Zusammenhang stehen. Wie sich zeigen wird, istes zweckmäßig, die Innere Energie als Funktion vonVolumen, Temperatur und Stoffmenge ni der k Kom-ponenten des Systems zu betrachten:

U = f (T, V, n1 , n2 ,… , nk) (1.1-71)

Man nennt diese Funktion die kalorische Zustands-gleichung.

Das totale Differential für die Innere Energie lautet

dU =(𝜕U𝜕T

)V,n j

dT +(𝜕U𝜕V

)T,n j

dV

+(𝜕U𝜕n1

)T,V,n j≠1

dn1 +…+(𝜕U𝜕nk

)T,V,n j≠k

dnk

(1.1-72)

Die Änderung der Inneren Energie ist gegeben durchdie Summe der mit der Umgebung ausgetauschtenWärme und Arbeit. Letztere besteht oft aus Kompres-sions- oder Expansionsarbeit, sog. reversibler Volu-menarbeit. Sie beträgt nach Gl. (1.1-7)

Wrev = −

V2

∫V1

p dV (1.1-7)

Wenn wir es nicht ausdrücklich anders vermerken,wollen wir unter Volumenarbeit eine bei einem re-versiblen Prozess (vgl. Abschnitt 1.1.17) auftreten-de Volumenarbeit verstehen, bei der der von außenwirkende Druck p stets gleich dem Druck des Sys-tems ist. (Für den Fall, dass mehrere Phasen vorlie-gen, muss über die in jeder Phase geleistete Volu-menarbeit summiert werden).

Wenn nun außer der Volumenarbeit keine andere Ar-beit (z. B. elektrische Arbeit) mit der Umgebung aus-getauscht wird, lässt sich für Gl. (1.1-70) auch schrei-ben

dU = δQrev − p dV (1.1-73)

Wir wollen nun zwei verschiedene Zustandsänderun-gen in einem geschlossenen System (dni = 0) betrach-ten, eine isochore und eine isobare. Für die isochoreZustandsänderung gilt wegen dV = 0

(dU)V = δQV (1.1-74)

d. h. beim Übergang vom Zustand I in den Zustand II

(UII − UI)V = QV (1.1-75)

Die Änderung der Inneren Energie ist also bei iso-choren Prozessen in geschlossenen Systemen gleichder mit der Umgebung ausgetauschten Wärme-menge.

Bei der isobaren Zustandsänderung gilt wegen d p = 0

dU = δQp − p dV (1.1-76)

und, wenn die Änderung von einem Zustand I in denZustand II führt,

UII − UI = Qp − p(VII − VI) (1.1-77)

(UII + pVII) − (UI + pVI) = Qp (1.1-78)

Die mit der Umgebung ausgetauschte Wärmemengeist also nicht mehr gleich der Änderung der InnerenEnergie, sondern gleich derÄnderung einerGröße, diedurch die Summe U + pV gegeben ist.

Wir führen mit

H = U + pV (1.1-79)

die Enthalpie H ein.

Der Begriff Enthalpie leitet sich vom griechischen en-thálpein (= darin erwärmen) ab.

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Gerd Wedler und Hans-Joachim Freund: Lehr- und Arbeitsbuch Physikalische Chemie — 2018/7/2 — Seite 15 — le-tex

151.1 Einführung in die chemische Thermodynamik

Für Gl. (1.1-78) können wir dann analog zuGl. (1.1-75) schreiben

(HII − HI)p = Qp (1.1-80)

Die Änderung der Enthalpie ist bei isobaren Pro-zessen in geschlossenen Systemen gleich der mit derUmgebung ausgetauschten Wärmemenge.

Da die Enthalpie nach Gl. (1.1-79) von den Zustands-größen U und V abhängt, ist sie selbst auch eine Zu-standsgröße. Im Gegensatz zur Inneren Energie stelltman sie zweckmäßigerweise als Funktion von p, T undder Stoffmenge ni dar:

H = f (T, p, n1 , n2 ,… , nk) . (1.1-81)

Ihr totales Differential ist dann

dH =(𝜕H𝜕T

)p,n j

dT +(𝜕H𝜕p

)T,n j

d p

+(𝜕H𝜕n1

)T,p,n j≠1

dn1 +…+(𝜕H𝜕nk

)T,p,n j≠k

dnk

(1.1-82)

1.1.13 Die partiellen Ableitungen von U und Hnach T , die molaren Wärmekapazitäten

Bereits bei der Besprechung der thermischen Zu-standsgleichung hatten wir erkannt, dass den parti-ellen Differentialquotienten eine besondere physikali-sche Bedeutung zukommt. Wir wollen jetzt der Fra-ge nachgehen, was die partiellen Ableitungen der In-neren Energie und der Enthalpie nach der Tempera-tur ausdrücken. Zu diesem Zweck betrachten wir, umzunächst die Abhängigkeit von der Stoffmenge auszu-schließen, ein einphasiges System, das aus einem rei-nen Stoff besteht und dessen Stoffmenge sich nichtändern soll. Ein reiner homogener Stoff kann mit derUmgebung – wenn wir von Oberflächeneffekten ab-sehen und elektrische und magnetische Arbeit aus-schließen – nur Volumenarbeit austauschen. Es istdeshalb

δW = −p dV (1.1-83)

Berücksichtigen wir dies bei der Verknüpfung des Ers-ten Hauptsatzes, Gl. (1.1-73), mit dem totalen Diffe-rential der Inneren Energie, Gl. (1.1-72), oder dem to-talen Differential der Enthalpie, Gl. (1.1-82), so erhal-ten wir

dU = δQ + δW = δQ − p d V

=(𝜕U𝜕T

)VdT +

(𝜕U𝜕V

)TdV

(1.1-84)

dH = d (U + pV ) = dU + p d V + V d p= δQ + V d p

=(𝜕H𝜕T

)pdT +

(𝜕H𝜕p

)Td p (1.1-85)

Wenn wir diese Gleichungen nach δQ auflösen, ergibtsich

δQ =(𝜕U𝜕T

)VdT +

[(𝜕U𝜕V

)T+ p]dV (1.1-86)

δQ =(𝜕H𝜕T

)pdT +

[(𝜕H𝜕p

)T− V]d p (1.1-87)

Wir können die Wärmemenge δQ dem System nunzuführen, indem wir dabei das Volumen oder denDruck, unter dem das System steht, konstant halten.Dann ist

δQV =(𝜕U𝜕T

)VdT (1.1-88)

bzw.

δQp =(𝜕H𝜕T

)pdT (1.1-89)

Die Wärmemenge, die notwendig ist, um ein Sys-tem um ein Grad zu erwärmen, haben wir in Ab-schnitt 1.1.7 alsWärmekapazität des Systemsbezeich-net. Wir erkennen jetzt, dass sie identisch ist mit dempartiellen Differentialquotienten der Inneren Energiebzw. der Enthalpie nach der Temperatur:

CV =(𝜕Q𝜕T

)V=(𝜕U𝜕T

)V

(1.1-90)

Cp =(𝜕Q𝜕T

)p=(𝜕H𝜕T

)p

(1.1-91)

Dabei zeigt sich, dass es zwei verschiedeneWärme-kapazitäten gibt, die eine gilt für isochores, die an-dere für isobares Arbeiten.

Dieses Ergebnis überrascht uns nicht, denn wir ha-ben gesehen, dass das System bei isobaren Prozessengegenüber isochoren zusätzlich Volumenarbeit leistenmuss. Die Energie, die wir dem System zuführen müs-sen, um es um ein Grad zu erwärmen, muss deshalbbei isobaren Prozessen größer sein als bei isochoren.Wir sind bei unseren Überlegungen von n mol ei-

nes reinen homogenen Stoffes ausgegangen. Dividie-ren wir die Innere Energie (bzw. Enthalpie) dieses Sys-tems durch die Stoffmenge, so erhaltenwir für diemo-lare Innere Energie u und die molare Enthalpie h

u = Un

(1.1-92)

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16 1 Einführung in die physikalisch-chemischen Betrachtungsweisen, Grundbegriffe und Arbeitstechniken

h = Hn

(1.1-93)

für die molare Wärmekapazität c ergibt sich entspre-chend

cv =(𝜕u𝜕T

)v= 1nCV (1.1-94)

cp =(𝜕h𝜕T

)p= 1nCp (1.1-95)

Experimentell lässt sich Cp leichter bestimmen alsCV , besonders bei flüssigen oder gar festen Stoffen.Wir wollen deshalb untersuchen, wie sich CV aus Cpberechnen lässt. Zu diesem Zweck greifen wir aufGl. (1.1-86) zurück, in die wir CV für

(𝜕U𝜕T

)Veinset-

zen:

δQ = CV dT +[(

𝜕U𝜕V

)T+ p]dV (1.1-96)

Da dV selbst als totalesDifferential dargestellt werdenkann, vgl. Gl. (1.1-54), können wir auch schreiben

δQ = CV dT +[(

𝜕U𝜕V

)T+ p]

⋅[(

𝜕V𝜕T

)pdT +

(𝜕V𝜕p

)Td p]

(1.1-97)

Für eine isobare Zustandsänderung (d p = 0) verein-facht sich die Gleichung zu

δQp = CV dT +[(

𝜕U𝜕V

)T+ p] (

𝜕V𝜕T

)pdT (1.1-98)

oder (𝜕Q𝜕T

)p= Cp = CV +

[(𝜕U𝜕V

)T+ p] (

𝜕V𝜕T

)p

(1.1-99)

Für die Differenz dermolarenWärmekapazitäten folgthieraus, wenn wir wieder zu molaren Größen überge-hen,

cp − cv =[(

𝜕u𝜕v

)T+ p] (

𝜕v𝜕T

)p

(1.1-100)

Eine Berechnung der Differenz der molaren Wärme-kapazitäten gelingt also, wenn die Abhängigkeit dermolaren Inneren Energie

(𝜕u𝜕v

)T

vom molaren Vo-lumen und die Temperaturabhängigkeit des molarenVolumens bekannt sind. Die erstere Größe muss dieDimension eines Druckes besitzen:

(𝜕u𝜕v

)T= Π (1.1-101)

nennt man Inneren Druck.

Die letztere Größe ist der uns bereits bekannte ther-mische Ausdehnungskoeffizient.Den Inneren Druck könnenwir an dieser Stelle noch

nicht berechnen. Im Abschnitt 1.1.20 werden wir je-doch ermitteln, dass folgende Gleichung gilt:(

𝜕u𝜕v

)T= T(𝜕p𝜕T

)v− p (1.1-102)

Setzen wir diese Beziehung in Gl. (1.1-100) ein, so er-halten wir

cp − cv = T(𝜕p𝜕T

)v

(𝜕v𝜕T

)p

(1.1-103)

und mit Gl. (1.1-57)

cp − cv = −T

(𝜕v𝜕T

)2p(

𝜕v𝜕p

)T

(1.1-104)

oder unter Berücksichtigung von Gl. (1.1-58) undGl. (1.1-60)

cp − cv = Tvα2κ

(1.1-105)

Bei Kenntnis des thermischen Ausdehnungskoeffizi-enten α und des Kompressibilitätskoeffizienten κ lässtsich also aus dem gemessenen cp-Wert der cv-Wertberechnen. Gleichung (1.1-104) gilt allgemein, da zuihrer Ableitung keinerlei spezielle Annahmen oderVernachlässigungen vorgenommen wurden.Für den speziellen Fall des idealen Gases lässt sich

der Innere Druck aus Gl. (1.1-102)mithilfe des idealenGasgesetzes berechnen. Es ist

p = RTv

(1.1-106)(𝜕p𝜕T

)v= Rv

(1.1-107)(𝜕u𝜕v

)T= T R

v− p = p − p = 0 (1.1-108)

Für ein ideales Gas ist der Innere Druck Π gleichnull, was besagt, dass im isothermen Fall die Inne-re Energie volumenunabhängig ist. Zu diesem Er-gebnis war bereits Gay-Lussac auf experimentel-lem Wege gekommen, als er nachweisen konnte,dass bei der Expansion eines idealen Gases ins Va-kuum keine Temperaturänderung eintritt (2. Gay-Lussac’sches Gesetz).

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171.1 Einführung in die chemische Thermodynamik

Setzen wir für den Fall des idealen Gases den InnerenDruck in Gl. (1.1-100) gleich null, so erhalten wir

cp − cv = p(𝜕v𝜕T

)p

(1.1-109)

mit der Idealen Gasgleichung ergibt sich(𝜕v𝜕T

)p= Rp

(1.1-110)

Die Differenz der molaren Wärmekapazitäten cpund cv eines idealen Gases ist

cp − cv = R (1.1-111)

Wie wir später erfahren werden, spielen die molarenWärmekapazitäten bei thermodynamischen Berech-nungen eine große Rolle. Wir wollen deshalb unter-suchen, ob sie volumen-, druck- oder temperaturab-hängig sind. In den beiden ersteren Fällen können wiruns dazu eines in der Thermodynamik oft benutztenVerfahrens, der Anwendung des Schwarz’schen Sat-zes, bedienen.

Der Schwarz’sche Satz besagt:Hat eine Funktion z = f (x, y) stetige, partielle

Ableitungen zweiter Ordnung, dann gilt

𝜕2z𝜕x𝜕 y

= 𝜕2z𝜕 y𝜕x

(1.1-112)

Das Ergebnis ist unabhängig davon, in welcher Rei-henfolge differenziert wird.

Die molare Wärmekapazität cv stellt die erste Ablei-tung der molaren Inneren Energie nach der Tempera-tur dar, ihre Abhängigkeit vommolaren Volumen alsoeine gemischte zweite Ableitung 𝜕2u∕𝜕T𝜕v. Es mussalso gelten, wenn wir Gl. (1.1-102) berücksichtigen,

(𝜕cv𝜕v

)T=⎡⎢⎢⎢⎣𝜕(

𝜕u𝜕T

)v

𝜕v

⎤⎥⎥⎥⎦T= 𝜕2u

𝜕T𝜕v= 𝜕2u

𝜕v𝜕T=⎡⎢⎢⎢⎣𝜕(𝜕u𝜕v

)T

𝜕T

⎤⎥⎥⎥⎦v=

𝜕[T(𝜕p𝜕T

)v− p]

𝜕T= τ(𝜕2 p𝜕T2

)v

(1.1-113)

Für die Berechnung derDruckabhängigkeit von cp be-

nötigen wir einen Ausdruck für(𝜕h𝜕p

)T, den sog. iso-

thermen Drosseleffekt ε. In Abschnitt 1.1.20 werdenwir sehen, dass er sich ähnlich wie der Innere Druckableiten lässt. Man erhält(

𝜕h𝜕p

)T= ε = v − T

(𝜕v𝜕T

)p

(1.1-114)

So ergibt sich für die Druckabhängigkeit von cp

(𝜕cp𝜕p

)T=⎡⎢⎢⎢⎣𝜕(

𝜕h𝜕T

)p

𝜕p

⎤⎥⎥⎥⎦T= 𝜕2h

𝜕T𝜕p= 𝜕2h

𝜕p𝜕T=⎡⎢⎢⎢⎣𝜕(𝜕h𝜕p

)T

𝜕T

⎤⎥⎥⎥⎦p=

𝜕

[v − T

(𝜕v𝜕T

)p

]𝜕T

= −T(𝜕2v𝜕T2

)p

(1.1-115)

Gleichung (1.1-113) und (1.1-115) sind wieder allge-mein gültig. Beschränken wir uns jedoch auf idealeGase, so können wir schon jetzt detailliertere Aussa-gen machen. Aus dem idealen Gasgesetz folgt näm-lich, dass sowohl der Druck als auch das molare Vo-lumen eine lineare Funktion der Temperatur sind. Inbeiden Fällen ist also die zweite Ableitung nach derTemperatur null. Das besagt aber nach Gl. (1.1-113)und (1.1-115), dass für ein ideales Gas cv unabhängigvommolarenVolumenund cp unabhängig vomDruckist.Die Frage nach der Temperaturabhängigkeit der

Wärmekapazitäten kann an dieser Stelle noch nichtim Einzelnen behandelt werden. Wir werden im Ab-schnitt 1.2.3 darauf zurückkommen. Oft ist es jedochmöglich, die experimentell ermittelte Temperaturab-hängigkeit der molaren Wärmekapazität durch einePotenzfunktion

cp = a + bT + cT2 +… (1.1-116)

darzustellen.

Im Vorangehenden ist lediglich von Änderun-gen der Wärmekapazitäten durch Temperatur-,Druck- oderVolumenänderungen gesprochenwor-den, dochnicht über ihren Zahlenwert an sich. Einesolche Aussage vermag die Thermodynamik prin-zipiell nicht zu treffen. Sie stellt nur die Beziehun-gen zwischen den verschiedenen Größen auf. UmAbsolutwerte berechnen zu können, benötigt man

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18 1 Einführung in die physikalisch-chemischen Betrachtungsweisen, Grundbegriffe und Arbeitstechniken

ein konkretes Modell für den Aufbau der Materie.So wird es uns erst mithilfe der statistischen Ther-modynamik möglich sein, molare Wärmekapazitä-ten selbst zu berechnen.

Wir wollen noch einmal auf Gl. (1.1-94) und (1.1-95)zurückkommen,mit derenHilfe wir die molarenWär-mekapazitäten definiert haben. Wir können diese bei-den Gleichungen auch schreiben in der Form

du = cv dT (1.1-117)

dh = cp dT (1.1-118)

oder in integrierter Form

uT2

∫uT1

du =

T2

∫T1

cv dT (1.1-119)

hT2

∫hT1

dh =

T2

∫T1

cp dT (1.1-120)

Nur das Integral auf der linken Seite könnenwir lösen,denn wir wissen im Augenblick lediglich, dass cv undcp temperaturabhängig sind, kennen aber den funk-tionellen Zusammenhang zwischen cv bzw. cp und Tnoch nicht. Wir erhalten deshalb zunächst

uT2 = uT1 +

T2

∫T1

cv dT (1.1-121)

und

hT2 = hT1 +

T2

∫T1

cp dT (1.1-122)

Wir können also bei Kenntnis der molaren Wär-mekapazitäten und ihrer Temperaturabhängigkeitdie molare Innere Energie oder die molare Enthal-pie eines Systems bei einer bestimmtenTemperaturberechnen, wenn uns die Werte bei einer anderenTemperatur bekannt sind.

Also auch hier ist thermodynamisch wieder lediglichdie Änderung einer Größe, nicht aber ihr Absolutwertberechenbar.

1.1.14 Die partiellen Ableitungen von U und Hnach ξ, die Reaktionsenergie und dieReaktionsenthalpie

Unsere bisherigen Betrachtungen beschränkten sichauf reine, homogene Stoffe. Deswegen haben wir dieInnere Energie und die Enthalpie lediglich als Funk-tionen des Volumens bzw. des Drucks und der Tem-peratur betrachtet. Wir wollen nun einen Schritt wei-tergehen und geschlossene Systeme behandeln, die

a) aus einem reinen Stoff bestehen, der aber in zweiPhasen vorliegt, oder

b) aus einer Phase bestehen, die aus mehreren Kom-ponenten aufgebaut ist, zwischen denen eine che-mische Reaktion ablaufen kann.

Wir wollen aber weiterhin voraussetzen, dass sichdas System ideal verhält, d. h. dass es sich um idea-le Gase oder Gasmischungen, um kondensierte rei-ne Phasen oder um ideale kondensierte Mischphasenhandelt, bei deren Herstellung keinerlei Mischungsef-fekte auftreten (vgl. hierzu Abschnitt 2.2).Da die Innere Energie des Systems eine Zustands-

funktion ist, können wir sie durch die unabhängigenVariablen ausdrücken, die den gerade vorliegendenZustand beschreiben, d. h. durch T, V und die Stoff-mengen ni . Nach Gl. (1.1-71) ist also

U = f (T, V, n1 ,… , nk) (1.1-71)

Da es sich um ein geschlossenes System handeln soll,sind die Änderungen der Stoffmengen nicht willkür-lich, sondern durch den sich abspielenden Prozessmiteinander verknüpft.

Gleichgültig, ob der betrachtete Prozess ein Pha-senübergang oder eine chemische Reaktion ist,können wir ihn allgemein darstellen durch

|νA|A + |νB|B → |νC|C + |νD|D (1.1-123)

wobei die νi die stöchiometrischen Faktoren sind.

(Bei einem Phasenübergang wäre |νA| = |νC| = 1, νB =νD = 0). Die Änderungen der Stoffmengen ni der ver-brauchten Edukte (A und B) und der gebildeten Pro-dukte (C und D) verhalten sich wie die stöchiometri-schen Faktoren, d. h.

nA(Ende) − nA(Anfang)nB(Ende) − nB(Anfang)

=νAνB

;

nC(Ende) − nC(Anfang)nA(Ende) − nA(Anfang)

=νCνA

(1.1-124)

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191.1 Einführung in die chemische Thermodynamik

Da die stöchiometrischen Faktoren der Edukte nega-tiv, die der Produkte positiv gerechnet werden, erge-ben sich automatisch die richtigen Vorzeichen.Für einen differentiellen Umsatz gilt

dnAνA

=dnBνB

=dnCνC

=dnDνD

(1.1-125)

Willman den Fortgang der Reaktionmithilfe der Stoff-mengen vonA, B, C oder D beschreiben, also mit dnA,dnB usw., so kommt man, entsprechend den stöchio-metrischen Faktoren, zu zahlenmäßig unterschiedli-chen Ergebnissen.

Man hat durch

dξ =dniνi

(1.1-126)

eine Reaktionslaufzahl ξ definiert, die eine eindeu-tige Beschreibung des Reaktionsfortgangs erlaubt.

(Mit dieser Bezeichnung haltenwir uns an die IUPAC-Empfehlungen. Sie ist nicht glücklich gewählt, da essich bei ξ nicht um eine Zahl, sondern um eine Grö-ße mit der Dimension Stoffmenge handelt.) Bei dξ =1mol haben sich gerade νA mol A mit νB mol B zu νCmol C und νD mol D umgesetzt.Man spricht dann voneinem Formelumsatz.Bezeichnen wir mit ni die nach dem Prozess vorlie-

gende Stoffmenge der Substanz i, mit nai diejenige, dievor dem Prozess vorhanden war, so gilt

ni

∫nai

dni = ni − nai = νi

ξ

∫0

dξ (1.1-127)

Da die νi durch die Art des Prozesses festgelegt sind,also keine Variablen darstellen, können wir in den bei-den betrachteten Fällen für Gl. (1.1-71) schreiben

U = f (T, V, na1,… , nak , ξ) (1.1-128)

Für das totale Differential der Inneren Energie folgtdaraus – wenn man noch bedenkt, dass die nai für denbetrachteten Prozess Konstanten darstellen –

dU =(𝜕U𝜕T

)V,ξ

dT +(𝜕U𝜕V

)T,ξ

dV +(𝜕U𝜕ξ

)T,V

(1.1-129)

Entsprechend gilt natürlich für die Enthalpie

H = f (T, p, na1 ,… , nak , ξ) (1.1-130)

dH =(𝜕H𝜕T

)p,ξ

dT +(𝜕H𝜕p

)T,ξ

d p+(𝜕H𝜕ξ

)T,p

(1.1-131)

Uns interessiert nun wieder die Bedeutung der parti-ellen Differentialquotienten

(𝜕U𝜕ξ

)T,V

und(𝜕H𝜕ξ

)T,p

.

Zur Klärung dieser Frage kombinieren wir wie inAbschnitt 1.1.13 das totale Differential der Inne-ren Energie mit dem Ersten Hauptsatz in Form derGl. (1.1-73)

dU = δQ − p dV =(𝜕U𝜕T

)V,ξ

dT +(𝜕U𝜕V

)T,ξ

dV

+(𝜕U𝜕ξ

)T,V

(1.1-132)

und entsprechend

dH = dU + p dV + V d p = δQ + V d p

=(𝜕H𝜕T

)p,ξ

dT +(𝜕H𝜕p

)T,ξ

d p +(𝜕H𝜕ξ

)T,p

(1.1-133)

Wir erkennen jetzt, dass für einen isothermen (dT =0) und isochoren (dV = 0) Prozess

δQT,V =(𝜕U𝜕ξ

)T,V

dξ (1.1-134)

(dQdξ

)T,V

=(𝜕U𝜕ξ

)T,V

(1.1-135)

und für einen isothermen (dT = 0) und isobaren (d p =0) Prozess

δQT,p =(𝜕H𝜕ξ

)T,p

dξ (1.1-136)

(dQdξ

)T,p

=(𝜕H𝜕ξ

)T,p

(1.1-137)

ist.

Die Differentialquotienten(𝜕U𝜕ξ

)T,V

bzw.(𝜕H𝜕ξ

)T,p

stellen also die Wärmemenge dar, die bei einemFormelumsatz im isothermen und isochoren bzw.isobaren Prozess mit der Umgebung ausgetauschtwird. Für den Fall einer Phasenumwandlung nen-nen wir diese Wärmemenge Umwandlungsenergie

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20 1 Einführung in die physikalisch-chemischen Betrachtungsweisen, Grundbegriffe und Arbeitstechniken

bzw.Umwandlungsenthalpie und für den Fall einerchemischen Reaktion Reaktionsenergie bzw. Reak-tionsenthalpie. Eine solche Begriffsbildung ist kon-sequent und der häufig erfolgten Verwendung desAusdrucks Reaktionswärme für (𝜕U∕𝜕ξ)T,V vorzu-ziehen, da sowohl (𝜕U∕𝜕ξ)T,V als auch (𝜕U∕𝜕ξ)T,pReaktionswärmen (bei konstantem V bzw. p) sind.

Es ist üblich, für die Differentiation nach der Reakti-onslaufzahl ξ den Operator Δ (bzgl. Operator s. Ma-thematischer Anhang D) einzuführen

𝜕𝜕ξ

= Δ (1.1-138)

so dass für die Reaktionsenergie ΔU und für die Reak-tionsenthalpie ΔH geschrieben wird. Da wir voraus-setzen, dass keine Wechselwirkungen zwischen deneinzelnen Teilchen vorliegen, setzt sich die InnereEnergie des Systems additiv aus den Inneren Energiender einzelnen Komponenten zusammen. Für die Inne-re Energie vor Ablauf des Prozesses gilt deshalb

Ua = na1u1 + na2u2+…+ nakuk =

k∑1nai ui (1.1-139)

und für die Innere Energie nach Ablauf des Prozesses

U = n1u1 + n2u2 +…+ nkuk =k∑1niui (1.1-140)

Die Änderung der Inneren Energie durch den Prozessist also unter Berücksichtigung von Gl. (1.1-126)

dU = u1 dn1 + u2 dn2 +…+ uk dnk =k∑1ui dni

=k∑1νiui dξ

(1.1-141)

Damit ergibt sich für die Reaktionsenergie(𝜕U𝜕ξ

)V,T

= ΔU =k∑1νiui (1.1-142)

und entsprechend für die Reaktionsenthalpie(𝜕H𝜕ξ

)p,T

= ΔH =k∑1νihi (1.1-143)

Greifen wir zurück auf die Reaktion Gl. (1.1-123), sofolgt aus Gl. (1.1-142)

ΔU = νAuA + νBuB + νCuC + νDνD= (|νA|uA + |νB|uB) − (|νC|uC + |νD|uD)

(1.1-144)

und aus Gl. (1.1-143)

ΔH = vAhA + vBhB + vChC + vDhD= (|vA|hA + |vB|hB) − (|vC|hC + |vD|hD)

(1.1-145)

Damit bekommen die Reaktionsenergie ΔU und dieReaktionsenthalpie ΔH eine anschauliche Bedeutung:Sie stellen nichts anderes dar als die Differenz aus denInneren Energien bzw. den Enthalpien der Produkteund Edukte.Am Beispiel der Ammoniaksynthese sei das ver-

deutlicht: ΔH ist die Reaktionsenthalpie, die bei derisothermen und isobaren Bildung von 1mol Ammo-niak entsprechend

12N2 +

32H2 → NH3 (1.1-146)

gemessen wird. Es ist

ΔH = h(NH3) −{12h(N2) +

32h(H2)

}(1.1-147)

Ganz entsprechend ist für die Phasenumwandlungvon der Phase 1 in die Phase 2 die Umwandlungs-enthalpie

ΔH = h2 − h1 (1.1-148)

gleich der Differenz der molaren Enthalpien derbeiden Phasen.

Sofern es notwendig ist, charakterisieren wir die Um-wandlungsenthalpie durch einen Index, z. B.

Schmelzenthalpie ΔmHVerdampfungsenthalpie ΔvHSublimationsenthalpie ΔsH.

Reaktionsgrößen wie die Reaktionsenergie oder dieReaktionsenthalpie oderUmwandlungsgrößen wie dieSchmelz-, Verdampfungs- oder Sublimationsenthal-pie sind, da sie durch Differentiation nach der Reakti-onslaufzahl (Dimensionmol) erhaltenwurden,molareGrößen. Da der Operator Δ dies eindeutig kenntlichmacht, lässt man den Zusatz „molar“ üblicherweisefort.Die Enthalpie ist eine Zustandsgröße, ihre Ände-

rung also unabhängig vom Weg. Es muss deshalb die

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211.1 Einführung in die chemische Thermodynamik

gleiche Zustandsänderung auftreten, wenn wir einmalein Mol eines Stoffes unmittelbar sublimieren, ein an-dermal dieses Mol zunächst schmelzen und dann ver-dampfen:

ΔsH = ΔmH + ΔvH (1.1-149)

Der Zusammenhang zwischen der Reaktionsenergieund der Reaktionsenthalpie lässt sich sehr einfach ab-leiten, ganz ähnlich wie der Zusammenhang zwischencv und cp .Nach der Definition der Enthalpie, Gl. (1.1-79), ist

dH = dU + p dV + V d p (1.1-150)

Verknüpfen wir diese Gleichung mit Gl. (1.1-129), soerhalten wir

dH =(𝜕U𝜕T

)V,ξ

dT +(𝜕U𝜕V

)T,ξ

dV +(𝜕U𝜕ξ

)V,T

+ p dV + V d p(1.1-151)

Betrachten wir nun einen isothermen (dT = 0) undisobaren (d p = 0) Prozess, so ist(𝜕H𝜕ξ

)p,T

=(𝜕U𝜕ξ

)V,T

+[(

𝜕U𝜕V

)T,ξ

+ p](

𝜕V𝜕ξ

)p,T

(1.1-152)

und unter Berücksichtigung von Gl. (1.1-138)

ΔH = ΔU +[(

𝜕U𝜕V

)T,ξ

+ p]ΔV (1.1-153)

Ganz entsprechend Gl. (1.1-142) ist ΔV die bei einemFormelumsatz auftretende Änderung des Volumens

ΔV =k∑1νiυi (1.1-154)

wobei υi das molare Volumen der i-ten Komponenteist.(

𝜕U𝜕V

)T,ξ

hatten wir, vgl. Gl. (1.1-101), als InnerenDruck bezeichnet. Man spricht deshalb davon, dassder Unterschied zwischen ΔH und ΔU durch dieSumme der inneren und äußeren Arbeit gegeben ist.Die Bedeutung dieser Aussage können wir jedoch erstverstehen, wennwir das Verhalten der realenGase be-sprochen haben (siehe Abschnitt 2.1.1).Aus Gl. (1.1-153) können wir zweierlei entnehmen,

einmal, dass der Unterschied zwischen ΔH und ΔUnur dann groß sein wird, wenn der betrachtete Prozess

mit einer merklichen Volumenänderung verknüpftist, zum anderen, dass im Fall idealer Gase wegen(𝜕U𝜕V

)T= 0 gilt

ΔH = ΔU + pΔV = ΔU + pk∑1νiυi

= ΔU +k∑1νi ⋅ RT (1.1-155)

Am Beispiel der Ammoniaksynthese, Gl. (1.1-146),mag das erläutert werden. In diesem Fall ist

i=3∑i=1νi = 1 − 1

2− 3

2= −1

Der Unterschied zwischen ΔH und ΔU beträgt also,sofern sich die an der Reaktion beteiligten Gase idealverhalten, −RT .Auch bei den Reaktionsgrößen ΔH und ΔU interes-

siert sehr ihre Temperatur-, Druck- und Volumenab-hängigkeit. Wegen der größeren praktischen Bedeu-tung vonΔH wollenwir unsere Betrachtungen imWe-sentlichen auf diese Größe beschränken.Da die Reaktionsenthalpie eine Zustandsgröße ist,

können wir das totale Differential schreiben als

dΔH =(𝜕ΔH𝜕T

)pdT +

(𝜕ΔH𝜕p

)Td p (1.1-156)

Bei einer Reaktion im einphasigen, homogenen Sys-tem haben wir, wie wir später (Abschnitt 2.5.2) sehenwerden, eine freie Wahl von T und p, so dass wir diebeiden Terme auf der rechten Seite von Gl. (1.1-156)getrennt untersuchen können.Beginnen wir mit der Temperaturabhängigkeit. Die

Anwendung des Schwarz’schen Satzes liefert uns

(𝜕ΔH𝜕T

)p=⎛⎜⎜⎜⎝𝜕(𝜕H𝜕ξ

)T,p

𝜕T

⎞⎟⎟⎟⎠p=(

𝜕2H𝜕ξ𝜕T

)p=(

𝜕2H𝜕T𝜕ξ

)p

=⎛⎜⎜⎜⎝𝜕(𝜕H𝜕T

)p

𝜕ξ

⎞⎟⎟⎟⎠T=(𝜕Cp

𝜕ξ

)p,T

= ΔCp

(1.1-157)

wobei für ΔCp in völliger Analogie zu Gl. (1.1-142)

ΔCp =k∑1νic pi (1.1-158)

gilt.

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22 1 Einführung in die physikalisch-chemischen Betrachtungsweisen, Grundbegriffe und Arbeitstechniken

Integrieren wir Gl. (1.1-157), so erhalten wir

ΔHT2 = ΔHT1 +

T2

∫T1

ΔCp dT (1.1-159)

Ganz entsprechend gilt

ΔUT2 = ΔUT1 +

T2

∫T1

ΔCv dT (1.1-160)

Diese Beziehungen nenntmanKirchhoff’sche Sätze.

Auch hier sehen wir wieder, dass es nicht möglichist, thermodynamische Größen wie ΔU oder ΔH ab-solut zu berechnen. Kennen wir eine solche Größejedoch bereits für eine bestimmte Temperatur, dannkönnen wir ihren Wert bei einer anderen Tempera-tur berechnen. Dafür benötigen wir die molarenWär-mekapazitäten der an der Reaktion beteiligten Gase.Wählen wir als Beispiel wieder die Ammoniaksynthe-se, Gl. (1.1-146), so ist

ΔCp =∑νic pi = cp(NH3) −

12cp(N2) −

32cp(H2)

(1.1-161)

Wenden wir uns nun der Druckabhängigkeit der Re-aktionsenthalpie, dem Ausdruck

(𝜕ΔH𝜕p

)T, zu.

Auch hier benutzen wir den Schwarz’schen Satz undberücksichtigen, dass(

𝜕H𝜕p

)T= V − T

(𝜕V𝜕T

)p

(1.1-114)

ist, wie wir später noch zu beweisen haben.

(𝜕ΔH𝜕p

)T=⎛⎜⎜⎜⎝𝜕(𝜕H𝜕ξ

)p,T

𝜕p

⎞⎟⎟⎟⎠T=(

𝜕2H𝜕ξ𝜕p

)T

=(

𝜕2H𝜕p𝜕ξ

)T=⎛⎜⎜⎜⎝𝜕(𝜕H𝜕p

)T

𝜕ξ

⎞⎟⎟⎟⎠p=

⎛⎜⎜⎜⎜⎝𝜕

(V − T

(𝜕V𝜕T

)p

)𝜕ξ

⎞⎟⎟⎟⎟⎠T,p(𝜕ΔH𝜕p

)T= ΔV − T

(𝜕ΔV𝜕T

)p

(1.1-162)

Ist die Reaktionsenthalpie bei einem Druck p1 be-kannt, so brauchen wir Gl. (1.1-162) nur zwischen denGrenzen p1 und p2 zu integrieren, um die Reaktions-enthalpie bei dem Druck p2 zu berechnen:

ΔHp2 = ΔHp1 +

p2

∫p1

(ΔV − T

(𝜕ΔV𝜕T

)p

)d p

(1.1-163)

Zur Lösung des Integrals auf der rechten Seite müssendie thermischen Zustandsgleichungen der beteiligtenGase bekannt sein. Die Integration erfolgt im Allge-meinen graphisch.Im Gegensatz zur Temperaturabhängigkeit spielt

die Druckabhängigkeit der Reaktionsenthalpie keineso wesentliche Rolle. Für Mischungen aus idealen Ga-sen ist T

(𝜕ΔV𝜕T

)pgleich ΔV , wie leicht mithilfe des

idealen Gasgesetzes ermittelt werden kann. Damitwird das Integral null; die Reaktionsenthalpie ist ex-akt druckunabhängig. Bei Reaktionen in kondensier-ten Phasen ist ΔV und damit auch das Integral im All-gemeinen klein, die Druckabhängigkeit von ΔH alsogering.

1.1.15 Der Hess’sche Satz

Die Innere Energie und die Enthalpie sind Zustands-funktionen. Das gleiche gilt für ΔU und ΔH, die parti-ellenDifferentialquotienten vonU undH nach der Re-aktionslaufzahl ξ. Sie sind also durch die Angabe desAnfangs- und des Endzustandes des Systems eindeu-tig bestimmt und werden nicht davon beeinflusst, aufwelchem Weg man vom Anfangs- zum Endzustandgelangt. Schon vor der Formulierung des 1. Hauptsat-zes hatte Hess 1840 gefunden, dass sich die Reaktions-enthalpie einer über Zwischenstufen verlaufenden Re-aktion additiv aus den Reaktionsenthalpien der einzel-nen Schritte zusammensetzt.Ob der Übergang vom Zustand I in den Zustand III

unmittelbar erfolgt oder über den Zustand II verläuft,ist für die Änderung der Enthalpie des Systems dem-nach ohne Belang. Bei der Phasenumwandlung habenwir das bereits besprochen. Große Bedeutung erlangtderHess’sche Satz für die Ermittlung von Reaktionsen-thalpien, die nicht unmittelbar gemessen werden kön-nen. So ist es beispielsweise nicht möglich, die Ver-brennungsenthalpie des Kohlenstoffs zu Kohlenmon-oxid zu messen, da sich stets gleichzeitig Kohlendi-oxid bildet. Wohl aber kann man die Verbrennungs-enthalpie des Kohlenstoffs und des Kohlenmonoxids

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231.1 Einführung in die chemische Thermodynamik

Abb. 1.1-11 Zur Erläuterung des Hess’schen Satzes.

zum Kohlendioxid experimentell bestimmen. Gebenwir den Aggregatzustand (fest, flüssig oder gasförmig)in Klammern an, so können wir schreiben

C(f) + 12O2(g) → CO(g) ΔH1 nicht messbar

CO(g) + 12O2(g) → CO2(g) ΔH2 = −283.1 kJmol−1

C(f) +O2(g) → CO2(g) ΔH3 = −393.7 kJmol−1

Schematisch sind diese Schritte in Abb. 1.1-11 darge-stellt.Nach Gl. (1.1-143) ist

ΔH3 = h(CO2, g) − h(O2, g) − h(C, f)ΔH2 = h(CO2, g) −

12h(O2, g) − h(CO, g)

ΔH1 = ΔH3 − ΔH2= h(CO, g) − h(C, f) − 1

2h(O2, g)

Die nicht messbare Reaktionsenthalpie ΔH1 ergibtsich also als Differenz ΔH3 − ΔH2, und mit den obenangeführten Werten beträgt sie −110.6 kJmol−1.

1.1.16 Die Standard-Bildungsenthalpien

Wir haben gesehen, dass es möglich ist, mithilfe desHess’schen Satzes Reaktionsenthalpien zu berechnen,wenn die betrachtete Reaktion durch eine Folge an-derer Reaktionen ersetzt werden kann. Da bei einerchemischen Reaktion alle in den Ausgangsstoffen ent-haltenen Elemente auch in den Reaktionsproduktenenthalten sein müssen, ist eine solche Substitutionstets möglich, wenn man sich die Ausgangsstoffe zu-nächst in die Elemente zerlegt denkt (Weg 1) unddann die Reaktionsprodukte aus den Elementen auf-baut (Weg 2). Die Summe dieser Reaktionsenthalpienist gleich der gesuchten Reaktionsenthalpie (Weg 3).Das sei in Abb. 1.1-12 erläutert an der Reaktion

A + B → C +D .

Bezeichnenwir die Reaktionsenthalpie, die bei der Bil-dung von A, B, C oder D aus den Elementen auftritt,

Abb. 1.1-12 Zur Berechnung von Reaktionsenthalpien überBildungsenthalpien.

als Bildungsenthalpie ΔBH(A), ΔBH(B), ΔBH(C) bzw.ΔBH(D), so tritt auf dem Weg 1 die Reaktionsenthal-pie ΔH1 = −[ΔBH(A) + ΔBH(B)] auf, da es sich ja umdie Umkehr des Bildungsprozesses handelt. Für denWeg 2 finden wir ΔH2 = ΔBH(C) + ΔBH(D).Ganz allgemein können wir demnach schreiben

ΔH = ΣΔBH(Reaktionsprodukte)− ΣΔBH(Ausgangsstoffe) = ΣνiΔBH(i)

(1.1-164)

Im vorangehenden Abschnitt ist gezeigt worden, dassdie Reaktionsenthalpien, also auch die Bildungsen-thalpien, temperatur- und druckabhängig sind. Manmüsste also eine ungeheure Zahl von Bildungsenthal-pien für die unterschiedlichen Drücke und Tempera-turen tabellieren, wenn sich nicht eine weit günstigereMöglichkeit anbieten würde:

Man definiert Standardzustände, in denen die ander Bildungsreaktion teilnehmenden Stoffe vorlie-gen. Für diese Standardzustände wählt man beiGasen den idealen Zustand, bei Flüssigkeiten undFestkörpern den Zustand der reinen Phase. AlsStandarddruck legt man 1.013 bar, als Standard-temperatur 298.15K fest. Wir wollen uns grund-sätzlich auf diese Werte beziehen und diesen Stan-dardzustand durch ein hochgestelltes ⊖ charakte-risieren.

ΔBH⊖(H2O, fl) würde also die Bildungsenthalpie von1mol flüssigem Wasser aus Wasserstoff- und Sauer-stoffmolekülen unter Standardbedingungen angeben.Da nur in seltenen Fällen eine Reaktion unter Stan-dardbedingungen abläuft, müssen die Werte entspre-chend Gl. (1.1-159) oder (1.1-163) auf Standardbedin-gungen umgerechnet werden.

Da auch hier wieder mithilfe der Thermodynamikkeine Absolutberechnungen durchgeführt werden

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24 1 Einführung in die physikalisch-chemischen Betrachtungsweisen, Grundbegriffe und Arbeitstechniken

können, bedarf es einer willkürlichen Festlegungder Bildungsenthalpien der Elemente im Standard-zustand. Man wählt hierfür denWert Null. Das be-deutet, dass z. B. die Standard-Bildungsenthalpievon gasförmigem H2, O2, N2, flüssigem Hg, fes-tem Graphit (nicht Diamant!) den Wert Null hat.Es handelt sich hierbei lediglich um einen prakti-schen Bezugswert. Es ist damit in keiner Weise ge-sagt, dass die Enthalpie der Elemente in diesem Zu-stand tatsächlich null ist.

1.1.17 Die Umsetzung vonWärme und Arbeit beiVolumenänderungen

Im Folgenden wollen wir uns einen Überblick überdie Möglichkeiten der Umsetzung von Wärme undArbeit bei Volumenänderungen verschaffen und da-bei gleichzeitig die theoretischen Grundlagen für dasVerständnis eines sehr wichtigen Kreisprozesses, desCarnot’schen Kreisprozesses, und der Begriffe rever-sibel und irreversibel erarbeiten. Die Prozesse, diewir besprechen wollen, sollen mithilfe eines idea-len Gases durchgeführt werden, das in einem Zylin-der mit reibungslos beweglichem, masselosem Stem-pel eingeschlossen ist. Dieser Zylinder soll einmal(Abb. 1.1-13a)mit einem Thermostaten, ein andermal(Abb. 1.1-13b)mit einem adiabatischenMantel umge-ben sein. Zur Speicherung der vomGas geleisteten Ar-beit dient ein Arbeitsspeicher, über dessen Konstruk-tion wir erst weiter unten sprechen können.Im ersteren Fall stellt das Gesamtsystem

Gas+Thermostat+Arbeitsspeicher ein abgeschlos-senes System dar, das Gas allein ein geschlossenesSystem, das mit der Umgebung Energie austauschenkann, und zwar Wärme mit dem Thermostaten undArbeit mit dem Arbeitsspeicher. Im zweiten Fall bil-den Gas (geschlossenes System) und Arbeitsspeicherdas abgeschlossene System. Zwischen beiden kannArbeit, aber keine Wärme ausgetauscht werden.DenAusgangspunkt für unsere Überlegungen bildet

die Verknüpfung des Ersten Hauptsatzes der Thermo-dynamik, Gl. (1.1-73), mit dem totalen Differential derInneren Energie, Gl. (1.1-72).

dU = δQ − p dV =(𝜕U𝜕V

)TdV +

(𝜕U𝜕T

)VdT

(1.1-165)

Da die Prozesse mit einem idealen Gas durchgeführtwerden sollen, ist

(𝜕U𝜕V

)T= 0, so dass sich ergibt

dU = δQ − p dV =(𝜕U𝜕T

)VdT (1.1-166)

Mit der in Abb. 1.1-13a angegebenen Vorrichtung ha-ben wir nun die Möglichkeit, das Gas isotherm zu

(a) (b)

Abb. 1.1-13 Zur Veranschaulichung isothermer (a) und adia-batischer (b) Kompressionen und Expansionen eines Gases.

expandieren und zu komprimieren. Jede auch nochso geringe Temperaturänderung im Gas wird sofortvon dem über diathermische Wände angeschlossenenThermostaten abgefangen, dessenWärmekapazität sogroß ist, dass die ausgetauschte Wärmemenge zu kei-ner messbaren Temperaturänderung führt.Mit der in Abb. 1.1-13b angegebenen Vorrichtung

lassen sich Expansion und Kompression adiabatischdurchführen; denn hier ist das Gas von adiabatischenWänden umgeben, die – zumindest bei hinreichendkurzen Messzeiten – keinen Temperaturausgleich zu-lassen.Beschäftigen wir uns zunächst mit dem isothermen

Prozess. Bei ihm ist dT = 0. Damit wird aber nachGl. (1.1-166) auch dU = 0.Wir erkennen also, dass beieiner isothermen Expansion oder Kompression einesidealen Gases wegen

dU = 0 (1.1-167)

δQ − p dV = 0 (1.1-168)

die Innere Energie des Gases nicht geändert wird unddie vom Gas geleistete Volumenarbeit gleich der vonder Umgebung (Thermostat) auf das Gas übergegan-genenWärmemenge ist.Wir haben also eine quantita-tive Umwandlung von Wärme in Arbeit oder – wennwir die Kompression des Gases betrachten – von Ar-beit in Wärme.Diese Aussage gilt allgemein, ohne Rücksicht dar-

auf, wie wir die Expansion im Einzelnen vorgenom-men haben, denn die Innere Energie des Gases ist eineZustandsgröße und lediglich abhängig vom Anfangs-und Endzustand. Diese Zustände mögen charakteri-siert sein durch die Temperatur T , die Volumina V1und V2 und die Drücke p1 und p2, wobei die Indi-zes auf Anfang (1) und Ende (2) des Prozesses verwei-sen. Nach der Idealen Gasgleichung muss dabei geltenp1∕p2 = V2∕V1.DerÜbergang vomAnfangs- zumEndzustand kann,

wie gesagt, in verschiedener Weise erfolgen. Wir wol-len zwei Möglichkeiten betrachten:1. Unser Gas steht unter einem Druck p1, der we-

sentlich größer ist als der Druck ps, der auf dem Stem-

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251.1 Einführung in die chemische Thermodynamik

(a) (b)

Abb. 1.1-14 Zur Erläuterung der isothermen Expansion undKompression eines idealen Gases bei konstantem Außen-druck.

pel lastet. Das Gas kann den Stempel jedoch nicht her-austreiben, da er arretiert ist. Lösen wir jetzt die Arre-tierung (Ar1 in Abb. 1.1-14a), so wird das Gas höchs-tens so weit expandieren, bis der Gasdruck im Zylin-der (p2) gleich dem unverändert auf dem Stempel las-tenden Gegendruck ps ist. Andererseits könnten wirdie Expansion durch eine zweite Arretierung (Ar2 inAbb. 1.1-14a) auch schon bei einem Wert p2 > psstoppen.

Die bei einer solchen isothermen, irreversiblen Ex-pansion gegen einen konstanten Druck ps geleiste-te VolumenarbeitW und aus der Umgebung aufge-nommene Wärmemenge Q ist nach Gl. (1.1-168)

W = −Q = −ps

V2

∫V1

dV = −ps(V2 − V1) (1.1-169)

Sie ist im p, V -Diagramm (Abb. 1.1-14b) für den Fallps = p2 als graue Fläche dargestellt. Ist p2 > ps, dannliegt p2 auf einem niedrigeren Ordinatenwert als inAbb. 1.1-14b, und die Höhe des die Volumenarbeitdarstellenden Rechtecks ps(V2−V1) erreicht nicht dieeingezeichnete Isotherme des idealen Gases. Als Ar-beitsspeicher diente in beiden Fällen ein Gewichts-stück, das bei der Expansion gehoben wurde. Die ge-leistete Arbeit ist als potentielle Energie des Gewichts-stückes (vgl. Hubarbeit in Abb. 1.1-3b) gespeichert.Dap1 > p2 ≥ ps, ist die gesamte Expansion nach Entfer-nung der ArretierungAr1 von selbst, d. h. spontan ver-laufen. Wegen ps ≤ p2 kann das gehobene Gewichts-stück von sich aus das Gas nicht wieder zusammen-drücken, es kann die Expansion nicht wieder rück-gängig machen.Wir sprechen deshalb davon, dass derVorgang unter den gewählten Bedingungen eine ir-reversible, isotherme Expansion war. Der Begriff ir-reversibel wird im Abschnitt 1.1.19 noch näher erläu-tert.Wollen wir durch Auflegen eines Gewichtsstückes

den Vorgang rückgängig machen, so muss dieses Ge-

wichtsstück einenDruck p= F∕A auf den Stempelmitder Fläche A ausüben, der gleich dem Druck p1 desGases ist, wenn dieses wieder das Volumen V1 einge-nommen hat. VomArbeitsspeicher wird dabei die Ar-beit

W =

h1

∫h2

F dh =

h1

∫h2

p1A dh = p1

V1

∫V2

dV = p1(V1−V2)

(1.1-170)

an das Gas abgegeben, das eine entsprechend großeWärmemenge, vgl. Gl. (1.1-169), auf den Thermosta-ten überträgt. Diese Arbeit ist in Abb. 1.1-14b schraf-fiert dargestellt. Auch die Kompression ist unter dengenannten Bedingungen isotherm, spontan und ir-reversibel, denn wegen ps ≥ p1 kann das Gas von sichaus den Vorgang nicht rückgängig machen.Werfen wir nun einen Blick auf die Änderung des

Druckes unseres Gases während der Expansion undKompression.Dawir ein idealesGas angenommenha-ben und isotherm arbeiten, sind die Bedingungen desBoyle-Mariotte’schen Gesetzes, s. Gl. (1.1-41), erfüllt.Der Zusammenhang zwischen p und V ist also durchdie in Abb. 1.1-14b eingezeichnete Hyperbel gegeben.Bei der irreversiblen Expansion musste der von au-ßen wirkende Druck, gegen den Arbeit geleistet wur-de, immer kleiner als der Druck desGases sein; bei derirreversiblen Kompression galt das Gegenteil.2. Wie sehen nun die Verhältnisse aus, wenn wir

dafür sorgen, dass in jedem Augenblick der Expansi-on oder Kompression Innen- und Außendruck über-einstimmen? Das können wir zwar nicht erreichen,indem wir zur Erzeugung des Außendruckes ein be-stimmtes Gewichtsstück auf den Stempel legen. Wirmüssen vielmehr eine andere Konstruktion für unse-ren Arbeitsspeicher wählen. Abbildung 1.1-15a zeigtuns eineMöglichkeit: DasGewichtsstückGwirkt übereine stetig veränderlicheHebelübersetzung, ein Zahn-rad und eine Zahnstange, auf den Stempel. Die Über-setzung ist so gewählt, dass der durch das Gewichts-stück G auf den Stempel ausgeübte Druck in jeder be-liebigen Stempelstellung den Druck des Gases genaukompensiert. Wieder wird angenommen, dass jegli-che Reibungswiderstände ausgeschlossen sind. Wieim Fall von Abb. 1.1-14 wird vom Gas geleistete Ar-beit als Hubarbeit, d. h. als potentielle Energie, demArbeitsspeicher zugeführt.Führen wir mit der in Abb. 1.1-15a dargestellten

Anordnung eine isotherme Expansion durch, so giltGl. (1.1-168) nach wie vor:

δQ − p dV = 0 (1.1-168)

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26 1 Einführung in die physikalisch-chemischen Betrachtungsweisen, Grundbegriffe und Arbeitstechniken

DieBerechnungderVolumenarbeit führt jedoch zu ei-nem anderen Ergebnis als oben. Der Druck, gegen dendasGas die Arbeit leistet, ist nichtmehr konstant, son-dern stets gleich dem Druck des Gases selbst.In

W = −

V2

∫V1

ps dV (1.1-171)

dürfen wir ps deshalb nicht mehr vor das Integral zie-hen. Wir können ps jetzt aber durch den Gasdruck pund diesen weiter durch das ideale Gasgesetz substi-tuieren, so dass wir erhalten

W = −

V2

∫V1

nRT 1V

dV = −nRT

V2

∫V1

d lnV (1.1-172)

Unter Berücksichtigung von Gl. (1.1-168) folgtdann für die isotherme, reversible Expansion einesidealen Gases

W = −Q = −nRT lnV2V1

(1.1-173)

Die Arbeit entspricht also der Fläche unter der Iso-therme p = f (V ), die in Abb. 1.1-15b grau markiertist.Da in jedem Punkt der Stempelstellung in

Abb. 1.1-15a Gleichgewicht zwischen dem vom Ar-beitsspeicher erzeugten Außendruck und dem vomGas erzeugten Innendruck herrscht, besteht nirgendseine Veranlassung zu einer spontanten Expansionoder Kompression des Gases. Wir können an jederbeliebigen Stelle durch eine infinitesimale Änderungdes Gewichtsstückes den Prozess in Richtung auf ei-ne Expansion oder in Richtung auf eine Kompressionlaufen lassen. Dabei durchlaufen wir stets Gleichge-wichtszustände.Die Arbeit für die Kompression von V2 bis zum ur-

sprünglichen Ausgangsvolumen V1 ist

W = −

V1

∫V2

p dV = −

V1

∫V2

nRT d lnV = nRT lnV2V1

(1.1-174)

demAbsolutbetrag nach also genauso großwie die Ex-pansionsarbeit, in Abb. 1.1-15b demnach durch diegleiche Fläche darstellbar wie diese. Die im Arbeits-speicher bei der Expansion deponierte Energie reichtalso aus, umden gesamtenVorgang rückgängig zuma-chen. Wir sprechen deshalb im vorliegenden Fall voneinem reversiblen Prozess.

(a) (b)

Abb. 1.1-15 Zur Erläuterung der isothermen, reversiblenExpansion und Kompression eines idealen Gases.

Aus denGl. (1.1-173) und (1.1-174) geht hervor, dassmit reversiblen, isothermen Expansionen oder Kom-pressionen idealerGase beliebig großeWärmemengenin mechanische Energie (Hubarbeit, potentielle Ener-gie) – oder umgekehrt – umgewandelt werden kön-nen. Maßgebend ist lediglich das Verhältnis V2∕V1.Es ist nun an der Zeit, die isotherme, reversi-

ble Expansion und Kompression mit der isother-men, irreversiblen (bei konstantem Außendruck ps)zu vergleichen. Das geschieht für die Expansion inAbb. 1.1-16. Dabei ist in Abb. 1.1-16a die irreversi-ble Expansion von V1 nach V2 wie in Abb. 1.1-14bin einem Schritt, in Abb. 1.1-16b dagegen in sechsgleich großen Schritten (mit sechs verschiedenenps-Werten) vorgenommen worden. Für die irrever-siblen Prozesse ist die vom System geleistete Arbeitschraffiert, für den reversiblen Prozess ist sie graudargestellt. Die entsprechenden Verhältnisse bei derKompression zeigt Abb. 1.1-17.Wir erkennen, dass ein ideales Gas bei isothermer

Expansion von einem Volumen V1 auf ein VolumenV2 bei einem reversiblen Prozess eine größere Volu-menarbeit zu leisten vermag als bei einem irrever-siblen. Durch eine Folge enger irreversibler Schritte(Abb. 1.1-16b) kann man sich der reversibel geleiste-ten Arbeit annähern, sie jedoch nie ganz erreichen.

(a) (b)

Abb. 1.1-16 Vergleich der isothermen reversiblen und irrever-siblen (ps = const.) Expansionsarbeit eines idealen Gases.

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271.1 Einführung in die chemische Thermodynamik

Abb. 1.1-17 Vergleich der isothermen reversiblen und irrever-siblen (ps = const.) Kompressionsarbeit eines idealen Gases.

Die maximale Arbeit kommt also der reversiblen Ex-pansion zu.Bei der Kompression (Abb. 1.1-17) liegen die Ver-

hältnisse gerade umgekehrt. Hier gelingt uns die Kom-pression beim reversiblen Prozess mit einem Mini-mumanArbeit. Eine irreversibleKompression, gleich-gültig, ob in einem Schritt (Abb. 1.1-17a) oder in ei-ner engen Folge von Schritten (Abb. 1.1-17b), erfor-dert immer einen größeren Arbeitsaufwand.Bislang sind wir davon ausgegangen, dass auch bei

den irreversiblen Prozessen die vom Arbeitsspeicheraufgenommene oder abgegebene Arbeit W gemäßGl. (1.1-167) und Gl. (1.1-168) gleich der vom Ther-mostaten an das Gas abgegebenen bzw. vom Gas auf-genommenenWärmemenge Q war. Das setzte letztenEndes voraus, dass, wie beim reversiblen Prozess, au-ßer der Volumenarbeit keine andere Arbeit geleistetwurde.Ist diese Voraussetzung nicht mehr erfüllt, so kann

selbst eine mit der Anordnung in Abb. 1.1-15a durch-geführte Expansion oder Kompression ein irreversi-bler Prozess sein. Das ist schon dann der Fall, wennz. B. die Kompression nicht unendlich langsam vor-genommen wird. Durch den schnell vorwärts beweg-ten Kolben wird Beschleunigungsarbeit geleistet, unddie übertragene kinetische Energie führt durch innereReibung zur Erzeugung von Wärme, die über die dia-thermischen Wände auf den Thermostaten übergeht.Das gleiche gilt für das Auftreten von Reibungswär-me z. B. zwischen dem Kolben und der Zylinderwand.In beiden Fällen geht Energie verloren, die andernfallszur Kompression des Gases hätte verwendet werdenkönnen.Manerreicht also, von einemAnfangszustand(p2 , V2) ausgehend, mit einer vorgegebenen Energieim Arbeitsspeicher nicht den Endzustand (p1 und V1in Abb. 1.1-15b), zu dem man bei völlig reversiblerProzessführung gelangt wäre.Lässt man das Gas nun wieder völlig reversibel ex-

pandieren, so kommtman zwar zumZustand (p2 , V2),doch der Arbeitsspeicher enthält dann eine Energie,die geringer ist als vor dem Kompressions-Expansi-ons-Zyklus. Wir erkennen daraus, dass ein Kreispro-

zess, der auch nur einen irreversiblen Schritt enthält,als Ganzes irreversibel wird.

Der Begriff irreversibel besagt also nicht, dass einSchritt, z. B. die Expansion eines Gases, nicht rück-gängig gemacht werden kann. Er besagt vielmehr,dass beim Zurückführen des Systems in den Aus-gangszustand irgendwo, z. B. im Arbeitsspeicheroder in der Umgebung, eine nicht rückgängig zumachende Veränderung zurückbleibt.

Wir haben den Begriff der Reversibilität und Irrever-sibilität hier sehr ausführlich erläutert, da ihm inder Thermodynamik eine außerordentliche Bedeu-tung zukommt. Im Abschnitt 1.1.19 werden wir nocheinmal darauf zurückkommen.Wendenwir uns nunden adiabatischenVolumenän-

derungen eines idealen Gases zu (vgl. Abb. 1.1-13b).Dabei wollen wir uns auf die reversiblen beschrän-ken, d. h. auf diejenigen, bei denen Gleichgewicht zwi-schen dem Druck des Gases und dem vom Stem-pel des Zylinders übertragenen Außendruck besteht.Ausgangspunkt für unsere Überlegungen ist wiederGl. (1.1-166)

dU = δQ − p dV =(𝜕U𝜕T

)VdT (1.1-166)

Beim adiabatischen Prozess findet kein Wärmeaus-tausch mit der Umgebung statt, d. h.

δQ = 0 (1.1-175)

Damit vereinfacht sich Gl. (1.1-166) zu

dU = −p dV =(𝜕U𝜕T

)VdT (1.1-176)

Wir lesen aus dieser Beziehung zweierlei ab. Erstenswird die Volumenarbeit −p dV auf Kosten der Inne-ren Energie geleistet, und zweitens ist dieser Prozessmit einer Änderung dT der Temperatur des idealenGases verbunden:

Bei adiabatischer Kompression erwärmt sich dasGas, bei adiabatischer Expansion kühlt es sich ab.Der mechanischen Arbeit entspricht also auch beider adiabatischen Volumenänderung eine gewis-se Wärmemenge, die jetzt aber nicht mit der Um-gebung ausgetauscht wird, sondern die die InnereEnergie des Gases erhöht bzw. erniedrigt.

Bei der isothermen, reversiblen Volumenänderungließ sich die Volumenarbeit, Gl. (1.1-172), wegen T =const. sehr einfach nach Substitution von p durch das

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28 1 Einführung in die physikalisch-chemischen Betrachtungsweisen, Grundbegriffe und Arbeitstechniken

ideale Gasgesetz berechnen. Das ist wegen der Tem-peraturänderung im adiabatischen Prozess nichtmög-lich. Hier müssen wir die Volumenarbeit aus der Tem-peraturänderung und dermolarenWärmekapazität cvermitteln. Zu diesem Zweck müssen wir zunächst ei-nen Zusammenhang zwischen denGrößen p, V und Tbei adiabatischen Zustandsänderungen ableiten. Wirgreifen dabei zurück auf Gl. (1.1-176)

−p dV = ncv dT (1.1-177)

Die Substitution von p mithilfe des idealen Gasgeset-zes (p = nRT∕V ) führt zu

−RTV

dV = cv dT (1.1-178)

und nach Trennung der Variablen zu

−R dlnV = cv dlnT (1.1-179)

Gehen wir von einem Zustand V0, p0, T0 in einen Zu-stand V, p, T über, so liefert die bestimmte Integrati-on

−R ln VV0

= cv lnTT0

(1.1-180)

sofern wir cv als temperaturunabhängig betrachten,und nach Umstellung

ln(V0V

)R∕cv= ln T

T0(1.1-181)

oder (V0V

)R∕cv= TT0

(1.1-182)

Beim idealen Gas, auf das sich unsere Überlegungenzur Zeit beschränken, ist nach Gl. (1.1-111)

R = cp − cv (1.1-111)

und damit(V0V

) cpcv

−1= TT0

(1.1-183)

Führen wir schließlich zur Abkürzung nochcpcv

= γ (1.1-184)

ein, wofür unter Berücksichtigung von Gl. (1.1-111)γ > 1 gilt, so erhalten wir

T ⋅ V γ−1 = T0 ⋅ Vγ−10 = const. (1.1-185)

Daraus ergibt sich wieder mit dem idealen Gasgesetz(T = pV

nR

)der Zusammenhang zwischen p und V für

adiabatische Zustandsänderungen, die

Poisson’sche Gleichung

p ⋅ V γ = p0 ⋅ Vγ0 = const. (1.1-186)

Substituieren wir jetzt noch V durch nRT∕p, so re-sultiert

p1−γ ⋅ Tγ = p1−γ0 ⋅ Tγ0 = const. (1.1-187)

Damit haben wir alle möglichen Verknüpfungen zwi-schen unseren Zustandsgrößen p, V und T für adia-batische Prozesse gewonnen.Ehe wir uns der Berechnung der Volumenarbeit zu-

wenden, wollen wir einen Vergleich zwischen Isother-men und Adiabaten des idealen Gases anstellen.Im p, V -Diagramm stellen (vgl. Gl. (1.1-41) und

Abb. 1.1-8) die Isothermen Hyperbeln mit derSteigung − p

V dar. Die Adiabaten haben wegen(𝜕p𝜕V

)δQ=0

= −γ pV eine um den Faktor γ größere Stei-gung. Sie schneiden mithin die Isothermen, entspre-chend der Tatsache, dass sich bei dem adiabatischenProzess die Temperatur ändert.Wie die Isobaren, Isochoren und Isothermen stel-

len die Adiabaten Kurven dar, die in der Zustands-fläche des idealen Gases liegen. Im Gegensatz zu dendrei erstgenannten Kurven, die dadurch charakteri-siert sind, dass eine der Zustandsgrößen p, V oder Tkonstant ist, ändern sich bei den Adiabaten gleichzei-tig alle drei Zustandsgrößen. In Abb. 1.1-19 sind dieAdiabaten aus Abb. 1.1-18 im p, v, T-Diagramm dar-gestellt.Zur Berechnung der beim adiabatischen reversiblen

Prozess auftretenden Volumenarbeit greifen wir zu-rück auf Gl. (1.1-176), nachdem es uns möglich ist,mithilfe von Gl. (1.1-185) die Temperatur T zu be-rechnen, die sich nach einer Volumenänderung vonV1nach V2 eingestellt hat. Es ist

dW = −p dV = ncv dT (1.1-188)

Abb. 1.1-18 Isothermen (gestrichelt) und Adiabaten (blau)des idealen Gases. Berechnet für ein einatomiges Gas mit γ =1.67.

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291.1 Einführung in die chemische Thermodynamik

Tab. 1.1-1 Vergleich zwischen Isothermen und Adiabaten eines idealen Gases.

Isotherme Adiabate

Boyle-Mariotte’sches Gesetz Poisson’sche Gleichungp ⋅ V = const. p ⋅ Vγ = const.p = const. ⋅ V−1 p = const. ⋅ V−γ(𝜕 p𝜕V

)dT=0

= const.(−V−2)(𝜕 p𝜕V

)δQ=0

= const.(−γ ⋅ V−γ−1)(𝜕 p𝜕V

)dT=0

= −p ⋅ VV 2

(𝜕 p𝜕V

)δQ=0

= −γ ⋅ p ⋅ Vγ

V γ+1(𝜕 p𝜕V

)dT=0

= −pV

(𝜕 p𝜕V

)δQ=0

= −γ ⋅pV

Abb. 1.1-19 p, v, T-Diagramm des idealen Gases mit Isocho-ren (gestrichelt), Isobaren (punktiert), Isothermen (ausgezo-gen) und Adiabaten (blau).

W = −

V2

∫V1

p dV = n ⋅

T2

∫T1

cv dT (1.1-189)

und, sofern wir in dem betrachteten Temperaturbe-reich cv als temperaturunabhängig ansehen können,ergibt sich als

Volumenarbeit beim reversiblen, adiabatischenProzess mit einem idealen Gas

W = −

V2

∫V1

p dV = ncv(T2 − T1) (1.1-190)

Zum Abschluss wollen wir noch die Volumenarbeitbeim reversiblen, isothermen Prozess und beim rever-siblen, adiabatischen Prozess vergleichen. Da die Vo-lumenarbeit stets durch − ∫ p dV gegeben ist, wirdsie im p, V -Diagramm als Fläche unter der Kurvep = f (V ) dargestellt. Da es sich um reversible Prozes-se handelt, ist p = f (V ) die Isotherme (punktiert inAbb. 1.1-20) bzw. die Adiabate (ausgezogen). Betrach-

(a) (b)

Abb. 1.1-20 Volumenarbeit bei der isothermen (grau) und deradiabatischen (schraffiert) Expansion (a) und Kompression (b).

ten wir zunächst die Expansion von p1, V1 nach V2(Abb. 1.1-20a). Wir erkennen, dass die beim isother-men Prozess gewinnbare Arbeit (graue Fläche) grö-ßer ist als die beim adiabatischen Prozess gewinnba-re (schraffiert). Im ersteren Fall ändert sich T nicht,im letzteren nimmt T auf T2 ab. Der Druck nachder Expansion ist im adiabatischen Fall (pa2) geringerals im isothermen (pi2). Die Erklärung liegt auf derHand: Bei der adiabatischen Expansion wird die Volu-menarbeit dem Gas selbst, d. h. seiner Inneren Ener-gie entnommen. Damit sinkt seine Temperatur undnach dem idealen Gasgesetz auch sein Druck. Bei deradiabatischen Kompression (Abb. 1.1-20b) liegen dieVerhältnisse gerade umgekehrt. Die auftretende Er-wärmung führt zu einer Druckerhöhung. Außer derim isothermen Fall aufzubringenden Volumenarbeit(grau in Abb. 1.1-20b) muss ein zusätzlicher Energie-betrag aufgewandt werden, um die Innere Energie desGases zu erhöhen. Deshalb ist die Kompressionsarbeitim adiabatischen Prozess größer als im isothermen.Exakt isotherme und adiabatische Vorgänge stel-

len experimentell nur schwierig zu verwirklichendeGrenzfälle dar. Doch gibt es eine Reihe von Prozes-sen, die man mit guter Näherung als adiabatische be-handeln kann. Das ist z. B. immer dann der Fall, wennsich die Vorgänge so schnell abspielen, dass es nicht zueinem Wärmeaustausch mit der Umgebung kommen

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30 1 Einführung in die physikalisch-chemischen Betrachtungsweisen, Grundbegriffe und Arbeitstechniken

Tab. 1.1-2 Die beim Carnot’schen Kreisprozess ausgetauschten Energiebeträge.

Schritt Art des Schrittes Gas Thermostat T1 Thermostat T2 Arbeitsspeicher

1 isotherme, reversible Expansion bei T1 +QT1− nRT1 ln

V2V1

−QT1– +nRT1 ln

V2V1

2 adiabatische, reversible Expansion −ncv(T1 − T2) – – +ncv(T1 − T2)3 isotherme, reversible Kompression bei T2 −QT2

+ nRT2 lnV3V4

– +QT2−nRT2 ln

V3V4

4 adiabatische, reversible Kompression +ncv(T1 − T2) – – −ncv(T1 − T2)∑Kreisprozess 0 −QT1

+QT2nR(T1 − T2) ln

V2V1

Abb. 1.1-21 Die Schritte des Carnot’schen Kreisprozesses.

kann. Als Beispiele seien hier nur genannt die Vorgän-ge bei der Explosion, die Ausbreitung der Schallwellenoder gewisse meteorologische Prozesse (Entstehungdes Föhns).

1.1.18 Der Carnot’sche Kreisprozess

Vor der Behandlung des Zweiten Hauptsatzes derThermodynamik wollen wir uns mit einem wichti-gen Kreisprozess beschäftigen, der auf Carnot (1824)zurückgeht. Wir benötigen dazu ein ideales Gas, daswir abwechselnd reversiblen, isothermen und adiaba-tischen Expansionen und Kompressionen unterwer-fen, so, wie es in Abb. 1.1-21 skizziert ist. Wir begin-nen mit einer reversiblen isothermen Expansion vonV1 nach V2 bei der Temperatur T1 und schließen einereversible adiabatische Expansion von V2 nach V3 an,wobei die Temperatur auf T2 sinkt. Um in zwei wei-teren Schritten wieder zum Ausgangszustand zurück-zukommen, komprimieren wir das Gas, das jetzt voneinem Thermostaten der Temperatur T2 umgeben ist,im dritten Schritt reversibel isotherm so weit (V4), biswir auf die durch den Anfangszustand (p1 , V1) verlau-fende Adiabate kommen. Durch die reversible adiaba-tische Kompression bis V1 erhöht sich die Tempera-tur wieder auf T1, und der Kreisprozess ist geschlos-sen. Die bei den einzelnen Schritten ausgetauschtenEnergiebeträge können wir nach Gl. (1.1-174) undGl. (1.1-190) berechnen. In Tab. 1.1-2 sind sie für dasGas, die beiden Thermostaten mit den TemperaturenT1 und T2 sowie den Arbeitsspeicher aufgeführt.Da sich bei den isothermen Schritten die Innere

Energie des idealen Gases nicht ändern kann [vgl.

Gl. (1.1-166)] und da sich die bei den adiabatischenSchritten eintretenden Änderungen kompensieren, istdie Änderung der Inneren Energie des idealen Ga-ses bei dem gesamten Kreisprozess null, wie es füreine Zustandsgröße ohnehin zu fordern wäre. Nach

Gl. (1.1-185) muss T2T1=(V1V4

)γ−1=(V2V3

)γ−1sein. Da-

mit ist auch V1V2

= V4V3, so dass sich die insgesamt vom

Arbeitsspeicher aufgenommene Energie zu nR(T1 −T2) ln

V2V1

ergibt.

Der Carnot’sche Kreisprozess resultiert also darin,dass ohne Änderung der Inneren Energie des Gasesdurch Aufnahme einer Wärmemenge QT1 von ei-nemThermostaten der Temperatur T1 sowie durchAbgabe einer Wärmemenge QT2 an einen Ther-mostaten der Temperatur T2 eine Arbeit nR(T1 −T2) ln

V2V1

gewonnen wird.

Die bei den einzelnen Schritten geleisteten Volumen-arbeiten ergeben sich als Fläche unter den Isothermenbzw. Adiabaten. Die bei dem Prozess insgesamt ge-wonnene Arbeit ist dann die in Abb. 1.1-22 grau mar-kierte, von den beiden Isothermenund Adiabaten um-schlossene Fläche.In dem soeben besprochenen Kreisprozess haben

wir das Prinzip einer Wärmekraftmaschine vor uns.Das Arbeitsgas entnimmt einem Thermostaten ho-her Temperatur eineWärmemenge, leistet eine Arbeitund gibt schließlich eine restlicheWärmemenge an ei-nen Thermostaten tieferer Temperatur ab.

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311.1 Einführung in die chemische Thermodynamik

Abb. 1.1-22 Der Carnot’sche Kreisprozess im p, V-Diagramm.

Wir hätten den Prozess aber auch in entgegenge-setzter Richtung ablaufen lassen, also mit einer iso-thermen, reversiblen Expansion bei der TemperaturT2 von V4 auf V3 starten können. Dabei hätte un-ser Gas eineWärmemengeQT2 aufgenommen und ei-ne Volumenarbeit−nRT2 ln

V3V4

geleistet. Als nächstenSchritt hättenwir dann adiabatisch vonV3 aufV2 kom-primieren können, wobei die Temperatur des Gasesauf T1 gestiegen wäre. Bei der anschließenden isother-men Kompression von V2 auf V1 hätten wir eine Volu-menarbeit von −nRT1 ln

V2V1

dem Arbeitsspeicher ent-nehmen müssen, und unser Gas hätte gleichzeitig ei-ne Wärmemenge QT1 an den Thermostaten T1 abge-geben. Durch eine adiabatische Expansion wären wirdann zum Ausgangspunkt (p4 , V4, T2) unseres Kreis-prozesses zurückgekehrt.

In diesemKreisprozess hätten wir das Prinzip einerWärmepumpe vor uns: Das Arbeitsgas entnimmteinem Thermostaten tiefer Temperatur eine Wär-memenge, nimmt von außen Arbeit auf und gibtschließlich eine vergrößerteWärmemenge an einenThermostaten höherer Temperatur ab.

In der Abb. 1.1-23 sind die Wirkungsweisen einerWärmekraftmaschine und einerWärmepumpe einan-der gegenübergestellt.Wir wollen nun noch nach demWirkungsgrad η der

Wärmekraftmaschine fragen. Darunter verstehen wirdas Verhältnis der gewonnenen Arbeit zu der bei derhöheren Temperatur aufgenommenen Wärmemenge:

η = |W ||QT1| =nR(T1 − T2) ln

V2V1

nRT1 lnV2Vl

=(T1 − T2)

T1

(1.1-191)

oder

(a) (b)

Abb. 1.1-23 Zur Wirkungsweise der Wärmekraftmaschine(a) und der Wärmepumpe (b).

Wirkungsgrad η der Wärmekraftmaschine

η = 1 −T2T1

(1.1-192)

Da 0 < T2 < T1, muss der Wirkungsgrad immer posi-tiv und kleiner als eins sein. Er wächst in demMaße, indemdasVerhältnis T2T1

kleiner wird und–weil T2 nichtbeliebig klein gemacht werden kann – mit steigenderTemperatur T1. Von der bei der höheren TemperaturT1 zugeführten Wärme wird der Bruchteil T1−T2T1

innutzbare Arbeit umgewandelt, während der BruchteilT2T1

bei der tieferen Temperatur T2 als Wärme wiederabgegeben wird.Wir haben den Carnot’schen Kreisprozess nicht

so ausführlich besprochen, weil wir etwa besondersanWärmekraftmaschinen interessiert wären, sondernweil er uns den Weg öffnet zur Ableitung einer wich-tigen thermodynamischen Größe, der Entropie, diebei Gleichgewichtsbetrachtungen eine sehr wesentli-che Rolle spielt.

1.1.19 Der Zweite Hauptsatz der Thermodynamikund die Entropie

Die bislang von uns aufgeworfenen Fragen, sei es nunder Zusammenhang zwischen cp und cv , die Tempe-raturabhängigkeit der Inneren Energie oder Enthalpie,die Berechnung der Reaktionsenthalpie aus den Stan-dard-Bildungsenthalpien oder sei es die Umsetzungvon Wärme und Arbeit bei Volumenänderung, konn-ten wir mithilfe der Aussagen des Ersten Hauptsatzesder Thermodynamik behandeln. Wir haben also nurvom Prinzip der Erhaltung der Energie Gebrauch ge-macht oder, anders ausgedrückt, von der Erfahrung,dass es kein Perpetuum mobile erster Art gibt, keineMaschine, die Energie aus dem Nichts schafft.

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32 1 Einführung in die physikalisch-chemischen Betrachtungsweisen, Grundbegriffe und Arbeitstechniken

Wirhaben aber, ohne näher darauf einzugehen, auchschon einige Erfahrungstatsachen kennengelernt, diezwar dem Ersten Hauptsatz entsprechen, die von ihmaber nicht erschöpfend erklärt werden können:In Abschnitt 1.1.6 haben wir bei der Einführung des

Begriffs der Temperatur zwei Systeme (A und B) un-terschiedlicher Temperatur zu einem GesamtsystemA+B vereinigt, das eine zwischen TA und TB liegendeTemperatur TA+B annahm.Unter der Voraussetzung, dass von keinem der Teil-

systeme dabei eine Volumenarbeit geleistet wurde,bestand der Energieaustausch lediglich darin, dassSystem B eine Abnahme seines Wärmeinhaltes umδQB (d. h. δQB < 0), System A eine Zunahme seinesWärmeinhaltes um δQA (d. h. δQA > 0), mit |δQB| =|δQA|, erfuhr. Es ist dann entsprechend dem ErstenHauptsatz

δQA + δQB = 0 (1.1-193)

Diese Gleichung – und damit die Forderung des Ers-ten Hauptsatzes – wäre aber auch erfüllt mit δQB > 0und δQA < 0, d. h. bei dem Übergang einer Wärme-menge vom kälteren zum wärmeren Teilsystem. Nurdie Erfahrung lehrt uns bis jetzt, dass dies von selbst,d. h. spontan, nicht eintritt.In Abschnitt 1.1.13 haben wir vom 2. Gay-Lus-

sac’schen Versuch gesprochen und gesehen, dass einideales Gas von selbst, d. h. spontan, isotherm oh-ne Änderung der Inneren Energie ins Vakuum ex-pandiert. Dann würde es dem Ersten Hauptsatz auchnicht widersprechen, wenn sich das Gas spontan iso-therm und ohne Änderung der Inneren Energie wie-der auf ein kleineres Volumen zusammenzöge. Auchhier lehrt uns die Erfahrung, dass das nie der Fall ist.Hierher gehört natürlich auch die in Ab-

schnitt 1.1.17 (Abb. 1.1-14) diskutierte irreversible Ex-pansion eines idealen Gases gegen einen konstantenkleineren Außendruck oder die irreversible Kompres-sion des Gases durch einen größeren Außendruck.Im gleichen Abschnitt haben wir davon gesprochen,

dass durch Reibung Arbeit in Wärme umgewandeltwird. Ein Beispiel dafür ist auch der Joule’sche Ver-such zur Bestimmung desmechanischenWärmeäqui-valents: Ein absinkendes Gewichtsstück treibt über ei-ne aufgewickelte Schnur einen Rührer an, der sich ineinemmitWasser gefüllten Gefäß befindet. Durch dieReibungswärme erwärmt sich das Wasser. Der umge-kehrte, den Ersten Hauptsatz durchaus befriedigen-de Prozess, bei dem durch Abkühlung von Wasserein Rührer in Rotation versetzt und dadurch ein Ge-wichtsstück gehoben wird, tritt nach unserer Erfah-rung nie ein.Man fasst die zuerst genannten Beispiele (Tempe-

ratur- und Druckausgleich) unter dem Begriff Aus-

gleichsvorgänge, die zuletzt genannten (Reibungsvor-gänge, plastische Verformung) unter dem Begriff dis-sipative Vorgänge zusammen. Beide gehören zu densog. natürlichen Vorgängen, die unserer Erfahrungennach immer in einer bestimmten Richtung verlaufen.Das ist nicht auf die genannten, mehr dem Bereich derPhysik entnommenen Beispiele beschränkt. Es gilt ge-nauso für chemische Vorgänge: Wenn wir bei Raum-temperatur ein Gemisch von Wasserstoff und Sauer-stoff im Stoffmengenverhältnis 2 : 1 haben, so setztsich dies nach Zündung spontan praktisch quantitativzu Wasser um. Eine spontane Zersetzung von WasserinWasserstoff und Sauerstoff kann unter den gleichenBedingungen nicht beobachtet werden. Oder, um einanderes Beispiel zu nennen, beim Zusammenfügen ei-ner Chlorid-Ionen und einer Silber-Ionen enthalten-den Lösung fällt spontan Silberchlorid aus. Ein ent-gegengesetzt quantitativ verlaufender Prozess findetnicht statt.

Wir formulieren deshalb aufgrund unserer Erfah-rung: Alle in der Natur verlaufenden spontanenProzesse laufen stets in einer bestimmten Rich-tung ab. Dabei geht das System von einem definier-ten Anfangszustand in einen definierten Endzu-stand über. Dieser angestrebte Zustand muss der inAbschnitt 1.1.4 erläuterte Gleichgewichtszustandsein. In ihm kommt der spontane Prozess zum Still-stand. Durch infinitesimale Änderungen der Zu-standsgrößen kann der Prozess dann sowohl in dieeinewie auch indie andereRichtung gelenkt und je-derzeit rückgängig gemacht werden, ohne dass eineVeränderung in der Umgebung zurückbleibt (vgl.reversible isotherme oder adiabatische Expansionund Kompression in Abschnitt 1.1.17).

Für uns ist die Vorausberechnung der Richtung ei-nes spontanen Prozesses von großerWichtigkeit. Des-halb wollen wir die Überlegungen zunächst noch et-was quantitativer durchführen.Dazu betrachten wir noch einmal die Übertragung

einer bestimmten Wärmemenge QT2 von einem wär-meren Körper (A) auf einen kälteren (B) (Tab. 1.1-3).Diese Übertragung kann einmal (Fall a) reversibel,wie z. B. bei einem vollständig durchgeführten Car-not’schen Kreisprozess (unter gleichzeitiger Speiche-rung eines gewissen Arbeitsbetrages im Arbeitsspei-cher), erfolgen, ein andermal (Fall b) wie bei dem inAbschnitt 1.1.6 beschriebenenVersuch spontan durchWärmeleitung. Zu diesem Zweck verwenden wir ambesten einen kleinenWärmeüberträger, einen sog. Ka-lorifer. Er möge sich zunächst auf der Temperatur T2befinden. Wir bringen ihn in Kontakt mit dem wär-meren Körper A, wobei er sich auf dessen Tempera-

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331.1 Einführung in die chemische Thermodynamik

tur T1 erwärmt und dabei eine gewisse Wärmemen-ge aufnimmt. Dann überführen wir ihn in den kälte-ren Körper B, wobei er sich unter Abgabe der glei-chenWärmemengeQT2 wieder auf die Temperatur T2abkühlt. Infolge ihrer großenWärmekapazität änderndie Körper A und B ihre Temperatur bei dem Prozessnicht. In beiden Fällen können wir die WärmemengeQT2 vom kälteren Körper wieder auf den wärmerenübertragen, d. h. den kälteren Körper wieder in denAusgangszustand zurückbringen, indemwir eine Car-not-Maschine als Wärmepumpe benutzen, d. h. denCarnot’schen Prozess rückwärts ablaufen lassen. Da-zu müssen wir aus dem Arbeitsspeicher eine gewisseEnergiemenge entnehmen. Diese ist auf dem Hinwegwohl im Fall a zuvor an den Arbeitsspeicher abgege-ben worden, nicht aber im Fall b. Auch stellen wir fest,dass die auf den wärmeren Körper übertragene Wär-memenge QT1 wohl im Fall a, nicht aber im Fall b mitder übereinstimmt, die ihm auf dem Hinweg entnom-men worden war.Wir erkennen also, dass sich der kal-te Körper B in beiden Fällen auf den Ausgangszustandhat zurückbringen lassen, dass aber in der Umgebung(Arbeitsspeicher und Körper A) eine Veränderung zu-rückgeblieben ist, wenn wir uns auf dem Hinweg derspontanen Wärmeleitung bedient hatten. Die Verän-derung besteht in einem Plus an Wärmeenergie undeinem Minus an mechanischer Energie.Wir betrachten noch ein weiteres Beispiel, die Ex-

pansion eines idealen Gases. Wird sie isotherm (oderadiabatisch) und reversibel durchgeführt, dann wird,wie wir gesehen haben (Abschnitt 1.1.17), eine maxi-male Arbeit vom Arbeitsspeicher aufgenommen. Siereicht gerade aus, um in einer isothermen (oder adia-batischen) und reversiblen Kompression das Gas wie-der in den Ausgangszustand zurückzubringen. Lassenwir das Gas aber irreversibel, z. B. gegen einen kon-stanten, kleineren Außendruck ps, spontan expandie-ren, so ist die vomArbeitsspeicher aufgenommeneAr-beit kleiner als im reversiblen Fall. Die geringste Ar-beit, die gebraucht wird, um das Gas in den Ausgangs-zustand zurückzubringen, ist wieder die im reversi-blen Fall benötigte (vgl. Abb. 1.1-17). Sie ist größer alsdie bei der spontanen Expansion gewonnene. Bei demKreisprozess spontane Expansion – reversible Kom-pression weist die Umgebung (Arbeitsspeicher undThermostat) nach Abschluss des Prozesses eine blei-bende Veränderung auf (Verlust an Arbeit und Ge-winn an Wärme), wie aus Tab. 1.1-3 hervorgeht.Das Ergebnis ist bei allen spontanen Prozessen das

gleiche: Das System (im Fall der Wärmeleitung derKörper B, bei der Volumenarbeit das Arbeitsgas) lässtsich in den Ausgangszustand zurückbringen, dochbleiben dabei im Gegensatz zu reversiblen Prozes-sen immer irgendwelche Veränderungen in der Um-

gebung zurück. Alle spontanen Prozesse sind damit ir-reversibel. Sie führen stets zu einemVerlust annutzba-rer Arbeit und einem Gewinn vonWärme. Die Verän-derungen könnte man nur dann rückgängig machen,wenn es gelänge, Wärme unmittelbar, d. h. ohne sons-tige Veränderungen, in Arbeit zu verwandeln. Dieswäre die Umkehr des Joule’schen Versuches, von de-ren Unmöglichkeit wir bereits gesprochen haben.

Diese Erkenntnis wird im Zweiten Hauptsatz derThermodynamik ausgedrückt: „Es gibt keine peri-odisch funktionierende Maschine, die nichts ande-res tut, als Wärme in mechanische Arbeit zu ver-wandeln.“ Eine solcheMaschine, deren Funktionie-ren nicht gegen den Ersten Hauptsatz verstoßenwürde, bezeichnet man als Perpetuummobile zwei-ter Art. Man spricht deshalb auch von der „Unmög-lichkeit eines Perpetuum mobile zweiter Art“. Bei-de Formulierungen des Zweiten Hauptsatzes sindidentisch und gleichbedeutendmit derAussage, diewir am Ende dieses Abschnitts kennenlernen wer-den.

Die entscheidende Einsicht ist also die, dass man miteiner Wärmekraftmaschine prinzipiell nur dann ausWärmeenergie mechanische Energie erzeugen kann,wenn man gleichzeitig eine bestimmte Wärmemen-ge von hoher auf tiefe Temperatur befördert. Denthermischen Nutzeffekt oder Wirkungsgrad des Car-not’schen Kreisprozesses haben wir zu

η = |W ||Q1| = T1 − T2T1

(1.1-191)

bestimmt. Es erhebt sich jetzt natürlich die Frage, obman mit einem anderen Arbeitsstoff oder einer an-deren Wärmekraftmaschine eventuell einen höherenWirkungsgrad, d. h. ein größeres Verhältnis von ge-wonnener Arbeit zu der bei höherer Temperatur ent-zogenen Wärme, als mit der in Abschnitt 1.1.18 be-handelten Carnot-Maschine erreichen kann.Wir wollen einmal annehmen, es gäbe eine solche

Maschine. Dann könnten wir sie als Wärmekraftma-schine verwenden und mit ihr eine als Wärmepum-pe arbeitende Carnot-Maschine (mit einem idealenGas als Arbeitsgas) kombinieren. Die erste Maschinewürde dem wärmeren Reservoir eine WärmemengeQT1 entnehmen, dem Arbeitsspeicher eine Arbeit Wund dem kälteren Reservoir eineWärmemengeQT2 =QT1 − W zuführen. Die mit dem niedrigeren Wir-kungsgrad arbeitende Carnot-Maschine würde demkälteren Reservoir die Wärmemenge QT2 entnehmenund mit einem kleineren Arbeitsaufwand auf die hö-here Temperatur pumpen. Dabei würde eine gegen-über QT1 um die Differenz der Arbeitsbeträge ver-

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34 1 Einführung in die physikalisch-chemischen Betrachtungsweisen, Grundbegriffe und Arbeitstechniken

Tab. 1.1-3 Wärmeübertragung und Austausch von Wärme und Arbeit bei reversiblen und irreversiblen Prozessen.

1. Wärmeübertragung auf reversiblemWeg und durch Wärmeleitung.a) Hin- und Rückweg reversibel mit Carnot-Prozess.

warmer Körper A kalter Körper B ArbeitsspeicherT1 T2

Hinweg −QT1+QT2

+nR(T1−T2) ln(V2∕V1)Rückweg +QT1

−QT2−nR(T1−T2) ln(V2∕V1)

bleibende Veränderung 0 0 0

b) Hinweg durch Wärmeleitung, Rückweg wie beim Carnot-Prozess.

Hinweg −QT2+QT2

0Rückweg +QT1

−QT2−nR(T1 − T2) ln(V2∕V1)

bleibende Veränderung QT1− QT2

> 0 0 −nR(T1 − T2) ln(V2∕V1) < 0

2. Austausch von Arbeit undWärme durch isotherme Expansion und Kompression.a) Hin- und Rückweg reversibel.

Thermostat ideales Gas Arbeitsspeicher

Hinweg −Q = −nRT lnV2V1

+Q − nRT lnV2V1

= 0 +nRT ln(V2∕V1)

Rückweg +Q = +nRT lnV2V1

−Q + nRT lnV2V1

= 0 −nRT ln(V2∕V1)

bleibende Veränderung 0 0 0

b) Hinweg gegen ps = const., Rückweg reversibel.Thermostat ideales Gas Arbeitsspeicher

Hinweg −Q1 = −ps(V2 − V1) +Q1 − ps(V2 − V1) = 0 +ps(V2 − V1)

Rückweg +Q2 = nRT lnV2V1

−Q2 + nRT lnV2V1

= 0 −nRT lnV2V1

bleibende Veränderung nRT lnV2V1

− ps(V2 − V1) > 0 0 −nRT lnV2V1

+ ps(V2 − V1) < 0

minderte Wärmemenge in das wärmere Reservoir zu-rückfließen. Insgesamt würde von dieser kombinier-ten Maschine bei jedem Zyklus eine Wärmemenge inArbeit verwandelt, ohne dass sonstige Veränderungeneinträten. Das widerspricht aber dem Zweiten Haupt-satz.Es gibt also keine Wärmekraftmaschine, die einen

höheren Wirkungsgrad als eine reversibel arbeitendeCarnot-Maschine hat. Es gibt aber auch keine reversi-bel arbeitende Wärmekraftmaschine, die einen nied-rigeren Wirkungsgrad hat. Gäbe es sie, so könntenwir sie alsWärmepumpe gegen eine Carnot-Maschineschalten und mit dieser Kombination wie in dem so-eben geschilderten Beispiel Wärme vollständig in Ar-beit überführen.Wir können aus dieser Überlegung zwei Schlüsse

ziehen: Die nach

|Wrev| = QT1 T1 − T2T1

(1.1-194)

für einen reversibel durchgeführten Carnot’schenKreisprozess berechnete reversible Arbeit ist charak-teristisch für jede mit einem reversiblen KreisprozessarbeitendeWärmekraftmaschine. Da, wie wir bespro-chen haben, ein irreversibler Anteil im Kreisprozesseinen Arbeitsverlust bedeutet, stellt die durch einenreversiblenKreisprozess gewinnbare Arbeit dasMaxi-mum an nutzbarer Arbeit dar, das überhaupt gewon-nen werden kann.Wir wollen nun untersuchen, ob es eine Zustands-

funktion gibt, die sowohl über die Richtung eines ir-reversiblen Prozesses als auch über dasAusmaß der Ir-reversibilität etwas aussagt. Einige Eigenschaften die-ser Zustandsfunktion können wir voraussagen. Wie inder Mechanik führt auch in der Thermodynamik einspontaner Prozess zu einem Gleichgewichtszustand(vgl. Abschnitt 1.1.4). Die als Kriterium für die Ir-reversibilität dienende Zustandsfunktionmuss sich al-so durch den irreversiblen Prozess ändern und beimVorliegen eines Gleichgewichts im abgeschlossenen

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351.1 Einführung in die chemische Thermodynamik

System einen Extremwert besitzen. Da reversible Vor-gänge über lauter Gleichgewichtszustände verlaufen,müssen wir weiter fordern, dass diese Funktion beireversiblen Zustandsänderungen im abgeschlossenenSystem konstant bleibt.Uns bisher bekannte Zustandsfunktionen erfüllen

diese Forderungen nicht: Änderungen der InnerenEnergie oder der Enthalpie können bei spontan ver-laufenden chemischen Vorgängen sowohl negativ alsauch positiv (exotherme oder endotherme Reaktio-nen) oder gar null sein (2. Gay-Lussac’scher Versuch).Die Arbeit W ist keine Zustandsfunktion, wie schonein Blick auf Abb. 1.1-22 lehrt; denn, wenn wir beimCarnot-Prozess vom Ausgangszustand (p1 , V1, T1)zum Endzustand (p3 , V3, T2) einmal über die Schrit-te 1 und 2 (zuerst isotherm, dann adiabatisch) ge-hen, ein andermal über die Schritte 4 und 3 (zuerstadiabatisch, dann isotherm), so unterscheiden sichdie beiden gewonnenen Arbeitsbeträge gerade um diegrau gekennzeichnete Fläche. Ebensowenig wie dieArbeit sind die übergegangenen Wärmemengen Q ei-ne Zustandsfunktion, wie amgleichenBeispiel (s. auchTab. 1.1-2) deutlich wird.Andererseits lässt sich aus dem reversibel durch-

geführten Carnot’schen Kreisprozess doch eine füruns interessante Funktion ableiten.Wir betrachten an-hand vonTab. 1.1-2 noch einmal die während des Car-not’schen Kreisprozesses mit der Umgebung ausge-tauschten Wärmemengen, deren Verhältnis

−QT1QT2

=nRT1 ln(V2∕V1)nRT2 ln(V2∕V1)

=T1T2

(1.1-195)

allein von den Temperaturen abhängt, bei denen sieausgetauscht werden. Dividieren wir die Wärmemen-ge durch die Austauschtemperatur, so folgt

QT1T1

= nR lnV2V1

(1.1-196)

QT2T2

= nR lnV4V3

= −nR lnV2V1

(1.1-197)

und für die Summe über den gesamten Kreisprozess,da die adiabatischen Schritte nicht mit einemWärme-austausch verbunden sind,

◦∑rev

QT

=QT1T1

+QT2T2

= 0 (1.1-198)

Wir nennen die Funktion Q/T reduzierte Wärmeund können formulieren: Beim reversiblen Car-not’schen Kreisprozess ist die Summe der reduzier-ten Wärmen null.

Damit erfüllt die reduzierte Wärme, zunächst für denCarnot’schen Kreisprozess, eine der gestellten For-derungen, die Konstanz der Funktion bei einem re-versiblen Kreisprozess. Wenn Q∕T eine Zustands-funktion ist, so muss ihre Änderung unabhängig vomWeg sein. Wir berechnen deshalb die Änderung vonQ∕T , die auftritt, wenn wir beim Carnot’schen Pro-zess (Abb. 1.1-22) einmal auf dem Wege 1–2, ein an-dermal auf dem Wege 4–3 vom Zustand p1 , V1, T1zum Zustand p3, V3, T2 gehen. Da die beiden reversi-blen adiabatischen Prozesse 2 bzw. 4 nicht mit einemWärmeaustausch verknüpft sind, ist∑

1+2rev

Q∕T = nR lnV2V1

(1.1-199)

∑3+4rev

Q∕T = nR lnV3V4

= nR lnV2V1

(1.1-200)

Auf den beiden Wegen, die sowohl eine Volumen- alsauch eine Temperaturänderung beinhalten, ist die Än-derung von Q∕T dieselbe, wie wir es von einer Zu-standsfunktion erwarten müssen.Wirwollen nunnoch prüfen, was sich für

∑Q∕T er-

gibt, wenn wir den Kreisprozess nicht reversibel, son-dern irreversibel durchführen. Wir erinnern uns, dassnach unseren Überlegungen zu Tab. 1.1-3 eine Wär-meübertragung durch Wärmeleitung einen irreversi-blen Vorgang darstellt. Deshalb modifizieren wir un-seren Kreisprozess gegenüber Abb. 1.1-22 dahinge-hend, dass wir die reversiblen adiabatischen Prozesse2 und 4 durch irreversible, isochore Wärmeleitungs-prozesse ersetzen. Es gilt dann V2 = V3 und V4 = V1,und die Adiabaten werden durch senkrechte Geradenersetzt. Praktisch wäre der Prozess so durchzuführen,dass wir nach der reversiblen isothermen Expansionbei T1 das Gas in Kontakt mit dem Thermostaten mitder Temperatur T2 bringen, so dass es sich bei kon-stantem V2 auf T2 abkühlt. Nach der reversiblen iso-thermen Kompression bei T2 müsste es dann durchKontakt mit dem wärmeren Thermostaten bei kon-stantem V4 auf T1 erwärmt werden. Bei den irreversi-blen Schritten würde eineWärmemenge ncv(T2 −T1)bzw. ncv(T1 − T2) ausgetauscht werden. An Stelle vonGl. (1.1-198) ergäbe sich dann für die bei dem gesam-ten, jetzt teilweise irreversiblen Kreisprozess ausge-tauschten reduzierten Wärmen unter Beachtung vonT1 > T2

◦∑irr

QT

=QT1T1

+ncv(T2 − T1)

T2+QT2T2

+ncv(T1 − T2)

T1

◦∑irr

QT

= ncv(T1 − T2) ⋅(

1T1

− 1T2

)(1.1-201)

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36 1 Einführung in die physikalisch-chemischen Betrachtungsweisen, Grundbegriffe und Arbeitstechniken

Abb. 1.1-24 Zur Aufteilung eines beliebigen Kreisprozesses ineine Summe von Carnot-Prozessen.

Dieses Ergebnis ist unabhängig davon, ob wir den Pro-zess im Uhrzeigersinn oder entgegen dem Uhrzeiger-sinn ablaufen lassen. Wir erkennen also, dass Q∕Tauch die dritte Forderung erfüllt, sich bei einem ir-reversiblen Prozess in einer bestimmten Richtung zuändern. Je größer das Ausmaß der Irreversibilität ist,desto negativer ist die Summe. Damit gibt uns dieFunktion Q∕T auch eine quantitative Beschreibungder Irreversibilität.Die bisherigen Überlegungen bezogen sich nur auf

den Carnot’schen Kreisprozess. Abb. 1.1-24 zeigt unsjedoch, dass jeder beliebige Kreisprozess als eine Sum-me vieler Carnot’scher Kreisprozesse aufgefasst wer-den kann. Wir müssen die isothermen und adiaba-tischen Schritte nur klein genug machen, dann fällt,wie wir aus Abb. 1.1-24 erkennen, die den beliebigenKreisprozess darstellende Kurve mit der äußeren Um-randung der eingezeichnetenCarnot-Prozesse zusam-men. Alle Linien im Innern werden zweimal mit ein-ander entgegengesetzten Vorzeichen durchlaufen. Diezugehörigen Effekte heben sich also auf. Bei dieser all-gemeinen Betrachtung gehenwir allerdings zweckmä-ßigerweise von der Summation zur Integration überund erhalten für Gl. (1.1-198) und Gl. (1.1-201)

∮dQrevT

= 0 (1.1-202)

bzw.

∮dQirrT

< 0 (1.1-203)

Wir wollen an dieser Stelle eine neue Funktion ein-führen, die Entropie. Clausius hat sie wie folgt defi-niert:

dQrevT

= dS (1.1-204)

DerBegriff Entropie leitet sich vomgriechischen tropé(=Wendung, Umkehr) und entrépein (= umwenden,

umkehren, eine Richtung geben) ab. Er drückt also ge-nau die Eigenschaft aus, die wir von der gesuchtenZustandsfunktion verlangt und bei den reduziertenWärmen gefunden haben. Es ist ganz wesentlich, dassdie Entropie über die reversibel ausgetauschteWärme-menge definiert ist. Mit den Eigenschaften der Entro-pie werden wir uns detailliert im nächsten Abschnittbeschäftigen.Geht ein System isotherm und irreversibel vom Zu-

stand 1 in den Zustand 2 über und wird es dannisotherm und reversibel in den Zustand 1 zurück-gebracht, so gilt mit Gl. (1.1-201) für den gesamtenKreisprozess

∮irr

dQT

=2

∫1

dQirrT

+1

∫2

dQrevT

< 0 (1.1-205)

Dafür lässt sich mit Gl. (1.1-204) schreiben2

∫1

dQirrT

+1

∫2

dS < 0 (1.1-206)

oder2

∫1

dQirrT

<

2

∫1

dS (1.1-207)

2

∫1

dQirrT

< S2 − S1 (1.1-208)

In einem abgeschlossenen System muss dQ = 0 sein.Deshalb gilt allgemein für eine spontane Zustandsän-derung in einem abgeschlossenen System

S2 − S1 > 0 (1.1-209)

für eine reversible Zustandsänderung im abgeschlos-senen System folgt unmittelbar aus Gl. (1.1-204)

S2 − S1 = 0 (1.1-210)

Der Fall

S2 − S1 < 0 (1.1-211)

kann in einem abgeschlossenen System nicht auftre-ten. Mit S2 − S1 haben wir dabei die beim ÜbergangvomZustand 1 in den Zustand 2 auftretende Entropie-änderung symbolisiert. Die Gl. (1.1-209) und (1.1-210)erlauben es also, zu erkennen, ob in einem abgeschlos-senen System Gleichgewicht herrscht und, wenn diesnicht der Fall ist, in welcher Richtung ein spontanerProzess abläuft. Diese Erkenntnis formulieren wir als

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371.1 Einführung in die chemische Thermodynamik

Zweiten Hauptsatz der Thermodynamik: Hat dieEntropie eines abgeschlossenen Systems zu einembestimmtenZeitpunkt einen bestimmtenWert undtreten späterhin Zustandsänderungen auf, so bleibtdie Entropie dabei konstant, sofern es sich um re-versible Zustandsänderungen handelt; sie nimmtaber zu, sobald die Zustandsänderung auch nur ei-nen irreversiblen Teilschritt enthält.

Auf den ersten Blick scheinen die verschiedenen For-mulierungen, die wir für den Zweiten Hauptsatz derThermodynamik kennengelernt haben, keinen unmit-telbaren Zusammenhang miteinander zu haben. Be-achtenwir aber dieHerleitungen und Erklärungen, diewir gegeben haben, so erkennen wir, dass die Erkennt-nisse, die wir aus dem Carnot’schen Kreisprozess ge-wonnen haben, das Bindeglied zwischen den Formu-lierungen liefern. In der Physikalischen Chemie inter-essieren uns die Zustandsänderungen weit mehr alsdie Unmöglichkeit des Perpetuummobile zweiter Art.Wir werden deshalb im Folgenden die Formulierungmithilfe der Entropie verwenden.

1.1.20 Die Entropie

Um die Eigenschaften und die Bedeutung der Zu-standsfunktion Entropie besser zu verstehen, wollenwir die Entropieänderung in einem abgeschlossenenSystem bei einem reversiblen und einem teilweise ir-reversiblen Kreisprozess untersuchen. Dabei greifenwir wieder auf die isotherme Expansion und Kom-pression eines idealen Gases zurück. Wir betrachtendie Entropieänderungen im Gas und in der Umge-bung (Thermostat und Arbeitsspeicher), die zusam-men ein abgeschlossenes System wie in Abb. 1.1-13abilden.

Bei isothermen und reversiblen Expansionen bzw.Kompressionen ist nach Gl. (1.1-173)

±Qrev = ∓WVol = ±nRT ln(V2∕V1) (1.1-212)

Die dabei eintretende Entropieänderung ist also

S2 − S1 =±QrevT

= ±nR ln(V2∕V1) (1.1-213)

In Tab. 1.1-4 sind zunächst die Entropieänderungenfür einen Kreisprozess aufgeführt, der aus einer iso-thermen reversiblen Expansion und einer isothermenreversiblen Kompression des idealen Gases besteht.Bei beiden Schritten wird zwischen dem Gas und derUmgebung eineWärmemenge Qrev ausgetauscht. Dernach Gl. (1.1-213) berechenbaren EntropiezunahmedesGases entspricht eine gleich große Entropieabnah-me der Umgebung und umgekehrt, so dass im abge-schlossenen System weder bei den einzelnen Schrit-ten noch im gesamten Kreisprozess eine Entropieän-derung auftritt.Ganz anders liegen die Verhältnisse, wenn zunächst

eine irreversible Expansion desGases ins Vakuumvor-genommen wird. Für einen irreversiblen Prozess istnach Gl. (1.1-204) die Entropieänderung nicht aus Qberechenbar, da die Definition der Entropie sich aufdie reversibel ausgetauschte Wärmemenge bezieht.Andererseits ist die Entropie eine Zustandsgröße undals solche vom Weg unabhängig. Das bedeutet, dassdie Entropieänderung, die das Gas bei der irreversi-blen Expansion von einem bestimmten Ausgangszu-stand in einen bestimmten Endzustand erleidet, ge-nauso groß sein muss wie diejenige, die es bei einerreversiblen Expansion vomgleichenAusgangszustandin den gleichen Endzustand erleiden würde. Für das

Tab. 1.1-4 Entropieänderungen im abgeschlossenen System bei isothermem reversiblem und teilweise irreversiblemKreisprozess.

a) Hin- und Rückweg reversibelSchritt/Änderung von SGas SUmgebung Sabg. System

isoth. rev. Expansion +nR ln(V2∕V1) −nR ln(V2∕V1) 0isoth. rev. Kompression −nR ln(V2∕V1) +nR ln(V2∕V1) 0revers. Kreisprozess 0 0 0

b) Hinweg irreversibel, Rückweg reversibel

isoth. irr. Expansion ins Vakuum +nR ln(V2∕V1) 0 +nR ln(V2∕V1)isoth. rev. Kompression −nR ln(V2∕V1) +nR ln(V2∕V1) 0teilw. irr. Kreisprozess 0 +nR ln(V2∕V1) +nR ln(V2∕V1)

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38 1 Einführung in die physikalisch-chemischen Betrachtungsweisen, Grundbegriffe und Arbeitstechniken

Gas muss also gelten

(S2− S1)gasirr = (S2− S1)

gasrev = nR ln(V2∕V1) (1.1-214)

Da bei der irreversiblen Expansion des Gases ins Va-kuum keine Wärmemenge zwischen Gas und Umge-bung ausgetauscht worden ist, ist bei diesem Prozessin der Umgebung überhaupt keine Veränderung ein-getreten, die Entropieänderung also gleich null. DieEntropie des abgeschlossenen Systems hat demnachbei diesem irreversiblen Schritt um nR ln(V2∕V1) zu-genommen. Komprimieren wir das Gas im zweitenSchritt nun wieder isotherm und reversibel bis zumAusgangszustand p1, V1, T , so gilt dafür das gleichewie im oberen Teil von Tab. 1.1-4. Der gesamte, teil-weise irreversible Kreisprozess führt also zu einer Zu-nahme der Entropie der Umgebung und damit des ab-geschlossenen Systems.Die Entropie muss sich, da sie eine Zustandsfunkti-

on ist, als totales Differential darstellen lassen. Dabeikönnen wir, wenn wir uns zunächst auf reine Phasenin einem geschlossenen System beschränken, entwe-der ihre Abhängigkeit von T und V oder von T und pbetrachten. In beiden Fällen gehen wir von der Defini-tionsgleichung Gl. (1.1-204) aus:

dS =dQrevT

=(𝜕S𝜕T

)VdT +

(𝜕S𝜕V

)TdV (1.1-215)

dS =dQrevT

=(𝜕S𝜕T

)pdT +

(𝜕S𝜕p

)Td p (1.1-216)

Die reversibel mit der Umgebung ausgetauschte Wär-memenge können wir nun nach dem 1. Hauptsatzdurch die Innere Energie oder die Enthalpie und dieVolumenarbeit substituieren

dS =dU + p dV

T= 1T

[(𝜕U𝜕T

)VdT +

(𝜕U𝜕V

)TdV + p dV

](1.1-217)

dS =dH − V d p

T

= 1T

[(𝜕H𝜕T

)pdT +

(𝜕H𝜕p

)Td p − V d p

](1.1-218)

wofür wir auch schreiben können

dS =CvT

dT + 1T

[(𝜕U𝜕V

)T+ p]dV (1.1-219)

dS =CpT

dT + 1T

[(𝜕H𝜕p

)T− V]d p (1.1-220)

Die beiden letzten Gleichungen können wir noch we-sentlich vereinfachen, wenn wir bedenken, dass dievor dT , dV und d p stehenden Faktoren partielle Dif-ferentialquotienten sind, die nach einer nochmaligenAbleitung dem Schwarz’schen Satz gehorchen müs-sen. Im Einzelnen muss gelten(

𝜕S𝜕T

)V=CvT

(1.1-221)

(𝜕S𝜕T

)p=CpT

(1.1-222)

(𝜕S𝜕V

)T= 1T

[(𝜕U𝜕V

)T+ p]

(1.1-223)

(𝜕S𝜕p

)T= 1T

[(𝜕H𝜕p

)T− V]

(1.1-224)

𝜕2S𝜕T𝜕V

= 𝜕2S𝜕V𝜕T

(1.1-225)

also auch

𝜕2S𝜕T𝜕p

= 𝜕2S𝜕p𝜕T

(1.1-226)

Somit folgt aus der Kombination von Gl. (1.1-221) mitGl. (1.1-223) bzw. von Gl. (1.1-222) mit Gl. (1.1-224)

1T

⋅(𝜕Cv𝜕V

)T= 1T

𝜕2U𝜕V𝜕T

+ 1T

(𝜕p𝜕T

)V

− 1T2

[(𝜕U𝜕V

)T+ p]

(1.1-227)

1T

⋅(𝜕Cp

𝜕p

)T= 1T

𝜕2H𝜕p𝜕T

− 1T

(𝜕V𝜕T

)p

− 1T2

[(𝜕H𝜕p

)T− V]

(1.1-228)

Das jeweils ersteGlied auf der rechten Seite ist wieder-um nach dem Schwarz’schen Satz mit der linken Seiteder Gleichung identisch, so dass uns Gl. (1.1-227) dieMöglichkeit gibt, den bereits in Abschnitt 1.1.13 er-wähnten

Inneren Druck Π

Π ≡ (𝜕U𝜕V

)T= T ⋅

(𝜕p𝜕T

)V− p (1.1-229)

zu berechnen,

während uns Gl. (1.1-228)

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391.1 Einführung in die chemische Thermodynamik

den isothermen Drosseleffekt ε,

ε ≡(𝜕h𝜕p

)T= v − T ⋅

(𝜕v𝜕T

)p

(1.1-230)

(vgl. Abschnitt 1.1.13) liefert, wobei wir in Analogie zuGl. (1.1-114) molare Größen verwendet haben. Damithaben wir zunächst die bereits früher als Gl. (1.1-102)und Gl. (1.1-114) verwendeten Ausdrücke für den In-neren Druck und den isothermen Drosseleffekt abge-leitet.Substituieren wir diese Ausdrücke in Gl. (1.1-219)

und (1.1-220), so erhalten wir

dS =CvT

dT +(𝜕p𝜕T

)VdV (1.1-231)

dS =CpT

dT −(𝜕V𝜕T

)pd p (1.1-232)

Da nach Gl. (1.1-57)

(𝜕p𝜕T

)V= −

(𝜕V𝜕T

)p(

𝜕V𝜕p

)T

= ακ

(1.1-233)

und nach Gl. (1.1-58)(𝜕V𝜕T

)p= V ⋅ α (1.1-234)

ist, folgt aus Gl. (1.1-231) und (1.1-232)

dS =CvT

dT + ακdV (1.1-235)

dS =CpT

dT − V ⋅ α d p (1.1-236)

Aus diesen Gleichungen erkennen wir, dass die Ab-hängigkeit der Entropie von Temperatur, Volumenund Druck durch sehr einfache Beziehungen gegebenist. Zu ihrer Berechnung benötigen wir lediglich dieWärmekapazitäten, den thermischen Ausdehnungs-koeffizienten und den Kompressibilitätskoeffizienten.Bis hierher haben wir keinerlei spezielle Annahmen

gemacht, die Gleichungen gelten allgemein. Wen-den wir uns nun aber wieder dem Spezialfall ei-nes idealen Gases zu. Unter Berücksichtigung vonGl. (1.1-49) bzw. (1.1-55) ergibt sich aus Gl. (1.1-231)und Gl. (1.1-232) unmittelbar

für ein ideales Gas

dS = ncv d lnT + nR d lnV (1.1-237)

dS = ncp d lnT − nR d ln p (1.1-238)

Unter der Voraussetzung, dass die molarenWärmeka-pazitäten innerhalb des betrachteten Temperaturbe-reiches als temperaturunabhängig angesehen werdenkönnen, erhalten wir durch Integration als Entropie-änderung S2 − S1 beim Übergang von einem Zustand1 in einen Zustand 2 wiederum nur

für ein ideales Gas

S2 − S1 = ncv lnT2T1

+ nR lnV2V1

(1.1-239)

S2 − S1 = ncp lnT2T1

− nR lnp2p1

(1.1-240)

Im Zustand 1 ist das System durch T1, p1, V1, n cha-rakterisiert, im Zustand 2 durch T2, p2, V2, n, da dieStoffmenge n bei der Zustandsänderung 1 → 2 nichtverändert werden soll. Damit folgt aus dem idealenGasgesetz, Gl. (1.1-49),

p2p1

=v1T2v2T1

(1.1-241)

so dass bei Substitution dieses Ausdruckes inGl. (1.1-111) die Gl. (1.1-240) mit Gl. (1.1-239) iden-tisch wird. Dies Ergebnis war von vornherein zu er-warten, da die Änderung der Zustandsfunktion En-tropie vomWeg unabhängig sein muss.Für kondensierte Phasen ist wegen der geringen

Größe des thermischen Ausdehnungskoeffizienten αim Allgemeinen die Druckabhängigkeit der Entropiegegenüber der Temperaturabhängigkeit zu vernach-lässigen, so dass aus Gl. (1.1-236)

dS =CpT

dT (1.1-242)

resultiert, eine Gleichung, die bei Kenntnis der Tem-peraturabhängigkeit der Wärmekapazität Cp die Be-rechnung der Entropie nach

ST = ST=0 +T

∫0

Cp d ln(TK

)(1.1-243)

ermöglicht.Wir werden später (Abschnitt 2.4) auf die-se Gleichung noch zurückkommen.Erweitern wir wie in Abschnitt 1.1.14 unsere Be-

trachtung auf geschlossene Systeme, in denen Pha-senänderungen oder chemische Reaktionen vonstat-ten gehen können, so tritt noch die Abhängigkeitder Entropie von den Stoffmengen bzw. der Reak-tionslaufzahl hinzu. Entsprechend den Gl. (1.1-129)bzw. (1.1-131) gilt dann anstelle von Gl. (1.1-215) und

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40 1 Einführung in die physikalisch-chemischen Betrachtungsweisen, Grundbegriffe und Arbeitstechniken

Gl. (1.1-216)

dS =(𝜕S𝜕T

)ξ ,V

dT +(𝜕S𝜕V

)ξ ,T

dV +(𝜕S𝜕ξ

)T,V

(1.1-244)

dS =(𝜕S𝜕T

)ξ ,p

dT +(𝜕S𝜕p

)ξ ,T

d p +(𝜕S𝜕ξ

)T,p

(1.1-245)

Den partiellen Differentialquotienten der Entropienach der Reaktionslaufzahl bezeichnen wir analog zuunserem Vorgehen in Abschnitt 1.1.14 als Umwand-lungs- oder Reaktionsentropie, wobei im Allgemeinender Ausdruck für isobares Arbeiten interessiert:(

𝜕S𝜕ξ

)T,p

= ΔS (1.1-246)

Selbstverständlich gelten wieder die den Gl. (1.1-139)bis (1.1-143) entsprechenden Beziehungen, insbeson-dere (

𝜕S𝜕ξ

)T,p

= ΔS =k∑1νisi (1.1-247)

mit den stöchiometrischen Faktoren νi und denmola-ren Entropien si .Phasenumwandlungen können wir leicht reversibel

durchführen. Da andererseits bei Phasenumwandlun-gen Arbeit mit der Umgebung nur in Form von Volu-menarbeit ausgetauscht werden kann, könnenwir ent-sprechend Gl. (1.1-218) schreiben

dSU =dQrevTU

=dHU − V d p

TU(1.1-248)

und für den Fall einer isobaren und isothermen Pha-senumwandlung

dSU =dHUTU

(1.1-249)

oder nach ξ differenziert

ΔSU =ΔHUTU

(1.1-250)

Chemische Reaktionen verlaufen im Allgemeinen ir-reversibel. Da dS nur mit der reversibel ausgetausch-tenWärmemenge berechnetwerdenkann, könnenwir

imAllgemeinen Fall bei chemischen Reaktionen keineGl. (1.1-248) analoge Beziehung aufstellen. Umdie Re-aktionsentropie berechnen zu können, müssen wir ei-ne besondere Reaktionsführung wählen, ein Problem,auf das wir später zurückkommen werden.Die Einführung der Entropie ergibt sich aus den

in Abschnitt 1.1.19 dargelegten Gründen. Alle weite-ren Überlegungen und Ableitungen folgten aufgrundeinfacher mathematischer Beziehungen. Dadurch istdieser letzte Abschnitt sehr abstrakt, es fehlt das fürden Chemiker so wesentliche, anschauliche Modell.Wir wollen deshalb an dieser Stelle die Einführung indie thermodynamische Arbeitsund Betrachtungswei-se abbrechen und uns zunächst einigen anderen Be-trachtungsweisen des Physikochemikers zuwenden,die uns von ganz anderer Seite ebenfalls auf den Be-griff der Entropie führen werden.

1.1.21 Kernpunkte des Abschnitts 1.1

✓⃞ Volumenarbeit, Gl. (1.1-7), Abschnitt 1.1.5✓⃞ Nullter Hauptsatz, Abschnitt 1.1.6Isotherme und adiabatische Prozesse, Abschnitt 1.1.8Thermische Zustandsgleichung, Abschnitt 1.1.10✓⃞ Ideales Gasgesetz, Gl. (1.1-49)✓⃞ Partielle Differentialquotienten, Gl. (1.1-58) bis

(1.1-60)✓⃞ Erster Hauptsatz der Thermodynamik,

Gl. (1.1-69)✓⃞ Innere Energie, kalorische Zustandsgleichung,

Gl. (1.1-71)✓⃞ Enthalpie, Gl. (1.1-79)✓⃞ Wärmekapazität Gl. (1.1-90/1.1-91)✓⃞ Innerer Druck, Gl. (1.1-101)✓⃞ Schwarz’scher Satz, Gl. (1.1-112)✓⃞ Stöchiometrischer Faktor, Gl. (1.1-123)✓⃞ Reaktionslaufzahl, Gl. (1.1-126)✓⃞ Reaktionsenergie, -enthalpie,

Gl. (1.1-142/1.1-143)✓⃞ Umwandlungsenergie, -enthalpie, Gl. (1.1-148)Hess’scher Satz, Abschnitt 1.1.15Standard-Bildungsenthalpie, Abschnitt 1.1.16✓⃞ Reversibilität, Irreversibilität, Abschnitt 1.1.17Carnot’scher Kreisprozess, Abschnitt 1.1.18Zweiter Hauptsatz der Thermodynamik,Abschnitt 1.1.19

✓⃞ Entropie, Gl. (1.1-204), Abschnitt 1.1.19✓⃞ Reaktions- und Umwandlungsentropien,

Gl. (1.1-247/1.1-250), Abschnitt 1.1.20

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411.1 Einführung in die chemische Thermodynamik

1.1.22 Rechenbeispiele zu Abschnitt 1.1

1 Ein Becherglas sei zur Hälfte mit reinem Wassergefüllt.Man gibt 4 Kochsalzkristalle hinzu, die so großsind, dass sich keiner von ihnen trotz intensiven Rüh-rens vollständig auflöst. Des Weiteren wirft man ei-nen 1 cm3 großen Kupferwürfel und eine ebenso gro-ße Kupferkugel in das Wasser. Das Ganze deckt manmit einem Uhrglas ab.Aus wie vielen Phasen besteht das in dem verschlosse-nen Becherglas vorliegende System?Beschreiben Sie die einzelnen Phasen!

2 Ein Dewar-Gefäß ist mit 1.00 dm3 Wasser gefüllt.Führtmandurch elektrischesHeizen (Tauchsieder) ei-ne Energie von 1.00 kJ zu, so stellt man eine Tempera-turerhöhung um 0.21K fest. Welche Wärmekapazitäthat das Dewar-Gefäß? Welche Temperatur stellt sichein, wenn man in das zunächst auf T = 298.51K be-findliche Wasser einen auf 470.00K aufgeheizten Ei-senwürfel von 5 cm Kantenlänge fallen lässt? ρ(Fe) =7.87 g cm−3, cv(Fe) = 25.08 Jmol−1 K−1.

3 Ein Kolben mit dem Volumen V ist mit einemzweiten, doppelt so großen verbunden. In den Kol-ben befindet sich Argon. Tauchtman das gesamte Sys-tem in eine Eis-Wasser-Mischung, so misst man einenDruck von 1.0 bar.Welcher Druck stellt sich ein, wennder größere der Kolben in der Eis-Wasser-Mischungverbleibt, während der kleinere in siedendes Wassergetaucht wird?

4 Ein Kolben mit einem Volumen von 1.00 dm3 sollsomit Benzoldampf gefüllt werden, dass derDruck bei400K0.10 bar beträgt.Wie viel g flüssigesBenzolmüs-sen dazu eingewogen werden?

5 Eine organische Substanz enthält die Elemente C,H undO imAtomverhältnis 2 : 4 : 1.WelcheBruttofor-mel besitzt die Verbindung, wenn 0.176 g dieser Sub-stanz bei 0.960 bar und 373K im Dampfzustand einVolumen von 64.5 cm3 einnehmen?

6 Stellen die Ausdrücke

a) dz = (8x y3 + 24x3 y3) dx + (12x2 y2 + 18x4 y2) dyund

b) dz = (6x y2 + 6x2 y3)dx + (6x2 y + 6x3 y3) dy

totale Differentiale dar?

7 Man weise nach, dass dv = Rp dT − RT

p2 d p für denFall eines idealen Gases ein totales Differential ist.

8 Ein Gasgemisch bestehe aus drei Komponenten.DerMolenbruch der Komponente A betrage 0.30. DieKomponente B habe einen Partialdruck von 0.25 bar.Die Komponente C sei Stickstoff. Wieviel g Stick-stoff enthält das Gasgemisch, wenn der Gesamtdruck

1.00 bar, das Gesamtvolumen 1m3 und die Tempera-tur 298K betragen?

9 Die Temperaturabhängigkeit der molaren Wär-mekapazität cp des Stickstoffs lässt sich darstel-len durch cp = (27.27 + 5.22 ⋅ 10−3 T∕K − 0.0042 ⋅10−6 T2∕K2) J K−1 mol−1. Man berechne, um welchenBetrag die molare Innere Energie des Stickstoffs zu-nimmt, wenn seine Temperatur bei konstantem Volu-men von 273K auf 1273K erhöht wird. Welche Wär-memenge muss dem Gas dabei zugeführt werden?

10 Die Verbrennungsenthalpie des Benzols beträgt3.3 ⋅ 106 Jmol−1. Welche Temperatur nimmt ein Ben-zol-Luft-Gemisch an, wenn das Benzol völlig ver-brennt, doppelt soviel Luft, wie zur Verbrennung not-wendig ist, vorlag und die Ausgangstemperatur 373Kbetrug? Als mittlere molare Wärmekapazität neh-me man an: cp(N2) = 3.5 R, cp(H2O) = 4.2 R undcp(CO2) = 5 R, cp(O2) = 3.75 R.

11 Ist der Unterschied zwischen der Reaktionsen-thalpie und der Reaktionsenergie bei der Wassergas-reaktion (H2O + CO → H2 + CO2) oder bei der Bil-dung des Ammoniaks

(12N2 +

32H2 → NH3

)größer?

Begründung.

12 Bei 273K beträgt die Reaktionsenthalpie für dieReaktion

3H2 +N2 → 2NH3 − 91.66 kJmol−1 .

Wie groß ist die Reaktionsenthalpie bei 473K, wennin dem betrachteten Temperaturbereich

cp(N2) =(27.27 + 5.22 ⋅ 10−3T

K

−0.0042 ⋅ 10−6T2

K2

)J K−1 mol−1

cp(H2) =(29.04 − 0.836 ⋅ 10−3T

K

+2.01 ⋅ 10−6T2

K2

)J K−1 mol−1

cp(NH3) =(25.87 + 32.55 ⋅ 10−3T

K

−3.04 ⋅ 10−6T2

K2

)J K−1 mol−1

ist?

13 Man weise nach, dass ΔUT2 = ΔUT1 +∫ T2T1 ΔCV dT ist.

14 Die Standard-Bildungsenthalpie des Ethins be-trägt 226.5 kJmol−1. Wie groß ist seine atomare Bil-dungsenthalpie, d. h. die Bildungsenthalpie des Ethinsaus den Atomen, wenn die Sublimationsenthalpie des

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42 1 Einführung in die physikalisch-chemischen Betrachtungsweisen, Grundbegriffe und Arbeitstechniken

Kohlenstoffs 717.7 kJmol−1, die Dissoziationsenthal-pie des Wasserstoffs 435.5 kJmol−1 beträgt?

15 In einer kalorimetrischen Bombe beobachteteman bei der Verbrennung von 700mg Benzoesäurebei 298K eine Temperaturerhöhung, die 61.6 % der-jenigen betrug, die man bei Zufuhr von 30.0 kJ elek-trischer Energie feststellte. Wie groß ist die Standard-Bildungsenergie der Benzoesäure, wenn die Stan-dard-Bildungsenergien vonWasser und Kohlendioxid−286.0 kJmol−1 bzw. −393.5 kJmol−1 sind?

16 Ein Mol eines idealen Gases nehme bei 273 Kein Volumen von 11.2 dm3 ein. Es wird isotherm undreversibel auf das doppelte Volumen expandiert. An-schließend wird es, wie in Abb. 1.1-17b angegeben,in sechs Schritten auf das Ausgangsvolumen kompri-miert, indem stufenweise der äußere Druck so starkerhöht wird, dass die einzelnen Volumenabnahmeneinander gleich sind. Welche Arbeit muss für den ge-samten Kreisprozess dem Arbeitsspeicher entnom-men werden?

17 Ein Mol eines einatomigen, idealen Gases (cv =12.47 J K−1 mol−1) wird folgendem Kreisprozess un-terworfen. Ausgehend von pA = 1.0 bar, TA = 273K:1. reversible adiabatische Expansion auf das doppel-te Volumen; 2. isochore Erwärmung auf TA; 3. iso-therme, reversible Kompression auf VA. Welche Ar-beit wird bei dem Kreisprozess dem Arbeitsspeicherzugeführt oder entnommen? Bei welchem Teilprozesserfolgt ein Energieaustausch mit der Umgebung, wiegroß ist dieser?

18 Mit einem Mol eines idealen, einatomigen Ga-ses (cv = 12.47 J K−1 mol−1) wird, ausgehend vom Zu-stand VA = 24.4 dm3, TA = 298K, folgender Kreis-prozess durchgeführt: 1. isochore Erwärmung auf diedoppelte Temperatur; 2. isobare Abkühlung auf TA;3. isotherme reversible Expansion auf VA. Man stelleden Kreisprozess im V, T-, p, T- und p, V -Diagrammdar und vervollständige die beiden Tabellen.

Zustandp

barV

dm3

TK

123

SchrittQJ

WJ

UE − UA

J

HE − HA

J

1 → 22 → 33 → 1Kreisprozess

19 Man vergleiche den theoretischen Wirkungsgradzweier Dampfmaschinen, von denen die eine beimSiedepunkt desWassers unter 1.0 bar, die andere beimSiedepunkt des Wassers unter 20.3 bar (485K) arbei-tet. Bei beidenMaschinen betrage die Kühlertempera-tur 300K. Welche Wärmemenge muss in den beidenFällen dem heißen Reservoir entnommen werden, umeine Arbeit von 1.0 kJ zu leisten?

20 Ein Kühlschrank, dessen Wirkungsgrad 40% desidealenWirkungsgrades betragen möge, habe eine In-nentemperatur von 273K. Die Raumtemperatur be-trage 293K. Man berechne, welche Energie erforder-lich ist, um 1 kg Wasser von 273K in Eis zu verwan-deln, wenn die Schmelzenthalpie 6.0 kJmol−1 beträgt.Wie muss der Wirkungsgrad für den Kühlschrank ab-weichend von Gl. (1.1-191) definiert werden? Wel-cheWärmemenge wird während des Prozesses an dasZimmer abgegeben?

21 Eine Gaskältemaschine, die nach dem Stirling-Prinzip arbeitet, unterscheidet sich von einer nachdem Carnot-Prozess arbeitenden dadurch, dass dieadiabatischen Prozesse durch isochore ersetzt werden,bei denen ein Wärmeaustauscher die entsprechendeWärmemenge aufnimmt bzw. abgibt. Man stelle denStirling-Prozess im p, V- und im T , V -Diagramm darund vervollständige die Tabelle durch Einsetzen derberechneten Energien.

Prozess (UE − UA)Gas warmerTher-mostat

Wärme-austau-scher

kalterTher-mostat

Arbeits-speicher

isothermeExpansionisochoreErwär-mungisothermeKompressi-onisochoreAbkühlungKreisprozess

22 Man erläutere, weshalb kein Widerspruch be-steht zwischen der Aussage „Mit der reversiblen iso-thermen Expansion lässt sich eine quantitative Um-wandlung von Wärme in Arbeit erreichen“ und derUnmöglichkeit eines Perpetuum mobile 2. Art.

23 Ein halbes Mol eines idealen Gases dehnt sichbei 300K isotherm gegen einen konstanten Druck von1.00 bar von 1.00 dm3 auf 10.0 dm3 aus. Anschließendwird das Gas isotherm und reversibel auf einen Druck

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431.1 Einführung in die chemische Thermodynamik

von 12.4 bar komprimiert. Man berechne die bei die-sem Prozess dem Arbeitsspeicher entnommene Ar-beit sowie die im Gas, in der Umgebung und im ge-samten (abgeschlossenen) System eingetretene Entro-pieänderung.

24 Man leite aus dem totalen Differential der Entro-pie eines idealen Gases (Gl. 1.1-237) die Poisson’scheGleichung (Gl. 1.1-186) her.

25 Wie groß ist die molare Entropieänderung beimErstarren von unterkühltem Benzol unter 1.00 bar bei267K, wenn beim Schmelzpunkt des Benzols (278K)ΔmH = 9900 Jmol−1, cp(fl) = 127 J K−1 mol−1, cp(f) =123 J K−1 mol−1 ist. Man berechne und diskutiere dieEntropieänderung im Benzol, in der Umgebung undim gesamten abgeschlossenen System.

26 In einem abgeschlossenen System werden 5 gEis von 273K mit 50 g Wasser von 300K vereinigt.Wie groß ist dabei die Entropieänderung, wenn dieSchmelzenthalpie des Eises 6.00 kJmol−1 und die mo-lare Wärmekapazität des Wassers 75.24 Jmol−1 K−1

betragen?

27 Ein Mol eines idealen, einatomigen Gases wird,ausgehend von TA = 273.15K, pA = 1.013 bar, adia-batisch und reversibel auf das doppelte Volumen ex-pandiert.

a) Wie groß sind Endvolumen VE, Enddruck pE undEndtemperatur TE nach der Expansion?

b) Wie groß ist die Änderung der Inneren Energie?c) Wie groß ist die Änderung der Entropie?

28 In einem Behälter mit einem Volumen von10 dm3 befinden sich 1molN2 und 3molHe bei 298K.

a) Berechnen Sie die Partialdrücke des Behälters.b) Berechnen Sie den Gesamtdruck.

29 Ein Mol eines idealen Gases wird bei 298K in ei-nem Zylinder durch einen Kolben unter einem Druckvon 100 bar gehalten. Der äußere Druckwird isothermin drei Stufen vermindert: zuerst auf 50 bar, dann auf10 bar und schließlich auf 1 bar.

a) Berechnen Sie die während dieser irreversiblenTeilschritte geleistete Arbeit.

b) Berechnen Sie die Gesamtarbeit, die das Gas leis-ten würde, wenn es reversibel und bei 298K von100 bar auf 1 bar expandiert wird.

c) Stellen Sie die in den Teilaufgaben a) und b) ge-leistete Arbeit in einem p, V -Diagramm graphischdar.

30

a) Geben Sie für ein idealesGas das totale Differentialdes Druckes Δp als Funktion von ΔT und ΔV an.

b) Berechnen Sie mithilfe dieses totalen Differentialsdie Änderung des Druckes, wenn 1mol des Gasesvon 10.0 dm3 auf 9.9 dm3 komprimiert und dar-über hinaus die Temperatur von 273.15K auf 274Kerhöht wird.

c) Wie lautet der exakte Wert von Δp?

31

a) Geben Sie eine Gleichung für die Berechnung desVolumens V eines Zylinders an.

b) Geben Sie das totale Differential des Zylindervolu-mens an.

c) Ist V eine Zustandsfunktion?

32 15 g Magnesiumspäne werden in ein Becherglasmit verdünnter Salzsäure gegeben. Die Salzsäure löstdasMagnesium unterWasserstoffbildung auf. Formu-lieren Sie eine chemische Reaktionsgleichung und be-rechnen Sie die Arbeit, die durch das System wäh-rend der Reaktion verrichtet wird. Behandeln Sie denentstehenden Wasserstoff als ideales Gas. Die molareMasse von Mg beträgt 24.31 gmol−1.Hinweis: Für die Volumenänderung braucht nur derWasserstoff berücksichtigt zu werden.

33 Leiten Sie für die folgenden Funktionen Formelnfür das totale Differential her und zeigen Sie, dass fürdiese Funktionen die Gleichung:

𝜕2z𝜕 y𝜕x

= 𝜕2z𝜕x𝜕 y

gilt.

a) z = x2 + 2y2 − 2x y + 2x − 4y − 8b) z = x y − y + ln x + 2

34 EinMolHelium (cp =52R), das als idealesGas be-

trachtet werden kann, wird ausgehend von einem Vo-lumen von einem Liter und einer Temperatur von 0 °Creversibel und isotherm auf ein Volumen von zehn Li-tern expandiert. Anschließend wird das Gas reversibeladiabatisch komprimiert, bis es eine Temperatur von100 °C erreicht.

a) Skizzieren Sie den Prozess in einem p, V -Dia-gramm.

b) Wie groß ist die Änderung der Inneren Energie(ΔU) und der Enthalpie (ΔH) bei demGesamtpro-zess?

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44 1 Einführung in die physikalisch-chemischen Betrachtungsweisen, Grundbegriffe und Arbeitstechniken

35 Ein Stück Eisen der Masse 10 kg fällt bei einerTemperatur von 20 °C aus einer Höhe von 100m zurErde.

a) Berechnen Sie die kinetische Energie des Eisen-stücks, wenn es auf den Boden trifft.

b) Welche Geschwindigkeit hat es beim Aufprall?c) Wie hoch würde die Temperatur des Eisenstücks

ansteigen, wenn seine gesamte kinetische Energiebeim Aufprall in Wärme umgesetzt würde?

Die molare Wärmekapazität von Eisen beträgtcp = 25.1 J∕mol °C und die Erdbeschleunigung g ist9.81m s−2.

36 Ein Vier-Takt-Otto-Motor, benannt nach demdeutschen Ingenieur Nicolaus Otto, arbeitet nach ei-nem sogenannten Otto-Kreisprozess, wie er in dernachfolgenden Abbildung dargestellt ist. Das Arbeits-medium (Luft) kann als idealesGas betrachtet werden.p

3

2

041

V

qzu

qab

VK VH

Abb. 1.1-25 Kreisprozess des idealen Otto-Motors.

Der Prozess besteht aus vier Schritten (Takte):

1. Takt Ansaugen (0–1). Das Einlassventil öffnet sichund Luft strömt bei konstantemDruck in denVerbrennungsraum.

2. Takt Verdichten (1–2). Die Luft wird adiabatischkomprimiert und heizt sich dabei auf. Wäh-rend der Kompression wird Benzin einge-spritzt (Direkteinspritzer)

3. Takt Arbeitstakt (2–3–4). Am oberen Umkehr-punkt wird das Benzin-/Luftgemisch durcheinen Zündfunken zur Explosion gebracht.Dabei wird schlagartig Wärme frei (Wärme-zufuhr qzu), so dass der Druck bei faktischkonstantem Volumen stark ansteigt (isocho-re Druckerhöhung). Daraufhin erfolgt eineschnelle (adiabatische) Expansion der Ver-brennungsgase. Die Kolbenbewegung wird

dabei über die Kurbelwelle in eine Drehbewe-gung umgesetzt.

4. Takt Ausblasen (4–1–0). Am unteren Totpunktöffnet das Auslassventil, wodurch der Druckbei gleichem Volumen steil abfällt. Die Ver-brennungsgase werden ausgeschoben undfrisches Gemisch wird angesaugt. DurchAustausch der warmen Verbrennungsgasemit frischer Luft wird die Wärmemenge qababgegeben, und der Anfangszustand wieder-hergestellt.

a) Ermitteln Sie unter der Annahme, dass der Pro-zess reversibel abläuft, die Entropieänderungen fürdas Arbeitsgas und die Umgebung bei den Schrit-ten 1 → 2, 2 → 3, 3 → 4, 4 → 1. Leiten Sie eineGleichung für die Berechnung desmaximalenWir-kungsgrades des idealen Otto-Motors ab und be-rechnen Sie diesen Wirkungsgrad für einen Motormit den folgenden Kennzahlen:

V1 = V4 = 4 dm3

p1 = 1 atmT1 = 300K

Verdichtungsverhältnis:V1V2

= 10

p3p2

= 5

cp =72R

b) Vergleichen Sie den erhaltenen Wert mit demWert moderner Otto-Motoren von etwa 37%.Wiekönnte man denWirkungsgrad eines Otto-Motorstheoretisch erhöhen und warum ist das praktischnicht möglich?

37 5mol Methan werden reversibel und adiabatischvon 50 bar auf 200 bar komprimiert. Die Anfangstem-peratur des Methans beträgt T1 = 298K.

a) Berechnen Sie die Endtemperatur T2 des Methansnach der Kompression unter der Annahme, dasscv = 3 R ist.

b) Berechnen Sie die erforderliche Kompressionsar-beit über die GleichungW = ∫ V2V1 p dV , indem Siedas Integral direkt unter Verwendung der Pois-son’schen Gleichung lösen.

c) Berechnen Sie die erforderliche Kompressionsar-beit über die Gleichung W = ncv(T2 − T1) un-ter Verwendung der in Teilaufgabe a) berechnetenTemperatur T2. Vergleichen Sie die Werte mit de-nen aus Teilaufgabe b).

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451.1 Einführung in die chemische Thermodynamik

38 1mol Ethan wird bei konstantem Druck von1 atm von 25 °C auf 1200 °C erhitzt. DieWärmekapazi-tät kann über einen solch großen Temperaturbereichnicht mehr als konstant angenommen werden, son-dern wird durch folgende Potenzreihe beschrieben:

cpR

= 0.064 36 + (2.137 ⋅ 10−2 K−1)T

− (8.263 ⋅ 10−6 K−2)T2 + (1.024 ⋅ 10−9 K−3)T3 .

Berechnen Sie für diese Zustandsänderung die WertevonW,Q, ΔU und ΔH.

39 Die Verbrennung von Methan verläuft nach fol-gender Reaktionsgleichung:

CH4(g) + 2O2(g) → CO2(g) + 2H2O

Die Standard-Bildungsenthalpien der beteiligten Stof-fe sind:

ΔBH(CH4, g) = −74.6 kJ∕mol ,ΔBH(O2, g) = 0 kJ∕mol ,

ΔBH(CO2, g) = −393.5 kJ∕mol ,ΔBH(H2O, g) = −241.8 kJ∕mol .

Die Temperaturabhängigkeit der Wärmekapazitätender beteiligten Stoffe wird durch folgende Polynom-ansätze beschrieben:

cp(CH4, g)R

= 2.099 + (7.272 ⋅ 10−3 K−1)T

+ (1.34 ⋅ 10−7 K−2)T2

− (8.66 ⋅ 10−10 K−3)T3

cp(O2, g)R

= 3.094 + (1.561 ⋅ 10−3 K−1)T

− (4.65 ⋅ 10−7 K−2)T2

cp(CO2, g)R

= 2.593 + (7.661 ⋅ 10−3 K−1)T

− (4.78 ⋅ 10−6 K−2)T2

+ (1.16 ⋅ 10−9 K−3)T3

cp(H2O, g)R

= 3.652 + (1.156 ⋅ 10−3 K−1)T

+ (1.42 ⋅ 10−7 K−2)T2

a) Berechnen Sie die Standard-ReaktionsenthalpieΔRH der Methanverbrennung nach obenstehen-der Reaktionsgleichung.

b) Leiten Sie eineGleichung ab,mit der Sie die Reakti-onsenthalpie bei jeder Temperatur zwischen 300Kund 1500K berechnen können. Plotten Sie ΔRH =f (T) in diesem Temperaturintervall.

c) Berechnen Sie die adiabatische Flammentempe-ratur einer Erdgas-Luft-Flamme TCH4,Luft

ad ausge-hend von der Standardtemperatur T1 = 298.15Kunter folgenden Annahmen:(i) Erdgas besteht aus reinem Methan.(ii) Luft besteht aus 20% O2 und 80% N2.(iii)Die Verbrennung verläuft vollständig zu CO2

und H2O.(iv)Das Erdgas-Luft-Gemisch strömt mit einer

Temperatur von 298.15K (thermodynamischeStandardtemperatur) in den Brenner ein.

Beachten Sie dabei, dass sich bei einem adiabati-schen Prozess die Enthalpie nicht ändert. ΔRH ist al-so als temperaturunabhängig anzusehen und ist ent-sprechend den Anfangsbedingungen einzusetzen, al-so hier ΔRH. Beachten Sie weiterhin, dass sich dieWärmekapazitäten der Reaktionsprodukte mit stei-gender Temperatur erhöhen und dass nur unter Be-achtung dieser Temperaturabhängigkeiten ein realis-tischer Wert erhalten wird. Die Temperaturabhängig-keiten cp(CO2, g) und cp(H2O, g) sind oben gegeben,für N2 gilt:

cp(N2, g)R

= 2.346 + (2.392 ⋅ 10−3 K−1)T

− (1.034 ⋅ 10−6 K−2)T2

+ (0.165 ⋅ 10−9 K−3)T3

Die auftretende Polynomgleichung vierten Gradeskann graphisch oder numerisch gelöst werden. Wa-rumbezeichnetmandie adiabatische Flammentempe-ratur auch als maximale Flammentemperatur?

40 Gegeben sei die Dichte von Luft bei 0.987 bar und27 °C zu 1.146 g ⋅ l−1. Berechnen Sie (a) den Molen-bruch und (b) den Partialdruck von N2 und O2 unterder Annahme, dass Luft nur aus diesen beiden Gasenbesteht.

41 Die Dichte von Luft bei −85 °C, 0 °C und 100 °Cbeträgt 1.887 g ⋅ l−1, 1.294 g ⋅ l−1 bzw. 0.964 g ⋅ l−1.Aus diesen Daten und unter der Annahme der Gültig-keit des Gesetzes von Gay-Lussac (Charles) berechneman den absoluten Nullpunkt der Temperatur in °C.

42 Die molare Wärmekapazität von gasförmigemSchwefeldioxid SO2(g) ist durch folgende Funktion ge-geben:

cp(T)R

= 7.871 − 1454.6 KT

+ 160 351K2

T2

Berechnen Sie die Entropieänderung, wenn 1molSO2(g) von 300K und 1 bar auf 1000K und 0.010 bargebracht werden. Das Schwefeldioxid kann als idealesGas betrachtet werden.

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46 1 Einführung in die physikalisch-chemischen Betrachtungsweisen, Grundbegriffe und Arbeitstechniken

1.1.23 Literatur zu Abschnitt 1.1

Weiterführende Literatur zu Abschnitt 1.1 ist im Ab-schnitt 2.6.10 aufgeführt.

1.2 Einführung in die kinetischeGastheorie

Im vorangehenden Abschnitt haben wir mehrfach da-von gesprochen, dass wir mithilfe der Thermodyna-mik lediglich Änderungen von Zustandsgrößen be-rechnen können, dass es uns aber nicht möglich ist,solche Größen absolut zu berechnen. Um diesem Zielein wenig näherzukommen, wollenwir uns im Folgen-den mit der Einführung in eine andere physikalisch-chemische Betrachtungsweise befassen, bei der wiruns zunächst ebenfalls auf den Grenzfall des idealenGases beschränken können, mit der kinetischen Gas-theorie.

Während wir in der chemischen Thermodynamiküberhaupt nicht nach dem Aufbau der uns interes-sierenden Materie gefragt haben, werden wir jetztein konkretes Modell dieser Materie entwickeln.Dann werden wir versuchen, auf dessen Basis eini-ge thermodynamische Eigenschaften der Materie zuberechnen, indem wir aus der Mechanik bekannteGesetzmäßigkeiten anwenden.Wir werden zunächst unser Modell, nämlich das

ideale Gas, definieren und versuchen, eine Bezie-hung zwischen der Bewegung der Teilchen und demGasdruck zu gewinnen (Abschnitt 1.2.1).Als Nächstes wird es gelten, eine Korrelation zwi-

schen der kinetischen Energie der Teilchen und derTemperatur zu finden (Abschnitt 1.2.2).Dieser Zusammenhang wird es uns erlauben, mo-

lare Wärmekapazitäten zu berechnen. Wir werdendabei denGleichverteilungssatz der Energie kennen-lernen, und der Vergleich mit experimentellen Wer-ten wird uns die Grenzen der Anwendbarkeit unse-res einfachen Modells aufzeigen (Abschnitt 1.2.3).

1.2.1 Das Modell des idealen Gases

In der Mechanik haben wir es im Allgemeinen mitendlich großen Massen zu tun, die sich in verschie-dener Art und Weise bewegen können; sie könneneine translatorische Bewegung ausführen, sie kön-nen rotieren, oder sie können schwingen. Alle dieseBewegungsformen können wir sehend und messendverfolgen, ihre Gesetzmäßigkeiten studieren und inForm von physikalischen Gesetzen niederschreiben.

Auf diese Weise können wir das Newton’sche Kraftge-setz, den Satz von der Erhaltung der Energie und denSatz von der Erhaltung des Impulses aufstellen.In der uns umgebenden gasförmigen Materie kön-

nen wir selbst mit den besten Mikroskopen keine ein-zelnen Teilchen erkennen. Trotzdem nehmen wir nunan, dass auch die gasförmige Materie aus – wenn auchsehr kleinen – einzelnen Teilchen aufgebaut ist, dieeine definierte Masse haben. Diese Annahme ist zu-nächst eine reine Hypothese, die allerdings durch Er-fahrungen des täglichen Lebens gestützt wird: Wirspüren die Wirkung des Windes, wir können die Ga-se wiegen, wir können mit ihnen wie mit Feststoffenchemische Reaktionen durchführen. Auf die kleinen,unsichtbaren Gasteilchen übertragen wir nun die anmassiven Körpern studierten Bewegungsgesetze. Dasist zunächst nur ein Versuch, Bekanntes auf ein an-schauliches Modell anzuwenden. Erst das Ergebnis,die Richtigkeit der damit durchgeführten Berechnun-gen, rechtfertigen diesen Versuch. Es darf aber nichtwundernehmen, wenn dieses grobe Bild vom Aufbaueines Gases bald seine Grenzen zeigen wird.

Im Einzelnen gehen wir von folgendem Modell fürein ideales Gas aus:

1. Das Gas besteht aus einzelnen Teilchen, denMolekülen oder Atomen.

2. Die Abmessungen der Teilchen sind klein ge-genüber ihrer gegenseitigen Entfernung und ge-genüber den Gefäßdimensionen.

3. Die Teilchen üben keinerlei Kräfte aufeinanderaus.

4. Die Teilchen befinden sich, wie wir es von derBrown’schen Molekularbewegung her kennen,ständig in einer völlig ungeordneten Bewegung.

5. Die Teilchen verhalten sich wie starre Kugeln.6. Für Stöße der Teilchen untereinander und auf

die Wand sollen der Energie- und Impulserhal-tungssatz uneingeschränkteGültigkeit besitzen.

Zur Vereinfachung der sich anschließenden Be-rechnung machen wir zwei weitere – für das Re-sultat jedoch nicht notwendige – Annahmen:

1. Alle Teilchen haben die gleiche Geschwindig-keit v.

2. Je ein Drittel aller Teilchen bewegt sich parallelzu einer der drei Raumrichtungen.

Wir stellen uns nun vor, dass sich unser Gas in ei-nem quaderförmigen Behälter befindet, und untersu-chen, welche Wirkung die Stöße der Gasmoleküle aufdie zur y, z-Ebene parallele Wand mit der Fläche A

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471.2 Einführung in die kinetische Gastheorie

Abb. 1.2-1 Zur Ableitung des Gasdruckes.

haben. Nach unserer Voraussetzung fliegt 1/3 allerTeilchen parallel zur x-Achse, 1/6 aller Teilchen alsosenkrecht auf A zu. In einer bestimmten Zeitspannedt werden von diesen Molekülen nur diejenigen aufdie Wand auftreffen, die zu Beginn dieser Zeitspan-ne höchstens um die Strecke v dt von A entfernt wa-ren, wenn v die Geschwindigkeit der Teilchen ist. Dasheißt aber, dass in dieser Zeitspanne 1/6 aller in dem inAbb. 1.2-1 schraffierten Quader enthaltenen Teilchenauf A auftreffen. Ist 1N die Anzahldichte der Gasteil-chen, so ist die Zahl der Stöße während der Zeit dtauf A 1

61NAv dt. Jedes Teilchen der Masse m hat vor

dem Stoß den Impuls mv, nach dem Stoß einen Im-puls gleicher Größe, aber entgegengesetzter Richtung.Deshalb überträgt jedes Teilchen beim Stoß einen Im-puls der Größe 2mv auf dieWand. Der während dt aufA insgesamt übertragene Impuls d px ist dann

d px = 2 ⋅ 16⋅ 1N ⋅ A ⋅ v ⋅m ⋅ v ⋅ dt (1.2-1)

Nun ist aber die Ableitung des Impulses nach der Zeitnichts anderes als die Kraft F

d pxdt

= F (1.2-2)

und die durch die Fläche dividierte Kraft der Druck p

p = FA

(1.2-3)

so dass sich wegen der unter Punkt 7 gemachten An-nahme (v2 = v2) aus der Kombination von Gl. (1.2-1)bis (1.2-3) ergibt

p = 131Nmv2 (1.2-4)

1.2.2 Kinetische Energie und Temperatur

Ersetzen wir nun 1N durch die Loschmidt’sche Kon-stante NA (Neuerdings wird vielfach die BezeichnungAvogadro’sche Konstante verwendet.) und das molareVolumen Vmol, so erhalten wir aus Gl. (1.2-3)

pVmol =13NA ⋅mv2 (1.2-5)

12mv

2 ist die kinetische Energie εtrans eines Gasteil-chens, das nur eine Translationsbewegung ausführt,NA ⋅ εtrans die molare kinetische Energie der Gasteil-chen, so dass wir auch schreiben können

pVmol =23⋅ NA ⋅ εtrans (1.2-6)

An dieser Stelle bietet sich ein Vergleichmit dem idea-len Gasgesetz

pVmol = RT (1.1-48)

an. Er zeigt uns, dass eine unmittelbare Beziehungzwischen der Temperatur T eines Gases und der mo-larenTranslationsenergie derGasteilchenbesteht. Zu-nächst folgt

NA ⋅ εtrans =32RT (1.2-7)

Beziehen wir uns nun auf ein Teilchen, indem wirdurch NA dividieren, und führen für den QuotientenR∕NA die Boltzmann’sche Konstante k ein, so erhaltenwir schließlich

εtrans =32RNA

T = 32kT (1.2-8)

Daraus erkennenwir, dassWärme– ganz allgemeinbetrachtet – mit einer Art von Teilchenbewegungverknüpft sein muss.

Unter dem Mikroskop beobachtete der schottischeBotaniker Robert Brown (1827), dass Pollen oderStaubkörner in einem Wassertropfen unregelmäßigeruckartige Bewegungen zeigen. Weitere Experimentelegten nahe, dass sich aus dieser Beobachtung der ers-te Nachweis der in der molekularen Theorie der Wär-me angenommenen Wärmebewegung der Teilchen inFlüssigkeiten undGasen ergibt, dieman entsprechendals Brown’sche Bewegung bezeichnet (siehe Annahme4 im Kasten zu Beginn des Abschnitts 1.2.1).Diese einfachen Vorstellungen erlauben nun bereits

die Ableitung einer wichtigen Formel, die für das Le-ben auf unserem Planeten von Bedeutung ist, der ba-rometrischen Höhenformel. Sie beschreibt die vertika-le Verteilung der Gasteilchen in der Atmosphäre derErde und verknüpft den Druck mit der Höhe in ihrereinfachsten Form, wenn man annimmt, dass sich dieTemperatur mit der Höhe nicht ändert.Dazu betrachten wir ein Volumenelement

(Abb. 1.2-2), dessen Dimensionen und die auf dieWände des Volumenelements einwirkenden Einflüssegekennzeichnet sind.Das quaderförmige Volumenelement hat die

Grundfläche A und die infinitesimal kleine Höhe

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48 1 Einführung in die physikalisch-chemischen Betrachtungsweisen, Grundbegriffe und Arbeitstechniken

Abb. 1.2-2 Volumenelement.

dh, welches Gas der Dichte 𝜚 enthält. Auf die un-tere Grundfläche wirkt sich von außen nur der Druckp(h) bei der Höhe h über eine Kraft p(h) ⋅ A aus.Auf dieselbe Fläche wirkt von innen sowohl die vonder Masse des Gases (dm = 𝜚 ⋅ dV ) im Volumen-element ausgeübte Gewichtskraft 𝜚g dV = 𝜚g dh ⋅ A(mit g = Erdbeschleunigung) sowie die Kraft des Gas-drucks in der größeren (h + dh) Höhe p + d p ⋅ A. Daim Gleichgewicht die Summe aller wirkenden Kräftenull sein muss, gilt

p ⋅ A − 𝜚g dh ⋅ A − (p + d p)A = 0 (1.2-9)

und damit

d pdh

= −𝜚g (1.2-10)

Für unser ideales Gas ist: 𝜚 = p⋅MRT (mit M =

Molekülmasse) und somit:

d pdh

= −p ⋅M ⋅ gRT

(1.2-11)

Nach Trennung der Variablen:

d pp

= −M ⋅ gRT

dh (1.2-12)

und Integration zwischen h0 und h0 + dh = h1 bzw.p(h0) und p(h1)

p(h1)

∫p(h0)

d pp

= −

h1

∫h0

MgRT

dh (1.2-13)

erhält man:

lnp(h1)

p(h0) = −

MgRT(h1 − h0

)= −

MgRT

Δh (1.2-14)

beziehungsweise

p(h1) = p(h0) ⋅ e−MgRT Δh (1.2-15)

und damit die barometrische Höhenformel, derenAus-wirkung jeder schon einmal, wenn er im Hochgebir-

ge gewandert ist, gespürt hat (siehe Aufgabe 8 in Ab-schnitt 2.7.11).Der Joule’sche Versuch zur Bestimmung desmecha-

nischen Wärmeäquivalentes erscheint uns jetzt in ei-nem ganz neuen Licht.Mechanische Energie wird sichtbar, wenn die Be-

wegungen der unsichtbaren Teilchen so koordiniertwerden, dass es zu einer gleichmäßigen Bewegung ei-ner großen Gruppe von Teilchen kommt. Wenn sichein Festkörper mit konstanter Geschwindigkeit be-wegt, dann haben alle Atome dieses Festkörpers ei-ne in Richtung und Größe gleiche Geschwindigkeit.Wir können die kinetische Energie dieses Festkörpersaus seiner Masse (der Summe der Massen aller ihnaufbauenden Atome) und seiner beobachtbaren Ge-schwindigkeit (die gleich ist der Geschwindigkeit ei-nes jeden seiner Atome) berechnen. Die mechanischeEnergie wird in Wärme verwandelt, wenn die Koordi-nation der Bewegung der einzelnen Teilchen zerstörtwird und die Bewegung nicht länger als solche wahr-nehmbar ist, es sei denn durch das Wärmeempfinden.Aus der Sicht des individuellen Teilchens (Atom oderMolekül) hat sich aber – in dieser vereinfachendenBe-trachtung – überhaupt nichts geändert, wenn die me-chanische Energie in Wärme umgewandelt ist.Bringen wir zwei ideale Gase unterschiedlicher Mo-

lekülmasse miteinander in Kontakt, so stellt sich nacheiniger Zeit das thermische Gleichgewicht ein (vgl.Abschnitt 1.1.6), beide Gase nehmen die gleiche Tem-peratur an. Dann muss nach Gl. (1.2-8) aber auchdiemittlere kinetische Energie aller Gasteilchen gleichgroß sein, d. h. es muss gelten

12m1v21 =

12m2v22 oder (1.2-16)

v1v2

=√m2m1

(1.2-17)

Das Verhältnis der mittleren GeschwindigkeitenderMoleküle zweier verschiedener miteinander imthermischenGleichgewicht stehender Gase ist um-gekehrt proportional der Wurzel aus dem Verhält-nis ihrer Molekülmassen.

Wenn die Moleküle zweier unterschiedlicher Gase imthermischen Gleichgewicht dieselbe kinetische Ener-gie εtrans besitzen, dann stimmen nach Gl. (1.2-6) beigleichen Drücken die molaren Volumina der beidenGase überein, das bedeutet, dass in gleichenVoluminadie gleiche Stoffmenge bzw. die gleiche Anzahl Teil-chen enthalten ist. Es folgt also aus der Kombinati-on der Gl. (1.2-9) und (1.2-6) unmittelbar das Avoga-dro’sche Gesetz.

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491.2 Einführung in die kinetische Gastheorie

Es muss an dieser Stelle vermerkt werden, dass wirin Abschnitt 4.3 bei einer exaktenBehandlung der hiervereinfacht dargestellten Probleme feststellen werden,dass wir das richtige Ergebnis (Gl. 1.2-7) dank derKompensation von zwei auf grobe Vereinfachungenzurückzuführenden Fehlern erhalten haben, derenUr-sache wir jetzt allerdings noch nicht verstehen kön-nen.

1.2.3 Die molare Wärmekapazität der Gase

Ein ideales, einatomigesGas kannkeine Schwingungs-energie und keine Rotationsenergie besitzen. Ersteresist ohne weiteres verständlich, da ein schwingungs-fähiges Teilchen mindestens aus zwei Atomen be-stehen müsste, zwischen denen Kräfte wirksam sind.Letzteres können wir richtig erst mithilfe der Quan-tenmechanik verstehen, doch ergibt sich auch schonklassisch, dass die Rotationsenergie null wird, vgl.Gl. (1.2-21), sofern die Masse auf der Rotationsach-se liegt und damit das Trägheitsmoment null ist. Einideales, einatomiges Gas kann deshalb nur Translati-onsenergie besitzen. NA ⋅ εtrans in Gl. (1.2-7) ist dannidentisch mit der molaren Inneren Energie diesesGases:

u = 32RT (1.2-18)

Differenzieren wir diesen Ausdruck nach T (vgl.Gl. (1.1-90)), so erhalten wir die molare Wärmekapa-zität cv des idealen einatomigen Gases:

cv =(𝜕u𝜕T

)v= 3

2R (1.2-19)

Danach sollte die molare Wärmekapazität des idealeneinatomigen Gases unabhängig von der chemischenNatur dieses Gases und unabhängig von der Tempe-ratur sein. Der mithilfe der kinetischen Gastheorie be-rechnete Wert von 1.5 R stimmt exakt mit dem für dieEdelgase und auch für einatomigenQuecksilberdampffür niedrige Drücke und hinreichend hohe Tempe-raturen (ideales Verhalten) experimentell bestimmtenWert überein (vgl. Abb. 1.2-4).Dieses Ergebnis ermutigt uns, zu prüfen, ob die

Übertragung der Erkenntnisse der klassischenMecha-nik auf den molekularen Bereich auch dann noch zurichtigen Resultaten führt, wenn wir die Beschrän-kung auf einatomige Gase fallenlassen und mehrato-mige Gase betrachten. Mehratomige Gase sollten au-ßer der Translation auch Rotationen und Schwingun-

gen ausführen können, so dass in der Inneren Ener-gie ein Rotations- und ein Schwingungsanteil enthal-ten sein sollte.Um die Größe der Rotations- und Schwingungs-

energie der Gasmoleküle angeben zu können, müssenwir den klassischen Gleichverteilungssatz der Ener-gie heranziehen, den wir allerdings erst später ableitenkönnen (vgl. Abschnitt 4.3.4).

Der Gleichverteilungssatz der Energie besagt, dassim thermischen Gleichgewicht auf jeden Freiheits-grad, der quadratisch in die Energie einesMolekülseingeht, die gleiche Energie entfällt. Unter einemsolchen quadratischen Freiheitsgrad verstehen wirden x-, y- oder z-Term der Translationsenergie

εtrans =12mv2x +

12mv2y +

12mv2z (1.2-20)

oder den x-, y- oder z-Term der Rotationsenergie

εrot =12Ixω2

x +12I yω2

y +12Izω2

z (1.2-21)

mit denTrägheitsmomenten Ix , I y und Iz umdie x-,y- und z-Achse und den Winkelgeschwindigkeitenωx , ωy und ωz . Im Fall der Schwingungen müssenwir berücksichtigen, dass jeder Schwingung, z. B.in der x-Richtung, entsprechend der Überlagerungvon kinetischer und potentieller Energie zwei qua-dratische Freiheitsgrade zukommen:

εvib = 12μxv2x +

12Dx2 (1.2-22)

Dabei bedeutet μx die reduzierte Masse, D die Di-rektionskonstante und x die Auslenkung aus derRuhelage.

Kommt nach Gl. (1.2-18) der molaren Translations-energie ein Betrag von 3

2RT zu, so müsste, da diekinetische Energie drei Freiheitsgrade besitzt (vgl.Gl. (1.2-20)), auf einen Freiheitsgrad die molare Ener-gie 1

2RT oder (vgl. Gl. (1.2-19)) einemolareWärmeka-pazität von 1

2R entfallen. Nach demGleichverteilungs-satz der Energie müssten diese Beträge auch für dieFreiheitsgrade der Rotation und Schwingung zutref-fen.An dieser Stelle müssen wir zunächst noch über-

legen, wie wir bei einem mehratomigen Molekül dieAnzahl der Freiheitsgrade der einzelnen Bewegungs-arten ermitteln. Da in einem n-atomigen Molekül je-des Atom 3 Freiheitsgrade der Bewegung besitzt, istdie Gesamtzahl der Freiheitsgrade 3n. Betrachten wirnun die Translation eines Moleküls, so können wir sie

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50 1 Einführung in die physikalisch-chemischen Betrachtungsweisen, Grundbegriffe und Arbeitstechniken

Abb. 1.2-3 Rotationsachsen gestreckter und gewinkeltermehratomiger Moleküle.

durch die Translation seines Schwerpunktes beschrei-ben, wofür wir 3 Freiheitsgrade in Anspruch neh-men müssen. Somit verbleiben für die Rotation undSchwingung 3n − 3 Freiheitsgrade.Die Rotationsbewegung können wir durch die Rota-

tion des gesamten Moleküls um seinen Schwerpunktbeschreiben. Im Falle eines zweiatomigen oder einesgestreckten mehratomigen Moleküls wählen wir alseine der Rotationsachsen die Molekülachse. Die bei-den anderen Rotationsachsen stehen dann im Schwer-punkt senkrecht zurMolekülachse. Dann ist das Träg-heitsmoment für die Rotation um die Molekülachseverschwindend klein, die Rotationsenergie wird nachGl. (1.2-21) nur durch die Rotation um die senkrechtzur Molekülachse stehenden Achsen bestimmt. (InAbschnitt 3.1.1 werden wir dies genauer erklären kön-nen.) Jedes gestreckte Molekül sollte also nur zweiFreiheitsgrade der Rotation aufweisen. Anders liegendie Verhältnisse bei einem gewinkelten Molekül (vgl.Abb. 1.2-3, bei dem wir die Rotation nur als Rotati-on um drei zueinander senkrecht stehende Achsen er-klären können, so dass wir für die Rotation drei Frei-heitsgrade benötigen. Für die Schwingungsbewegungbleiben demnach für ein zweiatomiges oder ein ge-strecktes mehratomiges Molekül 3n − 5 Freiheitsgra-de, für ein gewinkeltes mehratomiges Molekül 3n − 6Freiheitsgrade übrig. Jedem von diesen sind gemäßGl. (1.2-22) zwei quadratische Freiheitsgrade zuzuord-nen. Die nach diesen Überlegungen zu erwartendenFreiheitsgrade und molaren Wärmekapazitäten sindin Tab. 1.2-1 zusammengestellt.

Abb. 1.2-4 Temperaturabhängigkeit der molaren Wärmekapa-zitäten verschiedener Gase.

Zum Vergleich mit experimentellen Werten dientAbb. 1.2-4. Bei einatomigen Edelgasen oder auchbeim einatomigen Quecksilberdampf finden wir er-wartungsgemäß unabhängig von der Temperaturcv-Werte von 1.5 R.Doch schon bei zweiatomigenGasen stellenwir fest,

dass der von uns erwarteteWert von cv = 3.5 R offen-bar ein Grenzwert ist, der bei den meisten Gasen erstbei sehr hohen Temperaturen erreicht wird.Beim Wasserstoff finden wir bei Temperaturen un-

terhalb von 50K cv = 1.5 R, zwischen Raumtempera-tur und 600K cv ≈ 2.5 R und erst oberhalb von 1000Keinen weiteren, deutlichen Anstieg. Bei Stickstoff undSauerstoff liegt der cv-Wert bis etwa 400K bei 2.5 Rund nähert sich erst bei 2000K 3.5 R. Beim Chlorfindet ein Übergang von 2.5 R auf 3.5 R bereits zwi-schen 150 und 600K statt. Auffällig ist, dass die Kur-ven cv gegen T gerade bei denWerten 1.5 R und 2.5 R,die demTranslations- bzw. demTranslations- und Ro-tationsanteil der molarenWärmekapazitäten entspre-chen, ausgeprägte Plateaus aufweisen. Wir müssendaraus schließen, dass im Gegensatz zur Aussage desGleichverteilungssatzes der Energie die Translations-,Rotations- und Schwingungsbewegung bei niedrigenund mittleren Temperaturen nicht gleichberechtigtnebeneinander auftreten. Wir erkennen, dass offen-

Tab. 1.2-1 Berechnetemolare Wärmekapazitäten von Gasen.

Anzahl der Freiheitsgrade der Gesamtzahl der cvAtome Translation Rotation Schwingung quadratischen

Freiheitsgrade

1 3 – – 3 1.5 R2 3 2 1 7 3.5 R3, gestreckt 3 2 4 13 6.5 R3, gewinkelt 3 3 3 12 6.0 Rn, gewinkelt 3 3 3 − 6 6n − 6 (3n − 3)R

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511.2 Einführung in die kinetische Gastheorie

bar hierbei die chemische Natur der Gase eine Rollespielt. Wasserstoff kann bei sehr tiefen Temperaturennur Translationsbewegungen ausführen, die Schwin-gungsbewegung spielt erst oberhalb von 1000K einewesentliche Rolle. Chlor hingegen zeigt auch bei tiefenTemperaturen neben der Translationsbewegung eineRotationsbewegung, und die Schwingung ist schon bei600K „voll angeregt“.Wenden wir uns noch kurz der Betrachtung der

molaren Wärmekapazitäten mehratomiger Molekülezu und wählen als Beispiel für ein gestrecktes drei-atomiges Molekül das Kohlendioxid, als Beispiel fürein gewinkeltes dreiatomigesMolekül dasWasser undals Beispiel für ein fünfatomiges Molekül das Me-than. Nach dem Gleichverteilungssatz der Energiesollten wir für diese Moleküle für cv die Werte 6.5 R,6.0 R und 12.0 R erwarten. Diese Werte werden selbstbei hohen Temperaturen noch nicht angenommen,und wie bei den zweiatomigen Gasen sprechen diecv-Werte bei niedrigen Temperaturen für ein Fehlendes Schwingungsanteils.Wir können die in diesem Abschnitt behandelten

Erscheinungen, die Abweichungen vom Gleichvertei-lungssatz der Energie, vom Standpunkt der klassi-schen Mechanik her nicht verstehen. Wir erkennenhier einerseits eine Grenze unseres einfachenModells,sehen andererseits aber, dass die Aussagen der klas-sischen Betrachtungsweise offenbar einen bei hohenTemperaturen zu erreichenden Grenzfall darstellen.Wir schließen daraus, dass wir unser Modell weiterverfeinern müssen. Als erstes wollen wir die im Ab-schnitt 1.2.1 unter Punkt 7 gemachte, vereinfachendeAnnahme fallen lassen, dass sämtliche Moleküle diegleiche Geschwindigkeit v besitzen. Wir wollen ver-suchen, einen tieferen Einblick in das tatsächliche Ge-schehen im atomaren odermolekularenBereich zu ge-winnen.

1.2.4 Kernpunkte des Abschnitts 1.2

Modell des idealen Gases, Abschnitt 1.2.1✓⃞ Ableitung des Gasdrucks, Abschnitt 1.2.1,

Abb. 1.2-1✓⃞ Beziehung zwischen Translationsenergie und

Temperatur, Gl. (1.2-8)✓⃞ Temperaturabhängigkeit der Inneren Energie

eines einatomigen Gases, Gl. (1.2-18)✓⃞ MolareWärmekapazität eines einatomigen Gases,

Gl. (1.2-19)✓⃞ Gleichverteilungssatz der Energie, Gl. (1.2-20)

und (1.2-21)✓⃞ Quadratischer Freiheitsgrad, Gl. (1.2-22)✓⃞ Temperaturabhängigkeit der molaren

Wärmekapazität von Gasen, Abb. 1.2-4.

1.2.5 Rechenbeispiele zu Abschnitt 1.2

1 In einem sich im thermischen Gleichgewicht be-findlichen System ist gleichzeitig Wasserstoff, Stick-stoff und Sauerstoff enthalten. In welchem Verhält-nis zueinander stehen die mittleren Geschwindigkei-ten der Wasserstoff-, Stickstoff- und Sauerstoffmole-küle?

2 Es werden zwei miteinander nicht im Gleichge-wicht befindliche Systeme verglichen, von denen ei-nes Helium, das andere Argon enthält. Ersteres hat ei-ne Temperatur von 300K. Wie hoch ist die Tempera-tur des letzteren, wenn die mittleren Geschwindigkei-ten der Moleküle in beiden Systemen einander gleichsind?

3 Man berechne ohne Verwendung von Tabellen-werten γ = cp

cvfür einatomige, zweiatomige, gestreck-

te dreiatomige und gewinkelte dreiatomige Moleküleunter der Annahme der Gültigkeit des Gleichvertei-lungssatzes der Energie.

4 Ein System A enthalte 2mol Helium, es habe eineTemperatur von 600K. Ein System B, das 1mol Chlor-dampf enthält, befinde sich auf einer Temperatur von1100K. Welche Temperatur stellt sich ein, wenn diebeiden Systeme über eine diathermische Wand insthermischeGleichgewicht gebrachtwerden? EinEner-gieaustausch mit der Umgebung soll nicht stattfinden,die Gültigkeit des Gleichverteilungssatzes der Energieist in diesem speziellen Fall gegeben. Man verwendekeine Tabellenwerte.

5 In einem Gefäß befindet sich ein Gas, von demman nicht weiß, ob es Helium oder Wasserstoff ist.Es ist aber bekannt, dass die Temperatur des Gasesbei reversibler, adiabatischer Expansion von 150 cm3

auf 180 cm3 von 300K auf 279K fällt. Man löse die-se Aufgabe, ohne Tabellenwerke zu benutzen, beden-ke aber, dass in dem zutreffenden Temperaturbereichdie Schwingung des Wasserstoffs noch nicht angeregtist.

6 Ein System bestehe aus 2mol Argon.Welche Ener-gie muss man dem System zuführen, wenn man es auf400K erwärmen will und die mittlere Geschwindig-keit der Atome bei der Ausgangstemperatur 300m s−1beträgt? (Man nehme an, dass alle Teilchen dieselbeGeschwindigkeit haben.)

7 WelcheWärmemenge muss man einemMolWas-ser entziehen, um es bei konstantem Volumen um15K abzukühlen? In dem betrachteten Temperaturbe-reich liege das Wasser als Dampf vor, auf den sich derGleichverteilungssatz der Energie anwenden lässt.

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52 1 Einführung in die physikalisch-chemischen Betrachtungsweisen, Grundbegriffe und Arbeitstechniken

8 Forschung im Bereich der Oberflächenphysik wirdtypischerweise inHochvakuumkammernbei Drückenbis 10−12 Torr betrieben.a)Wie vieleMoleküle befinden sich bei 298K in 1 cm3

einer solchen Vakuumkammer?b) Wie groß ist das molekulare Volumen unter diesenBedingungen?

9 1.3882 g einer organischen Substanz nehmen inder Gasphase bei 220 °C und 99 575 Pa ein Volu-men von 420ml ein. Die chemische Elementaranaly-se ergab die folgenden Massenbrüche: ω(C) = 0.706,ω(H) = 0.0588, ω(O) = 0.2352. Berechnen Sie (a) dieMolmasse und (b) die Summenformel dieser Sub-stanz. Der Dampf kann als ideales Gas betrachtet wer-den, und die benötigten Atommassen sind:

M(C) = 12 g ⋅mol−1 , M(H) = 1 g ⋅mol−1 ,M(O) = 16 g ⋅mol−1 .

10 Ein Mol Methan befindet sich in einem Behälterbei einem Druck von 1 bar. Die quadratisch gemittelteGeschwindigkeit beträgt 1000m ⋅ s−1.WelcheTempe-ratur besitzt das Gas (a) und wie groß ist der Behälter(b)?

1.2.6 Literatur zu Abschnitt 1.2

Weiterführende Literatur zu Abschnitt 1.2 ist im Ab-schnitt 2.6.10 aufgeführt.

1.3 Einführung in die statistischeThermodynamik

Die kinetischeGastheorie hat uns unseremZiel, Abso-lutberechnungen thermodynamischer Größen durch-zuführen, zumindest für den Spezialfall des idealenGases ein wenig nähergebracht. Wir haben erkannt,dass es grundsätzlich möglich sein sollte, von ei-nem geeigneten Modell über den Aufbau der Materieausgehend unter Verwendung der Grundgesetze derMechanik und Elektrizitätslehre die makroskopischwahrnehmbaren Erscheinungen als Folge des Verhal-tens der atomistischen Bausteine der Materie quanti-tativ zu beschreiben. Das Modell, das wir bisher be-nutzt haben, ist jedoch zu sehr vereinfacht.Wir wollen jetzt gleich einen wesentlichen Schritt

weitergehen. Wir lassen die Annahme fallen, dassalle atomaren oder molekularen Bausteine der Ma-terie des von uns betrachteten Systems die gleiche(mittlere) Energie besitzen. Mithilfe der Mechanik –später werden wir sehen, dass hierfür die Quanten-mechanik zuständig ist – berechnen wir den ener-

getischen Zustand eines jeden atomaren oder mo-lekularen Bausteins ganz exakt. Das Verhalten einesmakroskopischen Systems muss sich dann als Sum-me der Eigenschaften aller elementaren Bausteineergeben.Hier tritt allerdings eine neue Schwierigkeit auf. In-

folge der Kleinheit der elementaren Bausteine ist einmakroskopisches System aus einer sehr großen Zahlvon Einzelteilchen aufgebaut. So enthält beispielswei-se ein Kubikzentimeter Luft unter Normalbedingun-gen größenordnungsmäßig 1020 Moleküle. Es ist al-so unmöglich, die makroskopischen Eigenschaften ei-nes Systems unmittelbar durch Summation aus denEigenschaften aller elementaren Bausteine zu ermit-teln. Vielmehr müssen wir uns hier der Hilfsmittel derWahrscheinlichkeitsrechnung und der Statistik bedie-nen.Wenn wir das mittlere Alter der Hörer in einer Vor-

lesung ermitteln wollen, können wir jeden einzelnennach seinen Lebensjahren fragen, alle Lebensjahre ad-dieren und durch die Anzahl der Hörer teilen. Wirkönnen aber auch fragen, wie viele null Jahre, ein Jahr,zwei Jahre alt sind und so fortfahren, bis sich kein Äl-terer mehr findet. Multiplizieren wir das Alter in Jah-ren mit der jeweiligen Anzahl von Hörern, die diesesAlter besitzen, addieren all diese Produkte und divi-dieren durch die Zahl der Hörer, so kommen wir zumgleichen Ergebnis wie beim ersten Verfahren, bei ei-ner sehr großen Anzahl von Hörern zweifellos schnel-ler. Zudem haben wir eine weit detailliertere Infor-mation erhalten als beim ersten Verfahren, wir ken-nen jetzt nämlich auch die Altersstruktur. Tragen wirdie Anzahl der Hörer mit einem bestimmten Alter ge-gen die Lebensjahre auf, so erhalten wir eine Vertei-lungsfunktion. Eine solche Verteilungsfunktion kannbreit oder auch schmal sein und in beiden Fällen beigleicher Hörerzahl zum gleichen Durchschnittsalterführen.

Wir werden uns in diesem Abschnitt zunächst an-hand einiger konkreter Beispiele mit Verteilungs-funktionen beschäftigen und zu dem Ergebnis kom-men, dass es bei einem aus einer hinreichend gro-ßen Zahl von Teilchen aufgebauten, im thermischenGleichgewicht befindlichen System nur eine Vertei-lungsfunktion gibt, die für das System charakteris-tisch ist (Abschnitt 1.3.1).Unter Zugrundelegen eines bestimmten Modells

wird es uns gelingen, eine Verteilungsfunktion zu be-rechnen, die uns angibt, welcher Bruchteil aller Teil-chen eines Systems eine bestimmte Energie besitzt.Im konkreten Fall handelt es sich um die Boltzmann-Statistik und die Boltzmann’sche Verteilungsfunktion(Abschnitt 1.3.2).

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531.3 Einführung in die statistische Thermodynamik

Wir werden den Begriff der Zustandssumme ken-nenlernen undmit derenHilfe die Innere Energie desSystems berechnen (Abschnitte 1.3.3 bis 1.3.4).Schließlichwerden wir ein neues Kriterium für die

Richtung eines irreversiblen Prozesses finden und ei-ne Beziehung zur Entropie formulieren. Der BegriffEntropie wird dadurch anAnschaulichkeit gewinnen(Abschnitt 1.3.5).

1.3.1 Wahrscheinlichkeitsrechnung undVerteilungsfunktion

Können wir nicht das Verhalten eines jeden einzel-nen Teilchens berücksichtigen, so müssen wir nachdem wahrscheinlichen Verhalten der Teilchen fragenund daraus die Eigenschaften des makroskopischenSystems ermitteln. Wir müssen eine sog. Verteilungs-funktion aufstellen, die uns angibt, wie sich die Teil-chen des Gesamtsystems auf die verschiedenen mög-lichen energetischen Zustände verteilen. Eine solcheVerteilungsfunktion ist beispielsweise die Geschwin-digkeitsverteilungsfunktion, mit deren Hilfe wir er-mitteln können, welcher Anteil der Moleküle des Sys-tems eine Geschwindigkeit innerhalb des Intervallszwischen v und v + dv hat, wobei v eine von uns will-kürlich herausgegriffene Geschwindigkeit ist.Die zu einembestimmtenZeitpunkt tatsächlich vor-

liegende Verteilung kann man zwar nicht exakt be-rechnen, doch kann man ermitteln, wie wahrschein-lich eine prinzipiell mögliche Verteilung ist, die demmakroskopisch wahrnehmbaren Geschehen gerechtwird. Bei einer solchen Berechnung zeigt es sich, dassim Wesentlichen nur eine bestimmte Verteilung alswahrscheinlich übrig bleibt, während die anderen,merklich davon abweichenden Verteilungen ihr ge-genüber als wenig wahrscheinlich vernachlässigt wer-den können. Hat man eine solche Verteilungsfunktionerst einmal ermittelt, so braucht man nur über sie zuintegrieren, um eine bestimmte, physikalisch messba-re Größe zu berechnen.Die Tatsache, dass von allen denkbaren Verteilun-

gen nur eine besonders wahrscheinlich ist, ergibt sichaus demGesetz der großen Zahlen. Dies wollenwir aneinem einfachen, anschaulichen Beispiel erkennen.Wir nehmen einen sehr exakt gearbeiteten Würfel

und führen mit ihm eine große Anzahl von Würfenaus. Da keine der sechs Flächen bevorzugt ist, werdenwir alle Augenzahlen von 1 bis 6 mit gleicher Wahr-scheinlichkeit, d. h. nach sehr vielen Würfen gleichhäufig gewürfelt haben.Anders liegen die Verhältnisse, wenn wir das Spiel

mit zwei Würfeln ausführen, die sich lediglich in ihrerFarbe unterscheiden mögen. Wir werden jetzt die Au-

Abb. 1.3-1 Realisierungsmöglichkeiten für die Augenzahlen 2bis 12 beim Spiel mit zwei Würfeln.

genzahlen 2 bis 12 erhalten, jedoch mit unterschied-licher Häufigkeit. Abbildung 1.3-1 gibt uns die Erklä-rung dafür: Es gibt jeweils nur eine Möglichkeit, die 2oder die 12 zu würfeln, aber sechs Möglichkeiten, die7 zu würfeln.Bezeichnen wir den Quotienten aus der Zahl der

günstigen Fälle zur Gesamtzahl der Möglichkeiten alsWahrscheinlichkeit, so ergibt sich beim Spiel mit ei-nemWürfel für alle Augenzahlen dieWahrscheinlich-keit 1/6. Beim Spiel mit zwei Würfeln ist die Wahr-scheinlichkeit für die Augenzahl 2 1/36. Sie steigt dannmit zunehmender Augenzahl bis zur Augenzahl 7 li-near auf 1/6 an und fällt bis zur Augenzahl 12 wiederlinear auf 1/36 ab.Beim gleichzeitigen Spiel mit drei Würfeln ist die

Wahrscheinlichkeit, die niedrigste (3) oder höchsteAugenzahl (18) zu würfeln, nur 1/216, während dieWahrscheinlichkeit für die mittleren Augenzahlen 10und 11 denWert 1/8 hat.DerAnstieg derWahrschein-lichkeit zum Maximalwert ist stärker als linear.In Abb. 1.3-2 sind die Ergebnisse beim Spiel mit

verschieden vielen Würfeln dargestellt. Um einfachervergleichen zu können, ist der Quotient zwischender Wahrscheinlichkeit und der maximalen Wahr-scheinlichkeit in Abhängigkeit vom Quotienten zwi-

Abb. 1.3-2 Vergleich der relativen Wahrscheinlichkeiten fürdas Würfeln bestimmter Augenzahlen beim Spiel mit verschie-den vielen Würfeln. Die eingezeichnetenKurven sind lediglichVerbindungslinien zwischen den einzelnen diskreten Punkten(6 im Fall 1, 11 im Fall 2, 16 im Fall 3, usw.) Beim Spiel mit einerendlichen Zahl von Würfeln ergibt sich kein stetiger Graph.

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54 1 Einführung in die physikalisch-chemischen Betrachtungsweisen, Grundbegriffe und Arbeitstechniken

schen Augenzahl und maximaler Augenzahl darge-stellt. Man erkennt deutlich, dass mit zunehmenderZahl von Würfeln die Wahrscheinlichkeit, eine be-stimmte (mittlere)Augenzahl zuwürfeln, imVergleichzur Wahrscheinlichkeit, andere Augenzahlen zu wür-feln, stark zunimmt. Wir können nun verstehen, wes-halb beim Spiel mit sehr vielen Würfeln praktisch nurmittlere Augenzahlen gewürfelt werden.Wir wollen versuchen, die mit dem Würfelspiel ge-

wonnenen Erkenntnisse auf unser physikalisches Pro-blem, die Energieverteilung der Moleküle eines Sys-tems, zu übertragen. Bei dieser Gelegenheit müssenwir zwei neue Begriffe einführen. Unter einemMikro-zustand wollen wir eine mögliche Zuordnung von be-stimmten Teilchen zu bestimmten Energiezuständenverstehen. Im allgemeinen wird durch mehrere Mi-krozustände ein bestimmter Makrozustand realisiertwerden können, bei dem wir nur voraussetzen, dasseine bestimmte Anzahl von Teilchen in bestimmtenEnergiezuständen vorliegt, ohne die Teilchen selbst zubenennen.Der qualitative Vergleich von Würfelspiel und phy-

sikalischen Problemen ergibt sich dann wie folgt: Esliegt eine sehr große Anzahl von Teilchen (Würfeln)vor. Es wird die Frage gestellt, durch wie viele Mikro-zustände (unterschiedliche Zuordnungen von Augen-zahlen 1 bis 6 zu Würfeln) ein bestimmter Makrozu-stand (Gesamtaugenzahl) realisiert werden kann.Ein Beispiel mit kleinen Zahlen soll uns dies wieder

veranschaulichen. Wir haben drei voneinander un-terscheidbare Moleküle A, B und C. Diese Molekü-le mögen nur in vier verschiedenen Energiezustän-den vorliegen können, die wir mit ε0, ε1, ε2, und ε3bezeichnen. Dabei bedeute ε0 energielos, ε2 = 2 ⋅ ε1und ε3 = 3 ⋅ ε1. (Solche äquidistanten Energiezuständewerden wir später beim harmonischenOszillator (Ab-schnitt 3.1.2) finden.) Die Gesamtenergie des Systemssei 3 ⋅ ε1. Dann gibt es drei verschiedeneMakrozustän-de I bis III, die diese Bedingungen erfüllen und die sichdadurch unterscheiden, dass unterschiedliche ZahlenNi vonMolekülen die Energie εi besitzen. Denn wenndrei Moleküle die Gesamtenergie 3ε1 besitzen sollen,sind nur folgende drei Verteilungen (Makrozustände)möglich:

I N0 = 2 , N1 = 0 , N2 = 0 , N3 = 1 ;∑Ni = 3;

∑Niεi = 3ε1

II N0 = 1 , N1 = 1 , N2 = 1 , N3 = 0 ;∑Ni = 3;

∑Niεi = 3ε1

III N0 = 0 , N1 = 3 , N2 = 0 , N3 = 0 ;∑Ni = 3;

∑Niεi = 3ε1

Tab. 1.3-1 Realisierung von Makrozuständen durch Mikrozu-stände.

Energie-zustand

Makrozustand

I II III

ε3 A B Cε2 C B C A B Aε1 B C A C A B ABCε0 BC AC AB A A B B C CZahl derMikrozu-stände

3 6 1

Diese drei Makrozustände sind durch die in Tab. 1.3-1aufgeführten Mikrozustände realisierbar. Dabei müs-sen wir berücksichtigen, dass die Vertauschung zweierMoleküle, die sich im gleichen Energiezustand befin-den, keinen neuen Mikrozustand schafft. Wir erken-nen aus Tab. 1.3-1, dass die Makrozustände I, II undIII durch 3, 6 bzw. 1 Mikrozustand aufgebaut werdenkönnen. Unter der Voraussetzung, dass jeder Mikro-zustand die gleiche Chance hat, realisiert zu werden,ist der Makrozustand II also der wahrscheinlichste.Wir sagen, er hat das größte statistische Gewicht Ω.Die statistischen Gewichte sind für die drei Makrozu-stände 3 (I), 6 (II) bzw. 1 (III).Bei dem angeführten Beispiel lässt sich das statisti-

sche Gewicht eines jedenMakrozustandes noch leichtabzählen. Bei einer großen Anzahl von Teilchen undEnergiezuständen ist das natürlich nicht mehr mög-lich. Für diesen Fall müssen wir nach einer Formel zurBerechnung des statistischen Gewichts suchen. Fürden Fall, dass alle Ni = 1 sind, d. h. dass die Zahl derEnergiezustände mit der Zahl N der Teilchen über-einstimmen würde und jeweils nur ein Teilchen einenbestimmten Energiezustand annehmen könnte, wäredie Zahl der Mikrozustände und damit das Gewichtdes Makrozustandes gleich der Zahl der Permutatio-nen von N Teilchen, also

Ω = N! (1.3-1)

Im Allgemeinen wird aber die Zahl r der besetztenEnergiezustände kleiner als die Zahl N der Teilchensein. Da die Teilchen, die sich in ein und demsel-ben Energiezustand befinden, untereinander ausge-tauscht werden können, ohne dass ein neuer Mikro-zustand entsteht, gelten alle in Gl. (1.3-1) berücksich-tigtenMikrozustände, die sich lediglich durch die An-ordnung bestimmter Teilchen in ein und demselbenEnergiezustand unterscheiden, nur noch als ein Mi-krozustand. Wir müssen also bei Gl. (1.3-1) Verklei-nerungsfaktoren anbringen, die die Vertauschungs-

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551.3 Einführung in die statistische Thermodynamik

möglichkeiten der Teilchen im gleichen Energiezu-stand berücksichtigen, also Faktoren N0!,N1! usw. imNenner:

Ω = N!N0!N1!N2!…

(1.3-2)

Wenden wir Gl. (1.3-2) auf unser oben beschriebenesProbleman, so berechnenwir alsGewichte für dieMa-krozustände I, II und IIIΩI = 3,ΩII = 6 undΩIII = 1,also gerade die in Tab. 1.3-1 aufgeführten Werte.

1.3.2 Die Boltzmann-Statistik

Wir wollen nun versuchen, eine Verteilungsfunktionzu berechnen.

Die Boltzmann-Statistik fußt auf folgendem Mo-dell:

1. Unser System bestehe aus N Teilchen.2. Die Teilchen seien voneinander unterscheidbar,

wir können sie uns beispielsweise nummeriertvorstellen.

3. Die Teilchen seien unabhängig voneinander,d. h. sie sollen sich nicht gegenseitig beeinflus-sen können.

4. Jedes dieser Teilchen möge in einem der Ener-giezustände ε0 , ε1 , ε2,… , εi ,…, εr−1 vorliegenkönnen. Die Anzahl der Teilchen im Energiezu-stand ε0 bezeichnen wir mit N0, allgemein dieim Energiezustand εi mit Ni .

5. Insgesamt mögen r verschiedene Energiezu-stände existieren.

Bei der Berechnung der Verteilungsfunktion müs-sen wir noch zwei Randbedingungen berücksichti-gen, nämlich

1. dass die GesamtzahlN der Teilchen vorgegebenist:

r−1∑0Ni = N0 + N1 +…+ Nr−1 = N (1.3-3)

2. dass die Gesamtenergie des Systems festliegt:

r−1∑0Niεi = N0ε0 +N1ε1 +…+ εr−1Nr−1 = E

(1.3-4)

Wir suchen nun die wahrscheinlichste Verteilungs-funktion. Das muss nach den Ausführungen in Ab-schnitt 1.3.1 die mit dem größten statistischen Ge-wicht sein, d. h. diejenige, für die

Ω = N!N0!N1!…Nr−1!

(1.3-5)

ein Maximum aufweist.Da es mathematisch sehr unpraktisch ist, direkt mit

Gl. (1.3-5) zu arbeiten, und da unter denBedingungen,unter denenΩ ein Maximum annimmt, auch lnΩ einMaximum annehmen muss, werden wir zweckmäßi-gerweise

lnΩ = lnN! −r−1∑0lnNi! (1.3-6)

betrachten. Mithilfe der Stirling’schen Formel (s. Ma-thematischer Anhang A) können wir dafür auchschreiben

lnΩ = N ⋅ lnN −N −r−1∑0Ni lnNi +

r−1∑0Ni (1.3-7)

was unter Berücksichtigung von Gl. (1.3-3) gleichbe-deutend ist mit

lnΩ = N ⋅ lnN −r−1∑0Ni lnNi (1.3-8)

Nach Gl. (1.3-8) lässt sich für jede denkbare Vertei-lung der N Teilchen auf die r Energiezustände, d. h.für jeden denkbaren Makrozustand, das statistischeGewicht ausrechnen. Von Interesse ist für uns jedochnur der Makrozustand mit dem größten statistischenGewicht bzw. dem größten Logarithmus des statis-tischen Gewichts. Um dies zu finden, differenzierenwir Gl. (1.3-8) nach Ni und setzen die erste Ableitunggleich null. Dabei müssen wir aber die Randbedingun-gen Gl. (1.3-3) und Gl. (1.3-4) beachten. Wir müssenalso folgende drei Gleichungen erfüllen:

1. − δ lnΩ = δ∑Ni lnNi

=∑δNi +

∑lnNiδNi = 0 (1.3-9)

(Das Maximum liegt vor, wenn durch kleine Varia-tionen δ der Zuordnungszahlen N0, N1,… ,Nr−1 derWert von Ω bzw. lnΩ nicht geändert wird.)

2. δN =∑δNi = 0 (1.3-10)

3. δE =∑

εiδNi = 0 (1.3-11)

da sich die Gesamtzahl der Teilchen und die Gesamt-energie des Systems nicht ändern dürfen.Zur Maximalwertbestimmung wenden wir die

Lagrange’sche Multiplikatorenmethode (s. Mathe-matischer Anhang G) an, d. h. wir multiplizieren

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56 1 Einführung in die physikalisch-chemischen Betrachtungsweisen, Grundbegriffe und Arbeitstechniken

Gl. (1.3-10) und (1.3-11) mit den konstanten Fakto-ren λ und μ, deren Größe zunächst noch nicht fest-gelegt ist, und addieren dann die Gl. (1.3-9), (1.3-10)und (1.3-11), so dass wir erhalten∑

δNi +∑

lnNiδNi + λ∑δNi + μ

∑εiδNi = 0(1.3-12)

oder ∑δNi(1 + lnNi + λ + μεi) = 0 (1.3-13)

Die Variationen δNi sind wegen der Randbedingun-gen Gl. (1.3-10) und (1.3-11) sämtlich bis auf zwei freiwählbar. Wir können uns nun λ und μ so gewählt vor-stellen, dass für diese beiden δNi jeweils der Klam-merausdruck in Gl. (1.3-13) verschwindet. Alle übri-gen δNi sind willkürlich wählbar, für sie müssen dieKlammerausdrücke null sein, damit die Summe, dieGl. (1.3-13) darstellt, insgesamt null ist. Es muss des-halb gelten

1 + lnNi + λ + μεi = 0 (1.3-14)

oder nach Umformen

Ni = e−(1+λ)e−μεi (1.3-15)

Führen wir nun zur Abkürzung

α ≡ e−(1+λ) (1.3-16)

ein, so ergibt sich

Ni = α ⋅ e−μεi (1.3-17)

Nach Gl. (1.3-3) ist∑Ni = α ⋅

∑e−μεi = N (1.3-18)

Daraus folgt

α = N∑e−μεi

(1.3-19)

so dass wir α aus Gl. (1.3-17) eliminieren können:

Ni =N ⋅ e−μεi∑

e−μεi(1.3-20)

Wesentlich schwieriger gestaltet sich die Angabe vonμ, das offensichtlich den Kehrwert einer Energie dar-stellen muss; denn die Dimensionen der Faktoren imExponenten der e-Funktion müssen sich gegenseitigkompensieren. Beachten wir aber Gl. (1.3-4), so er-kennen wir, dass die mittlere Energie ε eines Teilchensdurch

ε = EN

=∑εie−μεi∑e−μεi

(1.3-21)

gegeben ist.Bestünde unser System aus Oszillatoren, so wäre ε

die mittlere Oszillationsenergie eines Teilchens, undes ergäbe sich sowohl theoretisch als auch experimen-tell für den klassischen Grenzfall (vgl. Abschnitte 1.2.3und 4.2.3)

ε = RTNA

= kT (1.3-22)

Andererseits lässt sichmithilfe der Kenntnisse, die wirim Abschnitt 4.1.3 erhalten werden, ausgehend vonGl. (1.3-21) und unter Berücksichtigung der von derQuantenmechanik geforderten Eigenwerte der Ener-gie eines harmonischen Oszillators (Abschnitt 3.2.2)die mittlere Energie eines solchen Oszillators für denklassischen Grenzfall zu

ε = 1μ

(1.3-23)

berechnen. Gleichung (1.3-22) und Gl. (1.3-23) lieferndann

μ = 1kT

(1.3-24)

so dass aus Gl. (1.3-20)

die gesuchte Verteilungsfunktion, der sog. Boltz-mann’sche e-Satz

Ni = Ne−εi∕kT∑e−εi∕kT

(1.3-25)

folgt.Demnach ist diejenige Verteilung die wahrschein-

lichste, für die die Werte von Ni durch Gl. (1.3-25) ge-geben sind. Kennen wir die Energiewerte εi , die un-sere Teilchen annehmen können, so können wir nachGl. (1.3-25) den Bruchteil Ni∕N der Teilchen unse-res Systems angeben, die diesen Energiewert besitzen.Damit hätten wir die gestellte Aufgabe gelöst.

1.3.3 Innere Energie und Zustandssumme

E in Gl. (1.3-21) ist identisch mit der Inneren Ener-gie U eines aus N Teilchen bestehenden Systems. Wirkönnen deshalb diese Gleichung zur Berechnung derInneren Energie verwenden, wenn wir Gl. (1.3-24) be-rücksichtigen

U = N ⋅∑εie−εi∕kT∑e−εi∕kT

(1.3-26)

Den Nenner dieser Gleichung bezeichnet man als

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571.3 Einführung in die statistische Thermodynamik

Zustandssumme

z =∑

e−εi∕kT (1.3-27)

Leicht erkennen wir, dass der Zähler eng mit die-ser Zustandssumme zusammenhängt. Er ist nämlichkT2 ⋅ dz

dT , so dass

U = N ⋅ kT2 ⋅ 1z⋅dzdT

(1.3-28)

oder

U = N ⋅ kT2 d ln zdT

(1.3-29)

Bei Kenntnis der Zustandssumme z lässt sich also oh-ne weiteres die Innere Energie – und, wie wir später inKapitel 4 sehen werden, jede andere thermodynami-sche Funktion – berechnen. Um z anzugeben, müssenwir aber jeden einzelnen Energiewert kennen, den un-sere Teilchen annehmen können. Die dazu notwendi-gen Daten liefert uns die Quantenmechanik.Wir begnügen uns hiermit der Feststellung, dass wir

einen Weg gefunden haben, thermodynamische Grö-ßen absolut zu berechnen, und wenden uns zunächstanderen Problemen zu, die wir bereits jetzt lösen kön-nen.

1.3.4 Spezielle Aussagen des Boltzmann’schene-Satzes

Zwei Fragen werden sich uns oft stellen. Die eine lau-tet: Wie verhält sich die Zahl Nε1 der Teilchen einesSystems, die sich in einemEnergiezustand ε1 befinden,zu der Zahl Nε2 der Teilchen, die einen anderen Ener-giezustand ε2 angenommen haben? Wir erhalten dasVerhältnis dieser Zahlen, indem wir Gl. (1.3-25) ein-mal auf ε1 und ein andermal auf ε2 anwenden und denQuotienten aus dem Ergebnis bilden.

Nε1Nε2

= e(ε2−ε1)∕kT (1.3-30)

Die zweite wichtige Frage lautet: Wie groß ist die Zahlder Moleküle eines Systems, die Energien gleich odergrößer einer bestimmten Energie n ⋅ ε1 angenommenhaben? Wir wollen dabei voraussetzen, dass die Ener-gie nicht kontinuierlich, sondern diskontinuierlich inganzzahligen Vielfachen einer Mindestenergie ε1 auf-tritt. Die Berechtigung für diese Voraussetzung wer-den wir später beweisen (Kapitel 3).Die Zahl derMolekülemit Energien gleich oder grö-

ßer nε1 ist nach Gl. (1.3-25), wenn wir für den Nenner

wieder die Abkürzung z einführen,

Nε≥nε1 =N ⋅ e−nε1∕kT

z+ N ⋅ e−(n+1)ε1∕kT

z+…

Nε≥nε1 =N ⋅ e−nε1∕kT

z(1 + e−ε1∕kT + e−2ε1∕kT +…)

Nε≥nε1 =N ⋅ e−nε1∕kT

z⋅ z

Damit ergibt sich der Bruchteil der Teilchen, die ei-ne Energie ε ≥ nε1 besitzen, zu

Nε≥nε1N

= e−nε1∕kT (1.3-31)

Dieser Ausdruck lässt sich verallgemeinern, indemε ≥ εi gilt. Wir werden ihn später als Boltzmann-Faktor bezeichnen.

1.3.5 Die Entropie in der statistischenBetrachtungsweise

In Abschnitt 1.1.19 ist die Entropie als eine Zu-standsfunktion eingeführt worden, die etwas aussagtüber die Richtung eines irreversiblen Prozesses unddie gleichzeitig als Kriterium für das Vorliegen einesGleichgewichts in einem abgeschlossenen System die-nen kann.Eine Aussage über die Richtung eines irreversiblen

Prozesses und das Vorliegen eines Gleichgewichtszu-standes ergibt sich aber auch aus den Überlegungenin Abschnitt 1.3.1: Eine beliebig getroffene Zuordnungvon Molekülen zu möglichen Energiezuständen wirdim Allgemeinen einem Makrozustand entsprechen,der sich nicht durch ein Maximum von Mikrozustän-den, d. h. nicht durch ein Maximum des statistischenGewichts auszeichnet. Dieser Makrozustand wird al-so nicht der wahrscheinlichste sein, das System wirdsich nicht im Gleichgewicht befinden. Es wird deshalbspontan in den Zustand übergehen, dem der wahr-scheinlichste Makrozustand, also das Gleichgewicht,zuzuschreiben ist. Geht dagegen ein imGleichgewichtbefindliches, abgeschlossenes System von einem Ma-krozustand in einen anderen über, so ändert sich diestatistische Wahrscheinlichkeit nicht.Der Wahrscheinlichkeit kommt in der statistischen

Thermodynamik also dieselbe Rolle zu wie der Entro-pie in der chemischen Thermodynamik. Es muss des-halb eine Beziehung zwischen der Entropie und derWahrscheinlichkeit bzw. dem statistischen GewichtΩals Maß für die Wahrscheinlichkeit geben:

S = f (Ω) (1.3-32)

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58 1 Einführung in die physikalisch-chemischen Betrachtungsweisen, Grundbegriffe und Arbeitstechniken

ZurAbleitung diesesZusammenhanges stellenwir fol-gende Überlegung an. Zwei voneinander unabhängigeSysteme (1 und 2) gleichartiger Teilchen, zwischen de-nen keinerlei Wechselwirkungen bestehen (z. B. idea-les Gas), werden isotherm zu einem Gesamtsystem(1,2) vereinigt. Dabei addieren sich die Entropien derEinzelsysteme (S1,2 = S1 + S2), während sich die sta-tistischen Gewichte multiplizieren, da sich jeder derΩ1 Mikrozustände des Systems 1 mit jedem der Ω2Mikrozustände des Systems 2 zu einemMikrozustanddes Gesamtsystems zusammensetzt (Ω1,2 = Ω1 ⋅Ω2).Unter Berücksichtigung von Gl. (1.3-32) ist also

S1,2 = f (Ω1,2) = f (Ω1 ⋅Ω2) = f (Ω1) + f (Ω2)(1.3-33)

Diese Gleichung lässt sich nur erfüllen, wenn f derLogarithmus ist:

S = k∗ ⋅ lnΩ (1.3-34)

Die Konstante k∗ entpuppt sich bei einer genaue-ren Betrachtung (vgl. Abschnitt 4.2.1) als die Boltz-mann’sche Konstante k = R∕NA, wie wir sie bereits inAbschnitt 1.2.2 eingeführt haben.Wenn wir auch noch nicht in der Lage sind, mithilfe

der statistischen Thermodynamik die Entropie aus derZustandssumme z zu berechnen, da wir die einzelnenEnergiewerte εi noch nicht angeben können (vgl. Ab-schnitt 1.3.3), so ermöglicht es uns Gl. (1.3-34) doch,eine Aussage über die Volumen- und Temperaturab-hängigkeit der Entropie zu machen. Wir wollen unsdabei wieder auf den Fall des idealen Gases beschrän-ken, d. h. wir wollen jegliche Wechselwirkungskräftezwischen den einzelnen Gasmolekülen ausschließen.Betrachten wir zunächst die Volumenabhängigkeit

der Entropie und halten die Temperatur dabei kon-stant. Wir gehen aus von einem Volumen V , das NMoleküle eines idealen Gases enthalte. Dieses Ge-samtvolumen denken wir uns aufgeteilt in sehr vielekleine Volumenelemente Ve, von denen jedes so großist, dass es mehrere Moleküle aufnehmen kann. Be-findet sich das System im thermischen Gleichgewicht,müssen in jedem Volumenelement Ve dann N

V ⋅ VeMoleküle enthalten sein. Fragen wir nach dem statis-tischen Gewicht dieser Gleichgewichtsverteilung, soist es offenbar identisch mit der Zahl der Möglich-keiten, die N Moleküle auf die V

VeVolumenelemen-

te zu verteilen, wobei eine Vertauschung der in ei-nem bestimmten Volumenelement enthaltenen Mo-leküle keinen neuen Mikrozustand erzeugt. Nach un-seren Überlegungen in Abschnitt 1.3.1 ist das statisti-sche Gewicht für eine solche Verteilung

ΩT = N!{(N ⋅ Ve∕V )!}V∕Ve

(1.3-35)

da in jedem der V∕Ve Volumenelemente die gleicheAnzahl von Permutationen (N ⋅ Ve∕V )! möglich ist,dieser Faktor also (V∕Ve) mal im Nenner erscheint.Bilden wir den Logarithmus, so erhalten wir untergleichzeitiger Anwendung der Stirling’schen Formel

lnΩT = N ⋅ lnN − N − VVe

⋅(N ⋅ VeV

lnN ⋅ VeV

−N ⋅ VeV

)(1.3-36)

und weiter vereinfacht

lnΩT = N ⋅ lnV − N ⋅ lnVe (1.3-37)

Wir erkennen, dass das statistische Gewicht, d. h. dieZahl der Realisierungsmöglichkeiten, mit dem Volu-men V wächst, denn Ve ist eine beliebige Konstan-te. Unter Berücksichtigung vonGl. (1.3-34) ergibt sichdann für den volumenabhängigen Term der Entropie

ST = k ⋅ N ⋅ lnV − k ⋅ N ⋅ lnVeST = n ⋅ R ⋅ lnV − n ⋅ R ⋅ lnVe (1.3-38)

und für die Volumenabhängigkeit der Entropie

dST = n ⋅ R ⋅ d ln V (1.3-39)

Fragenwir nach dem temperaturabhängigen TermderEntropie (V = const.), so gehenwir zweckmäßigerwei-se von Gl. (1.3-34) und Gl. (1.3-8) aus, die zusammen-gefasst

SV = k ⋅ N ⋅ lnN −∑kNi lnNi (1.3-40)

ergeben. Da wir ja Gleichgewichtszustände betrach-ten, können wir Ni durch den Boltzmann’schen e-Satz(Gl. 1.3-25) ausdrücken, durch denwir unmittelbar dieTemperaturabhängigkeit erhalten:

SV = k ⋅N ⋅ lnN − k ⋅N ⋅∑ e−εi∕kT

zVln(N ⋅ e

−εi∕kT

zV

)(1.3-41)

SV = k ⋅ N ⋅ lnN − k ⋅ N ⋅ lnN + k ⋅ N ⋅ ln zV

+ k ⋅ N∑ εi

kT⋅ e

−εi∕kT

zV

SV = k ⋅ N ⋅ ln zV + NT

∑εi ⋅ e−εi∕kT

zV(1.3-42)

Der zweite Term auf der rechten Seite der Gleichungist uns bereits bekannt. Nach Gl. (1.3-26) ist er iden-tisch mit U∕T . Wir können deshalb schreiben

SV = k ⋅ N ⋅ ln zV + UT

(1.3-43)

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591.3 Einführung in die statistische Thermodynamik

Wir haben damit einen wichtigen Zusammenhangzwischen der Entropie und der Inneren Energie ge-funden. Differenzieren wir diesen Ausdruck nach derTemperatur, so finden wir

dSVdT

= k ⋅N ⋅d ln zVdT

+ 1T

⋅(𝜕U𝜕T

)V− UT2 (1.3-44)

Ein Blick auf Gl. (1.3-29) zeigt uns, dass der erste Termauf der rechten Seite gleichU∕T2 ist. Er hebt sich alsogegen den letzten Term auf, so dass wir erhalten

dSVdT

= 1T

⋅(𝜕U𝜕T

)V

(1.3-45)

oder

dSV = CV ⋅ d ln(TK

)(1.3-46)

bzw.

SV = CV ln(TK

)+ const. (1.3-47)

Wir erkennen daraus, dass mit zunehmender Tempe-ratur die Entropie steigt.Wollen wir gleichzeitig die Volumen- und die Tem-

peraturabhängigkeit der Entropie betrachten, so müs-sen wir bedenken, dass jeder für konstante Tempe-ratur gültige Mikrozustand mit jedem für konstan-tes Volumen gültigen kombinieren kann, dass alsogilt

Ω = ΩT ⋅ΩV (1.3-48)

lnΩ = lnΩT + lnΩV (1.3-49)

und deshalb mit Gl. (1.3-39) und Gl. (1.3-47)

S = nR lnV + ncV ln T + const. (1.3-50)

oder in differenzierter Form

dS = nR d lnV + ncV d lnT (1.3-51)

Diese Gleichung ist identisch mit Gl. (1.1-237), diewir imAbschnitt 1.1.20 aufgrund rein thermodynami-scher Überlegungen abgeleitet hatten. Zu Gl. (1.3-51)sind wir gekommen, indem wir den Zustand suchten,der durch die größte Anzahl von Realisierungsmög-lichkeiten ausgezeichnet ist. Damit ist die Entropiezu einem Maß für die Wahrscheinlichkeit geworden.Da mit zunehmender Ordnung die Zahl der Reali-sierungsmöglichkeiten eines Zustandes abnimmt, mitabnehmender Ordnung aber zunimmt, ist die Entro-pie gleichzeitig ein Maß für die Unordnung. So kom-men wir zu einer anschaulicheren Deutung der Entro-pie, als es auf rein thermodynamischemWegemöglichwar.

Wir können jetzt den Zweiten Hauptsatz der Ther-modynamik (Abschnitt 1.1.19) auch so ausdrücken:In einem abgeschlossenen System führt jeder ir-reversible Prozess zu einer Zunahme der Unord-nung.

1.3.6 Kernpunkte des Abschnitts 1.3

✓⃞ Mikrozustand, Makrozustand, Abschnitt 1.3.1✓⃞ Statistisches Gewicht Ω, Abschnitt 1.3.1,

Gl. (1.3-1)Boltzmann-Statistik, Abschnitt 1.3.2✓⃞ Boltzmann’scher e-Satz, Gl. (1.3-25)✓⃞ Innere Energie als Funktion der Zustandssumme,

Gl. (1.3-29)✓⃞ Boltzmann-Faktor, Gl. (1.3-31)✓⃞ Entropie in der statistischen Betrachtungsweise,

Gl. (1.3-34)

1.3.7 Rechenbeispiele zu Abschnitt 1.3

1 Auf wie viele verschiedene Möglichkeiten kannman zwei durch ihr Aussehen unterscheidbare Bäl-le auf drei Behälter verteilen? Man löse die Aufgabedurch Niederschreiben allerMöglichkeiten und durcheinen mathematischen Ansatz.

2 Ein System bestehe aus 20 Molekülen, die in 21verschiedenen Energiezuständen (ε0 bis ε20) vorliegenkönnen. Die Energie eines Zustandes sei εi = i ⋅ ε1, dieGesamtenergie betrage 20ε1. Wie groß ist das statisti-sche Gewicht desMakrozustandes (a), in dem sich alleTeilchen im Zustand ε1 befinden? Der Zustand (b) ge-he aus (a) daraus hervor, dass ein Teilchen von ε1 nachε0 geht. Welche weiteren Folgen hat das, wie groß istdas statistische Gewicht dieses Zustandes? Wie großist das statistische Gewicht des Makrozustandes (c),bei dem 7 Teilchen nach ε0, je eines nach ε3 und ε4,und zwei nach ε2 gegangen sind?

3 Ein System bestehe aus 2 Teilchen A und B, die invier verschiedenen Energiezuständen ε0 = 0, ε1, ε2 =2ε1 und ε3 = 3ε1 vorliegen können.DieGesamtenergiebetrage 3ε1. Wie viele Makrozustände gibt es für die-ses System, durch welche Mikrozustände werden sierealisiert, welches statistische Gewicht haben sie?

4 Durch z = e−(x2+y2) ist eine räumliche Fläche vonder Form eines Berges gegeben. x + y = 1 stellt ei-ne Gerade dar (Projektion einesWeges am Berghang).Wo hat dieser Weg seinen höchsten Punkt? Man lösedie Aufgabe durch Substitution und mithilfe der La-grange’schen Methode der unbestimmten Multiplika-toren (vgl. Mathematischer Anhang G).

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60 1 Einführung in die physikalisch-chemischen Betrachtungsweisen, Grundbegriffe und Arbeitstechniken

5 Wir werden in Abschnitt 3.1.2 zeigen, dass dieEnergiezustände eines harmonischen Oszillatorsdurch εi = hν0(i +

12 ) wiedergegeben werden können.

Man berechne das Verhältnis der Zahl der Oszilla-toren im Zustand mit i = 1 bzw. i = 2 (erster bzw.zweiter angeregter Zustand) im Verhältnis zur Zahlder Oszillatoren im Grundzustand (i = 0), wenn manals Schwingungsfrequenz ν0 = 1.00 ⋅ 1013 s−1 setzt, fürT = 273K und für T = 773K.

6 Wir werden später oft vor die Frage gestellt wer-den, welcher Bruchteil der Moleküle in einem Systemeine Energie besitzt, die gleich einer bestimmtenMin-destenergie oder größer ist. Wie groß ist dieser Bruch-teil unter den in Aufgabe 5 für i = 1 und i = 2 ge-nannten Bedingungen (T = 273K bzw. T = 773K)?Man beachte, dass 1

2hν0 die niedrigstmögliche Ener-gie ist und dass die Energieskala auf diese Energie be-zogen werden muss. Das Ergebnis versuche man auchzu erhalten durch Berechnungen, wie sie in Aufgabe 5durchgeführt wurden.

7 Welche Energie hat der Zustand 2, dessen Beset-zung bei 300K nur ein Viertel der Besetzung des Zu-standes 1 (ε1 = 1.000 ⋅ 10−21 J) ausmacht, wenn dasSystem der Boltzmann-Verteilung gehorcht?

8 Ein System, das der Boltzmann-Statistik gehorcht,bestehe aus Teilchen, die in Energiezuständen vorlie-gen können, welche ein ganzzahliges Vielfaches einerEnergie ε sind. Wie groß ist ε, wenn sich bei der Tem-peratur T = 500K die Zahlen N der Teilchen, die inaufeinander folgenden Zuständen vorliegen, wie Nεn :Nεn+1 = 1000 : 1 verhalten?

9 Ein ideales einatomiges Gas wird von 273K auf373K erwärmt. Um welchen Faktor muss man gleich-zeitig das Volumen verringern, damit keine Änderungder Entropie des Gases eintritt?

10 Wie viele Möglichkeiten gibt es, die 11 Spieler ei-ner Fußballmannschaft auf 11 Spielpositionen zu ver-teilen?

11 Welche Chance hat man im Zahlenlotto 6 aus 496, 5, 4 oder 3 Richtige zu haben?

12 Boltzmann-Faktoren spielen in der statistischenThermodynamik eine zentrale Rolle.

a) Skizzieren Sie die Funktion y(T) = exp(−ε∕kT) alsFunktion von T .

b) Begründen Sie mathematisch das asymptotischeVerhalten für T → ∞.

c) Entwickeln Sie für hohe Temperaturen y(T) =exp(−ε∕kT) in eine Taylorreihe.

13

a) Geben Sie die quantenmechanischen Energieei-genwerte eines Teilchens in einem Kasten mit denSeitenlängen a, b und c an! Stellen Sie hierzu dieSchrödinger-Gleichung des Problems auf und lö-sen Sie sie.

b) Geben Sie einen Ausdruck für die sich daraus er-gebende so genannte Translationszustandssummeztrans an. (Diese ergibt sich aus den Energieeigen-werten des Teilchens im Kasten.)

14 Bei der mathematischen Beschreibung vonWahrscheinlichkeitsverteilungen spielt der Term „Fa-kultät von n“ (n! = 1 ⋅2 ⋅3 ⋅… ⋅ (n−1) ⋅n) eine wichtigeRolle.

a) Zeigen Sie, dass sich der Ausdruck n! einer gro-ßen Zahl durch die folgende Näherung beschrei-ben lässt: ln(n!) = n ln(n) − n (Stirling’sche Nähe-rung).Hinweis: Aufgrund der geringen Variation vonln(n) mit n kann man für große n die Reihe ln(n!)durch ein Integral ersetzen.

b) Geben Sie den relativen Fehler dieserNäherung fürn = 10, 50, 100, 500, 1000 an (lässt sich beispiels-weise mithilfe des Rechners eines PC-Systems odereines wiss. Taschenrechners berechnen).

15 Die Binomialverteilung, die die Wahrscheinlich-keit für das Antreffen eines Systems in einem von zweiZuständen A oder B angibt, kann für eine große ZahlN (z. B. viele Teilchen in zwei Zuständen oder vieleWürfe einer Münze) und gleicher Wahrscheinlichkeitder beiden Zustände (pA = pB = 0.5) in eine konti-nuierliche Funktion entwickelt werden. Diese Funk-tion ist auch als Gauß’sche Glockenkurve bekannt undwird durch die Standardabweichung charakterisiert.Man erkennt (siehe unten), dass die Standardabwei-chung (Breite) der Verteilung mit

√N ansteigt, wäh-

rend das Maximum der Funktion (n − n = 0) mit 1∕σabnimmt. Sehr häufig ist aber gar nicht die absolu-te Breite (Standardabweichung) von Bedeutung, son-dern nur die Frage, wie groß die Wahrscheinlichkeitist, dass die Verteilung um einen gewissen Prozent-satz von der Gleichverteilung abweicht. Um diese Fra-ge zu beantworten, muss die Verteilungsfunktion aufeine relative Koordinate (x) transformiert werden.Ermitteln Sie ausgehend von der unten gegebe-nen Form einer Gauß’schen Glockenkurve durch dieTransformation auf eine relative Koordinate (n ←→ xmit x = n∕N) den funktionalen Zusammenhang derGauß-Verteilung in der neuen Koordinate x. Zeigen

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611.3 Einführung in die statistische Thermodynamik

sie, dass die Standardabweichung σx der Verteilung inder relativen Koordinate x proportional zu I∕

√N ist.

Hinweis:

PN (n) =1

σ√2π

exp(−(n − n∗)2

2σ2

)mit σ =

√N4

Beachten Sie, dass es sich um eine Wahrscheinlich-keitsdichte handelt, und daher PN (n) dn ←→ PN (x) dxzu transformieren ist.

16 In einer mikrokanonischen Gesamtheit lässt sichdie Zustandssumme folgendermaßen angeben:

z =∑se

εskBT

wobei sich die Summe über alle Quantenzustände mitder zugehörigen Energie εs erstreckt.T bezeichnet die Temperatur und kB die Boltzmann-Konstante.Zeigen Sie, dass für ein System von N Teilchen mitäquidistanten, nicht entarteten Energieniveaus εν =νε (ν = 0, 1, 2,…) die Zustandssumme als z = 1

1−q mit

q = e−ενkBT geschrieben werden kann.

17 Zeigen Sie, dass im mikrokanonischen Ensemble(Gesamtenergie E, Teilchenzahl N) derMittelwert derEnergie pro Teilchen

ε = kT2 𝜕𝜕T

ln(z)

ist, wobei z die molekulare Zustandssumme ist.Man verwende: ε = E

N , wobei

E =∑iNiεi

ist.Weiterhin erinnere man sich an den Ausdruck für dieBoltzmann’sche Besetzungszahl:

NiN

= e−εikBT

z

mit

z =∑se−

εskBT

Des Weiteren gilt:

𝜕 ln(z)𝜕T

= 1z𝜕z𝜕T

18 Ein Energieniveau sei dreifach entartet. ZeichnenSie alle Möglichkeiten auf, zwei Teilchen auf die dreientarteten Zustände zu verteilen, wenn:

a) die Teilchen unterscheidbar sind und jeder Zu-stand beliebig viele Teilchen aufnehmen kann,

b) die Teilchen nicht unterscheidbar sind und jederZustand beliebig viele Teilchen aufnehmen kann,

c) die Teilchen nicht unterscheidbar sind und jederZustand mit maximal einem Teilchen besetzt wer-den kann.

Zeigen Sie, dass Fall a) durch die Boltzmann-Statistik,der Fall b) durch die Bose-Einstein-Statistik und Fall c)durch die Fermi-Dirac-Statistik beschrieben wird.

19 Man betrachte ein System aus zwei Teilchen, diebeide in jedem der drei Quantenzustände mit denEnergien 0, ε und 3ε sein können. Das System ist miteinemWärmereservoir der Temperatur T gekoppelt.

a) Man gebe einen Ausdruck für die Zustandssummez an, wenn die Teilchen der klassischen Maxwell-Boltzmann Statistik gehorchen und unterscheid-bar sind.

b) Wie sieht die Zustandssumme aus, wenn die Teil-chen der Bose-Einstein-Statistik gehorchen? (Teil-chen nicht unterscheidbar)

c) Wie sieht die Zustandssumme aus, wenn die Teil-chen der Fermi-Dirac-Statistik gehorchen? (Teil-chen nicht unterscheidbar)

20 Zeigen Sie ausgehend von der Definition derEnergie unabhängiger Teilchen

E =∑

niEi

und der Annahme, dass die Besetzungszahlen derBoltzmannstatistik gehorchen, folgenden Zusammen-hang für die Innere Energie:

U − U(T = 0) = −N(𝜕 ln(z)𝜕β

)N bezeichnet die Gesamtzahl der Teilchen, β = 1∕kTund z ist die Zustandssumme des Systems.

21 Die NA + NB Gitterplätze eines Mischkristallssind durchNA Atome des StoffesA undNB Atome desStoffes B besetzt. Alle Anordnungen entsprechen der-selben Gesamtenergie.

a) Leiten Sie einen Ausdruck für die Zahl der unter-scheidbaren Anordnungsmöglichkeiten in einemsolchen System ab.

b) Zeigen Sie, dass die Mischungsentropie ΔS fürdie isotherme Bildung des Mischkristalls aus den

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62 1 Einführung in die physikalisch-chemischen Betrachtungsweisen, Grundbegriffe und Arbeitstechniken

reinen Stoffen durch die folgende Gleichung be-schrieben werden kann:

ΔSmix = −k(NA +NB)(xA ln(xA) + xB ln(xB))

mit

xA =NA

NA + NB, xB =

NBNA + NB

22 Ein thermodynamisches System mit dem Volu-men V und der Temperatur T bestehe aus N Teilchen,die sich jeweils nur in zwei Energiezuständen befindenkönnen. Der Grundzustand habe die Energie 0 und seig0-fach entartet; der angeregte Zustand habe die Ener-gie ε und sei g1-fach entartet.

a) Geben Sie die Systemzustandssumme z für diesesSystem an.

b) Leiten Sie einen Ausdruck für die Innere Energiedes Systems als Funktion von ε, T, g0, g1 und N ab.

c) Leiten Sie einen Ausdruck für die Entropie S ab.d) Geben Sie den Ausdruck für die Wärmekapazitätcv an.

e) Nehmen Sie an, dass g0 = g1 = 1 und ε = 100 cm−1

ist. Berechnen Sie N1∕N0 bei T = 0K, T = 100Kund T = ∞.

f ) Zeichnen Sie die Graphen von S und cv in Abhän-gigkeit von der Temperatur.

23 Geben Sie eine qualitative Antwort auf die folgen-den Fragen:

a) Wie erhält man die Entropie eines Festkörpers ausgemessenen Werten der Wärmekapazität? Wiesosind hierfür besonders bei tiefen Temperaturen ge-naue Werte der Wärmekapazität erforderlich?

b) Warum ist die Wärmekapazität einer einatomigenSubstanz im festen Zustand normalerweise größerals im gasförmigen Zustand (bei gleicher Tempe-ratur)?

24 Ein Methanmolekül hat die Summenformel CH4und die Struktur eines Tetraeders mit den H-Atomenan den Ecken und dem C-Atom im Zentrum. Berech-nen Sie cv und cp unter der Annahme, dass alle mögli-chen Freiheitsgrade des Methanmoleküls energetischzugänglich sind.

25 Die gemessene molare Restentropie von Wasserbeträgt 3.4 J∕(K ⋅mol). Entwickeln Sie anhand einesStrukturmodells des Eises eine theoretische Begrün-dung für diesen Wert.Welchen Wert der residuellen Entropie erwarten Siefür CH3D? Begründen Sie Ihre Aussage.Hinweis:Pauling, L. (1935) J. Am. Chem. Soc., 57, 2680.

1.3.8 Literatur zu Abschnitt 1.3

Weiterführende Literatur zu Abschnitt 1.3 ist im Ab-schnitt 2.6.10 aufgeführt.

1.4 Einführung in die Quantentheorie

Im vorangehenden Abschnitt haben wir gesehen, dasswir mit den Methoden der statistischen Thermody-namik prinzipiell thermodynamische Größen absolutberechnen können. Als zentrale Größe tritt dabei dieZustandssumme auf, zu deren Ermittlung wir sämtli-che Energiezustände kennenmüssen, in denen das be-trachtete Teilchen vorliegen kann. Um diese Energie-zustände berechnen zu können, müssen wir uns zu-vor Klarheit über den Aufbau derMaterie verschaffen.Das wird ausführlich im Kapitel 3 geschehen. Im Rah-men dieses einführenden Kapitels wollen wir uns mitden Erkenntnissen vertraut machen, die die Grund-lage für die Behandlung des Aufbaus der Materiebilden.

Das Elektron und die elektromagnetische Strahlungspielen eine zentrale Rolle bei der Untersuchung desAufbaus derMaterie. Sowerdenwir uns zunächst dieFrage stellen, wie wir Ladung und Masse des Elek-trons bestimmen können (Abschnitte 1.4.1 bis 1.4.3).Im Folgenden werden wir dann Experimente und

Resultate besprechen, die uns von den Vorstellun-gen der klassischen Physik wegführen. Wir werdennämlich sehen, dass unter bestimmten Bedingungendas Elektron eine Wellennatur und das Licht einekorpuskulare Natur äußern. So werden wir auf denDualismus Welle-Partikel stoßen (Abschnitte 1.4.4bis 1.4.6).DieWechselwirkung vonElektronen und Lichtmit

der Materie wird uns zu der Erkenntnis führen, dassdie Elektronen in der Atomhülle nicht beliebige, son-dern nur diskrete Energien besitzen können. Damithaben wir die Grundlage für das Bohr’sche Atommo-dell kennengelernt (Abschnitte 1.4.7 bis 1.4.9).Mit der Einführung der Schrödinger-Gleichung

werden wir uns einer für uns völlig neuen Betrach-tungsweise zuwenden, der Quantenmechanik (Ab-schnitt 1.4.10).Um den Umgang mit der Schrödinger-Gleichung

zu üben und uns mit den Besonderheiten quanten-mechanischer Ergebnisse vertraut zu machen, wer-den wir die Schrödinger-Gleichung zur Lösung ver-schiedener Probleme anwenden. Wir werden einfreies Teilchen und ein Teilchen in einem unendlichtiefen Potentialtopf quantenmechanisch behandeln

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631.4 Einführung in die Quantentheorie

Abb. 1.4-1 Messung der Glühelektronenemission.

und schließlich die Frage stellen, wie sich eine Ver-ringerung der Tiefe des Potentialtopfes auf das quan-tenmechanische Ergebnis auswirkt. Mit der Behand-lung des Tunneleffektes werden wir diesen Abschnittabschließen (Abschnitte 1.4.11 bis 1.4.15).

1.4.1 Hinweise auf den Aufbau der Atome ausAtomkern und Elektronenhülle

Dass die Atome aus einem positiven Atomkern undeiner Hülle von negativen Elektronen aufgebaut sind,geht aus einer großen Zahl von experimentellen Beob-achtungen hervor. Sie sind so allgemein bekannt, dasses an dieser Stelle genügt, die Erscheinungen lediglichaufzuzählen.Lösen wir ein Salz imWasser auf, so stellen wir fest,

dass die Lösung im Gegensatz zum reinen Wasser ei-ne beträchtliche elektrische Leitfähigkeit besitzt unddass in einem angelegten elektrischen Feld in der Lö-sung ein Transport von positiven und negativen Ionenerfolgt. Ebenso können wir beobachten, dass die zwi-schen den Platten eines Kondensators befindliche Luftelektrisch leitend wird, sobald wir unter den Luftspalteinen Bunsenbrenner setzen und ein Salz, wie z. B. Ka-liumiodid, in die Flamme bringen. Wir erkennen ausdiesen Versuchen, dass unter der Einwirkung des Lö-sungsmittels Wasser oder der Einwirkung der heißenFlamme aus einem neutralen Stoff geladene Teilchenentstehen. Das ist aber nur möglich, wenn der nachaußen hin neutrale Stoff von vornherein aus gelade-nen Teilchen zusammengesetzt war, deren Ladungensich gerade kompensierten.Bereits 1882 hatten Elster und Geitel gefunden, dass

ein Metall Elektronen emittiert, wenn man es nurhoch genug erhitzt. In der in Abb. 1.4-1 skizziertenVersuchsanordnung konnten sie den Glühelektronen-strom direkt messen. Schon sechs Jahre später, 1888,zeigte Hallwachs, dass man Elektronen auch aus ei-nem Metall freisetzen kann, indem man es mit kurz-welligem Licht bestrahlt. Der Strom der Photoelektro-nen lässt sich in einer Anordnung, wie sie Abb. 1.4-2wiedergibt, nachweisen.

Abb. 1.4-2 Messung der Photoelektronenemission.

Mit diesen Versuchen war zunächst bewiesen, dassElektronen ein Bestandteil der die Metalle bildendenAtome sein müssen.Beschleunigt man die emittierten Elektronen in ei-

nem elektrischen Feld, so stellen dieseKathodenstrah-len selbst ein geeignetes Mittel zur Untersuchung derMaterie dar. Lenard fand 1903, dass schnelle Elek-tronen durch dünne Materieschichten hindurchtre-ten, d. h. dass sie eine große Anzahl von Atomen zudurchdringen vermögen, ohnewesentlich aus ihrer ur-sprünglichen Richtung abgelenkt zu werden. Er ver-mutete deshalb, dass die Atome nicht massiv sind,sondern dass vielmehr nur ein winziger Teil des vonden Atomen eingenommenen Raumes von Materieerfüllt ist. Seine aus den Streuversuchen geschlosse-ne Annahme, dass das Atom mit einem Radius vonetwa 10−8 cm einen positiv geladenen, den wesentli-chen Anteil der Atommasse darstellenden Atomkernmit einem Radius von nur etwa 10−12 cm besitzt, wur-de später von Rutherford durch Streuversuche mitα-Teilchen bestätigt. Der restliche Raum sollte vonKraftfeldern erfüllt sein, die vom positiven Atomkernund den äußerst kleinen und leichten Elektronen her-rühren, die diesenmit hoherGeschwindigkeit umkrei-sen.Den Chemiker interessieren die Verhältnisse und

die Vorgänge in der Elektronenhülle, die allein für dasZustandekommen einer chemischen Bindung maß-geblich sind. Wir wollen deshalb zunächst die Eigen-schaften des Elektrons studieren.

1.4.2 Bestimmung der Ladung des Elektrons

Ladung undMasse des Elektrons werden sich als Grö-ßen erweisen, auf die wir bei unzähligen Rechnungenzurückgreifen. Wir wollen deshalb auf die Ermittlungdieser Größen kurz eingehen.Besonders klar ist die Millikan’sche Öltropfenme-

thode (1911): In den Spalt zwischen zwei waagerechtliegenden Kondensatorplatten bläst man Zigaretten-rauch oder Öltröpfchen ein, die sich teilweise elek-trisch aufgeladen haben, und beobachtet nun mit ei-nemMessmikroskop die Bewegung der Tröpfchen. Sie

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64 1 Einführung in die physikalisch-chemischen Betrachtungsweisen, Grundbegriffe und Arbeitstechniken

wird bestimmt durch die Wirkung der Erdanziehung,die Wirkung des elektrischen Feldes und die Wirkungder Stokes’schen Reibungskraft.Die auf die Erdanziehung zurückzuführende Kraft

FF ist gegeben durch

FF = m ⋅ g (1.4-1)

oder, wenn die Teilchen den Radius r und die Dichte 𝜚besitzen,

FF = 43πr3𝜚 ⋅ g (1.4-2)

Durch das elektrische Feld E wird auf die Teilchenmitder Ladung Q die Kraft FE

FE = Q ⋅ E (1.4-3)

ausgeübt. Erdanziehung und Wirkung des elektri-schen Feldes würden zu einer beschleunigten Bewe-gung der geladenen Teilchen führen. Da sie sich je-doch nicht imVakuum, sondern in Luft mit der Visko-sität η bewegen, führt die Stokes’sche Reibungskraft FS

FS = 6πηrv (1.4-4)

zu einer konstanten Geschwindigkeit v0. Sie ergibtsich aus dem Gleichsetzen von FS einerseits und derSumme bzw. Differenz von FF und FE andererseits:

6πrηv0 = Q ⋅ E ± 43πr3𝜚 ⋅ g (1.4-5)

wobei das Pluszeichen gilt, wenn Erdanziehung undelektrisches Feld in der gleichen Richtung, das Minus-zeichen, wenn Erdanziehung und elektrisches Feld inentgegengesetzter Richtung wirken.Wenn wir ein bestimmtes Teilchen mit dem Mess-

mikroskop verfolgen, werden wir also je nach Polungdes elektrischen Feldes zwei verschiedene Geschwin-digkeiten beobachten:

v01 =QE + 4

3πr3𝜚g

6πrη(1.4-6)

v02 =QE − 4

3πr3𝜚g

6πrη(1.4-7)

Diese beiden Gleichungen enthalten zwei Unbekann-te, Q und r. Wir können aus ihnen also Q berechnen.

Q = 92⋅π ⋅ η(v01 + v02)

E

√(v01 − v02) ⋅ η

𝜚 ⋅ g(1.4-8)

Beobachten wir eine hinreichend große Zahl von Teil-chen, so finden wir eine Reihe von Q-Werten, denn

die Teilchen werden eine unterschiedliche Zahl vonElementarladungen e tragen. Qmuss deshalb stets einganzzahliges Vielfaches von e sein, das wir als kleins-ten gemeinsamen Teiler von Q ermitteln.

Als zuverlässigster Wert für die Elementarladunggilt heute

e = 1.602 177 ⋅ 10−19 C ± 0.000 07 ⋅ 10−19 C

1.4.3 Bestimmung der Masse des Elektrons

Um die Masse des Elektrons zu bestimmen, beschleu-nigen wir es in einem elektrischen Feld und lassenes dann in ein senkrecht zu seiner Flugbahn stehen-des Magnetfeld eintreten. Die Beschleunigungsarbeit(Gl. 1.1-4) muss gleich der durch das elektrische Feldgeleisteten Arbeit (Gl. 1.1-9) sein, so dass das Elektronnach Durchlaufen eines Spannungsabfalls U eine aus

12mev2 = e ⋅ U (1.4-9)

berechenbare Geschwindigkeit v besitzt. Tritt dasElektron mit dieser Geschwindigkeit in ein Magnet-feld mit der magnetischen Flussdichte B ein, so wirktauf das Elektron die Lorentz-Kraft FL|FL| = e ⋅ |v × B| (1.4-10)

die als Radialkraft das Elektron in eine Kreisbahn vomRadius r zwingt. Sie steht in jedem Augenblick senk-recht zur Bahn des Elektrons, ist zum Kreismittel-punkt hin gerichtet und ist dem Betrage nach gleichder Zentrifugalkraft

|FZ| = me ⋅ v2

r(1.4-11)

Aus Gl. (1.4-10) und Gl. (1.4-11) folgt zunächst

B ⋅ r =mee

⋅ v (1.4-12)

und unter Berücksichtigung vonGl. (1.4-9) schließlich

eme

= 2UB2r2

(1.4-13)

Durch solche Versuche erhalten wir zunächst das Ver-hältnis Ladung des Elektrons zurMasse des Elektronsund daraus mit dem bekannten Wert für die Ladungdes Elektrons seine Masse.

Als zuverlässigster Wert für die Masse des Elek-trons gilt heute

me = 9.1091 ⋅ 10−31 kg ± 0.0004 ⋅ 10−31 kg

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651.4 Einführung in die Quantentheorie

1.4.4 Die Wellennatur des Elektrons

In den vorangehenden Abschnitten haben wir dasElektron als ein Elementarteilchen kennengelernt. Sei-ne korpuskulare Natur ist durch zahlreiche Experi-mente (Kathodenstrahlen, Ablenkung im elektrischenund magnetischen Feld) gesichert.Bringen wir aber jetzt in einer Braun’schen Röhre ei-

ne dünne Schicht eines festen, kristallinen Stoffes inden Elektronenstrahl, wie es in Abb. 1.4-3 skizziertist, so beobachten wir auf dem Leuchtschirm nichtmehr einen einzigen Auftreffpunkt der Elektronen,sondern Beugungsfiguren, wie sie uns von der Rönt-genbeugung her bekannt sind (Abb. 1.4-4). Das Auf-treten von Beugungserscheinungen kann nur erklärtwerden, wenn man dem Elektron eine Wellennaturzuschreibt:Trifft ein Wellenzug der Wellenlänge λ unter dem

Glanzwinkel θ auf einen kristallinen Körper, dessenNetzebenen den Abstand d haben (Abb. 1.4-5), sowird es stets dann durch Interferenz zu einem Beu-gungsmaximum kommen, wenn der Gangunterschiedzwischen den an den verschiedenen Gitterebenen re-flektierten Wellenzügen ein ganzzahliges Vielfaches nder Wellenlänge beträgt. Wir werden darauf im Ab-schnitt 1.7 bei der Diskussion der Beugungserschei-nungen genauer zu sprechen kommen. So ergibt sich

Abb. 1.4-3 Apparatur zur Ermittlung der Elektronenbeugung.

Abb. 1.4-4 Elektronen-Beugungsbild einer dünnen Nickel-schicht.

Abb. 1.4-5 Zum Entstehen der Beugungsbilder.

die Bragg’sche Gleichung

n ⋅ λ = 2d sin θn (1.4-14)

Es ist demnach möglich, durch experimentelle Be-stimmung des Glanzwinkels θ bei bekanntem Netz-ebenenabstand die Wellenlänge der dem Elektron zu-zuschreibendenMateriewelle zu bestimmen.Wir müssen uns also von der Vorstellung freima-

chen, dass wir alle mit den Elektronen zusammenhän-genden Erscheinungen mit der korpuskularen Naturdes Elektrons erklären können. Je nach dem Experi-ment, das wir mithilfe von Elektronen ausführen, wer-den wir zur Deutung der Phänomene von einem kor-puskularen oder einem Wellenbild des Elektrons aus-gehen müssen.In der in Abb. 1.4-3 gezeigten Anordnung haben wir

die Möglichkeit, die Elektronen vor dem Auftreffenauf die kristalline Schicht mehr oder weniger stark imelektrischen Feld zu beschleunigen. Wir können ih-nen also eine unterschiedlich große Geschwindigkeit,d. h. einen unterschiedlich großen Impuls verleihen.Das Experiment zeigt nun, dass diemit Gl. (1.4-14) be-rechenbare Wellenlänge λe des Elektrons umgekehrtproportional dem Impuls pe des Elektrons ist.

Es gilt

λe =hpe

= hme ⋅ ve

(1.4-15)

wenn wir die Proportionalitätskonstante mit h be-zeichnen. Diese wichtige, 1927 erstmals von Da-visson und Germer experimentell bestätigte, je-doch bereits 1924 von de Broglie theoretisch gefor-derte Gleichung nennt man die de-Broglie-Bezie-hung. Sie stellt eine Beziehung zwischen dem Im-puls als korpuskularer Größe und der Wellenlän-ge als einer Wellengröße her. Die Proportionali-tätskonstante h ist eine fundamentale Konstante,

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66 1 Einführung in die physikalisch-chemischen Betrachtungsweisen, Grundbegriffe und Arbeitstechniken

die sog. Planck’sche Konstante oder das Planck’scheWirkungsquantum. Ihr zur Zeit genauesterWert ist

h = 6.6256 ⋅ 10−34 Js ± 0.0005 ⋅ 10−34 Js

Den Impuls der Elektronen können wir aus der Be-schleunigungsspannung berechnen, die die Elektro-nen durchlaufen haben. Nach Gl. (1.4-9) ist

pe = me ⋅ ve =√2me ⋅ e ⋅ U (1.4-16)

so dass sich mit Gl. (1.4-15) die Wellenlänge der Elek-tronen zu

λe =h√

2me ⋅ e⋅

1√U

(1.4-17)

berechnet. Setzt man die entsprechenden Zahlenwer-te ein, so erhalten wir, wenn derWert der Beschleuni-gungsspannung U in Volt angegeben wird,

λe =12.3√U∕V

⋅ 10−10 m (1.4-18)

1.4.5 Die Eigenschaften des Lichtes

EinewesentlicheRolle bei derAufklärung der StrukturderMaterie spielt dieWechselwirkung zwischen Lichtund Materie. Wir wollen uns deshalb zunächst überdie Eigenschaften des Lichtes Klarheit verschaffen.1669 hatte Newton die Emanationstheorie des Lich-

tes aufgestellt. Nach dieser Theorie sollte das Licht auswinzigen Partikeln bestehen, die von der Lichtquelleherausgeschleudert werden. Indem er diesen Teilchengewisse Eigenschaften zuschrieb, konnte er die damalsbekannten optischen Erscheinungen erklären.Dochbereits im Jahre 1677 stellteHuygens der Ema-

nationstheorie die Wellentheorie des Lichtes entge-gen. Aber erst 1802 verhalf Young mit der Deutungder Interferenzerscheinung dieser Theorie zum ent-scheidenden Durchbruch. Die Entdeckung der Pola-risierbarkeit zeigte dann, dass es sich beim Licht umtransversale Wellen handeln muss. Auf ihre elektro-magnetische Natur wies als erster Faraday hin, Max-well stellte dann 1871 die 1886 von Hertz experimen-tell bestätigte elektromagnetische Lichttheorie auf.Um die Jahrhundertwende schien es absolut gesi-

chert zu sein, dass dem Licht lediglich eine Wellenna-tur zuzuschreiben sei. Doch schon in den ersten Jah-ren des 20. Jahrhunderts traten bei der Untersuchungder Intensitätsverteilung der Strahlung des schwarzenKörpers Zweifel an der Richtigkeit dieser Aussage auf.Unter einem schwarzen Körper versteht man einen

Körper, der die gesamte einfallende elektromagneti-sche Strahlung, unabhängig von ihrer Wellenlänge,

Abb. 1.4-6 Der schwarze Körper.

absorbiert. Abbildung 1.4-6 zeigt, wie manmithilfe ei-nes elektrisch geheizten Ofens einen Strahler bauenkann, dessen Strahlung der eines schwarzen Körpersentspricht. Die Strahlung ist unabhängig von der che-mischen Natur des Strahlers und lediglich eine Funk-tion der Temperatur.Nach Rayleigh und Jeans (1900) schwingen an der

Oberfläche des schwarzen Körpers, der sich im Tem-peraturgleichgewicht mit der Umgebung befindet, dieElektronen mit einer bestimmten Frequenz ν. Da-durch entsteht eine elektromagnetische Wellenbewe-gung gleicher Frequenz. Nun besteht nach der Max-well’schen elektrodynamischen Theorie zwischen derEnergie Uν eines linearen Oszillators, der elektroma-gnetische Wellen der Frequenz ν bis ν + dν erzeugt,und dem spektralen Emissionsvermögen E(ν), soferndieses auf die Ausstrahlung in den Raumwinkel 1 be-zogen wird, die Beziehung

E(ν) dν = ν2

c2Uν dν (1.4-19)

wobei c die Lichtgeschwindigkeit ist. Das spektraleEmissionsvermögen stellt also eine Energiestromdich-te dar. Im Abschnitt 4.2.7 werden wir uns detailliertmit der Hohlraumstrahlung beschäftigen. Verhält sichein schwingendes Elektron nun wie ein linearer Oszil-lator, so sollte es die Innere Energie kT besitzen (vgl.Abschnitt 1.2.3):

Uν = kT (1.4-20)

Damit ergibt sich

E(ν) dν = ν2

c2kT dν (1.4-21)

oder, wenn man nach

ν = cλ

(1.4-22)

und | dν| = cλ2|dλ| (1.4-23)

auf Wellenlängen umrechnet,

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671.4 Einführung in die Quantentheorie

das Rayleigh-Jeans’sche Strahlungsgesetz

E(λ) dλ = cλ4kT dλ (1.4-24)

Mit abnehmender Wellenlänge sollte demnach dasspektrale Emissionsvermögen immermehr zunehmenund nach sehr kleinen Wellenlängen hin gegen Un-endlich streben.Abbildung 1.4-7 zeigt das experimentell ermittelte

Emissionsvermögen. Man erkennt, dass, von großenWellenlängen ausgehend, das spektrale Emissionsver-mögen zwar zunimmt, doch dann ein sich mit stei-gender Temperatur nach kleineren Wellenlängen ver-schiebendes Maximum durchläuft und anschließendsteil abfällt. Das Rayleigh-Jeans’sche Strahlungsgesetzsteht also in krassem Widerspruch zum Experimentund stellt lediglich ein Grenzgesetz für große, hinrei-chend weit vom Maximum entfernt liegende Wellen-längen dar.Planck erkannte nun, dass eine Übereinstimmung

mit demExperiment nur zu erreichen ist, wenn für diemittlere Energie der Oszillatoren

U = h ⋅ νehν∕kT − 1

(1.4-25)

Abb. 1.4-7 Spektrales Emissionsvermögen des schwarzenKörpers.

eingesetzt wird, ein Ausdruck, den wir erst im Ab-schnitt 4.2.3 ableiten können.Mit Gl. (1.4-19) erhaltenwir dann

E(ν) dν = hν3

c2(ehν∕kT − 1)dν (1.4-26)

bzw.

die Planck’sche Strahlungsformel

E(λ) dλ = hc2

λ5(ehc∕λkT − 1)dλ (1.4-27)

die sowohl die Wellenlängen- als auch die Tempera-turabhängigkeit der schwarzen Strahlung richtig wie-dergibt. Lässt man die Konstante h gegen null ge-hen, so geht die Planck’sche Strahlungsformel in dieRayleigh-Jeans’sche über. Das entscheidende Merk-mal, durch das sich die Planck’sche Ableitung vonder klassischen unterscheidet, ist also die endlicheGröße der Konstanten h. Man bezeichnet sie als dasPlanck’sche Wirkungsquantum. Es ist identisch mitder in Abschnitt 1.4.4 eingeführten Größe h. Die Kon-stante h bildet den Kern der Quantentheorie, von derfolgende Forderung erhoben wird:

Die Wirkungsgröße eines Naturvorganges (Wir-kung hat die Dimension Energie ⋅Zeit) hat, gleich-gültig, ob er mechanischer, elektromagnetischeroder chemischer Natur ist, keinen beliebigenWert, sondern ist ein ganzzahliges Vielfaches desPlanck’schen Wirkungsquantums h. Die kleins-te überhaupt beobachtbare Wirkung ist das Wir-kungsquantum selbst.

Die Bedeutung dieser Aussage wird uns durch dieim Folgenden beschriebenen Experimente wesentlichklarer werden.Abbildung 1.4-8 zeigt uns ähnlich wie Abb. 1.4-2 ei-

ne Anordnung zur Messung des Photoelektronenstro-mes, jedoch mit der Möglichkeit, eine variable Ge-genspannung U anzulegen. Die durch das einfallendeLicht aus der Metallelektrode K freigesetzten Elektro-nen können nur dann zur Gegenelektrode gelangen,wenn ihre kinetische Energie εkin = 1

2mev2 ausreicht,um das Gegenfeld zu überwinden, d. h. wenn

12mev2 > e ⋅ U (1.4-28)

ist. Durch Messung der Gegenspannung U0, bei derder Photoelektronenstrom I gerade auf null zurück-geht, kann man so die maximale Energie der Photo-elektronen bestimmen:

εmax = 12me ⋅ v2max = e ⋅ U0 (1.4-29)

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68 1 Einführung in die physikalisch-chemischen Betrachtungsweisen, Grundbegriffe und Arbeitstechniken

Abb. 1.4-8 Anordnung zur Messung der kinetischen Energieder Photoelektronen.

Abb. 1.4-9 Abhängigkeit des Photoelektronenstroms von derangelegten Spannung U für verschiedene Lichtintensitätenbei gleicher Lichtfrequenz.

Diese Grenzspannung und damit die maximale Ener-gie der Photoelektronen erweist sich als unabhängigvon der Intensität des einfallenden monochromati-schenLichtes, also vonderAmplitude des elektrischenLichtvektors (Abb. 1.4-9). Diese 1902 von Lenard ge-machte Beobachtung war eine grundlegend neue Er-kenntnis, denn nach der Wellentheorie des Lichtesmüsste die Lichtwelle einen ihrer Intensität proportio-nalen Impuls besitzen, und dieser sollte auf die Elek-tronen übertragen werden.Variiert man nun die Frequenz des einfallenden

Lichtes, so stellt man (Abb. 1.4-10) fest, dass dieGegenspannung U0 eine lineare Funktion der Licht-frequenz ist. Wechselt man das Kathodenmaterial,so erfolgt eine Parallelverschiebung der Geraden imU0, ν-Diagramm. In jedem Fall beobachtet man, dassunterhalb einer bestimmten, vom Kathodenmaterialabhängigen Grenzfrequenz νg überhaupt keine Elek-tronen emittiert werden. Wir können die Verhältnisseformulieren in der Form

U0 = const.(ν − νg) (1.4-30)

oder als Energien ausgedrückt

e ⋅ U0 = const.(ν − νg) (1.4-31)

Abb. 1.4-10 Abhängigkeit des Grenzwertes U0 der Gegen-spannung von der Frequenz des eingestrahlten Lichtes.

Da die Steigung der Kurven, also die Proportionali-tätskonstante const., unabhängig vomKathodenmate-rial ist, kommt dieser offenbar eine universelle Bedeu-tung zu. Sie hat, wie aus Gl. (1.4-31) hervorgeht, dieDimension einerWirkung (Energie ⋅ Zeit) und erweistsich als zahlenmäßig identisch mit dem Planck’schenWirkungsquantum. Für Gl. (1.4-31) können wir alsoschreiben

e ⋅ U0 = h ⋅ ν − h ⋅ νg (1.4-32)

oder

h ⋅ ν = e ⋅ U0 + h ⋅ νg (1.4-33)

Diese Beziehung bezeichnet man als Einstein’schesFrequenzgesetz.

Einstein gelang es 1905 als erstem, diese Beziehungund damit auch die Lenard’schen Ergebnisse zu deu-ten, indem er erkannte, dass die Ergebnisse mit derelektromagnetischenWellentheorie unvereinbar sind.

Einstein nahm an, dass sich das Licht in Formeinzelner Lichtquanten ausbreitet, die sich mitLichtgeschwindigkeit bewegen. Diese Lichtquan-ten, auch Photonen genannt, stellen winzige Ener-giepakete mit einer Energie E = h ⋅ ν dar, sind alsoKorpuskeln vergleichbar.

Wie dem Elektron nach den Versuchen von Davissonund Germer neben der korpuskularen auch eine Wel-lennatur zugeschrieben werden musste, so muss demLicht aufgrund der photoelektrischen Versuche aucheine korpuskulare Natur zugesprochen werden.Die linke Seite der Gl. (1.4-33) entspricht also der

Energie des einfallenden Lichtquants, die quantitativauf ein Elektron übertragen wird. Sie ist identisch mitder kinetischen Energie, die das Elektron durch dieAbsorption des Lichtquants gewinnt. eU0 ist die kine-

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691.4 Einführung in die Quantentheorie

tische Energie der Elektronen nach dem Verlassen desMetalls. Die materialabhängige Größe hvg stellt dem-nach den Energieverlust dar, den das Elektron beimVerlassen des Metalls erleidet. Es ist eine Abtrennar-beit, Elektronenaustrittsarbeit genannt, die man, da essich um die Abtrennung einer Elementarladung vomMetallverband handelt, auch als e ⋅ φmit dem Elektro-nenaustrittspotential φ darstellen kann. Berücksichti-gen wir noch Gl. (1.4-29), d. h. die kinetische Energieεkin der ausgetretenen Elektronen, so ergibt sich eineweitere Formulierung für

das Einstein’sche Frequenzgesetz:

h ⋅ ν = εkin + e ⋅ φ (1.4-34)

Zu einer Emission von Photoelektronen kann es nurdann kommen, wenn die Energie hν, die das Licht-quant auf das Elektron überträgt, die Austrittsarbeitübersteigt. Ist ν < νg, so kann das Elektron zwar auchEnergie aufnehmen, doch muss es im Metall verblei-ben.Die kinetische Energie eU0 der Photoelektronen

kann nach Gl. (1.4-33) nur durch Variation der Fre-quenz des eingestrahlten Lichtes verändert werden,nicht durch eine Variation seiner Intensität. Diesewirkt sich nur auf die Stärke des Photoelektronen-stroms, d. h. auf die Zahl der pro Zeiteinheit emittier-ten Elektronen, aus (vgl. Abb. 1.4-9).Der Photoeffekt ist als ein eindeutiger Beweis da-

für anzusehen, dass demLicht auch eine Korpuskelna-tur zuzuschreiben ist. Einen weiteren Beweis in dieserRichtung liefert der 1922 entdeckte Compton-Effekt.Lässt man kurzwellige monochromatische Röntgen-strahlen auf Festkörper fallen, die wie z. B. Graphit,sehr locker gebundene, fast freie Elektronen besitzen,so beobachtet man eine seitlich austretende Streu-strahlung. Die spektrale Analyse zeigt, dass sie ne-ben der primär eingestrahlten Wellenlänge noch einenach längeren Wellen verschobene Linie enthält (vgl.Abb. 1.4-11).Auch bei diesem Effekt handelt es sich um eine

Wechselwirkung zwischen einem Lichtquant und ei-nem Elektron. Die korpuskulare Natur des Lichteswird beim Compton-Effekt deshalb besonders deut-lich, weil er durch Anwendung des Energie- und Im-pulssatzes erklärt werden kann. Die Ablenkung desPhotons gehorcht dem Gesetz des elastischen Stoßes:Wie in Abb. 1.4-12 dargestellt, möge ein Lichtquant

mit der Energie hν0 auf ein zunächst in Ruhe befindli-ches Elektron treffen. Nach dem Stoß fliege das Elek-tron unter einemWinkel α, gegen die Einfallsrichtungdes Photons gemessen, mit einer Geschwindigkeit vdavon, während das Lichtquant seine Richtung um

Abb. 1.4-11 Zum Compton-Effekt; Abhängigkeit der Wellen-länge der Streustrahlung vom Beobachtungswinkel β.

den Winkel β verändert habe und nunmehr die Ener-gie hν besitze.Nach der Masse-Energie-Äquivalenz ist die Energie

des Photons

E = mc2 = h ⋅ ν (1.4-35)

seine Masse also

m = h ⋅ νc2

(1.4-36)

und sein Impuls

p = m ⋅ c = h ⋅ νc

(1.4-37)

mit c als Lichtgeschwindigkeit. Wenden wir nun aufden in Abb. 1.4-12 dargestellten Vorgang den Energie-satz an, so folgt

h ⋅ ν0 = h ⋅ ν +12me ⋅ ν2 (1.4-38)

Die Anwendung des Impulssatzes liefert in Richtungdes einfallenden Lichtquants

h ⋅ ν0c

= h ⋅ νc

⋅ cos β + me ⋅ v ⋅ cos α (1.4-39)

Abb. 1.4-12 Zur Berechnung des Compton-Effekts.

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70 1 Einführung in die physikalisch-chemischen Betrachtungsweisen, Grundbegriffe und Arbeitstechniken

und senkrecht dazu

0 = −h ⋅ νc

⋅ sin β + me ⋅ v ⋅ sin α (1.4-40)

Wir haben also drei Gleichungen mit den drei Varia-blen v, α und β vorliegen, von denen uns lediglich βinteressiert. Eliminieren wir v und α, so erhalten wir

h ⋅ ν0 = h ⋅ ν+h2

2mec2(ν20 − 2ν0ν cos β + ν2

)(1.4-41)

Wir suchen die Frequenzverschiebung Δν = ν0 − ν inAbhängigkeit vom Streuwinkel β. Deshalb lösen wirdie Gleichung nach Δν auf und ersetzen in der Klam-mer wegen Δν ≪ ν0ν durch ν0. Es ergibt sich dann

Δν = hν2

mec2(1 − cos β) = 2hν2

mec2sin2

β2

(1.4-42)

oder umgerechnet auf die WellenlängenänderungΔλ = λ − λ0

Δλ = 2hmec

sin2β2

(1.4-43)

In Übereinstimmung mit dem Experiment folgt, dassdie Wellenlängenverschiebung unabhängig von derWellenlänge des eingestrahlten Lichtes lediglich eineFunktion desWinkels β ist, unter dem die Streustrah-lung gemessen wird.Sprechen Erscheinungen wie Interferenz und Beu-

gung eindeutig für die Wellennatur des Lichtes, sosind andere, wie der Photoeffekt und der Compton-Effekt, lediglich mit einer korpuskularen Natur desLichtes vereinbar. Das Licht erscheint uns je nach derArt des angestellten Versuches als ein ausgedehntesWellenfeld oder als ein punktförmiges Teilchen, alsPhoton. Die frühere Annahme der gegenseitigen Aus-schließung vonWellen- undTeilchenvorstellung ist al-so auch beim Licht heute nicht mehr haltbar. BeideVorstellungen werden verknüpft durch die Gleichun-gen

E = h ⋅ ν (1.4-44)

und – unter Berücksichtigung der Masse-Energie-Äquivalenz [Gl. (1.4-35)] –

p = h ⋅ νc

(1.4-37)

oder

λ = hp

(1.4-45)

Wir treffen also auchhierwie beimElektron auf die de-Broglie-Beziehung, das Planck’sche Wirkungsquan-tum verknüpft die Wellengröße λ mit der korpusku-laren Größe p.

1.4.6 Der Dualismus Welle–Partikel

Wir haben in den vorangehenden Abschnitten gese-hen, dass sowohl demElektron als auchdemLicht teilsWelleneigenschaften, teils korpuskulare Eigenschaf-ten zugeschrieben werden müssen. Im Laufe der Jah-re hat man zeigen können, dass dieses Verhalten nichtauf die Elektronen und das Licht beschränkt ist, son-dern allgemein gültig ist. So ist es gelungen, auch mitAtom- und Molekülstrahlen Beugungsversuche aus-zuführen. Das besagt, dass auch den im Vergleich zuden Elektronen großen und schweren Teilchen eineWellennatur zukommt.Dass man die Wellennatur der Materie erst so spät

entdeckt hat, liegt daran, dass nach Gl. (1.4-45) ma-kroskopische Körper, mit denen sich die Makrophysikund ihre Gesetze beschäftigen, so kleineWellenlängenhaben, dass diese weit unter der Nachweisgrenze lie-gen. Deshalb hat sich durch die neuen Erkenntnisse anden Erkenntnissen der Makrophysik nichts geändert.Aus Gl. (1.4-45) lässt sich folgern, dass wir nor-

malerweise bei extrem kleinen Wellenlängen nur diekorpuskularen Eigenschaften, bei extrem großenWel-lenlängen nur die Welleneigenschaften wahrnehmenkönnen. Elektronen und Höhenstrahlen liegen gera-de in einem Bereich, in dem sich beide Eigenschaftenunter unseren üblichen experimentellen Bedingungenäußern können.Von den elektromagnetischen Lichtwellen her wis-

sen wir, dass sie durch Wellenlänge λ, Frequenz ν undPhasengeschwindigkeit c bestimmt sind. Sowohl dieWellenlänge als auch die Phasengeschwindigkeit kön-nen wir unmittelbar messen, die Frequenz ist eine rei-ne Rechengröße, die sich nach

c = ν ⋅ λ (1.4-46)

ergibt. Unter der Phasengeschwindigkeit verstehen wirdabei die Geschwindigkeit,mit der sich die Phase, d. h.der augenblickliche Zustand, beispielsweise ein Ma-ximum der unendlich weit ausgedehnten sinusförmi-gen Welle, im Raum weiterbewegt. Beim Licht ist diePhasengeschwindigkeit im Vakuum unabhängig vonder Wellenlänge. In anderen Medien hingegen ist diePhasengeschwindigkeit eine Funktion der Wellenlän-ge, wir sprechen dann von Dispersion.Von der Phasengeschwindigkeit c unterscheiden

müssen wir die Gruppengeschwindigkeit c∗. Sie ist in-teressant für die Signalübertragung, denn sie ist dieGeschwindigkeit, mit der sich ein markanter Punkt,z. B. das Maximum, eines Wellenzuges fortbewegt,den wir aus der Addition zweier oder mehrerer Sinus-wellen unterschiedlicher Wellenlänge aufgebaut ha-ben. Liegt keine Dispersion vor, d. h. haben die ein-zelnen Teilwellen gleiche Phasengeschwindigkeit, so

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711.4 Einführung in die Quantentheorie

pflanzt sich einmarkanter Punkt der Schwebungskurvemit der gleichenGeschwindigkeit fort wie einmarkan-ter Punkt jeder der Teilwellen, d. h. Phasen- undGrup-pengeschwindigkeit stimmen überein. Unterscheidensich aber die Phasengeschwindigkeiten der Teilwellen,so ist die Gruppengeschwindigkeit nicht mehr iden-tisch mit der Phasengeschwindigkeit. Quantitativ er-gibt sich für die

Gruppengeschwindigkeit c∗

c∗ = c − λ ⋅ dcdλ

(1.4-47)

Bei denMateriewellen lässt sich weder die Wellenlän-ge λ noch die Frequenz ν oder die Phasengeschwin-digkeit umessen. Alle drei Größen sind reine Rechen-größen. Man hilft sich nun in derWeise, dass man dieFrequenz über die Energiegleichung als

ν = Eh

(1.4-48)

definiert und dann in Analogie zu Gl. (1.4-46)

eine Phasengeschwindigkeit u der Materiewelle

u = λ ⋅ ν (1.4-49)

bestimmt.Die Wellenlänge führt man über die de-Broglie-

Beziehung ein:

p = hλ

(1.4-45)

Substituieren wir den Impuls durch das Produkt ausMasse m und Teilchengeschwindigkeit v und die Wel-lenlänge durch Gl. (1.4-49), so ergibt sich

m ⋅ v = hνu

(1.4-50)

Der Zähler auf der rechten Seite dieser Gleichung ent-spricht der Energie des Teilchens und kann durch dieMasse-Energie-Äquivalenz

hν = E = mc2 (1.4-51)

ersetzt werden:

m ⋅ v = mc2u

(1.4-52)

so dass wir für den

Zusammenhang zwischen der Teilchengeschwin-digkeit v und der Phasengeschwindigkeit u

u = c2v

(1.4-53)

erhalten. Die Teilchengeschwindigkeit muss stets klei-ner als die Lichtgeschwindigkeit c sein, folglich istdie Phasengeschwindigkeit derMateriewelle stets grö-ßer als die Lichtgeschwindigkeit. Das ist kein Wider-spruch zur Relativitätstheorie, denn diese fordert nur,dass es keine zur Übertragung von Signalen brauch-bare Geschwindigkeit gibt, die größer als die Lichtge-schwindigkeit ist. Die Phasenwellen eignen sich aberwegen der völligen Identität aller Wellenberge nichtzur Signalübertragung.Während Lichtwellen im Vakuum keine Dispersi-

on zeigen (ihre Phasengeschwindigkeit ist unabhängigvon derWellenlänge), weisenMateriewellen stets eineDispersion auf, denn nachGl. (1.4-50) ist u umgekehrtproportional zum Impuls und damit nach der de-Bro-glie-Beziehung proportional zur Wellenlänge.Wie bei den Lichtwellen muss auch bei den Mate-

riewellen ein Gl. (1.4-47) entsprechender Zusammen-hang zwischen der Phasengeschwindigkeit u und derGruppengeschwindigkeit u∗ bestehen:

u∗ = u − λ ⋅ dudλ

(1.4-54)

Mithilfe dieses Ausdrucks können wir nachweisen,dass die Gruppengeschwindigkeit u∗ identisch ist mitder Teilchengeschwindigkeit v. Wir gehen wieder ausvon der Masse-Energie-Äquivalenz, die wir, wenn wirdie Masse m des bewegten Körpers von seiner Ruhe-masse m0 unterscheiden, in der Form

E = m ⋅ c2 =m0 ⋅ c2√1 − v2

c2

(1.4-55)

oder als nach dem 2. Glied abgebrochene Reihe (vgl.Mathematischer Anhang E) als

E = m0c2 +12m0v2 (1.4-56)

angeben können. Die Frequenz der Materiewelle istdann

ν = Eh

(1.4-57)

ν =m0c2

h+ 1

2m0v2

h(1.4-58)

die Phasengeschwindigkeit

u = ν ⋅ λ =m0c2 ⋅ λh

+m0v2 ⋅ λ

2h(1.4-59)

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72 1 Einführung in die physikalisch-chemischen Betrachtungsweisen, Grundbegriffe und Arbeitstechniken

und mit

m0 ⋅ v =hλ

(1.4-60)

u =m0c2λh

+ h2m0λ

(1.4-61)

Weiterhin ist

dudλ

=m0c2

h− h

2m0λ2(1.4-62)

Das Einsetzen von Gl. (1.4-61) und Gl. (1.4-62) inGl. (1.4-54) ergibt

u∗ =m0c2λh

+ h2m0λ

−m0c2λh

+ h2m0λ

(1.4-63)

u∗ = hm0λ

(1.4-64)

und mit Gl. (1.4-60)

u∗ = v (1.4-65)

Die Gruppengeschwindigkeit u∗ ist die Geschwin-digkeit, mit der sich ein sog.Wellenpaket im Raumfortbewegt. Ein solchesWellenpaket entsteht durchÜberlagerung mehrerer Wellen von nur sehr wenigverschiedener Wellenlänge, deren Schwingungensich an einer bestimmten Stelle im Raum, z. B. demAufenthaltsort des Elektrons, maximal verstärken,an allen anderen Stellen jedoch praktisch kompen-sieren (vgl. Abb. 1.4-13).

Wir haben also zwei Möglichkeiten, die Bewegungdes Elektrons zu betrachten, einmal als die aus denklassischen Vorstellungen resultierende Bewegung ei-nes punktförmigen materiellen Teilchens, ein ander-mal als das Fortschreiten eines Wellenpakets. Im letz-terenFall ist aber zu beachten, dass diesesWellenpaket

Abb. 1.4-13 Wellenpaket.

infolge der Dispersion der es bildenden Wellen beimWeiterlaufen im Raum seine Gestalt verändert, unddass darüber hinaus dieses Wellenpaket auseinander-läuft, der Ort des mit demWellenpaket identifiziertenElektrons damit immerweniger genau angegebenwer-den kann. Wir werden auf diesen Punkt später nochzurückkommen.Zunächst wollen wir diesen Dualismus von Welle

und Partikel noch von einer anderen Seite beleuchten.Ein Elektronenstrahl benimmt sich teilweise so, als be-stünde er aus Teilchen, teilweise so, als wäre er eineWelle. Als Beispiel für den ersteren Fall können wirwieder an die Ablenkung der Kanalstrahlen im elektri-schen oder magnetischen Feld denken, für den letzte-ren Fall an die Beugung an einem kristallinen Körper.EinMaß für die Intensität des Elektronenstrahls wä-

re einmal die Anzahl der Teilchen, die pro Zeitein-heit durch eine Flächeneinheit hindurchtreten oderdie sich zu einem bestimmten Zeitpunkt in der Volu-meneinheit befinden, im anderen Fall das Betragsqua-drat derWellenamplitude ψ. ψ ist dabei eine Funktiondes Ortes und der Zeit. Bei einem intensiven Elektro-nenstrom werden wir also |ψ|2 proportional zur Zahlder Elektronen im Volumenelement setzen können.Wie sind aber die Verhältnisse, wenn wir ein einzel-

nes Elektron betrachten? Was bedeutet hier |ψ|2, istdas Elektron gleichzeitig Welle und Partikel?Die Antwort auf diese Frage liefert uns der in

Abb. 1.4-14 skizzierte Versuch:Mithilfe einer geeigne-ten Elektronenoptik (Kathode, Anode, Fokussierung)stellen wir uns einen Strahl monoenergetischer Elek-tronen her, denen nach der de-Broglie-Beziehung ei-ne bestimmte Wellenlänge λ zugeschrieben werdenmuss. Lassen wir den Strahl bei S1 auf einen Leucht-schirm fallen, so beobachten wir bei scharfer Fokus-sierung nur einen einzigen, sehr kleinen Leuchtfleck,der uns den Auftreffpunkt des Elektronenstrahls an-zeigt (oberes Leuchtschirmbild).

Abb. 1.4-14 Elektronenbeugung.

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731.4 Einführung in die Quantentheorie

Bringen wir in den Strahlengang eine dünne Folieeines polykristallinen Körpers (Probe P), so beobach-tenwir auf demSchirmS1 ein vollständiges Beugungs-bild, wie wir es im Fall von Röntgenstrahlen als Debye-Scherrer-Ringe kennen (mittleres Leuchtschirmbild).Wennwir nundie Intensität des Elektronenstrahls ver-ringern, so verringert sich auch die Helligkeit der Beu-gungsringe. Was geschieht aber, wenn die Intensitätdes Elektronenstrahl so stark verringert würde, dasswir nicht mehr von einem Elektronenstrahl, sondernnur noch von einem Strom einzelner Elektronen spre-chen könnten? Wäre das Elektron tatsächlich gleich-zeitig eine Welle, so müsste nach dem Durchtritt desElektrons durch die Materiefolie auf dem Schirm S1stets das gesamte Beugungsbild zu erkennen sein. InWirklichkeit beobachten wir auf dem Schirm aber nureinzelne, voneinander unabhängige Lichtblitze, derenOrt nicht vorhergesagt werden kann. Markieren wirüber eine längere Zeit all diese Auftreffpunkte, wie esim unteren Leuchtschirmbild angedeutet ist, so erge-ben sie in ihrer Gesamtheit wieder das vollständigeBeugungsbild. Hieraus sollten wir lernen, dass esWel-len nur für die Statistik vieler Teilchen, aber nicht fürein einzelnes Teilchen gibt.

Wir können zwar keine exakte Angabe über denOrt machen, an dem das Elektron auftreffen wird,doch können wir etwas aussagen über die Wahr-scheinlichkeit, mit der an einem bestimmten Ortein Lichtblitz ein Elektron anzeigen wird. DieseWahrscheinlichkeit ist dort groß, wo bei starkemElektronenstrahl ein intensiver Beugungsring zubeobachten ist, und verschwindend klein an denStellen, die zwischen den Beugungsringen liegen.Da aber die Intensität eines Beugungsringes vonder Intensität der Welle an diesem Ort, d. h. vomQuadrat ihrer Amplitude abhängt, können wir |ψ|2als Funktion des Ortes als ein Maß für die Wahr-scheinlichkeit ansehen, ein Elektron in einem be-stimmten Raumelement anzutreffen.

Wir haben hier eine Erfahrung gemacht, die im kras-sen Gegensatz zu den Aussagen der klassischen Me-chanik steht. Betrachten wir beispielsweise ein Auto,so können wir jederzeit exakt seinen Aufenthaltsortund seine Geschwindigkeit und damit seinen Impulsangeben. Gehen wir aber zum atomaren Bereich über,betrachten also beispielsweise ein Elektron, so ist esuns prinzipiell nicht mehr möglich, Ort und Impulsdes Elektrons gleichzeitig exakt zu ermitteln. Wir wol-len das an zwei extremen Beispielen erörtern. Das eineliefert uns der Beugungsversuch. Unsere monoener-getischen Elektronen haben einen ganz bestimmtenImpuls, die zugehörige Materiewelle nach der de-Bro-

glie-Beziehung eine ganz bestimmteWellenlänge. DerOrt des Elektrons ist aber unbestimmt. Man sagt, p, λoder E sind in diesem Fall scharf, die Ortskoordinatenx, y, z unscharf.Das andere Beispiel liefert uns die Betrachtung ei-

nes Wellenpaketes, mit dem wir, wie wir gesehen ha-ben, denOrt eines Teilchens festlegen können. UmdieOrtskoordinaten scharf zu machen, benötigen wir einsehr schmalesWellenpaket. Je schmaler dasWellenpa-ket sein soll, desto breiter ist der Spektralbereich derWellenlängen, die zu seinemAufbau erforderlich sind.Sie variieren zwischen λ0 −Δλ und λ0 +Δλ. Nach derde-Broglie-Beziehung ergibt sich eine entsprechendeUnschärfe des Impulses, also auch eine Unschärfe derGeschwindigkeit und der Energie des Teilchens.Diese beiden Beispiele verdeutlichen uns die nach

Heisenberg benannte Unschärferelation:

Je genauer der Impuls eines Teilchens definiert ist,desto unbestimmter ist seinOrt (Extremfall:mono-chromatische Welle), und je genauer der Ort einesTeilchens definiert ist, desto unbestimmter ist seinImpuls (Extremfall: unendlich schmales Wellenpa-ket).Rechnet man den zu Δp gehörenden Wellenlän-

genbereich aus, den man benötigt, um ein Wellen-paket der Ausdehnung Δx aufzubauen, so findetman

Δx ⋅ Δp ≥ h2π

(1.4-66)

mit der Planck’schen Konstanten h.Um den Übergang zur klassischen Mechanik zu er-

kennen, ersetzen wir in Gl. (1.4-66) Δp durch m ⋅ Δvund erhalten

Δx ⋅ Δv = h2πm

(1.4-67)

Für die makroskopischen Körper ist m um sehr vieleZehnerpotenzen größer als im atomaren Bereich. Dierechte Seite von Gl. (1.4-67) ist praktisch gleich nullzu setzen. Damit verschwinden die Unschärfen, undsowohl Ort als auch Geschwindigkeit und damit dieEnergie werden scharf.Zum Abschluss dieses Abschnitts wollen wir noch

eine Überlegung anstellen, die uns zeigt, dass das Ma-teriewellenfeld nichts gemein hat mit solchen Feldern,wiewir sie bislang kennen, etwa dem elektrischen oderdem magnetischen Feld.Denken wir zurück an unseren Beugungsversuch

mit einzelnen Elektronen. Das beschleunigte Elektronhatte einen scharfen Impuls, wir konnten seine Ei-genschaften durch eine bestimmte Wellenfunktion ψbeschreiben, sein Ort war unbestimmt. Wir konn-

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Gerd Wedler und Hans-Joachim Freund: Lehr- und Arbeitsbuch Physikalische Chemie — 2018/7/2 — Seite 74 — le-tex

74 1 Einführung in die physikalisch-chemischen Betrachtungsweisen, Grundbegriffe und Arbeitstechniken

ten nicht vorhersagen, wo es auf den Leuchtschirmauftreffen würde. Dies ändert sich aber schlagartig,wenn das Elektron durch die Szintillation auf demLeuchtschirm seinen Ort zu erkennen gibt. Von die-sem Augenblick an, d. h. durch die Messung, ist derOrt scharf geworden. Würden wir unmittelbar hinterden ersten Leuchtschirm S1 einen zweiten S2 setzen,so würden wir auch auf diesem das Elektron am glei-chen Ort beobachten. Das Elektron muss jetzt durchein schmales Wellenpaket beschrieben werden, dasdie Superposition vieler monochromatischer Wellenunterschiedlicher Wellenlänge darstellt. Der vor demersten Leuchtschirmnoch scharfe Impuls ist durch dieMessung unscharf geworden, dieWellenfunktion ψ istplötzlich in ein Wellenpaket übergegangen. Eine neu-erliche Messung des Impulses würde nun zu anderenWerten führen als vor dem Auftreffen des Elektronsauf den Leuchtschirm.Im Gegensatz zu unseren Erfahrungen aus der klas-

sischen Physik hat in der Atomphysik die Messung ei-nen Einfluss auf das zu messende Objekt.Elektrische oder magnetische Felder sind der Mes-

sung und Beobachtung unmittelbar zugänglich, sieändern sich nicht plötzlich und werden durch dieMessung nicht beeinflusst. EinMateriewellenfeld hin-gegen kann man nicht beobachten, das Betragsqua-drat seiner Amplitude hat die Bedeutung einer Wahr-scheinlichkeit.

1.4.7 Nachweis niedriger Energieniveaus in Gasen

Nachdem wir uns mit den Eigenschaften der Elektro-nen und der Photonen beschäftigt haben, wollen wirdiese nun benutzen, um über ihre Wechselwirkungmit Atomen näheren Aufschluss über die energeti-schen Verhältnisse in der Atomhülle zu erhalten.Zunächst wollen wir die Wechselwirkung von Elek-

tronen, die wir in einem elektrischen Feld beschleu-nigt haben, mit Gasen untersuchen. Wir verwendendazu die in Abb. 1.4-15 a skizzierte Versuchsanord-nung. Die Glühkathode K emittiert Elektronen, diedurch eine variable Spannung Ub in Richtung auf dasGitter G beschleunigt werden. Zwischen G und derAnodeA liegt eine geringeGegenspannung Ug, die diedurch das Gitter tretenden Elektronen abbremst. DasGalvanometer zeigt den Strom I der von K durch dasGitter nach A gelangenden Elektronen an. Die Röh-re ist mit Quecksilberdampf niedrigen Druckes ge-füllt, so dass die Elektronen auf ihrem Weg von Knach A mit Quecksilberatomen zusammenstoßenkönnen.Abbildung 1.4-15b zeigt nun, wie sich der Elektro-

nenstrom I ändert, wenn wir die Beschleunigungs-spannung Ub von null ausgehend allmählich vergrö-

(a) (b)

Abb. 1.4-15 Franck-Hertz’scher Versuch; (a) Versuchsanord-nung; (b) Stromstärke I in Abhängigkeit von der Beschleuni-gungsspannung Ub.

ßern. Zunächst beobachten wir mit wachsendem Ubeine Zunahme von I, weil um so mehr Elektronendurch das Gitter hindurchtreten, je stärker sie be-schleunigt worden sind. Die Verhältnisse sind die glei-chen wie in einer völlig evakuierten Röhre, die Zu-sammenstöße mit den Quecksilberatomen müssen al-so völlig elastisch sein, d. h. ohne Energieverlust ver-laufen. Überschreitet Ub aber einen Wert von 4.9V,so fällt der Elektronenstrom stark ab. Ein großer Teilder Elektronen hat nicht mehr genug Energie, um dieGegenspannung zu überwinden. Die Elektronenmüs-sen durch inelastische Stöße mit den Quecksilber-atomen Energie verloren haben. Bei weiterer Steige-rung von Ub nimmt I wieder zu, denn die Elektro-nen werden nach dem inelastischen Stoß im Feld zwi-schen K und G noch einmal beschleunigt. Sobald Ubjedoch 9.8V erreicht hat, fällt der Strom wieder ab.Nun sind die Elektronen nach dem inelastischen Stoßbis Gwieder so stark beschleunigt, dass sie einen zwei-ten inelastischenStoßmitQuecksilberatomenausfüh-ren können. Das Ganze wiederholt sich noch einmal,wenn wir Ub von 9.8V bis auf etwas über 14.7V erhö-hen.Sobald die Beschleunigungsspannung 4.9 V über-

schritten hat, stellen wir fest, dass der Quecksilber-dampf Licht emittiert, und zwar eine monochroma-tische Strahlung der Wellenlänge 253.6 nm. Die Ener-gie von Photonen mit einerWellenlänge von 253.6 nmentspricht genau der Energie von 4.9 eV, die die Elek-tronen bei ihrem inelastischen Stoß verlieren. Offen-sichtlich wird diese Energie beim Stoß auf das Atomübertragen, das dadurch in einen angeregten Zustandübergeht, aus dem es dann nach kurzer Zeit (≈ 10ns)unter Lichtemission in den Grundzustand zurück-kehrt.

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Gerd Wedler und Hans-Joachim Freund: Lehr- und Arbeitsbuch Physikalische Chemie — 2018/7/2 — Seite 75 — le-tex

751.4 Einführung in die Quantentheorie

Abb. 1.4-16 Zur Demonstration von Emissions- und Absorpti-onsspektrum.

Die entscheidende Erkenntnis, die uns dieserFranck-Hertz’sche Versuch liefert, besteht darin, dassdie Quecksilberatome nicht beliebige, sondern nurganz diskrete Energiebeträge aufnehmen und abge-ben können. Daraus dürfen wir schließen, dass dieElektronen in der Atomhülle des Atoms, die allein fürdie Wechselwirkung mit den stoßenden Elektroneninfrage kommen, ebenfalls nur in diskreten Energie-zuständen vorliegen.

1.4.8 Die Spektrallinien der Atome

Wir haben gesehen, dass sich durch ElektronenstoßAtome zur Lichtemission anregen lassen. Oft gelingtdies auch schon durch Zufuhr thermischer Energie,die Gelbfärbung der Flamme eines Bunsenbrennersdurch Natriumsalze ist ein bekanntes Beispiel dafür.Ganz allgemein zeigt sich wieder, dass die Atome

nur Licht bestimmterWellenlängen zu emittieren ver-mögen, wir sprechen deshalb von einem Linienspek-trum. Neben der Emission von Licht beobachten wiraber auch eine Absorption von Licht, und zwar zei-gen Emissions- und Absorptionsspektrum die gleicheLage der Linien. Der in Abb. 1.4-16 skizzierte Ver-such zeigt uns das am Beispiel der Natriumlinie. Vonder Bogenlampe L oder der Bunsenbrenner-Flamme Ffällt Licht über ein System von Spalten Sp auf ein Pris-ma, wo es spektral zerlegt wird. Auf einem Schirm Swird das Spektrum beobachtet.Wird lediglich die Na-

triumflamme als Lichtquelle benutzt, so beobachtenwir auf demSchirmdie gelbeNatriumlinie bei 589 nm.Verwenden wir allein die Bogenlampe als Lichtquelle,so sehen wir ein kontinuierliches Spektrum. Bringenwir jetzt in den Strahlengang der Bogenlampe zusätz-lich Natriumdampf, indem wir ein Natriumsalz in dieBunsenbrenner-Flamme streuen, so zeigt sich die Stel-le im kontinuierlichen Spektrum, an der die Natrium-linie liegt, als dunkle Linie imhellenRahmen. Aus demLicht der Bogenlampe ist der Teil mit der Wellenlän-ge 589 nm weitgehend vom Natriumdampf absorbiertworden.Die Spektren der Atome bestehen aus sehr vielen

Linien. Besonders übersichtlich ist das Spektrum desatomaren Wasserstoffs, das in Abb. 1.4-17a auszugs-weise wiedergegeben ist. Wir wollen an ihm die we-sentlichen Merkmale der Linienspektren studieren.Das Wasserstoffspektrum besteht aus Linien im ultra-violetten, sichtbaren und infraroten Spektralbereich.Mit steigender Frequenz zeichnen sich gewisse Häu-fungsstellen ab.Bereits 1885 zeigte Balmer, dass sich die Spektral-

linien in Serien ordnen lassen, für die sich, wennman nicht die Wellenlänge λ, sondern die Frequenz νoder dieWellenzahl ν = ν

c =1λ alsMaß verwendet, ein-

fache Gesetzmäßigkeiten ergeben. Es gilt

die Balmer-Formel

ν = R(

1m2 − 1

n2

)(1.4-68)

Dabei sind m und n ganze Zahlen, m ist für eine be-stimmte Serie eine Konstante, n ist stets größer alsm.Die Konstante R heißt Rydberg-Konstante und hat fürWasserstoff den Wert 109 677.578 cm−1.Abbildung 1.4-17b zeigt die Aufspaltung des Was-

serstoffspektrums in die einzelnen Serien, denen man

(a)

(b)

Abb. 1.4-17 Linienspektrumdes atomaren Wasserstoffs; (a) gesamtes Spektrum, (b) getrennt nach Serien.

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76 1 Einführung in die physikalisch-chemischen Betrachtungsweisen, Grundbegriffe und Arbeitstechniken

bestimmte Namen gegeben hat:

m = 1 Lyman-Seriem = 2 Balmer-Seriem = 3 Paschen-Seriem = 4 Brackett-Seriem = 5 Pfund-Serie

Für die weitere Diskussion ist es zweckmäßig, die Aus-drücke

Tn = − Rn2

(1.4-69)

zu betrachten, die man als Terme bezeichnet. Nachdem Ritz’schen Kombinationsprinzip (1908) ergebensich nämlich die Wellenzahlen als Differenz zweierTerme. Deshalb hat es sich bewährt, ein sog. Term-schema aufzustellen. Zu diesem Zweck kennzeichnetman jedenTermdurch eine horizontale Linie und ord-net diese Linien nach wachsender Laufzahl n an, wiees in Abb. 1.4-18 geschehen ist. Da die Termwerteumgekehrt proportional dem Quadrat der Laufzahlensind, nehmen die Termwerte von oben nach unten zu.Zu n = ∞ gehört T∞ = 0, zu n = 1

T1 = −R

Nach Gl. (1.4-68) und Gl. (1.4-69) lassen sich die Seri-en des Wasserstoffspektrums darstellen als

ν = Tn − Tm (1.4-70)

speziell also

Lyman-Serie ν = Tn − T1 n = 2, 3,…Balmer-Serie ν = Tn − T2 n = 3, 4,…

usw. Jede einzelne Linie des Spektrums erscheint dem-nach imTermschema als Differenz zweier Terme, dar-gestellt als senkrechte Strecke zwischen den Termen.Alle Linien einer Serie haben denselben Term als Fuß-punkt.Die wesentliche Deutung dieses Termschemas er-

folgte durch Niels Bohr (1913): Bekannt warendie lichtelektrische Gleichung, das Einstein’sche Fre-quenzgesetz

hν = eU0 + hνg (1.4-33)

und ihre Deutung (vgl. Abschnitt 1.4.5), die Absorpti-on des Lichtes in quantenhaften Energiebeträgen derGröße h ⋅ ν. Multipliziert man nun Gl. (1.4-70) oderGl. (1.4-68) mit hc

hcν = hν = hcTn − hcTm = Rchm2 − Rch

n2(1.4-71)

Abb. 1.4-18 Termschema des atomaren Wasserstoffs.

dann steht links eine Energie. Folglich müssen die bei-den Ausdrücke auf der rechten Seite auch Energienentsprechen:

hν = EEnde − EAnfang (1.4-72)

Die Energien EEnde und EAnfang werden sog. Ener-gieniveaus zugeschrieben. Jedem Energieniveau wirdein Energiezustand des Atoms zugeordnet. Dann istdie Energie hν einer jeden Spektrallinie gleich derDifferenz zwischen den Energien zweier verschiede-ner Zustände des Atoms. Durch die Absorption vonLicht einer bestimmten Frequenz geht das Atom ausdem Grundzustand oder einem angeregten Zustandin einen höher angeregten Zustand über. Andererseitsemittiert das Atom Licht einer bestimmten Frequenz,wenn es aus einem angeregten Zustand in einen weni-ger angeregten Zustand oder den Grundzustand zu-rückfällt.

1.4.9 Das Bohr’sche Modell des Wasserstoffatoms

Es lag nun nahe, die gewonnenen Erkenntnisse aus-zunutzen, um ein Modell des Wasserstoffatoms auf-zustellen. Wie wir im Abschnitt 1.4.1 gesehen haben,sollte nach Rutherford dasWasserstoffatom aus einemkleinen positiven Atomkern bestehen, um den in wei-

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771.4 Einführung in die Quantentheorie

tem Abstand ein Elektron kreist. Bohr übernahm die-se Vorstellung, ließ das Elektron wie ein Planet denKern umkreisen, nur dass die Anziehungskräfte elek-trostatischer Natur, d. h. Coulomb-Kräfte sein sollten.Er wandte die Gesetze der klassischen Mechanik undder Elektrostatik an.Die Anziehungskraft, die Zentripetalkraft |Fp|, ist

also

|Fp| = 14πε0

⋅e2

r2(1.4-73)

die Zentrifugalkraft |FF| ist|FF| = mev2

r= meω2r (1.4-74)

mit e als Elementarladung, r Abstand Kern – Elektron,me Masse des Elektrons, v Geschwindigkeit des Elek-trons und ω Winkelgeschwindigkeit. Die Bedingungfür das Zustandekommen einer Kreisbahn ist dann|FP| = |FF|, d. h.

14πε0

e2

r2=mev2

r= merω2 (1.4-75)

Wir sehen, dass Bahnradius und Bahngeschwindigkeitsich gegenseitig bestimmen.Der Energieinhalt des Wasserstoffatoms setzt sich

additiv aus potentieller (V ) und kinetischer (T) Ener-gie zusammen. Zur Angabe der potentiellen Energiemuss zuvor der Nullpunkt der Energie festgelegt wer-den. Für ihn wählt man zweckmäßigerweise den Zu-stand, in dem das Elektron unendlich weit vom Kernentfernt ist. Damit hat das Wasserstoffatom negativepotentielle Energie, und zwar

V = − 14πε0

⋅ e2

r(1.4-76)

Die kinetische Energie ist

T =me2v2 =

me2r2ω2 = 1

2Iω2 (1.4-77)

wenn man das Trägheitsmoment I einführt.Die Gesamtenergie ergibt sich damit zu

E = V +T =− 14πε0

⋅e2r+me2v2 =− 1

4πε0⋅e2r+ I2ω2

(1.4-78)

Berücksichtigt man die Bahnbedingung Gl. (1.4-75),so folgt

E = − 14πε0

⋅ e2

r+ 14πε0

⋅ e2

2r= − 1

8πε0⋅ e

2

r(1.4-79)

Nach Gl. (1.4-75) und Gl. (1.4-79) müsste das Elek-tron je nach seiner Geschwindigkeit beliebige Bahn-radien und auch beliebige Energiewerte annehmenkönnen. Dies stünde aber in krassem Gegensatz zuden Erkenntnissen, die aus den in Abschnitt 1.4.7und 1.4.8 mitgeteilten Experimenten gewonnen wor-den waren. Außerdem stellt das kreisende Elektroneine periodisch bewegte elektrische Ladung dar, dienach den Gesetzen der Elektrodynamik in ihrer Um-gebung ein elektromagnetisches Wechselfeld erzeu-gen müsste, das sich vom Ort seiner Entstehung mitLichtgeschwindigkeit ausbreiten und Energie trans-portieren müsste. Diese Energie müsste dem strah-lenden System entnommen werden. Nach Gl. (1.4-79)würde eine Energieabgabe zu einer Verringerung desRadius führen, d. h. das Elektron müsste auf einer Spi-ralbahn in den Kern stürzen. Wie die Erfahrung aberzeigt, muss es einen Zustand geben, in dem das Elek-tron strahlungslos umlaufen kann.

Um diese Schwierigkeiten zu überwinden, postu-lierte Bohr, dass die in Abschnitt 1.4.5 besproche-ne, auf Planck zurückgehende Erkenntnis, dass dieWirkung nur in ganzzahligen Vielfachen n von hauftreten kann, auch auf die Bewegung des Elek-trons um den Kern angewendet werden müsse unddass ein auf der Kreisbahn umlaufendes Elektronnicht strahlt.

Während der Kreisbewegung ändert sich der Impulsp nicht, die Lagekoordinate q wiederholt sich nachjedem Umlauf. Folglich muss für den stationären Zu-stand gelten

∮ p dq = n ⋅ h n = 1, 2,… (1.4-80)

Berücksichtigen wir, dass für die Kreisbewegung gilt

p = me ⋅ v = me ⋅ r ⋅ ω (1.4-81)

dq = r ⋅ dΦ , mit demWinkel Φ (1.4-82)

so folgt

∮ mer2ω dΦ = n ⋅ h (1.4-83)

mer2ω

∫0

dΦ = n ⋅ h (1.4-84)

mer2ω2π = n ⋅ h (1.4-85)

Das besagt, dass derDrehimpuls |l| eines Elektrons aufseiner Bahn,

|l| = me ⋅ r2 ⋅ ω = n ⋅ h2π

(1.4-86)

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78 1 Einführung in die physikalisch-chemischen Betrachtungsweisen, Grundbegriffe und Arbeitstechniken

nur ein ganzzahliges Vielfaches von h2π sein darf

(s. Abschnitt 3.1.4). Vereinigen wir diese Gleichungmit der Bahnbedingung Gl. (1.4-75), so erhalten wir

ω2 = 14πε0

⋅ e2

mer3= n2h2

4π2m2e r4

(1.4-87)

Damit sind keine beliebigenWerte für rmehrmöglich,sondern nur noch solche, für die gilt

rn =ε0n2h2

πmee2n = 1, 2,… (1.4-88)

Um einen Eindruck von der Größe dieses Bahnradiuszu gewinnen, setzen wir die bekannten Werte für ε0,me, h und e ein und erhalten dann für n = 1, d. h. fürdie kernnächste Kreisbahn, r1 = 5.292 ⋅ 10−9 cm.Kombinieren wir Gl. (1.4-88) mit Gl. (1.4-79), so er-

halten wir für die Energie

En = −mee4

8ε20n2h2n = 1, 2,… (1.4-89)

Nun sind auch keine beliebigen Energiewerte mehrzugelassen, vielmehr gibt es nur von der sog. Haupt-quantenzahl n abhängige diskrete Energiezustände,wie wir es auch aus dem Spektrum des atomarenWas-serstoffs geschlossen hatten. Zum Vergleich mit denSpektren schreiben wir Gl. (1.4-89) um in

En = − 1n2EA (1.4-90)

mit

EA =mee4

8ε20h2

(1.4-91)

Der Sprung eines Elektrons von einer Bahn höhererQuantenzahl (n2) auf eine solche niedrigerer Quan-tenzahl (n1) ist dann verbunden mit einer Energieän-derung

ΔE = E2 − E1 = EA

(1n21

− 1n22

)(n2 > n1) (1.4-92)

Beachten wir ferner, dass ΔE = h ⋅ ν ist, so ergibt sich

hν =EA ⋅ hchc

(1n21

− 1n22

)(1.4-93)

ν =EAhc

(1n21

− 1n22

)(1.4-94)

Dieser Ausdruck ist identisch mit der bei der Diskus-sion der Spektren abgeleiteten Gl. (1.4-68). Durch Ko-effizientenvergleich finden wir

R =EAhc

(1.4-95)

EA ist nach den angestelltenÜberlegungen die Energiedes Elektrons in der dem Kern am nächsten gelegenenBahn (n = 1). Es ist gleichzeitig der niedrigste Energie-zustand, der möglich ist, d. h. die Energie des Grund-zustandes. Da als Bezugszustand für die Energie dievöllige Trennung von Kern und Elektron angenom-men worden ist, stellt EA andererseits diejenige Ener-gie dar, die dem Wasserstoffatom zugeführt werdenmuss, um das im Grundzustand befindliche Elektronganz vom Kern zu trennen, es ist die Ionisierungsener-gie. Nach Gl. (1.4-95) ist die Rydberg-Konstante engmit der Ionisierungsenergie verbunden. Da EA nachGl. (1.4-91) aus den sehr genau bekannten Konstantenme, e und h berechenbar ist, gibt Gl. (1.4-95) dieMög-lichkeit, auch R zu berechnen. Der auf diese Weise er-mittelte Wert ist in bester Übereinstimmung mit demaus spektroskopischenDaten nachGl. (1.4-68) gewon-nenen.So erfolgreich die Bohr’sche Theorie auch bei der

Beschreibung des Spektrums des Wasserstoffatomsund der Spektrenwasserstoffähnlicher Ionen wieHe+,Li2+ u. dgl. (siehe Abschnitt 3.2.1) war, gelang esdoch nicht, auf der gleichen Grundlage das Spek-trum des Heliums oder gar schwererer Atome ex-akt zu beschreiben. Die alleinige Anwendung der dreiBohr’schen Postulate: Gültigkeit der klassischen Me-chanik und Elektrostatik, Ungültigkeit der Elektrody-namik hinsichtlich ihrer Aussagen über die Strahlungeiner beschleunigten Ladung und Hinzunahme derQuantenbedingung führt nur bei sehr einfachen ato-maren Gebilden zum Ziel. Nach den Kenntnissen, diewir in Abschnitt 1.4.4 über die Eigenschaften des Elek-trons gewonnen haben, wundert uns dies nicht. Si-cherlich ist es notwendig, bei einer widerspruchsfrei-en, umfassenden Theorie dieWelleneigenschaften derElektronen zu berücksichtigen.

1.4.10 Die Schrödinger-Gleichung

Das Bohr’sche Atommodell ist für uns von seinemAnsatz [Gl. (1.4-75)] her einleuchtend und anschau-lich, ist es doch die Übertragung des von uns mitunseren Sinnen unmittelbar wahrnehmbaren, makro-skopischen Geschehens auf atomare Dimensionen.Dies gilt schon nicht mehr für die Einführung derBohr’schen Postulate. Wenn wir uns nun mit derSchrödinger-Gleichung der Wellenmechanik zuwen-

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791.4 Einführung in die Quantentheorie

den, so geht die Anschaulichkeit zunächst völlig ver-loren.Bei der Diskussion des Dualismus Welle-Partikel

(Abschnitt 1.4.6) haben wir bereits über das Wesenund die Eigenarten der Materiewellen gesprochen.Wir haben gesehen, dass weniger die orts- und zeit-abhängige Wellenfunktion ψ als vielmehr ihr Betrags-quadrat |ψ|2 von Interesse ist, da dieses ein Maß fürdie Wahrscheinlichkeit ist, ein Teilchen anzutreffen.Solange wir uns mit den stationären Zuständen imAtomoder in einemMolekül befassen, könnenwir unsauf die Ortsabhängigkeit von ψ beschränken. Habenwir es jedoch mit Prozessen wie der Strahlung zu tun,so müssen wir auch die Zeitabhängigkeit von ψ disku-tieren (vgl. Abschnitt 3.4.2).Es sei vorausgeschickt, dass es eine Ableitung für

die der Wellenmechanik zugrundeliegende Schrödin-ger-Gleichung in dem Sinne, wie wir im Vorhergehen-den neue Beziehungen aus bekannten abgeleitet oderaus Modellen entwickelt haben, nicht gibt. Inspiriertdurch die Gedanken de Broglies und angesichts der1926 bereits vorhandenen experimentellen und theo-retischen Erkenntnisse, die wir in den vorangehendenAbschnitten besprochen haben, hat Schrödinger dienach ihm benannte

zeitunabhängige Schrödinger-Gleichung

Δψ + 8π2mh2

(E − V )ψ = 0 (1.4-96)

aufgestellt, ohne dass es von vornherein sicher war,dass die gedanklichenVerknüpfungen, auf die wir wei-ter unten eingehen werden, berechtigt sind.In dieser Gleichung bedeutet

Δ = ∇2 = 𝜕2

𝜕x2+ 𝜕2

𝜕 y2+ 𝜕2

𝜕z2(1.4-97)

den Laplace’schen Differentialoperator, ∇ den Nabla-Operator (bzgl. Operator s. Mathematischer An-hang D), der die entsprechende erste Ableitung reprä-sentiert, ψ ist die Wellenfunktion, m die Masse desTeilchens, E seine Gesamtenergie und V seine poten-tielle Energie.In der Thermodynamik haben wir uns längst daran

gewöhnt, dass es die Hauptsätze gibt, die wir nicht ab-leiten oder beweisen können. Ihre Richtigkeit ergibtsich daraus, dass wir keine Ausnahmen von den Aus-sagen dieser Hauptsätze kennen. In ähnlicher Weisesollten wir mit der Schrödinger-Gleichung verfahren,um den Schwierigkeiten aus dem Wege zu gehen, dieuns der Dualismus Welle-Partikel in der sinnlichen

Wahrnehmung bereitet. Das Entscheidende ist nichtderWeg zum Formelgebäude, sondern dessen Bewäh-rung zur Beschreibung der beobachteten Phänomene.Eingedenk dieser Einsicht können wir uns aller-

dings die Formulierung der Schrödinger-Gleichungverständlich machen, wenn wir ausgehend vom Dua-lismus Welle-Partikel akzeptieren, dass die Bewegungeines Teilchens auch durch eine Wellenfunktion be-schreibbar sein muss (Abschnitt 1.4.6). Denken wir andas Wasserstoffatom, so handelt es sich um die Be-wegung des Elektrons um das Proton. Da das Was-serstoffatom stabil ist, muss es in einem stationärenZustand vorliegen. Im Wellenbild werden stationäreZustände durch „stehende“ Wellen beschrieben (vgl.Lehrbücher der Physik). Beschränken wir uns auf denräumlichen Anteil und den eindimensionalen Fall, sowird die „stehende“ Welle beschrieben durch

ψ(x) = e2πix∕λ =(cos 2πx

λ+ i sin 2πx

λ

)(1.4-98)

Hierbei ist λ die Wellenlänge, x die Ortskoordinate,und i ist definiert durch i2 =−1. Durch Differentiationerhalten wir

dψ(x)dx

= 2πiλ

e2πix∕λ (1.4-99)

d2ψ(x)dx2

= −(2πλ

)2e2πix∕λ (1.4-100)

Die betrachteten stehenden Wellen erfüllen also dieGleichung

d2ψ(x)dx2

+(2πλ

)2ψ(x) = 0 (1.4-101)

Jetzt berücksichtigen wir die de-Broglie-Beziehung

λ = hp= hm ⋅ v

(1.4-102)

mit deren Hilfe wir die kinetische Energie T ausdrü-cken können als

T = 12mv2 = 1

2m(hmλ

)2(1.4-103)

Verknüpfen wir nun die Wellengleichung (1.4-101)mit Gl. (1.4-103), so erhalten wir

d2ψ(x)dx2

+ 8π2mh2

Tψ(x) = 0 (1.4-104)

Die kinetische Energie T lässt sich als Differenz ausGesamtenergie E und potentieller Energie V darstel-len, so dass

d2ψ(x)dx2

+ 8π2mh2

(E − V )ψ(x) = 0 (1.4-105)

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80 1 Einführung in die physikalisch-chemischen Betrachtungsweisen, Grundbegriffe und Arbeitstechniken

ist. Gleichung (1.4-105) ist nichts anderes als dereindimensionale Fall der Schrödinger-GleichungGl. (1.4-96). Es muss aber noch einmal klar zum Aus-druck gebracht werden, dass die durchgeführte Über-legung kein Beweis für die Richtigkeit der Schrödin-ger-Gleichung ist.Wenn wir die Schrödinger-Gleichung auf ein Pro-

blem anwenden, so heißt dies, dass wir, ausgehendvon einer Modellvorstellung, die Masse m des be-trachtetenTeilchens und die potentielle Energie V , diewir nach denMethoden der klassischen Physik ermit-teln, in Gl. (1.4-96) einsetzen und dann durch Lösender Differentialgleichung eine Aussage über die Wel-lenfunktion ψ und die Energie E erwarten, die dasVerhalten des Teilchens beschreiben. Es handelt sichhier um ein rein mathematisches Problem, und es istder Zweck dieses und der noch folgenden Abschnit-te 1.4.11 bis 1.4.15, uns anhand ganz einfacher Bei-spiele einen Einblick in die Verfahrensweise zu ver-schaffen. Wir werden dabei sehen, dass es sich um et-was völlig anderes handelt, als wir es bisher kennenge-lernt haben. Wir werden erfahren, was mathematischund physikalisch hinter einigen Begriffen, wie bei-spielsweise Entartung oder Durchtunnelung, steckt,die heutzutage schon in den einfachsten Einführungs-texten in die Chemie verwendet werden. Andererseitswerden wir für das freie Teilchen und das Teilchen imKasten Beziehungen ableiten, die wir in späteren Kapi-teln, besonders im Kapitel 4 für die statistische Ther-modynamik benötigen.Zunächstmüssen wir jedoch noch einige allgemeine

Fragen zur Schrödinger-Gleichung erläutern.Wir haben gesehen (Gl. (1.4-101) bis (1.4-105)), wie

man formal von der Gleichung für eine stehende Wel-le zur Schrödinger-Gleichung kommt. Es gibt noch ei-nen weiteren Weg von der klassischen Mechanik zurWellenmechanik, der natürlich ebensowenig eine Ab-leitung oder ein Beweis für die Schrödinger-Gleichungist, der uns aber zu einer einfachen, später häufig ver-wendeten Schreibweise führt.Für die Gesamtenergie eines Teilchens können wir

schreiben

E = T +V = 12m(v2x + v

2y + v

2z )+V (x, y, z) (1.4-106)

oder

E = T +V = 12m

(p2x+ p2y + p

2z)+V (x, y, z) (1.4-107)

Die Energie lässt sich also darstellen als Funktion derImpulskoordinaten px , py und pz und der Ortskoor-dinaten x, y und z:

E = H(x,… , px ,…) (1.4-108)

Diese Funktion bezeichnet man als Hamilton-Funktion. Führt man nun die Substitution

px →h2πi

𝜕𝜕x

(1.4-109)

ein, ersetztman also den Impuls px durch denOpe-rator h

2πi𝜕𝜕x , so erhält man mit

H = H(x,… , h

2πi𝜕𝜕x

,…)

(1.4-110)

den Hamilton-Operator. Die Schrödinger-Glei-chung lautet mit ihm

E ⋅ ψ = Hψ . (1.4-111)

Dabei müssen wir berücksichtigen, dass p2x dann

durch −(h2π

)2𝜕2

𝜕x2 zu ersetzen ist. Beachten wir dieGl. (1.4-107), (1.4-108) und (1.4-109), so können wirGl. (1.4-111) ausführlicher schreiben:

E ⋅ ψ = 12m

(−(h2π

)2)(

𝜕2

𝜕x2+ 𝜕2

𝜕 y2+ 𝜕2

𝜕z2

+ V (x, y, z) ⋅ ψ(1.4-112)

was wir umstellen können zu(𝜕2

𝜕x2+ 𝜕2

𝜕 y2+ 𝜕2

𝜕z2

)ψ+ 8π2m

h2(E−V (x, y, z)) ⋅ψ = 0

(1.4-113)

Diese Gleichung ist identisch mit Gl. (1.4-96). Dasheißt, dass Gl. (1.4-96) und Gl. (1.4-111) äquivalen-te Formulierungen der Schrödinger-Gleichung sind.Welche Formulierung wir verwenden werden, hängtvon dem speziell betrachteten Fall ab. Oft wird zurVereinfachung

h2π

≡ ℏ (1.4-114)

eingeführt. Wir wollen diesem Brauch folgen undschreiben im Folgenden für

die Schrödinger-Gleichung

Δψ + 2mℏ2

(E − V )ψ = 0 (1.4-115)

Wenden wir sie in der Form

E ⋅ ψ = Hψ (1.4-111)

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811.4 Einführung in die Quantentheorie

an, dann beachten wir die Substitution

px =ℏi𝜕𝜕x

(1.4-116)

Um in den späteren Abschnitten den Kontext nichtdurch mathematische Erörterungen zerreißen zumüssen, wollen wir noch einige häufig wiederkehren-de Fragen erörtern, spezielle Probleme sind imMathe-matischen Anhang behandelt.Wir werden feststellen, dass die Wellenfunktionen

nur bis auf einen konstanten Faktor bestimmt sind.Nun soll aber, wie wir im vorangegangenen Abschnittgesehen haben, |ψ|2 ein Maß für die Wahrscheinlich-keit sein, das Teilchen anzutreffen. Dann muss die Ge-samtwahrscheinlichkeit, d. h. das Integral über |ψ|2über den gesamten Raum τ genommen, gleich einssein. Das besagt, dass, selbst wenn man den Ort desTeilchens nicht genau angeben kann, sich das Teilchenirgendwo im Universum aufhalten muss:Wir nennen

∫ |ψ|2 dτ = 1 (1.4-117)

das Normierungsintegral.

Wirmüssen also denkonstantenFaktor so bestimmen,dass Gl. (1.4-117) erfüllt ist. Ist dies der Fall, so nen-nen wir die Wellenfunktion normiert. Führen wir nuneine Dimensionsbetrachtung durch, so erkennen wiraus Gl. (1.4-117):

|ψ|2 ist eine Wahrscheinlichkeitsdichte (Wahr-scheinlichkeit pro Volumen).

In vielen Fällen wird die Wellenfunktion nicht reell,sondern komplex sein. Die uns besonders interessie-rende Wahrscheinlichkeitsdichte |ψ|2 ist dann durchdas Produkt aus der Wellenfunktion ψ und der dazukonjugiert komplexen Funktion ψ∗ gegeben:

ψ ⋅ ψ∗ = |ψ|2 (1.4-118)

Damit Gl. (1.4-117) erfüllt werden und |ψ|2 eine phy-sikalische Bedeutung haben kann, muss die Wellen-funktion drei Bedingungen erfüllen:

1. ψ muss stetig sein und eine stetige erste Ab-leitung besitzen. In der ψ-Funktion dürfen alsokeine Sprünge oder Knicke auftreten.

2. ψ muss eine eindeutige Funktion sein. Zu ei-nemSatz der unabhängigenVariablen darf es al-so nur einen ψ-Wert geben.

3. ψmuss überall endlich sein und gegen null stre-ben, wenn die Ortskoordinaten unendlich wer-den.

Wir werden häufiger vor die Aufgabe gestellt werden,etwas über eine Eigenschaft eines Systems oder Teil-chen auszusagen, die sich nicht wie die Energie un-mittelbar aus der Lösung der Schrödinger-Gleichungergibt. Beispiele dafür sind die potentielle Energie Voder der Impuls p. Wir wollen zunächst die potenti-elle Energie betrachten, von der wir wissen, dass sieeine Funktion der Ortskoordinaten ist. Der Einfach-heit halber wählen wir den eindimensionalen Fall, dieWellenfunktion ist also nur abhängig von der Koordi-nate x.

Die Wahrscheinlichkeitsdichte 𝜚(x) ist dann mitGl. (1.4-118)

|ψ(x)|2 = ψ∗(x)ψ(x) = 𝜚(x) (1.4-119)

wobei vorausgesetzt ist, dass die Wellenfunktionnormiert ist.

Dann ist die Wahrscheinlichkeit, das Teilchen zwi-schen x und x + dx anzutreffen, 𝜚(x) dx. Wollen wirnun den Mittelwert ⟨V ⟩ der potentiellen Energie er-mitteln, dann müssen wir jeden Wert V (x) mit derWahrscheinlichkeit multiplizieren, das Teilchen andieser Stelle anzutreffen, und über alle x-Werte inte-grieren. Wir nennen diesen Mittelwert

Erwartungswert ⟨V ⟩⟨V ⟩ = +∞

∫−∞

V (x)𝜚(x) dx =+∞

∫−∞

ψ∗(x)V (x)ψ(x) dx

(1.4-120)

sofern die Wellenfunktion normiert ist. Andern-falls gilt anstelle von Gl. (1.4-120)

⟨V ⟩ = ∫+∞−∞ ψ∗(x)V (x)ψ(x) dx

∫+∞−∞ ψ∗(x)ψ(x) dx(1.4-121)

wie es einer üblichen Mittelwertbildung entspricht.Im Fall der potentiellen Energie liegen die Verhält-

nisse sehr einfach, weil wir in Gl. (1.4-120) die po-tentielle Energie nur mit der Wahrscheinlichkeit zumultiplizieren brauchen. Man nennt V (x) deshalb ei-nen multiplikativen Operator. Ohne nähere Begrün-dung wollenwir hier festhalten, dass Gl. (1.4-120) bzw.

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82 1 Einführung in die physikalisch-chemischen Betrachtungsweisen, Grundbegriffe und Arbeitstechniken

Gl. (1.4-121) auch anwendbar sind, wenn wir den Er-wartungswert einer physikalischen Größe A berech-nen wollen, deren Operator A, etwa wie beim Impuls

p(x) = h2πi

𝜕𝜕x

(1.4-109)

nicht multiplikativ ist. Wir müssen nur auf eines ach-ten:

Wirmüssen denOperator A zunächst auf ψ anwen-den, bevor wir mit ψ∗ multiplizieren und integrie-ren:

⟨A⟩ = ∫+∞−∞ ψ∗(x)[Aψ(x)] dx

∫+∞−∞ ψ∗(x)ψ(x) dx(1.4-122)

Es gibt eine weitere Schreibweise, die sich später,insbesondere bei der Behandlung derMehrelektro-nensysteme, bewähren wird.Man schreibt für eine Wellenfunktion ψ1

ψ1 = |ψ1⟩ „ket“ (1.4-123)

und für eine konjugiert komplexe Wellenfunktionzur Wellenfunktion ψ2

ψ∗2 = ⟨ψ2| „bra“ (1.4-124)

Die Kombination „bra“ „ket“ ist die Abkürzung fürein Integral:

⟨ψ2|ψ1⟩ = ∫ ψ∗2ψ1dτ (1.4-125)

Ersichtlich ist im Falle einer normierten Wellen-funktion ψ1

⟨ψ1|ψ1⟩ = ∫ ψ∗1ψ1dτ = 1

Für dieWahrscheinlichkeitsdichte, bei derman nureine Multiplikation ausführt, schreibt man

|ψ⟩⟨ψ| = ρ (1.4-126)

Für den Erwartungswert eines Operators A gilt

⟨A⟩ = ⟨ψ|A|ψ⟩bei einer normierter Wellenfunktion ψ

(1.4-127)

Andernfalls ist

⟨A⟩ = ⟨ψ|A|ψ⟩⟨ψ|ψ⟩ (1.4-128)

In demAusdruck für den Erwartungswert desOpe-rators wirkt der Operator nur nach rechts auf „ket“.

ZumAbschluss der einführenden Betrachtungen überdie Quantentheorie wollen wir uns mit einigen ein-fachen Anwendungen der Schrödinger-Gleichung be-schäftigen, die uns die Besonderheiten der quanten-mechanischen Ergebnisse vor Augen führen sollen.Zuvor solltenwir uns jedoch noch an eines erinnern:

Als wir im Abschnitt 1.4.6 den Dualismus Welle-Partikel besprochen haben, haben wir dem Be-tragsquadrat der Wellenfunktion die Angabe ei-ner Wahrscheinlichkeit zugeschrieben. Von Wahr-scheinlichkeit kann man aber nur sprechen, wenneine große Anzahl von Ereignissen vorliegt. DieWelleneigenschaften ergeben sich also nur bei dermomentanen Beobachtung des Verhaltens vielerTeilchen oder bei sehr vielen Beobachtungen aneinem Teilchen. Deshalb ist es falsch, einem Teil-chen eine Welle zuzuschreiben. Dies müssen wirstets bedenken, wenn wir im Folgenden in eigent-lich nicht korrekter Weise von der Behandlung ei-nes freien Teilchens oder eines Teilchens im Kas-ten oder Potentialtopf sprechen, da die Schrödin-ger-Gleichung die Massem und die Energie E einesTeilchens enthält.

1.4.11 Die Behandlung eines freien Teilchens

Als erstes Beispiel behandeln wir ein freies Teilchen,d. h. ein solches, das sich in einem potentialfreienRaum (V = 0) bewegt. Um das Problem noch weiterzu vereinfachen, wollen wir uns auf den eindimensio-nalen Fall beschränken. Die Schrödinger-Gleichung(Gl. 1.4-115) lautet für dieses Beispiel

d2ψdx2

+ 2mℏ2E ⋅ ψ = 0 (1.4-129)

Zur Vereinfachung setzen wir

k = 1ℏ(2mE)1∕2 (1.4-130)

und erhalten

d2ψdx2

+ k2ψ = 0 (1.4-131)

Zur Lösung machen wir den Lösungsansatz

ψ = ebx (1.4-132)

substituieren ihn in Gl. (1.4-131)

b2ebx + k2ebx = 0 (1.4-133)

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831.4 Einführung in die Quantentheorie

und erhalten zur Bestimmung von b

b2 + k2 = 0 (1.4-134)

b = ±ik (1.4-135)

Wir finden also zwei Lösungen

ψ1 = eikx (1.4-136)

ψ2 = e−ikx (1.4-137)

Die allgemeine Lösung muss zwei Integrationskon-stanten enthalten. Wir erhalten sie (vgl. Mathemati-scher Anhang N) als Summe der mit einer beliebigenKonstanten multiplizierten Teillösung

ψ = A ⋅ eikx + B ⋅ e−ikx (1.4-138)

Umdie physikalischeBedeutung diesesAusdruckes zuverstehen, betrachtenwir zunächst den Fall, dass B = 0ist. Wir fragen nach dem Impuls des Teilchens. NachGl. (1.4-109) und Gl. (1.4-122) ist

⟨px⟩ = ∫ ψ∗[ℏi𝜕𝜕x ψ]dx

∫ ψ∗ψ dx

=∫ Ae−ikx ⋅ ℏ

i ik ⋅ Aeikx dx

∫ Ae−ikxAeikx dx = ℏk (1.4-139)

Wir sehen, dass wir ein Teilchenmit positivem Impulsin der x-Richtung haben, d. h. ein Teilchen, das sichin der positiven x-Richtung bewegt. Für den Fall, dassA = 0 ist, erhalten wir

⟨px⟩ = −ℏk (1.4-140)

Das Teilchen bewegt sich in der negativen x-Richtung.k können wir nun wieder durch Gl. (1.4-130) substitu-ieren und finden

|⟨px⟩| = ℏk = (2mE)1∕2 (1.4-141)

Als nächstes fragenwir nach derWahrscheinlichkeits-dichte, die uns durch Gl. (1.4-119) gegeben ist. Bei derBerechnung beachten wir, dass nach der Euler’schenGleichung

eikx = cos kx + i sin kx (1.4-142)

ist. Somit ist

ψ ⋅ψ∗ =A2(cos kx+ i sin kx)(cos kx− i sin kx) = A2

(1.4-143)

bzw.

ψ ⋅ ψ∗ = B2 (1.4-144)

In beiden betrachteten Fällen ist die Wahrscheinlich-keitsdichte unabhängig von x. Das bedeutet, dass wirfür jeden x-Wert die gleiche Wahrscheinlichkeit ha-ben, das Teilchen anzutreffen; der Ort des Teilchensist also völlig unbestimmt. Sein Impuls hingegen istnach Gl. (1.4-140) scharf, ebenso nach der de-Broglie-Beziehung Gl. (1.4-15) die de-Broglie-Wellenlänge

λ = hpx

= 2πk

(1.4-145)

Demnach ist Δpx = 0 und Δx = ∞, so dass die Hei-senberg’sche Unschärferelation nicht verletzt wird.Eine einfache Betrachtung (Mathematischer An-

hang N) ergibt, dass eine Lösung von Gl. (1.4-129)auch durch

ψ = A sin kx + B cos kx (1.4-146)

mit den frei wählbaren Konstanten A und B gegebenist. Sowohl die Sinus- als auch die Cosinus-Funktionstellen eine Überlagerung von zwei Teilchenstrahlengleicher Intensität dar, wie im Mathematischer An-hang N gezeigt ist. Berechnen wir jetzt die Wahr-scheinlichkeitsdichte, so finden wir sowohl für dieFunktion A ⋅ sin kx (B = 0), als auch für die FunktionB ⋅cos kx (A = 0) oder die ψ-Funktion derGl. (1.4-146)eine sinusförmige Abhängigkeit von der Ortskoordi-nate. Dies ist darauf zurückzuführen, dass sich durchInterferenz der beiden gegeneinander laufenden de-Broglie-Wellen stehende Wellen ausbilden.Die Lösung der Schrödinger-Gleichung (1.4-129)

konnte durchgeführt werden ohne jede Beschränkungin derWahl von k. Das bedeutet, da nach Gl. (1.4-130)

E = ℏ2k22m

(1.4-147)

ist, dass die kinetische Energie des Teilchens – potenti-elle Energie wurde ja ausgeschlossen – jeden positivenWert annehmen kann.Diese Erkenntnis lässt uns jetzt verstehen, wes-

halb sich, worauf im Text noch nicht näher einge-gangen wurde, an die Seriengrenze der Atomspek-tren ein Kontinuum anschließt (vgl. Abb. 1.4-17 undAbb. 1.4-18). Solange das Elektron noch dem Atom-verband angehört, liegt es nach den geschildertenexperimentellen Ergebnissen und den noch zu be-handelnden theoretischen Überlegungen (vgl. Ab-schnitt 3.2) in diskreten Energiezuständen vor. Sobaldes aber den Atomverband verlassen hat, befindet es

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84 1 Einführung in die physikalisch-chemischen Betrachtungsweisen, Grundbegriffe und Arbeitstechniken

sich im potentialfreien Raum und kann deshalb jedebeliebige Energie annehmen.

1.4.12 Die Behandlung eines Teilchens imeindimensionalen Kasten

Als zweites Beispiel wollen wir den Fall behandeln,dass sich ein Teilchen in einem potentialfreien Kastenbefindet, sich also nichtmehr frei bewegen kann. Auchhier wollenwir zurVereinfachung den eindimensiona-len Fall annehmen.Zunächst wenden wir uns der klassischen Be-

trachtungsweise zu. Die Bewegung erfolgt längs derx-Koordinate. An den Koordinatenpunkten x = 0 undx = a befinden sich festeWände. DerMassepunkt be-wege sich mit der Geschwindigkeit v0 und dem Im-puls p0 = m ⋅ v0 nach rechts. Bei x = a wird er elas-tisch reflektiert, seine Geschwindigkeit ist daraufhin−v0 sein Impuls − p0. Bei x = 0 erfolgt wieder elas-tische Reflexion. So fliegt das Teilchen in dem Kastenständig hin und her. Abbildung 1.4-19 veranschaulichtdie Verhältnisse im p, x-Diagramm.Die Rechteckskurve wird im Uhrzeigersinn durch-

laufen. Die senkrechten Teile geben die Geschwindig-keits- und Impulsumkehr bei der Reflexion wieder.Die Bewegung des Teilchens zwischen den Wändenerfolgt kräftefrei, denn der Kasten sollte potentialfreisein. Die Gesamtenergie ist deshalb gleich der kineti-schen Energie.

E = 12mv20 = 1

2mp20 (1.4-148)

Wenden wir uns nun der wellenmechanischen Be-trachtungsweise zu. Auch hier nehmen wir an, dass in-nerhalb des Kastens (0 ≤ x ≤ a) auf den Massepunktkein Potentialfeld einwirkt (V = 0). Die Wände beix = 0 und x = a erzeugen wir dadurch (vgl.Abb. 1.4-20), dass wir an diesen Stellen das Poten-tial diskontinuierlich auf einen Wert von V0 = ∞ an-steigen lassen. Wir unterscheiden demnach folgendeGebiete

I x ≤ 0 mitV = ∞II 0 ≤ x ≤ a mitV = 0III a ≤ x mitV = ∞ .

Abb. 1.4-19 Bewegung eines Teilchens im linearen Kasten,klassische Betrachtungsweise.

In den Gebieten I und III lautet die Schrödinger-Glei-chung

d2ψdx2

+ 2mℏ2

(E −∞)ψ = 0 (1.4-149)

Diese Gleichung kann nur durch

ψ = 0 (1.4-150)

erfüllt werden. Dann ist auch |ψ|2 = 0, das Teilchenexistiert in diesen Gebieten nicht.Im Gebiet II lautet die Schrödinger-Gleichung wie

im Fall des freien Teilchens in Abschnitt 1.4.11

d2ψdx2

+ 2mℏ2Eψ = 0 (1.4-129)

Wir führen wieder ein

k = 1ℏ(2mE)1∕2 (1.4-130)

und erhalten als allgemeine Lösung

ψ = A sin kx + B cos kx (1.4-146)

Ein wesentlicher Unterschied gegenüber der Behand-lung des freien Teilchens ergibt sich aus der Forde-rung, dass ψ eine kontinuierliche Funktion sein muss.Wegen Gl. (1.4-150) muss nämlich für die Schrödin-ger-Gleichung des Gebietes II ebenfalls gelten

ψ(0) = 0 (1.4-151)

ψ(a) = 0 (1.4-152)

Gleichung (1.4-146) und Gl. (1.4-151) lassen sich nurin Einklang bringen, wenn gilt

B = 0 (1.4-153)

Abb. 1.4-20 Potentialtopfmodell.

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851.4 Einführung in die Quantentheorie

Gleichung (1.4-152) fordert, dass

ψ(a) = A ⋅ sin(k ⋅ a) = 0 (1.4-154)

was nur möglich ist, wenn

k ⋅ a = n ⋅ π n = 0, 1, 2, 3,… (1.4-155)

k = nπa

n = 0, 1, 2, 3,… (1.4-156)

Im Gegensatz zur Behandlung des freien Teilchenssind jetzt nicht mehr alle k-Werte zugelassen. DieRandbedingungen Gl. (1.4-151) und Gl. (1.4-152)haben dazu geführt, dass nur noch solche k-Werteerlaubt sind, die Gl. (1.4-156) erfüllen. Damit wer-den die erlaubten Lösungen der Schrödinger-Glei-chung (1.4-129)

ψn = A ⋅ sin(nπax)

n = 0, 1, 2, 3,… (1.4-157)

und die zugehörigen sog. Eigenwerte der Energienach Gl. (1.4-130)

En =k2ℏ22m

= h2

8ma2n2 n = 0, 1, 2, 3,… (1.4-158)

Es bleibt uns noch die Aufgabe, die Wellenfunkti-on Gl. (1.4-157) auf 1 zu normieren. Es muss nachGl. (1.4-117)

+∞

∫−∞

|ψ|2 dx = A2

a

∫0

sin2(nπax)dx = 1 (1.4-159)

sein.

Wir substituieren

u = nπax (1.4-160)

und erhaltena

∫0

sin2(nπax)dx = a

∫0

sin2 u du

= aπ

π

∫0

sin2 u du = aπ⋅ π2= a

2

(1.4-161)

(bzgl. des letzten Schritts s. Mathematischer An-hang I).Daraus folgt mit Gl. (1.4-159)

A =√

2a

(1.4-162)

wobei wir allerdings berücksichtigen müssen, dass fürn = 0 dieWellenfunktion nicht normierbar und damitphysikalisch unsinnig ist.Wir können also zusammenfassen: Für das Teilchen

im eindimensionalen Kasten ergeben sich

ψn =√

2asin πn

ax n = 1, 2, 3,… (1.4-163)

En =h2

8ma2⋅ n2 n = 1, 2, 3,… (1.4-164)

Während nach Gl. (1.4-148) das Teilchen in der klas-sischen Betrachtungsweise jeden beliebigen Energie-wert annehmen konnte, sind nach der quantenmecha-nischen Berechnung nur diskrete, von der Quanten-zahl n abhängige Energiezustände erlaubt. Es sei be-reits hier bemerkt, dass die Energiezustände auch vonder Länge a des Kastens abhängen.Abbildung 1.4-21 zeigt die erlaubten Energieni-

veaus, Wellenfunktionen und Wahrscheinlichkeits-dichten in Abhängigkeit von der Quantenzahl n. Ausihr entnehmen wir einen weiteren Unterschied zumklassischen Ergebnis: Die Aufenthaltswahrscheinlich-keit des Teilchens ist ortsabhängig und hängt von derQuantenzahl ab. Des Weiteren erkennen wir, dass dieAnzahl der Knoten, d. h. der Nullstellen der Wellen-funktion, gleich n − 1 ist. (Die Nullstellen am Randwerden nicht berücksichtigt.)Bei unserer Betrachtung haben wir uns jetzt völ-

lig auf die Wellenfunktion im Kasten, d. h. im Ge-biet II der Abb. 1.4-20, konzentriert. In den Gebie-ten I und III, d. h. bei x ≤ 0 bzw. x ≥ a, ist nachGl. (1.4-150) ψ = 0. Die Wellenfunktionen setzen sich

Abb. 1.4-21 Erlaubte Energieniveaus, Wellenfunktion ψ unddie Wahrscheinlichkeitsdichten |ψ|2 für ein Teilchen im linea-ren Kasten.

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86 1 Einführung in die physikalisch-chemischen Betrachtungsweisen, Grundbegriffe und Arbeitstechniken

also in Abb. 1.4-21 nach rechts und links als waage-rechte Geraden mit dem Ordinatenwert null fort. Dasbedeutet aber, dass ψ bei x = 0 und bei x = a zwarkontinuierlich ist, aber einen Knick aufweist, was einVerstoß gegen Punkt 1 der Forderungen ist, die wiran dasVerhalten vonWellenfunktionen gestellt haben.Die Diskrepanz ist darin begründet, dass wir ein un-endlich hohes Potential als Wand für den Kasten an-genommen haben. Das ist jedoch ein nicht realisierba-rer Grenzwert. Sowie wir das unendlich hohe Poten-tial durch ein extrem hohes ersetzen, tritt, wie wir inAbschnitt 1.4.14 sehen werden, dieses Problem nichtmehr auf.

1.4.13 Die Behandlung eines Teilchensim dreidimensionalen Kasten

Wir wollen das in Abschnitt 1.4.12 besprochene Pro-blem jetzt erweitern auf den dreidimensionalen Fall,um hierbei den Separationsansatz zur Lösung derSchrödinger-Gleichung und den Begriff der Entartungkennenzulernen.Der Kasten habe die Längen a, b und c in der x-, y-

bzw. z-Richtung. DieWände sind wieder durch ein aufden Wert∞ springendes Potential gegeben. Letztereshängt jetzt von x, y und z ab, und es gilt

V (x, y, z) ={0 für 0 ≤ x ≤ a; 0 ≤ y ≤ b; 0 ≤ z ≤ c∞ für alle übrigen Werte von x, y und z.

(1.4-165)

Innerhalb des Kastens lautet die Schrödinger-Glei-chung

𝜕2ψ𝜕x2

+𝜕2ψ𝜕 y2

+𝜕2ψ𝜕z2

+ 2mℏ2

⋅ E ⋅ ψ = 0 (1.4-166)

Die Randbedingungen sind

ψ(0, y, z) = ψ(x, 0, z) = ψ(x, y, 0) = 0 (1.4-167)

und

ψ(a, y, z) = ψ(x, b, z) = ψ(x, y, c) = 0 (1.4-168)

Wir müssen nun versuchen, die eine, von drei Varia-blen abhängige Differentialgleichung (1.4-166) in drei,jeweils nur von einer Variablen abhängige Gleichun-gen zu trennen. Das gelingt uns mithilfe eines

Separationsansatzes

ψ(x, y, z) = X(x) ⋅ Y (y) ⋅ Z(z) (1.4-169)

Substituieren wir diesen Ansatz in Gl. (1.4-166), so er-halten wir

Y (y)Z(z)d2X(x)dx2

+ X(x)Z(z)d2Y (y)d y2

+ X(x)Y (y)d2Z(z)dz2

= −2mℏ2

E ⋅ X(x)Y (y)Z(z)

(1.4-170)

oder

1X(x)

d2X(x)dx2

+ 1Y (y)

d2Y (y)d y2

+ 1Z(z)

d2Z(z)dz2

=−2mℏ2E

(1.4-171)

Der erste Summand auf der linken Seite ist nur vonx, der zweite nur von y und der dritte nur von z ab-hängig. Da die Summe eine Konstante ist, muss jedereinzelne Summand eine Konstante sein. Wir nennensie −k2x ,−k

2y und−k

2z und erhalten nach geringfügiger

Umstellung

d2X(x)dx2

+ k2xX(x) = 0 (1.4-172)

d2Y (y)d y2

+ k2yY (y) = 0 (1.4-173)

d2Z(z)dz2

+ k2zZ(z) = 0 (1.4-174)

k2x + k2y + k

2z =

2mℏ2E (1.4-175)

Jede der Gl. (1.4-172) bis (1.4-174) entsprichtGl. (1.4-131), so dass wir wie in Abschnitt 1.4.11 undAbschnitt 1.4.12 die Lösungen

X(x) = Ax sin kxx + Bx cos kxx (1.4-176)

Y (y) = Ay sin ky y + By cos ky y (1.4-177)

Z(z) = Az sin kzz + Bz cos kzz (1.4-178)

erhalten. Da die Randbedingungen den Gl. (1.4-151)bzw. (1.4-152) analog sind, ergibt sich wie inGl. (1.4-156)

kx =nxπa

nx = 1, 2, 3,… (1.4-179)

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871.4 Einführung in die Quantentheorie

ky =nyπb

ny = 1, 2, 3,… (1.4-180)

kz =nzπc

nz = 1, 2, 3,… (1.4-181)

Damit ist die allgemeine Lösung der Schrödinger-Gleichung (1.4-166) für ein Teilchen im quaderförmi-gen Kasten mit den Längen a, b und c

ψnxnynz (x, y, z) = A sinnxπax ⋅ sin

nyπby ⋅ sin

nzπcz

(1.4-182)

Die Lösung lässt wieder nur bestimmte Eigenwerteder Energie zu. Sie folgen aus den Gl. (1.4-175) und(1.4-179) bis (1.4-181) zu

Enxnynz =h28m

(n2xa2

+n2yb2

+n2zc2

)(1.4-183)

Für den speziellen Fall, dass sich das Teilchen in einemwürfelförmigen Kasten befindet, d. h. dass

a = b = c , (1.4-184)

geht Gl. (1.4-183) über in

Enxnynz =h2

8ma2(n2x + n

2y + n

2z) (1.4-185)

Wir sehen, dass die Energie jetzt außer von der Kan-tenlänge des Würfels nur noch von der Summe derQuadrate der Quantenzahlen abhängt. Damit könnenverschiedene Eigenfunktionen

ψnxnynz (x, y, z) = A sinnxπax ⋅ sin

nyπay ⋅ sin

nzπaz

(1.4-186)

den gleichen Eigenwert der Energie annehmen, bei-spielsweise die drei verschiedenen Eigenfunktionenmit

nx = 1; ny = 1; nz = 2nx = 1; ny = 2; nz = 1nx = 2; ny = 1; nz = 1 .

Gibt es zu mehreren linear unabhängigen Eigen-funktionen nur einen Eigenwert der Energie, sospricht man von Entartung.

In Abb. 1.4-22 sind für ein Teilchen im dreidimensio-nalen Kasten für die Fälle a = b = c (Würfel) und a,b = a

2 , c =a3 (Quader) die erlaubten Energiezustän-

de, die Quantenzustände und der Entartungsgrad fürniedrige Quantenzustände wiedergegeben.Wir erkennen, dass die Entartung nicht auf das Teil-

chen imWürfel beschränkt ist.

(a) (b)

Abb. 1.4-22 Energiezustände, Quantenzustände und Entartungsgrad für ein Teilchen (a) im Würfel mit der Kantenlänge a und(b) im Quader mit den Kantenlängen a, a

2und a

3.

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88 1 Einführung in die physikalisch-chemischen Betrachtungsweisen, Grundbegriffe und Arbeitstechniken

In den Abschnitten 1.4.12 und 1.4.13 haben wirerkannt, dass ein Teilchen im Kasten bei Zugrun-delegen der klassischen Physik beliebige Energi-en annehmen kann, dass also ein Kontinuum derEnergie vorliegt, während sich bei wellenmechani-scher Betrachtung diskrete Energiezustände erge-ben. Wir sollten uns deshalb noch die Frage stel-len, ob es zwischen beiden Ergebnissen eine Ver-bindung gibt. Das ist in der Tat der Fall: Setzenwir in Gl. (1.4-164) oder (1.4-185) für die Massem und für die Kantenlängen a, b und c nicht ato-mare Größen, sondern die in der klassischen Phy-sik üblichen (in der Größenordnung von kg und m)ein, so erkennenwir, dass die für niedrigeQuanten-zahlen berechneten Energien unendlich klein wer-den, damit aber auch die Abstände zwischen dendiskreten Energiezuständen. Das besagt aber, dasswir den Übergang zum Energiekontinuum vollzo-gen haben. Dieses sog. Korrespondenzprinzip wer-den wir noch häufiger ansprechen.

Auf die Ergebnisse dieses Abschnitts werden wir ins-besondere im Kapitel 4 zurückgreifen.

1.4.14 Die Behandlung eines Teilchensim Potentialtopf

In den beiden vorangegangenen Abschnitten habenwir uns mit einem Teilchen beschäftigt, das sich ineinem Gebiet befand, das durch unendlich hohe Po-tentialwände eingeschlossen war. Klassisch würde dasbedeuten, dass es durch die Zufuhr keiner auch nochso hohen Energie diesen Kasten verlassen könnte. Wirwollen nun untersuchen, wie sich die Verhältnisse än-dern, wenn wir die Höhe der Potentialwände senken.Wir haben diesen Fall, das sog. Potentialtopfmodell,bereits in Abb. 1.4-20 angedeutet, indem wir außer-halb des Kastens die Potentialwände nur bis zu einerendlichen Höhe V0 haben ansteigen lassen. Wir be-trachten der Einfachheit halber den eindimensionalenFall. Innerhalb des Kastens (0 ≤ x ≤ a) wirke auf denMassepunkt kein Potentialfeld (V = 0). Außerhalb desKastens sei das Potential konstant V0. Wir unterschei-den folgende Gebiete:

I x ≤ 0 mitV = V0II 0 ≤ x ≤ a mitV = 0III a ≤ x mitV = V0 .

DesWeiterenmüssen wir zwei Fälle getrennt betrach-ten.

1. E < V0. In klassischer Betrachtungsweise würdedas bedeuten, dass die Energie des Teilchens nicht

ausreicht, den Topf zu verlassen. Wir haben denFall des gebundenen Teilchens.

2. E > V0. In klassischer Betrachtungsweise würdedas bedeuten, dass die Energie des Teilchens aus-reicht, den Topf zu verlassen. Wir haben den Falldes freien Teilchens, das sich allerdings, sofern wirdie Gebiete I und III berücksichtigen, im Gegen-satz zu dem in Abschnitt 1.4.11 besprochenen frei-en Teilchen, in einem nicht potentialfreien Gebietaufhält.

Die Schrödinger-Gleichung lautet für die Gebiete Iund III

d2ψdx2

+ 2mℏ2

(E − V0)ψ = 0 (1.4-187)

und für das Gebiet II

d2ψdx2

+ 2mℏ2Eψ = 0 (1.4-188)

Wir erkennen, dass die Schrödinger-Gleichung imGe-biet II wieder der imAbschnitt 1.4.11 für das freie Teil-chen behandelten entspricht.Betrachten wir jedoch zunächst die Schrödinger-

Gleichung für die Gebiete I und III. Wir führen zurVereinfachung ein

k1 =1ℏ[2m(V0 − E)]1∕2 (1.4-189)

so dass Gl. (1.4-187) lautet

d2ψdx2

− k21ψ = 0 (1.4-190)

Haben wir es mit einem gebundenen Teilchen zu tun,d. h. ist E < V0, so ist nach Gl. (1.4-189) k21 eine po-sitive Größe, k1 also immer reell. Zur Lösung vonGl. (1.4-190) machen wir wieder den Ansatz

ψ = ebx (1.4-191)

und erhalten nach Substitution von Gl. (1.4-191) inGl. (1.4-190)

b = ±k1 (1.4-192)

Damit ist die allgemeine Lösung von Gl. (1.4-190)

ψ = A ⋅ ek1x + B ⋅ e−k1x (1.4-193)

wobei die Integrationskonstanten A und B frei wähl-bar sind.Im Gebiet I ist x negativ. Deshalb wird der 2. Sum-

mand in Gl. (1.4-193) unendlich, wenn x → −∞ Da

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891.4 Einführung in die Quantentheorie

aber ψ überall endlich sein muss, muss B im Gebiet Inull sein. Im Gebiet III ergibt sich das gleiche für A.Wir erhalten also

ψI = A ⋅ ek1x (1.4-194)

ψIII = B ⋅ e−k1x (1.4-195)

wofür wir aus später ersichtlichen Gründen mit

B = B′ek1a (1.4-196)

ψIII = B′e−k1(x−a) (1.4-197)

schreiben.Die Lösung für das Gebiet II haben wir bereits in

Abschnitt 1.4.11 gefunden (Gl. 1.4-138). Dieser Lö-sung äquivalent ist (vgl. Mathematischer Anhang N)der Ausdruck

ψII = C sin(k2x + δ) (1.4-198)

in dem k zur Unterscheidung von k1 den Index 2 er-halten hat, und der die zunächst noch frei wählbarenIntegrationskonstanten C und δ enthält.Die Konstanten A, B, C und δ sind jedoch nicht un-

abhängig voneinander, wenn wir die Gebiete I, II undIII gemeinsam betrachten, denn wir haben gesehen,dass dieWellenfunktionen und ihreAbleitungen über-all stetig sein müssen. Das besagt, dass für x = 0

ψI = ψII (1.4-199)

dψ1dx

=dψIIdx

(1.4-200)

und für x = a

ψII = ψIII (1.4-201)

dψIIdx

=dψIIIdx

(1.4-202)

sein muss. Setzen wir in die Gl. (1.4-199) bisGl. (1.4-202) die Ausdrücke für ψI, ψII bzw. ψIII ein,so erhalten wir

A ⋅ ek1⋅0 = C sin(k2 ⋅ 0 + δ) (1.4-203)

A = C sin δ (1.4-204)

und

k1A ⋅ ek1⋅0 = k2C cos(k2 ⋅ 0 + δ) (1.4-205)

k1A = k2C cos δ (1.4-206)

und

B′e−k1(a−a) = C sin(k2a + δ) (1.4-207)

B′ = C sin(k2a + δ) (1.4-208)

und

−k1B′e−k1(a−a) = k2C cos(k2a + δ) (1.4-209)

−k1B′ = k2C cos(k2a + δ) (1.4-210)

Aus Gl. (1.4-204) und Gl. (1.4-206) folgt unter Berück-sichtigung von Gl. (1.4-130) und Gl. (1.4-189)

tan δ =k2k1

=(

EV0 − E

)1∕2(1.4-211)

Aus Gl. (1.4-204) erhalten wir mithilfe der Beziehun-gen zwischen den trigonometrischen Funktionen undGl. (1.4-211)

AC

= sin δ = tan δ(1 + tan2 δ)1∕2

=

(E

V0−E

)1∕2(1 + E

V0−E

)1∕2 =(EV0

)1∕2(1.4-212)

Die Division von Gl. (1.4-208) durch Gl. (1.4-210) lie-fert uns

−k2k1

= tan(k2a + δ) (1.4-213)

die Kombination dieses Ausdrucks mit Gl. (1.4-211)schließlich

− tan δ = tan(k2a+δ) =tan k2a + tan δ

1 − tan k2a ⋅ tan δ(1.4-214)

was wir auflösen können nach

tan k2a = 2 tan δtan2 δ − 1

(1.4-215)

Setzen wir hier nun schließlich noch die Gl. (1.4-130)und Gl. (1.4-211) ein, so erhalten wir

tan(2mEa2

ℏ2

)1∕2= 2

[E(V0 − E)]1∕2

2E − V0(1.4-216)

Von den in dieser Gleichung enthaltenen Größen sindm, a und V0 durch das vorliegende Problem festgelegt.Damit stellt Gl. (1.4-216) eine Bestimmungsgleichungfür E dar. Messen wir die Energien E und V0 als Viel-fache von ℏ2

2ma2 , so vereinfacht sich Gl. (1.4-216) zu

tan E1∕2 = 2

[EV0

(1 − E

V0

)]1∕22 EV0

− 1(1.4-217)

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90 1 Einführung in die physikalisch-chemischen Betrachtungsweisen, Grundbegriffe und Arbeitstechniken

(a) (b)

(c) (d)

Abb. 1.4-23 Lösung der Gl. (1.4-217). Die Abszissenwerte der Schnittpunkte sind durch lange, senkrechte Striche auf den jeweili-gen Abszissen markiert. Aus ihnen ergeben sich die Eigenwerte der Energie für die vier vorgegebenenWerte von V0.

Die Lösung erfolgt graphisch, indem wir sowohl dielinke Seite als auch die rechte Seite für bestimmte fes-te Werte von V0 gegen E auftragen. Die Schnittpunk-te der Kurven geben uns die Lösungen. Für V0

ℏ2∕2ma2gleich 1, 10, 40 und 100 ist das in Abb. 1.4-23a bis ddurchgeführt.Bei der Betrachtung der Lösungen machen wir ei-

nige bemerkenswerte Beobachtungen. Zunächst stel-len wir wieder fest, dass nicht jeder beliebige Ener-giewert zugelassen ist, sondern dass es bestimmte Ei-genwerte der Energie gibt. Zweitens finden wir, dassdie Anzahl der Lösungen mit steigendem VerhältnisV0∕(ℏ2∕2ma2), d. h. mit zunehmender Tiefe V0 undzunehmender Breite a des Potentialtopfes, wächst.

Drittens beobachten wir, dass sich die Eigenwerte fürE mit wachsendem V0 erhöhen. So wächst der ersteEigenwert von 0.8 über 3.4 und 5.8 auf 7.3 ℏ2∕2ma2,wenn V0 von 1 über 10 und 40 auf 100 ℏ2∕2ma2 steigt.Wird V0 sehr groß gegenüber E, so strebt die rechteSeite von Gl. (1.4-217) bzw. Gl. (1.4-216) gegen null.Es gilt dann

tan(2mEa2

ℏ2

)1∕2= 0 (1.4-218)

Das ist dann der Fall, wenn(2mEa2

ℏ2

)1∕2= n ⋅ π n = 1, 2, 3,… (1.4-219)

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911.4 Einführung in die Quantentheorie

oder

E = n2h2

8ma2n = 1, 2, 3,… (1.4-220)

in Übereinstimmung mit dem Ergebnis für ein Teil-chen im linearen Kasten.Eine genaue Betrachtung zeigt, dass der Einsatz-

punkt für das Auftreten eines weiteren erlaubtenEnergiezustandes gegeben ist durch

V0 =n2h2

8ma2n = 0, 1, 2,… (1.4-221)

Das besagt, dass für 0 < V0ℏ2∕2ma2 < π2 nur ein Energie-

zustand erlaubt ist, für π2 <V0

ℏ2∕2ma2 < 4π2 deren zweiund so fort.

InAbb. 1.4-24 sind die erlaubtenZustände in einemV0, E-Diagramm als fette Linien eingetragen.

Wir müssen uns nun noch dem zweiten Fall zuwen-den, bei dem E > V0 ist, dem Fall des freien Teilchens.Unter dieser Bedingung wäre nach Gl. (1.4-189) k21 ei-ne negative Größe, k1 also imaginär. Wir setzen des-halb

k3 =1ℏ[2m(E − V0)]1∕2 (1.4-222)

Dann ist k3 reell, die Schrödinger-Gleichung (1.4-187)geht über in

d2ψdx2

+ k23ψ = 0 (1.4-223)

Diese Gleichung entspricht der für das Gebiet II gül-tigen. Damit ergibt sich auch für die Gebiete I und IIIeine Lösung, die als Summe eines sin- und eines cos-Gliedes geschrieben werden kann. Wir erhalten so diedrei Wellenfunktionen

ψI = A sin k3x + B cos k3x (1.4-224)

ψII = C sin k2x + D cos k2x (1.4-225)

ψIII = F sin k3x + G cos k3x (1.4-226)

Im Gegensatz zum Fall des gebundenen Teilchens, beidem wir zur Erfüllung der Randbedingungen ψ = 0für x → ±∞ zwei Konstanten festlegen mussten [vgl.Gl. (1.4-194) und Gl. (1.4-195)], sind hier zunächstalle sechs Konstanten frei wählbar, weil beim freienTeilchen für x → ±∞ keine Änderung der Amplitu-de eintritt. Zur Erfüllung der Kontinuitätsbedingun-gen Gl. (1.4-199) bis Gl. (1.4-202) haben wir deshalb

Abb. 1.4-24 Energiezustände eines Teilchens in einem Poten-tialtopf der Tiefe V0.

zwei Konstanten mehr zur Verfügung als beim gebun-denen Teilchen, so dass es nicht mehr notwendig ist,die Energie zu quanteln. Das bedeutet, dass das Teil-chen für E > V0 jeden beliebigen Energiewert anneh-men kann. In Abb. 1.4-24 finden wir deshalb oberhalbder Diagonalen E = V0 ein Energiekontinuum. Auchan dieser Stelle sei wieder auf die Beobachtung desKontinuums bei den Atomspektren (Abb. 1.4-17 und1.4-18) hingewiesen, das dann auftritt, wenn das Elek-tron eine so hohe Energie besitzt, dass es aus dem ge-bundenen Zustand in den freien Zustand übergeht.Wir haben uns bis jetzt vornehmlich mit den En-

ergiezuständen beim Potentialtopfmodell beschäftigt.ZumAbschluss müssen wir uns noch mit denWellen-funktionen selbst befassen. Betrachten wir zunächstwieder den Fall des gebundenen Teilchens (E < V0).Befindet sich ein Teilchen im Potentialtopf, d. h. im

Gebiet II, so muss nach Gl. (1.4-198) C ≠ 0 sein. Dannmuss nach Gl. (1.4-204) aber auch A ≠ 0 sein, dennsin δ kann wegen Gl. (1.4-211) nicht gleich null sein.Ist aber A ≠ 0, so ist ψI für endliche Werte von x un-gleich null, also auch |ψI|2 ≠ 0. Das heißt aber, dasses eine gewisse Wahrscheinlichkeit geben muss, dasTeilchen im Gebiet I anzutreffen. Gleiches gilt für dasGebiet III. Die quantenmechanische Berechnung lehrtuns also, dass sich das Teilchen in Gebieten aufhaltenkann, in denen die Gesamtenergie E kleiner ist als diepotentielle Energie V , in denen die kinetische EnergieT also negativ sein muss. Die Abb. 1.4-25 entsprichtAbb. 1.4-21 und zeigt schematisch die Wellenfunkti-on ψ und die Wahrscheinlichkeitsdichte im Potential-topf endlicher Tiefe für E < V0.Wir wenden uns nun noch einmal den Wellenfunk-

tionen für das freie Teilchen zu (E > V0) und betrach-ten die Gebiete II und III. Die Lösungen für die Schrö-dinger-Gleichung schreiben wir nicht in der Form derGl. (1.4-227) und (1.4-228), sondern (vgl. Mathemati-scher Anhang N) in der gleichwertigen Form

ψII = C′ ⋅ eik2x + D′ ⋅ e−ik2x (1.4-227)

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92 1 Einführung in die physikalisch-chemischen Betrachtungsweisen, Grundbegriffe und Arbeitstechniken

Abb. 1.4-25 Wellenfunktion ψ undWahrscheinlichkeitsdichte|ψ|2 für ein Teilchen im Potentialtopf endlicher Tiefe fürE < V0.

ψIII = F′ ⋅ eik3x + G′ ⋅ e−ik3x (1.4-228)

Wirwollen annehmen, dass sich imGebiet III nur Teil-chen befinden, die sich von links nach rechts bewegen.Dann muss [vgl. Abschnitt 1.4.11, Gl. (1.4-138) undGl. (1.4-139)] G′ = 0 sein. Gl. (1.4-228) geht also überin

ψIII = F′ ⋅ eik3x (1.4-229)

Die Kontinuitätsbedingungen Gl. (1.4-201) undGl. (1.4-202) lauten dann

C′ ⋅ eik2a + D′ ⋅ e−ik2a = F′ ⋅ eik3a (1.4-230)

ik2C′ ⋅ eik2a − ik2D′ ⋅ e−ik2a = ik3F′ ⋅ eik3a (1.4-231)

Dividieren wir die untere Gleichung durch ik2 und ad-dieren dann beide Gleichungen, so erhalten wir

C′ = 12F′ ⋅ ei(k3−k2)a

(1 +

k3k2

)(1.4-232)

Subtrahieren wir, so ergibt sich

D′ = 12F′ ⋅ ei(k3+k2)a

(1 −

k3k2

)(1.4-233)

Berücksichtigen wir, dass

k2 =1ℏ(2mE)1∕2 (1.4-130)

und

k3 =1ℏ[2m(E − V0)]1∕2 (1.4-222)

so erkennen wir, dass

k2 > k3 (1.4-234)

Deshalb kann weder C′ noch D′ null werden. Dannenthält nach Gl. (1.4-227) ψII den Term D′ ⋅ e−ik2x ,der Teilchen repräsentiert, die, vgl. Abschnitt 1.4.11,

Gl. (1.4-140), sich von rechts nach links bewegen. DieIntensität des nach rechts laufenden Teilchenstromswird durch |C′|2 gegeben. Sie ist größer als die desnach links laufenden, die durch |D′|2 bestimmt wird,denn aus Gl. (1.4-232) und Gl. (1.4-233) entnehmenwir, dass |C′| > |D′| ist.Das Ergebnis dieser Überlegungen ist folgendes:Die Teilchen bewegen sich frei in einem Gebiet, indem eine sprunghafte Änderung des Potentials vor-liegt. Wenn die (nach rechts laufenden) Teilchenden Potentialwall erreichen, wird ein Teil von ih-nen reflektiert und läuft (nach links) zurück, ob-wohl die Energie zur Überwindung des Potential-walls ausreichen würde. In der klassischen Betrach-tungsweise gibt es diesen Fall nicht; dort würde dasTeilchen lediglich seine Geschwindigkeit ändern.In der Optik jedoch findet man eine solche Reflexi-on, wenn eine Lichtwelle die Grenzfläche zwischenzwei Medien mit unterschiedlichem Brechungsin-dex passiert.

1.4.15 Die Behandlung der Durchtunnelung einesPotentialwalls

Im vorangehenden Abschnitt haben wir gesehen, dassdie Aufenthaltswahrscheinlichkeit eines Teilchens imPotentialtopf endlicher Tiefe auch außerhalb des Po-tentialtopfs nicht gleich null ist. Es erhebt sich des-halb die Frage, ob ein Teilchen u. U. in der Lage ist,einen hinreichend engen Potentialwall zu durchdrin-gen, obwohl seine Energie niedriger ist als die Höhedes Potentialwalls. Abbildung 1.4-26 veranschaulichtdie Verhältnisse.Wir unterscheiden die folgenden Gebiete

I x ≤ 0 mit V = 0II 0 ≤ x ≤ a mit V = V0III a ≤ x mit V = 0 .

Abb. 1.4-26 Zur Erklärung des Tunneleffektes.

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931.4 Einführung in die Quantentheorie

Es interessiert uns nur der Fall, dass E < V0 ist.Wir ha-ben es dann in den Gebieten I und III mit der Schrö-dinger-Gleichung

d2ψdx2

+ 2mℏ2Eψ = 0 (1.4-188)

und im Gebiet II mit der Schrödinger-Gleichung

d2ψdx2

+ 2mℏ2

(E − V0)ψ = 0 (1.4-187)

zu tun. Wir setzen wieder

k1 =1ℏ(2mE)1∕2 (1.4-130)

und

k2 =1ℏ[2m(V0 − E)]1∕2 (1.4-189)

und erhalten als Lösung die Wellenfunktionen

ψ1 = A ⋅ eik1x + B ⋅ e−ik1x (1.4-235)

ψ2 = C ⋅ ek2x + D ⋅ e−k2x (1.4-236)

ψ3 = F ⋅ eik1x + G ⋅ e−ik1x (1.4-237)

Lassen wir einen Teilchenstrom von links kommendauf den Potentialwall auftreffen, dann wird nach denErgebnissen von Abschnitt 1.4.14 an den Grenzflä-chen I/II und II/III eine teilweise Reflexion eintreten.Wir werden also in den Gebieten I und II auch Teil-chen antreffen, die von rechts nach links laufen. Dasbedeutet (vgl. Abschnitt 1.4.11), dass ψ1 und ψ2 bei-de Terme auf der rechten Seite von Gl. (1.4-235) bzw.Gl. (1.4-236) enthalten. Im Gebiet III laufen alle Teil-chen nach rechts, der zweite Term von Gl. (1.4-237)fällt fort, d. h. G = 0.

Uns interessiert der Bruchteil der Teilchen, die diePotentialschwelle durchtunneln können, der sog.Transmissionskoeffizient T . Er ist offensichtlich ge-geben durch

T = |F|2|A|2 (1.4-238)

Um die Konstanten zu bestimmen, müssen wir wie-der die Kontinuitätsgleichungen Gl. (1.4-199) bisGl. (1.4-202) hinschreiben

A + B = C + D (1.4-239)

ik1(A − B) = k2(C − D) (1.4-240)

C ⋅ ek2a + D ⋅ e−k2a = F ⋅ eik1a (1.4-241)

k2(C ⋅ ek2a − D ⋅ e−k2a) = ik1F ⋅ eik1a (1.4-242)

Aus den beiden letzten Gleichungen ergibt sich durchAddition bzw. Subtraktion

C = 12F ⋅ eik1a

(1 + i

k1k2

)e−k2a (1.4-243)

D = 12F ⋅ eik1a

(1 − i

k1k2

)ek2a (1.4-244)

Aus den ersten beiden Gleichungen ergibt sich durchSubtraktion

B = 12

[C + D −

k2ik1

(C − D)]

(1.4-245)

Die Zusammenfassung von Gl. (1.4-239) undGl. (1.4-243) bis (1.4-245) ergibt schließlich

A = F ⋅ eik1a[ek2a + e−k2a

2− i

2

(k1k2

−k2k1

)⋅ ek2a − e−k2a

2

](1.4-246)

oder, wenn wir die Hyperbelfunktionen ex+e−x2 =

cosh x und ex−e−x2 = sinh x einführen,

AF

= eik1a[cosh k2a −

i2

(k1k2

−k2k1

)sinh k2a

](1.4-247)

Mit Gl. (1.4-238) erhalten wir

T =|||| FA ||||2=

[cosh2 k2a +

14

(k1k2

−k2k1

)2sinh2 k2a

]−1(1.4-248)

Berücksichtigen wir schließlich das für die hyperboli-schen Funktionen geltende Additionstheorem

cosh2 x − sinh2 x = 1 (1.4-249)

so folgt

T =

[1 + 1

4

(k1k2

+k2k1

)2sinh2 k2a

]−1(1.4-250)

Um den Transmissionskoeffizienten in Abhängigkeitvon E und V0 auszudrücken, substituieren wir k1 undk2 durch die Gl. (1.4-130) und (1.4-189)

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94 1 Einführung in die physikalisch-chemischen Betrachtungsweisen, Grundbegriffe und Arbeitstechniken

T =

[1+ 1

4V 20

E(V0−E)sinh2

{2ma2(V0−E)

ℏ2

}1∕2]−1(1.4-251)

und erkennen daraus, dass für E < V0 durchaus einendlicherWert für denTransmissionskoeffizienten re-sultiert, wenn a und V0 nicht ∞ sind. Zur leichte-ren Abschätzung wollen wir den Fall betrachten, dass2ma2(V0 − E)∕ℏ2 ≫ 1 ist, d. h. dass

sinh2(2ma2(V0 − E)∕ℏ2)1∕2 ≃14e2(2ma2(V0−E)∕ℏ2)1∕2

(1.4-252)

so dass wir für T erhalten

T ≃16E(V0 − E)

V 20

e−2(2ma2(V0−E)∕ℏ2)1∕2 (1.4-253)

Dieser Ausdruck zeigt uns deutlicher als Gl. (1.4-251),dass der Transmissionskoeffizient im Wesentlichenvon der Energiedifferenz V0 − E und der Breite a derPotentialschwelle abhängt. T nimmt mit steigendemV0 und a ab, die Tunnelwahrscheinlichkeit wird al-so um so kleiner, je höher und breiter die Potential-schwelle ist. Um einen Eindruck von der Tunnelwahr-scheinlichkeit zu bekommen, wollen wir ein Elektronbetrachten, das eine Energie von 1 eV besitzt und ge-gen eine Potentialschwelle derHöhe V0 = 5 eV und derBreite a = 2 nm anläuft. Für diesen Fall berechnet sichT aus Gl. (1.4-253) zu 3.6 ⋅ 10−18.Wir werden später eine Reihe von Beobachtungen

kennenlernen, die auf den Tunneleffekt zurückzufüh-ren sind.

1.4.16 Kernpunkte des Abschnitts 1.4

Bestimmung der Ladung des Elektrons,Abschnitt 1.4.2 Bestimmung der Masse des Elektrons,Abschnitt 1.4.3Wellennatur des Elektrons,Abschnitt 1.4.4✓⃞ Bragg’sche Gleichung, Gl. (1.4-14)✓⃞ de-Broglie-Beziehung, Gl. (1.4-15)✓⃞ Planck’sches Wirkungsquantum, Abschnitt 1.4.4✓⃞ Planck’sche Strahlungsformel, Gl. (1.4-27)✓⃞ Korpuskulare Eigenschaften des Lichtes,

Abschnitt 1.4.5✓⃞ Lichtelektrischer Effekt (Photoeffekt),

Abschnitt 1.4.5✓⃞ Einstein’sches Frequenzgesetz, Gl. (1.4-33)✓⃞ Compton-Effekt, Abschnitt 1.4.5

Dualismus Welle-Partikel, Abschnitt 1.4.6✓⃞ Phasen-, Gruppen- und Teilchengeschwindigkeit,

Abschnitt 1.4.6✓⃞ Wellenpaket, Abschnitt 1.4.6✓⃞ Heisenberg’sche Unschärfe-Relation, Gl. (1.4-66)✓⃞ Franck-Hertz’scher Versuch, Abschnitt 1.4.7✓⃞ Linienspektrum des Wasserstoffatoms,

Abschnitt 1.4.8✓⃞ Balmer-Formel, Gl. (1.4-68)Bohr’sches Modell des Wasserstoffatoms,Abschnitt 1.4.9✓⃞ Zeitunabhängige Schrödinger-Gleichung,

Gl. (1.4-115), (1.4-111)✓⃞ Wahrscheinlichkeitsdichte, Gl. (1.4-119)✓⃞ Erwartungswert, Gl. (1.4-121), (1.4-122)Freies Teilchen, Abschnitt 1.4.11Teilchen im eindimensionalen Kasten,Abschnitt 1.4.12✓⃞ Randbedingung, Wellenfunktion, Eigenwert der

Energie, Abschnitt 1.4.12Teilchen im dreidimensionalen Kasten,Abschnitt 1.4.13✓⃞ Separationsansatz, Gl. (1.4-169)✓⃞ Entartung, Abschnitt 1.4.13Teilchen im Potentialtopf , Abschnitt 1.4.14✓⃞ Freies und gebundenes Teilchen, Abschnitt 1.4.15✓⃞ Tunneleffekt, Abschnitt 1.4.15✓⃞ bra-ket Formulierung, Gl. (1.4-123); (1.4-124)

1.4.17 Rechenbeispiele zu Abschnitt 1.4

1 Die Cr-Kα-Strahlung hat eine Wellenlänge von0.2291 nm. Lässt man sie auf eine (100)-Fläche eineskubisch-flächenzentriertenNickel-Einkristalls treffen,so beobachtet man einen Beugungsreflex 1. Ordnungunter einem Glanzwinkel von 40.56°. Wie groß sindder Netzebenenabstand d und die Gitterkonstante ades Nickels?

2 In einer Elektronenbeugungsanlage betrage derAbstand zwischen dem Präparat und der Photoplatte610mm. Durchlaufen die Elektronen eine Beschleu-nigungsspannung von 80 kV, so findet man für dender Beugung an der (200)-Fläche zuzuordnenden Beu-gungsring (vgl. Abb. 1.4-4) einen Durchmesser von29.0mm. Welche Wellenlänge ist den Elektronen zu-zuschreiben, und welche Gitterkonstante ergibt sichfür das Nickel? Man vernachlässige hierbei die relati-vistische Massenänderung.

3 Man zeige, dass die Planck’sche Strahlungsfor-mel (Gl. 1.4-27) in das Rayleigh-Jeans’sche Gesetz(Gl. 1.4-24) übergeht, wenn man die Planck’sche Kon-stante gegen null gehen lässt.

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951.4 Einführung in die Quantentheorie

4 Das Elektronenaustrittspotential des Kaliums be-trägt 2.25V. Welche maximale kinetische Energie be-sitzen die ausgetretenen Photoelektronen, wenn Lichtmit einer Wellenlänge von 400nm eingestrahlt wird?Welche Gegenspannung muss angelegt werden, damitgerade keine Elektronen mehr auf die Anode gelan-gen?

5 Die langwellige Grenze liegt für die PhotoemissiondesWolframs bei 273 nm. Auf welchenWert steigt siean, wenn durch Adsorption von Kalium das Elektro-nenaustrittspotential um 0.5V erniedrigt wird?

6 Welche Wellenlänge wäre einem Menschen vonder Masse 75 kg zuzuschreiben, wenn sich dieser miteinerGeschwindigkeit von5 kmh−1 bewegt?Manver-gleiche diese Wellenlänge mit der von Röntgenstrah-len (≈ 10−10 m).

7 Welche Energie ist notwendig, um im Wasser-stoffatom ein Elektron vom ersten auf den sechstenBohr’schen Radius anzuheben? Welche Wellenlängehat Licht, das emittiert wird, wenn das Elektron dannin den Grundzustand zurück springt?

8 Zwei aufeinanderfolgende Linien des Atomspek-trums des Wasserstoffs haben die Wellenzahlen νi =2.057 ⋅ 106 m−1 und νi+1 = 2.304 ⋅ 106 m−1. Man be-rechne, welcher Serie die beiden Linien angehörenund welchen Übergängen sie entsprechen.

9 Man berechne, welche Serie des Atomspektrumsdes Wasserstoffs als langwelligste Linie die mit derWellenlänge 1875.1 nm hat.

10 Man berechne, ob irgendwelche Linien der Bal-mer-Serie desAtomspektrums desWasserstoffs geeig-net sind, aus Ce, das ein Elektronenaustrittspotentialvon 2.88V besitzt, Photoelektronen auszulösen.Wennja, welche?

11 Umwelchen Faktor ändert sich die Geschwindig-keit eines Elektrons in einer Bohr’schen Kreisbahn imWasserstoffatom, wenn die Hauptquantenzahl n ver-doppelt wird?

12 Nach der Bohr’schen Theorie beträgt die poten-tielle Energie des Elektrons in einemWasserstoffatomim Grundzustand 2.177 ⋅ 10−18 J. Wie groß müsstedemnach die Ionisierungsenergie von Li2+ sein?

13 Man berechne die Eigenfunktionen und die Ei-genwerte der Energie eines Teilchens im zweidimen-sionalen quadratischen, potentialfreien Kasten durchAufstellen und Lösen der Schrödinger-Gleichung.

14 Für Systeme konjugierter Doppelbindungen lässtsich in erster Näherung das Modell des Elektronsim eindimensionalen Kasten anwenden. Um welchen

Faktor würden sich nach diesem Modell die Ener-giedifferenzen zwischen den Zuständen mit n = 1und n = 2 beim 1,3-Butadien (C4H6) und beim Caro-tin (konjugierte Kette mit 22 C-Atomen) unterschei-den? Für den mittleren C–C-Abstand setze man 1.4 ⋅10−10 m.

15 Man betrachte die π-Elektronen des Benzols alsTeilchen in einem zweidimensionalen quadratischenKasten, der den Benzolring umschließt und dessenSeitenlänge zwei C–C-Abständen entspricht, berech-ne die Eigenwerte der Energie, besetze die drei nied-rigsten Energiezustände mit jeweils zwei Elektronenund berechne, welche Wellenlänge das Licht habenmuss, durch dessen Absorption das Benzol aus demGrundzustand in den ersten angeregten Elektronen-zustand gebracht wird. Man vergleiche das Ergeb-nis dieser groben Berechnung mit dem experimen-tellen Ergebnis (λ ≈ 250 nm). Für den mittleren C–C-Abstand setze man 1.4 ⋅ 10−10 m.

16 Der Radius der ersten Bohr’schen Kreisbahn be-trägt r1 = 5.3 ⋅ 10−9 cm. In ganz grober Näherung be-rechne man die Energie des Wasserstoffelektrons imGrundzustand, indem man annimmt, dass es sich umein Elektron in einem würfelförmigen Kasten handelt,der das gleiche Volumen hat wie eine Kugel mit demRadius r1. Man vergleiche das Ergebnis mit demWert,der aus der Bohr’schen Theorie folgt.

17 Wie groß ist die Wahrscheinlichkeit, in einem li-nearen, potentialfreien Kasten der Länge a ein Teil-chen zwischen den Koordinaten 1

3a und23a zu finden,

wenn sich das Teilchen a) imGrundzustand, b) im ers-ten angeregten Zustand befindet? Man vergleiche dasErgebnis mit Abb. 1.4-21.

18 Ein Mensch mit einer Masse von 70 kg bewegesich mit einer Geschwindigkeit von 6 kmh−1 auf eine5m hohe und 0.2m dicke Wand zu. Wie groß ist dieWahrscheinlichkeit, dass er diese Wand quantenme-chanisch durchtunnelt? Man nehme an, dass sich derSchwerpunkt desMenschen in einer Höhe von 1.00mbefindet.

19 Wie groß ist die Wahrscheinlichkeit, dass einElektron, das sichmit der thermischen Energie kT be-wegt, bei 300K einen 2 eV hohen und 1.0 nm breitenPotentialwall durchtunnelt?

20 Ein Auto habe eine Masse von 1200 kg und fahremit einer Geschwindigkeit von 120 kmh−1. Ein Elek-tron werde durch eine Beschleunigungsspannung von1 kV beschleunigt. In beiden Fällen sei die Geschwin-digkeitsangabe mit einer Ungenauigkeit von ±2% be-haftet. Man berechne und vergleiche die jeweilige Un-schärfe des Ortes.

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96 1 Einführung in die physikalisch-chemischen Betrachtungsweisen, Grundbegriffe und Arbeitstechniken

21 Bei einem Compton-Streuexperiment wird einRöntgenstrahl mit einer Wellenlänge von 7.078 ⋅10−2 nm an Elektronen gestreut. Welche Wellenlängehaben die Röntgenstrahlen, die unter einem Streuwin-kel von 70° austreten?Wie groß ist der Streuwinkel desgestreuten Elektrons

22 Wie groß ist die Energie pro Photon (in J undeV) und die Energie pro Mol Photonen (in kJ/mol) fürStrahlung der Wellenlänge

a) 750 nm (rotes Licht, gerade noch sichtbar)b) 400 nm (blaues Licht, gerade noch sichtbar)c) 200 nm (ultraviolette Strahlung)d) 150 pm (Röntgenstrahlung)e) 1 cm (Mikrowellenstrahlung)?

Wie groß ist die de-Broglie-Wellenlängef ) eines Körpers von 1 g, der sich mit 1 cm/s bewegt?g) desselben Körpers bei der Geschwindigkeit

100 km/s?h) eines Heliumatoms in einem Behälter bei Raum-

temperatur (Gleichverteilung der Energie voraus-gesetzt)?

i) eines Elektrons, das aus dem Ruhezustand über ei-ne Potentialdifferenz von 100V, 1 kV oder 100 kVbeschleunigt worden ist?

23 EinGlühwürmchenmit einerMasse von 5 g emit-tiert nach hinten rotes Licht der Wellenlänge 650 nmmit einer Leistung von 0.1W. Welche Geschwindig-keit würde es erreichen, wenn es im freien Raum un-verändert zehn Jahre lang so strahlen würde?

24 Mit dem eindimensionalen Kastenmodell sollendie Absorptionsspektren von Cyaninfarbstoffen er-klärt werden. Die konjugierte Kette der Farbstoffe be-steht aus N Atomen (N ist ungerade). Damit werdenNπ = N + 1 π-Elektronen in den Kasten eingebracht.Die Länge des Kastens wird zu a = (N + 1)r angenom-men, wobei r einen mittleren Bindungsabstand von1.4Å darstellt.Nachdem die einzelnen Energieniveaus nach demPauli-Prinzip besetzt wurden, ist die Absorptionsban-de aus der Energiedifferenz zwischen dem niedrigstenunbesetzten und dem höchsten besetzten Niveau fürdie angegebene Atomzahl N zu berechnen. Verglei-chen Sie die Ergebnisse mit den untenstehenden ex-perimentellen Daten.

N 9 11 13 15

ν [cm−1] 17 000 14 100 12 200 10 700

25 Ein Teilchen befinde sich in einem eindimensio-nalen Potentialtopf. Dieser wird auf der rechten Seitedurch eine unendlich dicke Potentialbarriere (die vonx = 0 bis x =∞ reicht) der Höhe V begrenzt. DieWel-lenfunktion des Teilchens innerhalb dieser Barriere istdurch ψ = F′ ⋅ e−κx gegeben.

a) Wie groß ist die Wahrscheinlichkeit, das Teilcheninnerhalb dieser Barriere anzutreffen (allgemeineLösung)?

b) Wie weit dringt das Teilchen im Durchschnitt indiese Barriere ein (allgemeine Lösung)?

Hilfestellung: Sie müssen den Erwartungswert des Or-tes berechnen. Verwenden Sie zur Lösung des Inte-grals die partielle Integration und anschließend dieRegel von de l’Hospital (s. Mathem. Anhang E).

26 Die Tunnelwahrscheinlichkeit eines Teilchensmit der Energie E und der Masse m durch einen Po-tentialwall der Höhe V0 und der Dicke a ist gegebendurch:

T ≈16E(V0 − E)

V 20

⋅ exp(−2 ⋅√

2ma2(V0 − E)∕ℏ2)

Berechnen Sie die Transmissionswahrscheinlichkeitder Teilchen Wasserstoff, Deuterium und Tritiumdurch einen rechteckigen Potentialwall der Höhe V0 =0.2 eV und der Breite 0.5 Å, für die jeweiligen Teil-chenenergien ε = E∕V0 = 0.25, 0.5, 0.75, 1.00 und 1.25.

27

a) WelcheWellenlänge hat die Balmer-Linie desWas-serstoffs mit n = 4?

b) Eine Linie der Paschen-Serie des Wasserstoffs hateine Frequenz von 2.7415 ⋅ 10−14 Hz. ErmittelnSie die Quantenzahl n für den zugrundeliegendenÜbergang.

1.4.18 Literatur zu Abschnitt 1.4

Mitter, H. (1979) Quantentheorie, 2. überarb. Aufl.,B.I.-Hochschultaschenbücher, 701, B.I. Wissen-schaftsverl., Mannheim.

Weiterführende Literatur zu Abschnitt 1.4 ist im Ab-schnitt 3 aufgeführt.

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971.5 Einführung in die chemische Kinetik

1.5 Einführung in die chemische Kinetik

Die bisherigen Betrachtungen bezogen sich auf dieBeschreibung oder Berechnung des Zustandes einesStoffes oder eines Systems für den Fall, dass thermi-sches oder chemisches Gleichgewicht herrschte. Die-ser Abschnitt beschäftigt sich nun mit dem zeitlichenAblauf der Einstellung eines Gleichgewichtszustan-des.

Mit der Zeit t führen wir in diesem Abschnitt eineVariable ein, die wir bislang noch nicht verwendethaben. Das macht es nötig, zunächst einige neue Be-griffe zu definieren (Abschnitt 1.5.1).Wir werden dann sehr formal eine Klassifizierung

von Reaktionen vornehmen anhand des Zeitgeset-zes, nach dem sie ablaufen, und die entsprechendenGeschwindigkeitsgleichungen und Zeitgesetze dis-kutieren (Abschnitte 1.5.2 bis 1.5.5).Die Ermittlung der Zeitgesetze aus experimentel-

len Daten wird unsere nächste Aufgabe sein (Ab-schnitt 1.5.6).Als Verknüpfung von Kinetik und Thermodyna-

mik wird sich die Behandlung unvollständig ablau-fender Reaktionen erweisen (Abschnitt 1.5.7).Wir werden des Weiteren erfahren, dass mehrere

Reaktionen miteinander verknüpft sein können unddabei parallel zueinander oder einander folgend ab-laufen können (Abschnitt 1.5.8).Die Betrachtung der Temperaturabhängigkeit der

Reaktionsgeschwindigkeit wird diesen einführendenAbschnitt abschließen (Abschnitt 1.5.9).

1.5.1 Einführung neuer Begriffe

Im allgemeinen wird der zeitliche Ablauf einer Reakti-on von vielenGrößen abhängen, z. B. von denKonzen-trationen der Reaktionspartner, der Zeit, der Tempe-ratur, der Gegenwart von Katalysatoren, der Einstrah-lung von Licht geeigneterWellenlänge, demAggregat-zustand der Reaktionspartner, ihrer Verteilung im Re-aktionsgefäß oder etwa vorliegenden Strömungsver-hältnissen.Im Rahmen dieses einführenden Abschnitts wol-

len wir nur Reaktionen in homogener Phase, vorzugs-weise Gasreaktionen besprechen. Wir wollen, bis aufden letzten Unterabschnitt, nur die Abhängigkeit derKonzentrationen von der Zeit betrachten. Alle üb-rigen in die Reaktionsgeschwindigkeit eingehendenParameter, wie z. B. die Temperatur, seien konstantgehalten. Des Weiteren soll die Reaktion vollständigund nur in der durch den Pfeil angegebenen Richtungablaufen.

Lautet die allgemeine Umsatzgleichung für die che-mische Reaktion

|νA|A+ |νB|B+…→ |νC|C+ |νD|D+… (1.5-1)

so stehen die Zunahme dξ der in Gl. (1.1-126) ein-geführten Reaktionslaufzahl und die Änderungen dnder Stoffmengen unmittelbar miteinander in Bezie-hung

dξ = ν−1A dnA = ν−1B dnB = ν−1C dnC = ν−1D dnD (1.5-2)

dnB =νBνA

dnA =νBνC

dnC =νBνD

dnD (1.5-3)

und entsprechend.Unter der Reaktionsgeschwindigkeit verstehen wir

die Geschwindigkeit dξ∕ dt der Zunahme der Reak-tionslaufzahl. Sie ist über

dξdt

= ν−1idnidt

(1.5-4)

mit der Geschwindigkeit der Änderung der Stoffmen-ge ni der Komponente i und über

V−1 dξdt

= ν−1id(ni∕V )

dt= ν−1i

dcidt

(1.5-5)

mit der Geschwindigkeit der Änderung der Konzen-tration ci der Komponente i verknüpft, sofern V daszeitunabhängige Volumen angibt.Die Definition der Reaktionsgeschwindigkeit dξ∕ dt

ist unabhängig von der Wahl der Substanz und derReaktionsbedingungen, also beispielsweise auch gül-tig, wenn sich das Volumen zeitlich ändert oder ander Reaktion mehrere Phasen beteiligt sind. Die Grö-ßen dni∕dt (= νi dξ∕ dt) sollteman alsBildungs- oderZerfallsgeschwindigkeit der Komponente i und dieGröße dci∕ dt, für die wir der einfacheren Lese- undSchreibweise wegen meist d[i]∕dt schreiben werden,als Geschwindigkeit der Konzentrationsänderung derKomponente i bezeichnen. Doch herrscht in der Li-teratur diesbezüglich keine Einheitlichkeit, und meistwird unterschiedslos von Reaktionsgeschwindigkeitgesprochen.Für allgemein gültige Überlegungen wird es sich als

sinnvoll erweisen, eine der Reaktionslaufzahl ξ ent-sprechende Konzentration, die Reaktionsvariable

x = ξV

(1.5-6)

einzuführen, deren Änderung nach

dx = ν−1A d[A] = ν−1B d[B] = ν−1C d[C] = ν−1D d[D](1.5-7)

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98 1 Einführung in die physikalisch-chemischen Betrachtungsweisen, Grundbegriffe und Arbeitstechniken

mit den Konzentrationsänderungen beim Ablauf derReaktion Gl. (1.5-1) verknüpft ist. Sie gestattet es, Ge-schwindigkeiten von Konzentrationsänderungen oh-ne Festlegung auf eine bestimmte Komponente zu for-mulieren.Sicherlich wird die zeitliche Änderung von x, d. h.

die Geschwindigkeit dx∕ dt von den Konzentrationender Reaktanten abhängen, denn wir können vermu-ten, dass die Reaktionsgeschwindigkeit proportionalzur Häufigkeit der Stöße zwischen den Reaktanten ist,und diese sollte wiederumproportional zu den jeweili-gen Konzentrationen sein. Wir können also erwarten,dass in einfachen Fällen eine Beziehung der Art

dxdt

= k[A]a[B]b… (1.5-8)

existiert. Die Exponenten a, b,… nennen wir dieOrd-nung der Reaktion in Bezug auf die Komponenten A,B, . . . , die Summe

n = a + b +… (1.5-9)

die Ordnung der gesamten Reaktion. Die Proportio-nalitätskonstante k bezeichnet man als Geschwindig-keitskonstante.Von der Ordnung der Reaktion ist zu unterschei-

den die Molekularität der Reaktion. Sie drückt aus,wie viele Teilchen an dem elementaren Schritt betei-ligt sind, der zu der chemischen Reaktion führt. DieGleichung A → B + C beschreibt eine monomoleku-lare Reaktion, die Gleichung A + B → C + D eine bi-molekulare Reaktion. Ordnung und Molekularität ei-ner Reaktion stimmen nur bei sehr einfachen Reaktio-nen überein. Da die Wahrscheinlichkeit eines gleich-zeitigen Stoßes vielerMoleküle überaus gering ist, sindtri- und höhermolekulare Reaktionen sehr unwahr-scheinlich. Komplizierte Reaktionen setzen sich des-halb aus mehreren Teilreaktionen niedrigerer Mole-kularität zusammen. Für die Gesamtreaktion ergibtsich dann oft auch eine komplizierte Abhängigkeit derReaktionsgeschwindigkeit von den Konzentrationender einzelnen Komponenten. Dabei können durchausauch gebrochene Reaktionsordnungen auftreten. Ausder Reaktionsordnung lässt sich also noch nichts überden tatsächlichen Verlauf einer Reaktion, insbesonde-re nichts über den Reaktionsweg aussagen. Oft führenverschiedene Modelle für den Reaktionsweg zu dengleichen Reaktionsordnungen.Im Folgenden wollen wir zunächst einige einfa-

che homogene Reaktionen untersuchen, bei denendas Gleichgewicht ganz auf der rechten Seite derGl. (1.5-1) liegt, bei denen also praktisch keine Rück-reaktion stattfindet, d. h. kein A und B aus C und Dgebildet wird.

1.5.2 Reaktionen erster Ordnung

Als Reaktionen, die ein Zeitgesetz erster Ordnung be-folgen, hat man beispielsweise den thermischen Zer-fall von Distickstoffpentoxid und von Dimethylethererkannt:

N2O5 → N2O4 +12O2

CH3OCH3 → CH4 +H2 + CO

Es handelt sich hierbei also um Reaktionen vom Typ

A → B + C +…

Bezeichnen wir die Konzentration des Stoffes A zurZeit t mit [A], so ist die Geschwindigkeit, mit der [A]abnimmt, proportional zu [A]. Es ergibt sich also als

Geschwindigkeitsgleichung für Reaktionen ersterOrdnung

−d[A]dt

= k1[A] (1.5-10)

Die Proportionalitätskonstante k1 nennt man Ge-schwindigkeitskonstante. Nach der Trennung der Va-riablen,

d[A][A]

= −k1 dt (1.5-11)

liefert die unbestimmte Integration

ln [A] = −k1t + c (1.5-12)

Die Integrationskonstante c ergibt sich aus den An-fangsbedingungen. Lag zu Beginn der Reaktion (t = 0)die Anfangskonzentration [A]0 vor, so gilt

ln [A]0 = c (1.5-13)

Wir erhalten also

ln [A][A]0

= −k1t (1.5-14)

oder für die zur Zeit t noch vorliegende Konzentrationvon A das

Zeitgesetz für Reaktionen erster Ordnung

[A] = [A]0 ⋅ e−k1t (1.5-15)

Auch eine Reaktion der durch Gl. (1.5-1) beschriebe-nen Art kann nach einem Zeitgesetz erster Ordnung,beispielsweise in Bezug auf die KomponenteA, verlau-fen. Den Reaktionsablauf können wir über eine Mes-sung der zeitlichen Änderung der Konzentration einer

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991.5 Einführung in die chemische Kinetik

beliebigen Komponente i verfolgen. GemäßGl. (1.5-7)gilt

dxdt

= ν−1id[i]dt

(1.5-16)

wobei wir die jeweilige Konzentration von i mithilfeihrer Anfangskonzentration [i]0 zur Zeit t = 0 und derReaktionsvariablen x ausdrücken können:

[i] = [i]0 + νix (1.5-17)

Anstelle von Gl. (1.5-10) erhalten wir

dxdt

= 1νA

d[A]dt

= k1([A]0 + νAx) (1.5-18)

Trennung der Variablen, unbestimmte Integrationund Berücksichtigung der Randbedingung [A]0 beit = 0 führen dann zu

x = − 1νA[A]0(1 − eνAk1t) (1.5-19)

Substituieren wir x durch Gl. (1.5-17), so erhalten wir,wenn wir unter i Komponente A verstehen, wiederGl. (1.5-15). Soll i jedoch für eines der Reaktionspro-dukte, beispielsweise für D in Gl. (1.5-1), stehen, sofolgt

[D] − [D]0 = −νDνA[A]0(1 − eνAk1t) (1.5-20)

Ein spezieller Fall für eine Reaktion erster Ordnung istder radioaktive Zerfall, z. B. der des Radiums in Radonunter Abspaltung eines α-Teilchens:

Ra−α→ Rn

Man verwendet hier im Allgemeinen nicht die Kon-zentrationen, sondern die AnzahlN der Atome als Va-riable. Liegen zur Zeit t = 0 N0 Atome vor, zur Zeit tnoch N , so gilt entsprechend Gl. (1.5-15)

N = N0e−k1t (1.5-21)

Von den hier als Beispiel angeführten Reaktionen, dieein Geschwindigkeitsgesetz erster Ordnung befolgen,stellt der Zerfall des Distickstoffpentoxids keine mo-nomolekulare Reaktion dar. Auch die Rohrzuckerspal-tung ist keine monomolekulare Reaktion, obwohl siedurch ein Geschwindigkeitsgesetz erster Ordnung be-schrieben werden kann.Die der Formel nach bimolekulare Reaktion

Rohrzucker+Wasser →(α)-D-Glucose + (α)-D-Fructose (1.5-22)

wird in Wirklichkeit durch Wasserstoffionen kataly-siert. Da ein Katalysator (s. Abschnitt 6.7) zwar einunmittelbarer Reaktionspartner sein kann, im Lau-fe der Reaktion aber stets quantitativ zurückgebildetwird, ändert sich die Wasserstoffionen-Konzentrationwährend der Reaktion nicht. Die Konzentration desWassers, das als Lösungsmittel und Reaktionspartnerdient, bleibt wegen des großen Wasserüberschusseswährend der Reaktion praktisch konstant, kann alsowie die Konzentration der Säure mit in die Geschwin-digkeitskonstante einbezogenwerden. Bezeichnenwirdie Rohrzuckerkonzentration mit [R], so folgt für dasGeschwindigkeitsgesetz für die Reaktion Gl. (1.5-22)

d[R]dt

= −k1[R] (1.5-23)

und nach der Integration für das Zeitgesetz

[R] = [R]0e−k1t (1.5-24)

Da die bimolekulare Reaktion Gl. (1.5-22) nach1. Ordnung verläuft, spricht man von einer Reaktionpseudo-1. Ordnung. Bezüglich der katalysierten Rohr-zuckerinversion siehe auch Abschnitt 6.7.2.

1.5.3 Reaktionen zweiter Ordnung

Reaktionen zweiter Ordnung werden relativ oft gefun-den. Zu ihnen zählen beispielsweise dieDimerisierungvon Butadien in der Gasphase oder der Zerfall vonStickstoffdioxid

2NO2 → 2NO +O2

Es handelt sich dabei also um Reaktionen des Typs

2A → C + D +… (1.5-25)

oder allgemeiner

A + B → C +D (1.5-26)

Im Fall der Reaktion Gl. (1.5-25) muss die Zerfallsge-schwindigkeit vomEduktA proportional sein derZahlder Zusammenstöße zwischen zwei Molekülen A, al-so proportional zu [A]2. Wir können deshalb die Ge-schwindigkeitsgleichung formulieren als

−d[A]dt

= 2k2[A]2 (1.5-27)

Trennung der Variablen, unbestimmte Integrationund Berücksichtigung der Randbedingung [A] = [A]0bei t = 0 führen zum Zeitgesetz

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100 1 Einführung in die physikalisch-chemischen Betrachtungsweisen, Grundbegriffe und Arbeitstechniken

1[A]

− 1[A]0

= 2k2t (1.5-28)

Im Fall der Reaktion Gl. (1.5-26) ergibt sich eine ganzähnliche Geschwindigkeitsgleichung, sofern die An-fangskonzentrationen [A]0 und [B]0 gleich groß sind,allerdings fällt der Faktor 2 auf der rechten Seite vonGl. (1.5-28) fort, da νA jetzt den Wert −1 hat.Dasselbe gilt natürlich für das daraus folgende

Zeitgesetz bei Reaktionen zweiter Ordnung bei glei-chen Ausgangskonzentrationen

d[A]dt

= −k2[A][B] = −k2[A]2 (1.5-29)

1[A]

− 1[A]0

= k2t (1.5-30)

Für den Fall, dass die Anfangskonzentrationen von Aund B ungleich sind, wollen wir die Herleitung desZeitgesetzes 2. Ordnung für ein beliebiges Edukt oderProdukt mithilfe der Reaktionsvariablen x unter Be-achtung von Gl. (1.5-17) vornehmen. So lautet die

Geschwindigkeitsgleichung für Reaktionen zweiterOrdnung

dxdt

= k2([A]0 + νAx)([B]0 + νBx) (1.5-31)

denn die Reaktionsgeschwindigkeit muss proportio-nal der Zahl der Zusammenstöße von Molekülen Amit Molekülen B sein, also proportional dem Produktaus den Konzentrationen von A und B zur Zeit t. DieTrennung der Variablen führt zu

dx([A]0 + νAx)([B]0 + νBx)

= k2 dt (1.5-32)

und die Integration mithilfe der Partialbruchzerle-gung (vgl. Mathematischer Anhang G) zu

1νB[A]0 − νA[B]0

ln[B]0 + νBx[A]0 + νAx

= k2t + c (1.5-33)

Die Integrationskonstante c ermitteln wir wieder ausden Anfangsbedingungen bei t = 0:

c = 1νB[A]0 − νA[B]0

ln[B]0[A]0

(1.5-34)

so dass sich insgesamt als

Zeitgesetz bei Reaktionen zweiter Ordnung

1νB[A]0 − νA[B]0

ln[A]0([B]0 + νBx)[B]0([A]0 + νAx)

= k2t (1.5-35)

ergibt.

1.5.4 Reaktionen dritter Ordnung

Reaktionen dritter Ordnung sind bereits sehr selten.Die Oxidation des Stickstoffmonoxids zu Stickstoffdi-oxid

2NO +O2 → 2NO2

kann als ein Beispiel angeführt werden. Es sind alsoReaktionen vom Typ

A + B + C → D + E +… (1.5-36)

Für ihre Untersuchungwirdman nachMöglichkeit dieAnfangskonzentrationen von A, B und C im stöchio-metrischenVerhältnis wählen. In der allgemeinen For-mulierung lautet die

Geschwindigkeitsgleichung für Reaktionen dritterOrdnung

dxdt

= k3([A]0 + νAx)([B]0 + νBx)([C]0 + νCx)

(1.5-37)

und mit

[A]0νA

=[B]0νB

=[C]0νC

= −a (1.5-38)

dxdt

= k3νAνBνC(x − a)3 (1.5-39)

Über die Trennung der Variablen und die unbestimm-te Integration erhalten wir

− 12(x − a)2

= k3νAνBνCt + c (1.5-40)

Beachten wir wieder die Anfangsbedingungen x = 0bei t = 0, so ergibt sich

c = − 12a2

(1.5-41)

und nach dem Einsetzen von Gl. (1.5-41) inGl. (1.5-40)

1a2

− 1(x − a)2

= 2k3νAνBνCt (1.5-42)

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1011.5 Einführung in die chemische Kinetik

Die Beachtung von Gl. (1.5-17) führt schließlich zu

1[A]20

− 1[A]2

= 2k3νBνCνA

t (1.5-43)

Beachten wir, dass die stöchiometrischen Faktoren al-ler Edukte aus Gl. (1.5-36) denWert−1 haben, so folgtletztendlich für das

Zeitgesetz für Reaktionen dritter Ordnung

1[A]2

− 1[A]20

= 2k3t (1.5-44)

1.5.5 Reaktionen nullter Ordnung

Ein besonderer Fall liegt vor, wenn sich die Reaktion –z. B. bei heterogen katalytischen Reaktionen – an ei-ner Oberfläche, d. h. in einer Adsorptionsphase, ab-spielt und die adsorbierte Menge bei hinreichend ho-hem Druck der Gasphase druckunabhängig ist (vgl.Abschnitt 2.7.5). Die durch die Reaktion verbrauch-te Substanzmenge wird dann laufend durch Adsorp-tion aus der Gasphase ergänzt, so dass die Konzen-tration des Ausgangsstoffes in der Adsorptionsphasekonstant bleibt. Für eine Zerfallsreaktion, die in ho-mogener Phase nachder ersten oder zweitenOrdnungverlaufen würde (vgl. Abschnitt 6.3.1), ergäbe sich

A + Katalysator → A ⋅ Katalysatork0→

B ⋅ Katalysator + C ⋅ Katalysator →B + C + Katalysator .

Der Adsorptionsschritt und die Desorptionsschrittemögen viel schneller verlaufen als der Zerfall von A inB und C in der Adsorptionsphase. Dann wird die Ge-schwindigkeit der Reaktion lediglich durch den mitt-leren Schritt mit der Geschwindigkeitskonstanten k0bestimmt, wobei, wie oben ausgeführt, die Konzentra-tiondesAdsorptionskomplexesA ⋅Katalysator zeitlichkonstant bleibt.Die Geschwindigkeit, bezogen auf die Reaktionsva-

riable x, ist dann gegeben durch die

Geschwindigkeitsgleichung für Reaktionen nullterOrdnung

dxdt

= k0 (1.5-45)

wofür wir in Analogie zu Gl. (1.5-39) auch schreibenkönnen

dxdt

= k0ν0A(x − a)0 (1.5-46)

Wir spechen deshalb von einer Reaktion nullter Ord-nung. Die Integration von Gl. (1.5-45) liefert als

Zeitgesetz für eine Reaktion nullter Ordnung

x = k0t (1.5-47)

bzw.

[A] − [A]0 = −k0t (1.5-48)

wennmanGl. (1.5-17) berücksichtigt und die Konzen-tration des Eduktes A einführt.

1.5.6 Die Bestimmung der Reaktionsordnung

Reaktionskinetische Untersuchungen führt mandurch, um Aufschluss über den Reaktionsmecha-nismus zu erhalten. Zu diesem Zweck stellt man fürdenkbare Reaktionswege Geschwindigkeitsgleichun-gen auf und prüft, ob diese durch das Experimentbestätigt werden. Im einfachsten Fall würde es sichalso darum handeln, nachzuprüfen, ob eine Reakti-on nach einer bestimmten Ordnung verläuft. Dabeisollten wir jedoch bedenken, dass wir auf diese Weiseunzutreffende Reaktionsmechanismen ausschließen,richtige aber nicht als solche beweisen können, damöglicherweise auch andere Reaktionswege auf eingleiches Zeitgesetz führen würden.Ein recht einfacher Weg, die Ordnung einer Reak-

tion zu ermitteln, ist die graphische Darstellung derMesswerte. Für die folgenden Betrachtungen gehenwir bei Reaktionen zweiter und dritterOrdnung davonaus, dass die Anfangskonzentrationen der verschiede-nen Reaktionspartner im stöchiometrischen Verhält-nis vorliegen und dass alle stöchiometrischen Fakto-ren den Absolutwert 1 haben. Im Falle einer Reakti-on erster Ordnung sollte gemäß Gl. (1.5-15) die loga-rithmische Auftragung der jeweiligen Konzentration[A] gegen die Zeit t eine Gerade ergeben. Liegt dage-gen eine Reaktion zweiter oder dritterOrdnung vor, sohängt nach Gl. (1.5-30) 1

[A] bzw. nach Gl. (1.5-44) 1[A]2

linear von der Zeit t ab. Für eine Reaktion nullter Ord-nung ergibt sich schließlich entsprechend Gl. (1.5-48)eine Linearität zwischen [A] und t. In den Abb. 1.5-1bis 1.5-4 sind für den Fall, dass [A]0 = 1mol dm−3

ist und k0 bis k3 den gleichen Zahlenwert 0.5 (nichtdie gleiche Benennung!) besitzen, die entsprechendenAuftragungen wiedergegeben.Für eine rechnerische Ermittlung der Reaktionsord-

nung bietet sich die Prüfung an, aus welcher der obengenannten Gleichungen für die Geschwindigkeitskon-stante k tatsächlich ein konstanter, von der Zeit bzw.dem Umsatz unabhängiger Wert resultiert. So müsste

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102 1 Einführung in die physikalisch-chemischen Betrachtungsweisen, Grundbegriffe und Arbeitstechniken

Abb. 1.5-1 Reaktion erster Ordnung; Auftragung gemäßGl. (1.5-15).

Abb. 1.5-2 Reaktion zweiter Ordnung; Auftragung gemäßGl. (1.5-30).

nach

k0 =1t([A]0 − [A]) (1.5-49)

k1 =1tln[A]0[A]

(1.5-50)

k2 =1t

(1[A]

− 1[A]0

)(1.5-51)

k3 =1t

(1

2[A]2− 1

2[A]20

)(1.5-52)

bei Vorliegen einer Reaktion n-ter Ordnung kn unab-hängig von t und [A] sein. Sinnvoller ist es jedoch, dieHalbwertszeiten t1∕2 einzuführen. Das sind die Zeiten,in denen sich die jeweils vorliegende Ausgangsmen-ge gerade zur Häfte umgesetzt hat, d. h. nach denen[A] = [A]0

2 ist. Aus den Gl. (1.5-49) bis (1.5-52) erge-ben sich

die Halbwertszeiten (t1∕2)n einer Reaktion n-terOrdnung:

(t1∕2)0 =12k0

[A]0 (1.5-53)

(t1∕2)1 =ln 2k1

(1.5-54)

Abb. 1.5-3 Reaktion dritter Ordnung; Auftragung gemäßGl. (1.5-44).

Abb. 1.5-4 Reaktion nullter Ordnung; Auftragung gemäßGl. (1.5-48).

(t1∕2)2 =1k2

1[A]0

(1.5-55)

(t1∕2)3 =32k3

1[A]20

(1.5-56)

Wenn die untersuchte Reaktion nach nullter, erster,zweiter oder dritter Ordnung verläuft, ist die Halb-wertszeit proportional der jeweiligen Ausgangskon-zentration, von ihr unabhängig, umgekehrt proportio-nal der Ausgangskonzentration oder umgekehrt pro-portional zu ihrem Quadrat.In Abb. 1.5-5a sind – wieder für den festen Zahlen-

wert k = 0.5 und die Ausgangskonzentration [A]0 =1mol dm−3 – die Konzentrationen [A] in Abhängig-keit von der Zeit aufgetragen.Man erkennt, dass für den speziellen Fall [A]0 =

1mol dm−3 die Startgeschwindigkeit für alle Ordnun-gen gleich groß ist, dass die Geschwindigkeit beimFortschreiten der Reaktion nur für die nullte Ord-nung konstant bleibt, bei höherer Ordnung jedoch ab-nimmt, und zwar um so stärker, je höher die Ord-nung ist. In Abb. 1.5-5b sind zur Demonstration derGl. (1.5-53) bis (1.5-56) die aus Abb. 1.5-5a für dieBereiche [A]0 → [A]0∕2; [A]0∕2 → [A]0∕4; [A]0∕4 →[A]0∕8 usw. entnommenen Halbwertszeiten wieder-gegeben. Selbstverständlich lässt sich die Reaktions-ordnung auch anhand von Halbwertszeiten bestim-

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1031.5 Einführung in die chemische Kinetik

(a)

(b)

Abb. 1.5-5 Vergleich der Reaktionen nullter bis dritter Ord-nung. (a) Konzentration [A] des Ausgangsstoffes A in Abhän-gigkeit von der Reaktionszeit t, (b) aus (a) ermittelte Halb-wertszeiten.

men, die aus sich überlappenden Reaktionsbereichenstammen. Das ist besonders wichtig bei nicht vollstän-dig verlaufenden Reaktionen, bei denen zur Ermitt-lung der Reaktionsordnung nur ein kurzer Anfangs-bereich der Reaktion verwendet werden kann, in demsich die Rückreaktion noch nicht störend bemerkbarmacht.Bei komplizierteren Reaktionen können die ge-

nannten Verfahren zur Bestimmung der Reaktions-ordnung versagen, insbesondere wieder dann, wennRückreaktionen einsetzen. Gerade in diesem Fall istes zweckmäßig, die Anfangsgeschwindigkeit zu mes-sen, weil die Konzentrationen der Reaktionspartnerdann noch den genau bekannten Anfangskonzentra-tionen entsprechen. Die Anfangsreaktionsgeschwin-digkeit (dx∕ dt)0 möge durch die allgemeine Form(

dxdt

)0= k[A]a0 [B]

b0[C]

c0 (1.5-57)

gegeben sein. Durch Logarithmieren erhalten wir

log(dxdt

)0= log k+a log [A]0+b log [B]0+ c log [C]0

(1.5-58)

Haltenwir nun in einer Reihe vonMessungen [B]0 und[C]0 konstant und variieren [A]0, so ergibt die Auftra-gung der gemessenenWerte von log

(dxd t

)0in Abhän-

gigkeit von log [A]0 eine Gerade, deren Steigung unsdie Ordnung a in Bezug auf die Komponente A liefert.

In entsprechender Weise verfahren wir bezüglich derBestimmung der Ordnungen b und c.Verläuft die Reaktion zu schnell, um dieses Verfah-

ren anwenden zu können, so bietet sich die sog. Iso-liermethode an. Die Reaktionsgeschwindigkeit sei ge-geben durch

dxdt

= k[A]a[B]b[C]c (1.5-59)

In einem ersten Experiment werden wir die Kompo-nenten B undC in einem so großenÜberschuss gegen-über A verwenden, dass sich [B] und [C] im Vergleichzu [A] praktisch nicht ändern. Wir können dann nä-herungsweise schreiben

dxdt

≈ k′[A]a (1.5-60)

DieOrdnung inBezug aufAbestimmenwir dannnacheinem der oben genannten Verfahren. In entsprechen-der Weise ermitteln wir b und c, indem wir die Kom-ponente B bzw. C in starkem Unterschuss einsetzen.Die Rohrzuckerinversion (Gl. 1.5-23) ist ein Spezial-fall der Isoliermethode.

1.5.7 Unvollständig verlaufende Reaktionen

Eine chemische Reaktion kann, abgesehen von gewis-sen heterogenen Reaktionen, nie vollständig verlau-fen, denn sobald sich nach

A + Bk2→ C +D (1.5-61)

aus den Ausgangsstoffen die Produkte C und D gebil-det haben, besteht die Möglichkeit, dass sich gemäß

C +Dk−2→ A + B (1.5-62)

aus den Reaktionsprodukten die Ausgangssubstanzenzurückbilden. Man spricht deshalb im Fall der durchGl. (1.5-61) beschriebenen Reaktion von der Hinreak-tion und im Fall der durch Gl. (1.5-62) beschriebenenReaktion von der Rückreaktion. In dem angeführtenBeispiel handelt es sich beide Male um eine Reaktionzweiter Ordnung, deren Geschwindigkeitskonstanten(k2 für die Hin-, k−2 für die Rückreaktion) jedoch imAllgemeinen unterschiedlich sein werden.Lagen zuBeginnderReaktion (t = 0) nur die StoffeA

(mit der Konzentration [A]0) und B (mit der Konzen-tration [B]0) vor und noch keine Reaktionsprodukte Cund D, so gilt für die Hinreaktion nach Gl. (1.5-31)

dxdt

= k2([A]0 + νAx)([B]0 + νBx) (1.5-63)

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104 1 Einführung in die physikalisch-chemischen Betrachtungsweisen, Grundbegriffe und Arbeitstechniken

und für die Rückreaktion←

dxdt

= −k−2νCνDx2 (1.5-64)

Für die Gesamtgeschwindigkeit im Reaktionssystem

A + B ⇌ C + D (1.5-65)

ergibt sich dann

dxdt

= k2([A]0 + νAx)([B]0 + νBx) − k−2νCνDx2

(1.5-66)

Die Konzentrationen ändern sich nicht mehr, wenndie Gesamtgeschwindigkeit null wird. Es stellt sichein Gleichgewicht ein, bei dem Hin- und Rückreak-tionen gleich schnell verlaufen. Wir sprechen deshalbvon einem dynamischen Gleichgewicht. Da die Ge-schwindigkeitskonstanten durch die Reaktionen gege-ben sind und [A]0 und [B]0 vorgegeben waren, ist dasnach Gl. (1.5-66) nur für eine bestimmte Reaktionsva-riable xgl möglich.(

dxdt

)x=xgl

= 0 (1.5-67)

oder

k2([A]0 + νAxgl)([B]0 + νBxgl) = k−2νCxglνDxgl(1.5-68)

Daraus ergibt sich unter Berücksichtigung vonGl. (1.5-17) für

das chemische Gleichgewicht

[C]gl[D]gl[A]gl[B]gl

=k2k−2

= K (1.5-69)

Wir müssen aber beachten, dass in Gl. (1.5-69) diedurch eckige Klammern ausgedrückten Konzentra-tionen die im Gleichgewicht vorliegenden Konzen-trationen sind. Es zeigt sich also, dass das Produktder Konzentrationen der Endprodukte dividiert durchdas Produkt der Konzentrationen der Ausgangsstoffekonstant ist, sofern sich bei der Reaktion ein Gleich-gewicht eingestellt hat. Die Konstante K bezeich-net man als Gleichgewichtskonstante. Sie errechnetsich als Quotient der Geschwindigkeitskonstanten derHin- und Rückreaktion. Gleichung (1.5-69) ist nichtsanderes als dasMassenwirkungsgesetz, das hiermithil-fe der Kinetik abgeleitet wurde.

Bodenstein hat auf diesem Wege die Gleichge-wichtskonstante der Bildung von Iodwasserstoff ausWasserstoff und Iod ermittelt,

H2 + I2 ⇌ 2HI (1.5-70)

[HI]2gl[H2]gl[I2]gl

= K =k2k−2

(1.5-71)

indem er zum einen von Wasserstoff und Iod aus-ging und die Bildungsgeschwindigkeit für Iodwasser-stoff bestimmte, zum anderen ausgehend von Iod-wasserstoff die Zerfallsgeschwindigkeit maß. Im Ab-schnitt 6.3.3 werden wir jedoch erfahren, dass derMe-chanismus dieser Reaktion in Wirklichkeit viel kom-plexer ist.

1.5.8 Folge- und Parallelreaktionen

Im Vorangehenden haben wir bereits erfahren, dasskompliziertere Reaktionen oft aus einer Folge ver-schiedener Reaktionsschritte bestehen. Nur in weni-gen Fällen ist es dann möglich, eine geschlossene ma-thematische Behandlung durchzuführen, wie z. B. inAbschnitt 6.2.3. Jeder einzelne Schritt in einer Reakti-onsfolge

Ak′→ B

k′′→ C

k′′′→ D (1.5-72)

ist durch eine für ihn charakteristische Reaktions-ordnung und Geschwindigkeitskonstante ausgezeich-net. Für die Gesamtreaktion (Gl. 1.5-72), die Bildungvon D aus A, ist, sofern sich k′, k′′ und k′′′ hinrei-chend unterscheiden, im Wesentlichen der langsams-te der drei Schritte geschwindigkeitsbestimmend undder Messung zugänglich, während die beiden schnel-leren Schritte nicht verfolgt werden können (vgl. Ab-schnitt 6.2.3 und Gl. (6.2-28)).Oft, insbesondere bei Reaktionen organischer Mo-

leküle, sind auch verschiedene Reaktionswege mög-lich. So lässt sich Ethanol entweder zu Ethen dehydra-tisieren oder zu Ethanal dehydrieren. Hier liegen nichtFolge-, sondern Parallelreaktionen vor:

oder allgemein geschrieben

(1.5-73)

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1051.5 Einführung in die chemische Kinetik

Welches Produkt bei der Reaktion entstehen wird,hängt vom Verhältnis der Geschwindigkeitskonstan-ten kB und kC ab. Ist kB ≈ kC, wird sowohl B als auchC gebildet werden, ist kB ≫ kC, so führt die Reakti-on praktisch nur zum Produkt B, im Fall von kB ≪kC zu C. Bei Parallelreaktionen ist also die schnells-te der Reaktionen bestimmend für den Reaktionswegund die Gesamtgeschwindigkeit. Das erkenntman un-mittelbar, wenn man die Geschwindigkeitsgleichungbetrachtet. Für den einfachsten Fall zweier vollstän-dig verlaufender Parallelreaktionen erster Ordnung istdie Geschwindigkeit, mit der sich der Ausgangsstoff Azersetzt, gegeben durch

−d[A]dt

= kB[A]+ kC[A] = (kB + kC)[A] (1.5-74)

Die Integration liefert

[A] = [A]0e−(kB+kC)t (1.5-75)

also eine Reaktion erster Ordnung bezüglich A.Für die Bildungsgeschwindigkeit von B folgt

d[B]dt

= kB[A] = kB[A]0e−(kB+kC)t (1.5-76)

Integrieren wir Gl. (1.5-76) und beachten dieAnfangs-bedingungen ([A]0, und [B]0 = 0 bei t = 0), so erhaltenwir

[B] =kB[A]0kB + kC

(1 − e−(kB+kC)t) (1.5-77)

Entsprechendes gilt für das Produkt C. Welches derbeiden Produkte vorzugsweise entsteht, hängt dem-nach vom Verhältnis der beiden Geschwindigkeits-konstanten kB und kC ab.Bei der Zersetzung des Ethanols erhöhen oxidische

Katalysatoren die Geschwindigkeitskonstante der De-hydratation, metallische die der Dehydrierung.

1.5.9 Die Temperaturabhängigkeit derReaktionsgeschwindigkeit

Eine Betrachtung der Gl. (1.5-10), (1.5-31) oder(1.5-37) lässt erkennen, dass der aus dem Experimentbekannte Einfluss der Temperatur auf die Reaktions-geschwindigkeit nur über die Geschwindigkeitskon-stanten k erfolgen kann. Eine Temperaturerhöhungkann sich sehr unterschiedlich auf die Geschwindig-keitskonstante auswirken. Im Rahmen dieses einfüh-renden Kapitels soll nur der häufigste Fall, der bereits1889 von Arrhenius untersucht wurde, etwas einge-hender besprochenwerden. Eine ausführliche Diskus-sion erfolgt im Kapitel 6.

In umfangreichen Studien fand Arrhenius, dass dieGeschwindigkeitskonstante kn einer e-Funktion pro-portional ist, die im negativen Exponenten den Kehr-wert der absoluten Temperatur enthält:

kn = k0e−A∕T (1.5-78)

Schreiben wir diese Gleichung um, indem wir den Ex-ponenten mit der Boltzmann-Konstanten k und derLoschmidt’schen Konstanten NA erweitern, so erhal-ten wir

die Arrhenius-Gleichung

kn = k0 ⋅ e− A⋅kkT = k0 ⋅ e

− εakT = k0 ⋅ e

− NA⋅εaRT (1.5-79)

Wir erkennen, dass der Exponent eine Energie εa ent-halten muss. Der Ausdrucke e−

εakT ist identisch mit

Gl. (1.3-31). Er gibt, wie inAbschnitt 1.3.4 gezeigt wur-de, den Bruchteil von Molekülen an, die eine Energiegrößer als oder gleich εa besitzen. Das legt die Ver-mutung nahe, dass nicht jedes Molekül bei einem Zu-sammenstoß mit einem anderen reagiert, sondern nurdann, wenn es eine Mindestenergie εa besitzt. Manbezeichnet εa deshalb als Aktivierungsenergie. Meis-tens betrachtet man nicht die Energie eines Moleküls,sondern die entsprechende molare Energie. Man er-weitert dann den Exponenten mit NA und führt fürNA ⋅ εa die Größe Ea ein. Anschaulich lassen sich dieVerhältnisse darstellen, wenn wir die Energiestufen,die die reagierenden Moleküle beim Reaktionsfort-gang durchlaufen, in Abhängigkeit von diesem dar-stellen (Abb. 1.5-6). Ev ist die molare Energie der re-agierenden Moleküle vor der Reaktion, En die molareEnergie nach der Reaktion. DerUnterschied ist die Re-aktionsenthalpie ΔH.Der Übergang von Ev nach En erfolgt jedoch we-

der für die Hinreaktion (im gewählten Beispiel exo-therm, d. h. ΔH < 0) noch für die Rückreaktion (en-dotherm, d. h. ΔH > 0) direkt. Vielmehrmuss eine En-ergiebarriere überwunden werden, die für die Hinre-aktion die Höhe

→E a, für die Rückreaktion die Höhe

←E a hat. Diese Aktivierungsenergien Ea sind erforder-

Abb. 1.5-6 Energiebarriere, die bei der Reaktion überwundenwerden muss.

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106 1 Einführung in die physikalisch-chemischen Betrachtungsweisen, Grundbegriffe und Arbeitstechniken

Abb. 1.5-7 Zur Temperaturabhängigkeit der Geschwindig-keitskonstanten k.

lich, um die Bindungen innerhalb der Moleküle zu lo-ckern und sie so auf die Reaktion vorzubereiten. DieDifferenz der Aktivierungsenergien für die Hin- undRückreaktion ist identischmit der Reaktionsenthalpie.Nach außen hin geben sich die Aktivierungsenergiennur durch die Temperaturabhängigkeit der Geschwin-digkeitskonstanten, nicht aber durch kalorische Effek-te zu erkennen.Zur Ermittlung der Aktivierungsenergie ist es not-

wendig, zunächst die Ordnung der Reaktion zu er-mitteln und die entsprechende Geschwindigkeitskon-stante bei verschiedenen Temperaturen zu messen.Die Auftragung von ln kn gegen 1∕T muss dann nachGl. (1.5-79) eine Gerade liefern (Abb. 1.5-7):

ln kn = ln k0 −EaRT

(1.5-80)

Aus ihrer Steigung ergibt sich dieAktivierungsenergie.Die Arrhenius-Gleichung hat einen weiten Gel-

tungsbereich. Sinnvoll ist ihre Anwendung jedoch nurbei einfachen Reaktionsschritten, zumal wenn weiter-gehende Schlüsse gezogen werden sollen.Es gibt zahlreiche Fälle, in denen eine völlig ande-

re Temperaturabhängigkeit beobachtet wird, als sieaus der Arrhenius’schen Gleichung folgt (Abb. 1.5-8a).Abbildung 1.5-8 zeigt einige typische Beispiele.Diese beobachtet man bei Explosionen

(Abb. 1.5-8b), bei Enzymreaktionen und bei hete-rogenen katalytischen Reaktionen (Abb. 1.5-8c) so-wie bei Anwesenheit vorgelagerter Gleichgewichte(Abb. 1.5-8d). Wir werden später im Kapitel 6 aufdiese Fälle zurückkommen.

1.5.10 Kernpunkte des Abschnitts 1.5

✓⃞ Reaktionsgeschwindigkeit, Abschnitt 1.5.1✓⃞ Ordnung und Molekularität einer Reaktion,

Abschnitt 1.5.1Reaktionen erster Ordnung, Abschnitt 1.5.2✓⃞ Geschwindigkeitsgleichung, Gl. (1.5-10);

Zeitgesetz, Gl. (1.5-15)

(a) (b)

(c) (d)

Abb. 1.5-8 Verschiedene Typen der Temperaturabhängigkeitder Geschwindigkeitskonstanten.

Reaktionen zweiter Ordnung, Abschnitt 1.5.3✓⃞ Geschwindigkeitsgleichung, Gl. (1.5-29);

Zeitgesetz, Gl. (1.5-30)Reaktionen dritter Ordnung, Abschnitt 1.5.4✓⃞ Geschwindigkeitsgleichung, Gl. (1.5-37);

Zeitgesetz, Gl. (1.5-44)Reaktionen nullter Ordnung, Abschnitt 1.5.5✓⃞ Geschwindigkeitsgleichung, Gl. (1.5-45),

Zeitgesetz, Gl. (1.5-47)Bestimmung der Reaktionsordnung, Abschnitt 1.5.6✓⃞ Halbwertszeiten, Gl. (1.5-53) bis (1.5-56)

Unvollständig verlaufende Reaktionen,Abschnitt 1.5.7Folge- und Parallelreaktionen, Abschnitt 1.5.8Temperaturabhängigkeit derReaktionsgeschwindigkeit, Abschnitt 1.5.9✓⃞ Arrhenius-Gleichung, Gl. (1.5-79)

1.5.11 Rechenbeispiele zu Abschnitt 1.5

1 Zur Untersuchung der Rohrzuckerinversion mit-hilfe der Drehung der Polarisationsebene wurden fünfVersuchsreihen durchgeführt. Bei den Reihen I bis IVlagen7.33 gRohrzucker, bei ReiheV7.58gRohrzuckerin 100 cm3 Lösung vor. Bei den Reihen I bis IV wardie Lösung 0.75M bezüglich HCl, bei der Reihe V nur0.5M. Die Drehung der Polarisationsebene wurde beiverschiedenen Temperaturen in Abhängigkeit von derZeit t gemessen.Die jeweilige Rohrzuckerkonzentration ist αt − α∞proportional. Man ermittle für jede der Versuchs-reihen a) die Reaktionsordnung und b) die Ge-schwindigkeitskonstante. Man berechne c) die Ak-tivierungsenergie und diskutiere d) die Abhän-

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1071.5 Einführung in die chemische Kinetik

gigkeit der Geschwindigkeitskonstanten von derH+-Ionen-Konzentration.

I II III IV V333 K 318K 303K 293 K 303Kt

minα

Gradt

minα

Gradt

minα

Gradt

minα

Gradt

minα

Grad

2 0.38 3 6.28 3 8.34 3 9.81 3 9.353 −0.15 5 4.89 6 7.56 7 9.46 6 9.144 −0.55 7 3.71 10 7.30 11 9.28 9 8.735 −0.81 9 2.72 15 6.52 16 9.00 13 8.006 −0.99 11 1.93 19 6.20 20 8.82 18 7.437 −1.11 15 0.64 23 5.80 30 8.40 24 6.808 −1.20 21 −0.41 30 4.57 41 7.81 34 5.899 −1.26 30 −1.17 40 3.55 50 7.41 46 4.87

10 −1.30 40 −1.65 67 1.40 66 6.76 60 3.81∞ −1.39 ∞ −1.91 ∞ −2.51 ∞ −2.97 ∞ −2.59

2 In welcher Zeit zerfallen 10% eines Thoriumprä-parats, wenndieHalbwertszeit 1.4 ⋅1010 Jahre beträgt?

3 Ameisensäuredampf zerfällt anmetallischen Kata-lysatoren, z. B. an Silber, entsprechend der Gleichung

HCOOH → H2 + CO2 .

Die jeweilige Reaktionsgeschwindigkeit wird gemes-sen, indem man aus einem Vorratsgefäß heraus dieAmeisensäure verdampft, über den Katalysator strei-chen lässt, die nicht zersetzte Ameisensäure kon-densiert und dem Vorratsgefäß wieder zuführt unddie Bildung der gasförmigen Zerfallsprodukte mithil-fe eines Strömungsmessers verfolgt. Es zeigte sich,dass bei konstantgehaltener Temperatur im Reakti-onsraum der Strömungsmesser unabhängig von derZeit den gleichen Wert anzeigte. Bei einer Tempera-turänderung beobachteteman folgende Strömungsge-schwindigkeit Q.

TK

591 625 641 657 673 690 704 721 735

Qdm3 h−1

1.20 2.55 2.85 3.30 3.80 4.70 5.20 5.55 6.15

Nachwelcher Reaktionsordnung erfolgt der Ameisen-säurezerfall, wie groß ist die Aktivierungsenergie?

4 DieUmlagerung von cis- in trans-1,2-Dichlorethenverläuft im gasförmigen Zustand bei Gegenwart vonSauerstoff nach einem Zeitgesetz 1. Ordnung. Bei ei-ner bestimmten Temperatur beobachtet man, dasssich, ausgehend von reiner cis-Verbindung, nach 6 h64% trans-Verbindung gebildet haben. Wie groß istdie Halbwertszeit der Reaktion?

5 Die Verseifung des Essigsäureethylesters mitNatronlauge verläuft nach zweiter Ordnung. Bei283K beträgt die Geschwindigkeitskonstante k2 =2.38 dm3 mol−1 min−1. Nach welcher Zeit sind 40%des Esters verseift, wenn 1 dm3 0.1M Esterlösung mit1 dm3 0.1M NaOH bei 283K umgesetzt werden?

6 Bei einer chemischen Reaktion nahm die Konzen-tration eines der Ausgangsstoffe innerhalb der ersten2 Stunden auf die Hälfte der Anfangskonzentration ab.Nach welcher Reaktionszeit liegt nur noch ein Achtelder Anfangskonzentration vor, wenn a) nach dreistün-diger, b) nach vierstündiger Reaktionszeit die Hälftederjenigen Konzentration festgestellt wurde, die nacheinstündiger Reaktionsszeit gemessen worden war?Welche Reaktionsordnung liegt bei a) und bei b) vor?

7 Die Zersetzung von Ammoniak an einer geheiz-ten Wolframoberfläche wurde bei konstanter Tempe-ratur, aber unterschiedlichen Anfangsdrücken unter-sucht.Man fand dabei folgendenZusammenhang zwi-schen den Anfangsdrücken p0 und den Halbwertszei-ten t1∕2:

p0/mbar 8.67 14.0 20.0 24.7

t1∕2/s 290 460 670 820

Bestimmen Sie die Reaktionsordnung und die Ge-schwindigkeitskonstante.

8 Die Gasphasenreaktion

2NO + 2H2 → N2 + 2H2O

ist bei 973K mithilfe der Methode der Anfangsge-schwindigkeit durch Messung des Gesamtdrucks alsFunktion der Zeit untersucht worden. In drei Ver-suchsreihen A, B und C fand man:

A B C

Anfangs-druck

p0 (NO)/bar 0.5 0.5 0.25

p0(H2)/bar 0.2 0.1 0.2Anfangs-geschwin-digkeit

(− d pdt

)0∕barmin−1 0.0048 0.0024 0.0012

a) Welcher Zusammenhang besteht zwischen denGeschwindigkeiten der Partialdruckänderungend p(NO)

dt , d p(H2)d t , d p(N2)

dt , d p(H2O)d t und der Gesamt-

druckänderung d pd t ?

b) Wie lautet die Geschwindigkeitsgleichung für dieAnfangsgeschwindigkeit

(− d pd t

)0?

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108 1 Einführung in die physikalisch-chemischen Betrachtungsweisen, Grundbegriffe und Arbeitstechniken

c) Bestimmen Sie aus den experimentellen Daten dieReaktionsordnung bezüglich NO und H2.

d) Welchen Wert hat die Geschwindigkeitskonstan-te?

9 Bei einer bimolekularen chemischen Reaktion

A + B → P1 + P2

in Lösung hat man folgende Beobachtung gemacht:

α) Die Bildungsgeschwindigkeit von P1 hängt nurvon der jeweiligen Konzentration von A ab.

β) Die Konzentration von A sinkt innerhalb einerStunde von [A]0 auf [A]0

2 und innerhalb von dreiStunden von [A]0

4 auf [A]032 .

Bearbeiten Sie folgende Aufgaben:

a) Geben Sie einemögliche Erklärung für die unter α)genannte Beobachtung.

b) Welche Reaktionsordnung liegt bezüglich desEduktes A vor?

c) Wie groß war die Anfangskonzentration an A,wenn nach 7h noch eine Konzentration von [A] =7.8 ⋅ 10−3 mol dm−3 gemessen wurde?

10 Für die Reaktion

H+ +OH− k2⇌k−1

H2O

hat k−1 bei 298K den Wert 2.7 ⋅ 10−5 s−1. Wel-chen Wert hat die Geschwindigkeitskonstante k2,wenn der dekadische Logarithmus des Ionenprodukts[H+] ⋅ [OH−] des Wassers −14.0 beträgt?

11 Eine äquimolare Mischung der Komponenten Aund B reagiert gemäß der Summengleichung:

A + B → C

Nach einer Stunde ist A zu 75% abreagiert. BerechnenSie, wieviel Prozent von A nach zwei Stunden Reakti-onszeit noch übrig sind, wenn die Reaktion

a) erster Ordnung in A und nullter Ordnung in B,b) erster Ordnung in A und B,c) nullter Ordnung sowohl in A als auch in B ist.

12 Gegeben sei folgende Reaktionsgleichung:

A + 2 B → AB2

Bestimmen Sie die Ordnungen a und b bezüglich derKomponenten A und B im folgenden Geschwindig-keitsgesetz:

υR = k[A]a0 ⋅ [B]b0

Benutzen Sie dazu die Werte von υR ⇀ vR, die inder folgenden Tabelle für verschiedene Kombinatio-nen von Anfangskonzentrationen der Substanzen Aund B gegeben sind.

υR [mol/l s] 0.04 0.12 0.36 1.08[A]0 [mol/l] 0.5 0.5 1 1[B]0 [mol/l] 0.5 1 0.5 1

Handelt es sich bei der oben angegebenen Reaktions-gleichung um eine Elementarreaktion?Berechnen Sie die Geschwindigkeitskonstante k.

13 Die Reaktion von NO3⋅-Radikalen mit H⋅, ⋅OHund HO2⋅ erfolgt nach folgenden Elementarreaktio-nen:

(1) NO3 +H ←→ OH +NO2

k1 = 6.6 ⋅ 1010 lmol−1 s−1

(2) NO3 +OH ←→ HO2 +NO2

k2 = 1.2 ⋅ 1010 lmol−1 s−1

(3) NO3 +HO2 ←→ OH +NO2 +O2

k3 = 2.16 ⋅ 109 lmol−1 s−1

(4) NO3 +HO2 ←→ O2 +HNO3

k4 = 5.4 ⋅ 108 lmol−1 s−1

a) Formulieren Sie die Ausdrücke d [R]∕dt für alleReaktanten R.

b) Berechnen Sie die Anfangsgeschwindigkeit fürdie Abnahme von NO3. Die Anfangspartialdru-cke sind: p(NO3) = 0.1mbar, p(H) = p(OH) =10−8 bar und p(HO2) = 0 bar bei 298K. Notwendi-ge Umrechnungen erfolgen über das idealeGesetz.

14 Für die Reaktion eines Stoffes A zum Produkt Pwurden folgende Konzentrations-Zeit-Wertepaare er-mittelt:

t [s] 0 100 200 300 400 500 600 700 800

[A] [10−2 M] 5.00 3.55 2.75 2.25 1.85 1.60 1.48 1.40 1.38

a) Zeichnen Sie den Konzentrations-Zeit-Verlauf.Bestimmen Sie mithilfe dieser Auftragung dieHalbwertszeiten für 5 der gegebenen Konzentra-tionen [A]. Bestimmen Sie anschließend mit denso erhaltenen Wertepaaren nach der Methode derHalbwertszeiten die Reaktionsordnung.

b) Nehmen Sie an, dass die Reaktion in einem Ele-mentarschritt abläuft, bei dem keine weiteren Re-aktionspartner vorhanden sind. Wie lautet die Re-aktionsgleichung dieses Elementarschrittes? Stel-

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1091.6 Einführung in die Elektrochemie

len die das Geschwindigkeitsgesetz für diesenSchritt auf.

c) Bestimmmen Sie die Reaktionsordnung noch-mals – nun aber, indem Sie die bekannten Zusam-menhänge zwischen [A] und t für die verschiede-nen Reaktionsordnungen ausnutzen (Methode dergraphischen Auftragung der Meßwerte). Bestim-men Sie die Geschwindigkeitskonstante der Reak-tion aus derAuftragung, die einen linearenZusam-menhang ergibt.

1.5.12 Literatur zu Abschnitt 1.5

Weiterführende Literatur zu Abschnitt 1.5 ist im Ab-schnitt 6.6.8 aufgeführt.

1.6 Einführung in die Elektrochemie

In den Abschnitten 1.1 bis 1.5 haben wir uns fast aus-schließlich mit elektrisch neutralen Teilchen beschäf-tigt. Zum Abschluss des einführenden Kapitels wol-len wir uns nun noch einen Einblick in die Phäno-mene verschaffen, die mit dem Auftreten geladenerTeilchen in engemZusammenhang stehen.Meist wirddieses Gebiet als Elektrochemie gesondert behandelt.Dies wollen wir nur im Rahmen der Einführung tun,die weitergehende Erörterung der elektromotorischenKräfte, der elektrischen und elektrolytischen Leitfä-higkeit und der Elektrodenkinetik jedoch im Rahmender Kapitel über Thermodynamik, Transporterschei-nungen bzw. Kinetik vornehmen. Auf diese Weise las-sen sich die elektrochemischen Erscheinungen zwang-los in das Gesamtbild der Physikalischen Chemie ein-ordnen.

Zunächst werden wir uns rein phänomenologischmit Vorgängen in einer elektrochemischen Zelle be-schäftigen, einige neue Begriffe definieren und dasWechselspiel zwischen Elektrolyse und galvanischerStromerzeugung behandeln (Abschnitt 1.6.1).Wir werden dann einen Zusammenhang zwischen

dem Stromtransport und der Wanderung der Ionenim Elektrolyten herleiten und untersuchen, wie sichKonzentration, Temperatur und Art des Lösungs-mittels auf den Stromtransport auswirken. Das wirduns zu einer Klassifizierung der Elektrolyte führen(Abschnitte 1.6.2 bis 1.6.8).Um die Konzentrationsabhängigkeit der elektri-

schen Leitfähigkeit verstehen zu können, werden wiruns detailliert mit der interionischen Wechselwir-kung befassen (Abschnitt 1.6.9).

Anwendungen von Leitfähigkeitsmessungen wer-den das abschließende Thema dieses Abschnitts sein(Abschnitt 1.6.10).

1.6.1 Grundbegriffe der Elektrochemie

Obwohl die uns interessierende Materie nach außenhin elektrisch neutral erscheint, kann es – häufig imZusammenhang mit einer Dissoziation – zu einemÜbergang von Elektronen von einem Materieteilchenauf ein anderes unter Bildung positiv geladener Io-nen (Kationen) und negativ geladener Ionen (Anionen)kommen. Selbstverständlich muss die Summe der da-bei auftretenden positiven Ladungen gleich der Sum-me der negativen sein.In den Salzen liegen Kationen und Anionen von

vornherein vor. Chemische Verbindungen, die im fes-ten, flüssigen oder gelösten Zustand aus Ionen auf-gebaut sind oder in Ionen dissoziieren, nennt manElektrolyte. Mit ihnen haben wir uns im Folgendenzu beschäftigen. Zur Charakterisierung der Elektro-lyte müssen wir einige neue Begriffe einführen. DieLadungszahlen der Ionen wollen wir mit z+ bzw. z−bezeichnen. Sowohl die z+ als auch die z− müssenganze Zahlen sein, denn ein Ion kann nur ein ganz-zahliges Vielfaches der Elementarladung e tragen. Ist|z+| ≠ |z−|, so müssen Kationen und Anionen in un-terschiedlicher Menge vorliegen. Die Zahl der aus derkleinsten nach außen hin elektrisch neutralen Speziesgebildeten oder bereits in ihr enthaltenen Kationen seiν+, die der Anionen ν−. Dann muss, damit die elektri-sche Neutralität gewahrt bleibt, das Produkt aus demstöchiometrischen Faktor ν und der Ladungszahl

|z+ν+| = |z−ν−| (1.6-1)

für beide Ionenarten gleich sein.Wenn wir uns überlegen, worin sich Ionen von elek-

trisch neutralen Teilchen in ihrem Verhalten prinzipi-ell unterscheiden sollten, so werden wir drei wesent-liche Punkte finden: Ionen sollten als geladene Teil-chen befähigt sein, den elektrischen Strom zu leiten;aufgrund ihrer Ladung sollte es zu Coulomb’scher An-ziehung oder Abstoßung zwischen den gegensinnigbzw. gleichsinnig geladenen Ionen, d. h. – allgemeinausgedrückt – zu einer interionischen Wechselwirkungkommen; und schließlich sollte es Kationen möglichsein, Elektronen aufzunehmen, Anionenmöglich sein,Elektronen abzugeben, sofern ein solcher Ladungsaus-tausch in geeigneter Weise ermöglicht wird.Um zu prüfen, ob die erwarteten Phänomene tat-

sächlich auftreten, führen wir einige Experimentemit-hilfe einer elektrochemischen Zelle durch, wie sie in

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110 1 Einführung in die physikalisch-chemischen Betrachtungsweisen, Grundbegriffe und Arbeitstechniken

Abb. 1.6-1 Prinzip einer elektrochemischen Zelle.

Abb. 1.6-1 dargestellt ist. In einer Elektrolytlösungtauchen zwei den elektrischen Strom gut leitendeElektroden – vorzugsweise aus Platin – ein. Die eineElektrode (Kathode) ist unmittelbar mit dem Minus-pol einer Gleichstromquelle B, die andere Elektrode(Anode) über ein empfindliches Strommessgerät mAmit dem Schleifkontakt des Potentiometerwiderstan-des R verbunden. Auf diese Weise erzeugen wir in derElektrolytlösung ein aus der Potentialdifferenz zwi-schen denElektroden und den geometrischenVerhält-nissen berechenbares elektrisches Feld. Des Weiterensind die gut leitenden Elektroden aufgrund ihres An-schlusses an die Gleichstromquelle in der Lage, Elek-tronen zu liefern (Kathode) bzw. Elektronen aufzuneh-men (Anode).Wir führen nun zunächst zu unserer Orientierung

einige Versuche mit unterschiedlichen Elektrolytlö-sungen in der elektrochemischen Zelle durch, wobeiwir an die Elektroden eine Spannung von einigen Voltlegen.

1. In der elektrochemischen Zelle befindet sich ledig-lich das Lösungsmittel, mehrfach destilliertes, ent-gastesWasser. Das Strommessgerät zeigt nur einenminimalen Stromfluss an.

2. Wir ersetzen das reine Wasser durch verdünn-te Salzsäure. Nun beobachten wir einen deutli-chen Stromfluss, gleichzeitig eine Gasentwicklungan beiden Elektroden, und zwar eine Bildung vonChlor an der Anode und eine Bildung vonWasser-stoff an der Kathode.

3. Wir verwenden als Elektrolyt eine CuCl2-Lösung.Wiederum stellen wir einen Stromfluss und gleich-zeitig chemische Vorgänge an den Elektroden fest.Wie im Fall 2 entwickelt sich an der Anode Chlor;an der Kathode scheidet sich metallisches Kupferab.

4. Wir setzen als Elektrolyt eine verdünnteNa2SO4-Lösung ein. Es fließt ein Strom, an beidenElektroden kommt es zu einer Gasentwicklung.Das an der Kathode entstandene Gas analysierenwir als Wasserstoff, das an der Anode entstande-ne als Sauerstoff, und zwar im Volumenverhältnis2 : 1.

5. In einem letzten Beispiel verwenden wir als Ka-thode wiederum ein Platinblech, als Anode jedochein Silberblech. Als Elektrolyt dient uns Silberni-trat in Wasser. Wie in den Beispielen 2 bis 4 stel-len wir einen Stromfluss fest.Wir erkennen jedochzunächst keine Reaktionen an den Elektroden. Erstdie Untersuchung der Elektroden selbst zeigt uns,dass während des Stromflusses die Silberanode anMasse verloren hat, während sich auf der Platinka-thode eine entsprechende Menge Silber niederge-schlagen hat.

Wir wollen nun die voranstehend geschilderten und inTab. 1.6-1 zusammengefassten Beobachtungen analy-sieren.In der in Abb. 1.6-1 wiedergegebenen elektroche-

mischen Zelle haben wir einen geschlossenen Strom-kreis vorliegen. Ein Teil dieses Stromkreises (äuße-rer Stromkreis einschließlich der Elektroden) bestehtaus Metallen, ein Teil (innerer Stromkreis zwischenden Elektroden) besteht aus einer wässrigen Elektro-lytlösung. Aus unserer Erfahrung wissen wir, dass derStromfluss inMetallen den Leiter nicht verändert.DerLadungstransport wird von den im Metall frei be-weglichen Elektronen übernommen.Wie sind nun dieVerhältnisse beim Stromtransport in Elektrolytlösun-gen? Der erste Versuch hat uns gezeigt, dass reinesWasser – im Bereich unserer Messgenauigkeit – denStromnicht leitet. Die Stromleitung in den Fällen 2 bis

Tab. 1.6-1 Elektrolyt und Elektrolyseprodukte.

chemische Veränderungen an derFall Elektrolyt Anode Kathode Anode Kathode

1 H2O Pt Pt – –2 HCI Pt Pt Chlorentwicklung Wasserstoffentwicklung3 CuCl2 Pt Pt Chlorentwicklung Kupferabscheidung4 Na2SO4 Pt Pt Sauerstoffentwicklung Wasserstoffentwicklung5 AgNO3 Ag Pt Silberauflösung Silberabscheidung

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1111.6 Einführung in die Elektrochemie

5 kann deshalb nur auf die Gegenwart von Ionen zu-rückgeführt werden, die direkt oder indirekt aus demzugesetzten Elektrolyten stammen müssen. Wie beider Elektronenleitung in Metallen stellen wir bei derIonenleitung in der Elektrolytlösung keine dort durchden Stromfluss bewirkten Veränderungen fest. An derPhasengrenze, beim Übergang von der Elektronen-zur Ionenleitung, kommt es jedoch zu chemischen Re-aktionen. Zum einen bilden sich an den Elektroden imAllgemeinen (Fall 2 bis 4) Stoffe, die als solche nichteingesetzt waren (Wasserstoff und Chlor anstelle vonChlorwasserstoff, Kupfer und Chlor anstelle von Kup-fer(II)-chlorid), zum anderenmuss es als unmittelbareFolge davon zu einer Abnahme der Elektrolytkonzen-tration kommen. Wir werden später (Abschnitt 1.6.5)sehen, dass zusätzlich noch ein Konzentrationsgefälleauftritt. Der Fall 4 zeigt uns darüber hinaus, dass die anden Elektroden reagierenden Stoffe (Wasser) nichtmitdenen identisch sein müssen, die den Ladungstrans-port in der Lösung bewirken (Natrium-Ionen und Sul-fat-Ionen).Wir haben erkannt, dass in unserem Stromkreis

zwei verschiedene Arten von Ladungsträgern vorlie-gen, Elektronen und Ionen. Der Übergang von derElektronen- zur Ionenleitung erfolgt an der Kathode,der Übergang von der Ionen- zur Elektronenleitungan der Anode. Dieser Ladungsaustausch an der Pha-sengrenze Elektronenleiter/Elektrolytlösung steht of-fenbar in unmittelbarem Zusammenhang mit den anden Elektroden beobachteten Reaktionen. Wir versu-chen, die Kathoden- und dieAnodenreaktion getrenntzu formulieren und als Summe davon die Zellreaktionanzugeben, wobei wir zusätzlich die Zahl z der umge-setzten Elektronen, die Ladungszahl der Zellreaktio-nen, notieren.

Fall 2: (verdünnte Salzsäure)

Kathodenreaktion: 2H+ + 2 e− → H2Anodenreaktion: 2 Cl− → Cl2 + 2 e−

Zellreaktion: 2H+ + 2Cl− → H2 + Cl2 z = 2(1.6-2)

Fall 3: (CuCl2-Lösung)

Kathodenreaktion: Cu2+ + 2 e− → Cu0

Anodenreaktion: 2 Cl− → Cl2 + 2 e−

Zellreaktion: Cu2+ + 2Cl− → Cu0 + Cl2 z = 2(1.6-3)

Fall 4: (Na2SO4-Lösung)

4H2O ⇌ 4H+ + 4OH−

Kathodenreaktion: 4H+ + 4 e− → 2H2Anodenreaktion: 4OH− → 2H2O +O2 + 4 e−

Zellreaktion: 2H2O → 2H2 +O2 z = 4(1.6-4)

Fall 5: (AgNO3-Lösung)

Kathodenreaktion: Ag+ + e− → Ag0

Anodenreaktion: Ag0 → Ag+ + e−

Zellreaktion: Ag0Anode → Ag0Kathode z = 1(1.6-5)

Diese Beispiele führen uns noch einmal vor Augen,dass das Fließen eines Gleichstroms durch eine Elek-trolytlösung mit einer durch den Strom erzwungenenchemischenUmsetzung an den Elektroden verbundenist. Wir nennen dies Elektrolyse.Bei der Formulierung der Gl. (1.6-2) bis (1.6-5)

haben wir aufgrund der oben entwickelten Vorstel-lungen einen quantitativen Zusammenhang zwischendem chemischenUmsatz und der durch denElektroly-ten transportierten Ladungsmenge verwendet. Dieserquantitative Zusammenhang wurde bereits von Fara-day empirisch gefunden. Wegen der großen Bedeu-tung der Faraday’schen Gesetze für die Entwicklungder Elektrochemiewollenwir Faradays Gedankengän-ge mithilfe der vorstehend behandelten elektrochemi-schen Zellen nachvollziehen.Entsprechend Abb. 1.6-2a schalten wir in einen

Stromkreis drei elektrolytische Zellen der im Fall 4 be-sprochenen Art: Der Strom durchfließt zunächst dieZelle I, dann die zueinander parallel geschalteten Zel-len II und III. Wir beobachten, dass unabhängig vonder angelegten Spannung (sofern diese hoch genug ist,um eine Elektrolyse zu bewirken) und unabhängig vonder Größe der Elektroden in den drei Zellen (und da-mit von der Stromdichte) das Volumen des in der Zel-le I entwickelten Knallgases gleich der Summe der inden Zellen II und III entwickelten Knallgasvoluminaist. Zu einem entsprechenden Ergebnis kommen wir,wenn wir anstelle der Knallgaszelle eine Zelle der inFall 3 oder 5 besprochenen Art verwenden. Wir for-mulieren diese Erkenntnisse im

Ersten Faraday’schen Gesetz: Die Masse der elek-trolytischen Zersetzungsprodukte ist der durchge-gangenen Elektrizitätsmenge proportional.

In einem weiteren Versuch lassen wir gemäßAbb. 1.6-2b den gleichen Strom nacheinander die in

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112 1 Einführung in die physikalisch-chemischen Betrachtungsweisen, Grundbegriffe und Arbeitstechniken

(a) (b)

Abb. 1.6-2 Zur Erläuterung der Faraday’schen Gesetze.

den Fällen 2, 3, 4 und 5 besprochenen Zellen durch-fließen. Die quantitative Analyse der Elektrolysepro-dukte zeigt uns, dass in der Chlorknallgas- und in derKnallgaszelle gleiche Mengen Wasserstoff entwickeltworden sind. Das Massenverhältnis von entwickeltemWasserstoff zu abgeschiedenem Kupfer zu abgeschie-denem Silber ist 1 : 31.8 : 107.9. Das ist gleich demVerhältnis der durch die Ionen-Ladungszahlen z+ di-vidierten molaren Massen. So formulieren wir das

Zweite Faraday’sche Gesetz:Die durch gleiche Elek-trizitätsmengen aus verschiedenen Stoffen abge-schiedenenMassen verhalten sichwie die durch dieLadungszahlen der Zellreaktion dividierten mola-ren Massen.

Diese beiden Gesetze ergeben sich bereits unmittel-bar aus unseren Überlegungen, die zurAufstellung derGl. (1.6-2) bis (1.6-5) führten. Fließt durch den äuße-ren Stromkreis während der Zeit t ein Strom I, so wirddadurch die Ladungsmenge

Qa = I ⋅ t (1.6-6)

transportiert. Sie muss gleich sein der in der gleichenZeit an der Kathode oder Anode ausgetauschten La-dung Qi . Werden in der Zeit t an einer Elektrodemg Ionen entladen, so sind dies m

M mol entsprechendmM ⋅ z ⋅ NA Elektronen. Für die ausgetauschte, im Elek-trolyten transportierte Ladung Qi , ergibt sich so

Qi =mM

⋅ z ⋅ NA ⋅ e (1.6-7)

NA ⋅ e stimmt numerisch mit der Ladung von 1molElektronen überein. Zu Ehren von Faraday bezeichnetman diese Größe als

Faraday-Konstante F

F = NA ⋅ e (1.6-8)

Durch Zusammenfassung der Gl. (1.6-6) bis (1.6-8) er-halten wir

I = mM

⋅ z ⋅ F ⋅ 1t

(1.6-9)

Daraus entnehmen wir das Erste Faraday’sche Gesetz

m ∝ I ⋅ t (1.6-10)

und das Zweite Faraday’sche Gesetz

m1m2

=M1∕z1M2∕z2

(I ⋅ t = const.) (1.6-11)

Aus den bekannten Werten für die Loschmidt’scheKonstante NA (vgl. Abschnitt 1.2.2) und die Elemen-tarladung (vgl. Abschnitt 1.4.2) berechnen wir

F = 96 487.0 Cmol−1 ± 1.6 Cmol−1 .

Gleichung (1.6-9) entnehmen wir, dass die quantita-tive Bestimmung des abgeschiedenen Elektrolysepro-dukts ein bequemesMittel zurMessung von Ladungs-mengen (ungeachtet zeitlicher Stromschwankungen)ist. Man benutzt dazu vorzugsweise das unter Fall 5diskutierte sog. Silbercoulometer oder auch das unterFall 4 besprochene Knallgascoulometer.Im Vorangehenden haben wir uns nur für den

Stromdurchgang durch eine elektrochemische Zel-le interessiert. Wir haben sie stets als elektrolytischeZelle verwendet, d. h. wir sind davon ausgegangen,dass an den Elektroden eine „hinreichend hohe“ Span-nung lag, und wir haben nicht danach gefragt, was ge-schieht, wenn wir diese Spannung variieren.Für unsere weiteren Untersuchungen müssen wir

die elektrische Messanordnung gegenüber Abb. 1.6-1so verändern, wie es in Abb. 1.6-3 dargestellt ist.Wir wiederholen den im Fall 2 beschriebenen Ver-such, verwenden also Platinelektroden und als Elek-trolyt verdünnte Salzsäure, legen aber im Gegensatzzu unserem früheren Vorgehen an die Elektroden ei-ne variable Spannung. Messen wir den durch dieelektrolytische Lösung fließenden Strom I in Abhän-gigkeit von der Spannung zwischen den Elektroden,der sog. Klemmenspannung UKl, so erhalten wir den

Abb. 1.6-3 Elektrochemische Zelle zur Messung des Elektro-lysestromes und galvanischen Stromes.

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1131.6 Einführung in die Elektrochemie

Abb. 1.6-4 Zur Erläuterung der Zersetzungsspannung.

in Abb. 1.6-4 wiedergegebenen Zusammenhang: Beiniedriger Klemmenspannung UKl steigt der Stromnurunbedeutend an, bis ein Schwellenwert, die Zerset-zungsspannung Ez, erreicht ist. Sie beträgt beispiels-weise bei einer 1.2M Salzsäure im Idealfall 1.37V.Wir werden später (Abschnitt 6.8) sehen, dass die-ser Wert infolge des Auftretens einer auf kinetischeHemmungen zurückführbaren Überspannung erheb-lich überschritten werden kann. Im Rahmen der Ein-führung wollen wir diese Effekte nicht berücksichti-gen. Oberhalb der Zersetzungsspannung beobachtenwir die lebhafte Wasserstoff- und Chlorentwicklungund finden einen linearen Zusammenhang zwischendem Strom und der Klemmenspannung.Unterbrechen wir nun plötzlich die Verbindung mit

der Batterie durch Öffnen des Schalters S, so stellenwir am Strommessgerät (mA1) fest, dass für kurze Zeitnoch ein Strom über den Widerstand R2 fließt, derjedoch unter gleichzeitigem Zusammenbrechen derSpannung zwischen den Elektroden schnell abklingt.Die Tatsache, dass trotz der Abtrennung der Batterieder Stromfluss durch R2 fortdauert, kann nur daraufzurückgeführt werden, dass an den Elektroden spon-tan Elektronen liefernde bzw. verbrauchende Prozes-se ablaufen. Aus der Stromrichtung – (mA1) zeigt diegleiche, (mA2) die entgegengesetzte Richtung wie vordem Öffnen des Schalters an – folgt, dass an der Elek-trode, an der sich vorher Wasserstoff entwickelt hat,ein Elektronen liefernder Vorgang, an der Elektrode,an der sich vorher Chlor entwickelt hat, ein Elektro-nen verbrauchender stattfindet. Das ist nur möglich,wenn sich die durch Gl. (1.6-2) formulierten Vorgän-ge umkehren, d. h. wenn gilt

H2 → 2H+ + 2 e−

Cl2 + 2 e− → 2Cl−

H2 + Cl2 → 2H+ + 2Cl− z = 2(1.6-12)

Bei diesemProzesswerdenWasserstoff undChlor ver-braucht. Diese Gase liegen von der Elektrolyse hernur in geringer Menge vor, so dass die ZellreaktionGl. (1.6-12) entsprechendder Beobachtung schnell ab-klingen muss. Anders liegen die Verhältnisse, wennwir dafür sorgen, dass, wie es in Abb. 1.6-5 angedeutet

Abb. 1.6-5 Galvanische Zelle.

ist, ständig Wasserstoff und Chlor nachgeliefert wer-den. Dann kann die Reaktion Gl. (1.6-12) weiterlau-fen, unsere elektrochemische Zelle liefert kontinuier-lich Strom. Wir sprechen nun von einer galvanischenZelle.Das Wechselspiel von Elektrolyse und galvanischer

Stromerzeugung wollen wir uns anhand der Anord-nung in Abb. 1.6-5 für den Fall noch einmal verdeutli-chen, dass die Elektroden ständig mitWasserstoff bzw.Chlor umspült werden.Wir greifen am Potentiometer R1 eine relativ ho-

he Spannung U ≫ Ez ab. An der Wasserstoffelektro-de werden Wasserstoff-Kationen kathodisch zu Was-serstoff reduziert, an der Chlorelektrode Chlor-Anio-nen anodisch zu Chlor oxidiert, negative Ladung wirdvon der Wasserstoffelektrode durch die Elektrolytlö-sung zur Chlorelektrode transportiert, positive La-dung in entgegengesetzter Richtung. Bei Erniedri-gung der Klemmenspannung UKl sinkt entsprechendAbb. 1.6-4 der mit (mA2) gemessene Strom I und er-reicht den Wert null, wenn die Klemmenspannunggleich der Zersetzungsspannung wird. Die Proportio-nalitätskonstante in der linearen Beziehung U = f (I)muss nach dem Ohmschen Gesetz der Innenwider-stand Ri der Elektrolysezelle sein, so dass gilt

UKl − Ez = Ri ⋅ I (1.6-13)

oder

UKl = Ez + Ri ⋅ I (1.6-14)

Die Klemmenspannung steigt bei der Elektrolyse mitwachsendem Strom.Aus der Tatsache, dass bei UKl = Ez durch (mA2)

kein Strom fließt, müssen wir zwei Schlüsse ziehen.Zum einen besagt das Fehlen eines Stromflusses, dassinnerhalb der homogenen Leiter, d. h. in der Elektro-lytlösung sowie in den Elektroden und ihren Zuleitun-gen, kein Potentialgefälle besteht. Zum anderen folgt

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114 1 Einführung in die physikalisch-chemischen Betrachtungsweisen, Grundbegriffe und Arbeitstechniken

aus dem Fehlen eines Stromflusses trotz von außenangelegter Spannung, dass diese im galvanischen Ele-ment durch eine gleich große, entgegengesetzt gerich-tete Spannung kompensiert wird. Letztere kann ih-ren Ursprung nur an den beiden Phasengrenzen Elek-trolytlösung/Elektrode haben. Wir wollen die Summeder dort auftretenden Potentialsprünge als Ruhespan-nung E0 bezeichnen, da sie als Klemmenspannung imstromlosen Zustand gemessen werden kann.Wir wer-den uns mit ihr bei der Besprechung der elektromo-torischen Kräfte (Abschnitt 2.8) noch eingehend zubeschäftigen haben. E0 ist eine charakteristische Grö-ße der galvanischen Zelle, Ez ist eine charakteristischeGröße einer Elektrolysezelle. In unserem Fall sind bei-de gleich groß, weil wir das Vorliegen von Überspan-nungen (Abschnitt 6.8) ausgeschlossen haben.Verringern wir die bei R1 abgegriffene Spannung

weiter, d. h. unter E0, so werden die Potentialsprün-ge an den Phasengrenzen im galvanischen Elementbestimmend für die Richtung des Stromes. An derWasserstoffelektrode werden unter ElektronenabgabeWasserstoff-Kationen und an der Chlorelektrode un-ter Elektronenaufnahme Chlor-Anionen gebildet, ne-gative Ladung wird in der Elektrolytlösung von derChlorelektrode zur Wasserstoffelektrode und positiveLadung von der Wasserstoffelektrode zur Chlorelek-trode transportiert. Durch den äußeren Stromkreisfließen wieder Elektronen. Der Stromfluss kommt un-ter der Wirkung der Summe E0 der Potentialsprüngezustande. DerWiderstand des gesamten Stromkreisessetzt sich aus demäußerenWiderstandRa unddem in-neren (Zellen-)Widerstand Ri zusammen. Nach demOhm’schen Gesetz muss also gelten:

E0 = (Ri + Ra) ⋅ I (1.6-15)

Was wir mit dem Voltmeter V als KlemmenspannungUKl messen, ist der Spannungsabfall am äußeren Wi-derstand Ra

UKl = Ra ⋅ I (1.6-16)

oder nach Zusammenfassen mit Gl. (1.6-15)

UKl = E0 − Ri ⋅ I (1.6-17)

Die Klemmenspannung eines galvanischen Elementessinkt mit steigender Strombelastung. Dividieren wirGl. (1.6-16) durch Gl. (1.6-15), so erkennen wir, dassdie Klemmenspannung um so dichter bei der Ruhe-spannung liegt, je größer Ra verglichen mit Ri ist.

UKlE0

=Ra

Ri + Ra(1.6-18)

Deshalb misst man die Ruhespannung E0 entwedermit einem sehr hochohmigen Voltmeter oder durchKompensation (s. oben).

Abb. 1.6-6 Klemmenspannung UKl als Funktion der Strom-belastung I einer elektrochemischen Zelle als galvanischesElement und als Elektrolysezelle.

Abbildung 1.6-6 stellt die Aussagen der Gl. (1.6-14)und (1.6-17) noch einmal dar und veranschaulicht unsden Übergang von der Elektrolyse zur galvanischenStromerzeugung: Bei idealer Kompensation ist dieKlemmenspannung gleich der Ruhespannung. Über-steigt die an R1 (Abb. 1.6-5) abgegriffene SpannungE0, so wird der Elektrolyt elektrolysiert, ist sie kleinerals E0 so liefert die elektrolytische Zelle einen galvani-schen Strom.Wir haben gesehen, dass sich beim Übergang von

der Elektrolyse zur galvanischen Stromerzeugung dieStromrichtung umkehrt. Bei der Elektrolyse habenwirdie Elektrode, die Elektronen für den Reduktionsvor-gang lieferte (bei der Chlorknallgaszelle die Wasser-stoffelektrode) als Kathode, die Elektronen aufneh-mende Elektrode (im betrachteten Fall die Chlorelek-trode) als Anode bezeichnet. Diese Zuordnung behältman auch beim galvanischen Element bei. Hier stelltder Übergang von Chlor in Chlor-Anionen den Elek-tronen verbrauchenden Vorgang dar. Deshalb ist jetztdie Chlorelektrode die Kathode und die Wasserstoff-elektrode, an derWasserstoff inWasserstoff-Kationenübergeht, die Anode. Wir können uns also einfachmerken: An der Kathode tritt negative Ladung in dieElektrolytlösung ein, an der Anode verlässt negativeLadung die Elektrolytlösung.

1.6.2 Die Wanderung von Ionen im elektrischenFeld und die elektrische Leitfähigkeit

Wir wollen uns nun einer detaillierteren Betrachtungdes Ladungstransportes in einer elektrolytischen Lö-sung zuwenden. Wir legen gemäß Abb. 1.6-1 an dieElektroden einer Elektrolysezelle eine Spannung underzeugen so innerhalb der Lösung einen Spannungs-abfall U . Ist l der Abstand der Elektroden, dann be-steht zwischen ihnen ein elektrisches Feld E der Stär-ke

E = Ul

(1.6-19)

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1151.6 Einführung in die Elektrochemie

Aufgrund dieses Feldes wirkt auf die Ionen der Sortei, deren Ladungszahl (ohne Berücksichtigung desVor-zeichens) zi ist, eine Kraft

|FE| = zi ⋅ e ⋅ |E| (1.6-20)

durch welche die Kationen in Richtung auf die Katho-de, die Anionen in Richtung auf die Anode beschleu-nigt werden. Da sich die Ionen nicht im Vakuum, son-dern in einer (wässrigen) Lösung bewegen, unterlie-gen sie auch einer mit zunehmender Geschwindigkeitansteigenden Reibungskraft FR, die wir mithilfe des

Stokes’schen Gesetzes

|FR| = 6πriη|vi| (1.6-21)

berechnen. Dabei bedeuten ri den Radius des Ions,η die Viskosität des Lösungsmittels und νi die Ge-schwindigkeit des Ions. Infolge der Reibungskraft wirdsich nach einem kurzen Anlaufvorgang eine konstan-te Geschwindigkeit des Ions einstellen, nämlich dann,wenn

|νi| = zi ⋅ e ⋅ |E|6πri ⋅ η

(1.6-22)

Eine so ermittelte Geschwindigkeit ist für uns vongeringem Wert, da sie nicht nur von charakteristi-schen Größen des Ions (zi , ri) und des Lösungsmittels(η) abhängt, sondern auch noch von der Feldstärke.Wir definieren deshalb als stoffspezifische Größe diedurch die Feldstärke dividierteWanderungsgeschwin-digkeit, die man

elektrische Beweglichkeit der Ionen

ui =|vi||E| = zi ⋅ e

6πri ⋅ η(1.6-23)

nennt.Wir erkennen, dass die elektrische Beweglichkeit

über η nicht nur abhängig ist vom Lösungsmittel, son-dern auch vom Druck und der Temperatur. Späterwerden wir erfahren, dass auch die Ionenkonzentra-tion einen Einfluss auf ui hat.Wenn wir nun nach dem Zusammenhang zwischen

der Wanderungsgeschwindigkeit und der messtech-nisch leicht zugänglichen elektrolytischen Leitfähig-keit fragen, wollen wir uns auf einen binären, d. h.nur aus zwei Ionensorten bestehenden Elektrolytenbeziehen, der bei der Dissoziation pro Formeleinheitν+ Kationen der Ladung z+ und ν− Anionen der La-dung z− bildet. Wir betrachten eine Elektrolysezelle

mit dem Querschnitt A und der Länge l. Die Elek-troden mögen die Stirnseiten der Zelle voll ausfüllen.Die Konzentration des Elektrolyten sei durch die Stoff-mengenkonzentration c = n∕V des Elektrolyten gege-ben. An die Elektroden legen wir eine Spannung U .Der durch den Elektrolyten fließende Strom berech-

net sich aus der Summe der positiven und negativenLadungen, die in der Zeit t durch eine senkrecht aufder Längsachse der Zelle stehende Fläche hindurch-treten. Dazu sind all diejenigen Kationen bzw. Anio-nen befähigt, die maximal um die Strecke |v+| ⋅ t bzw.|v−| ⋅ t von ihr entfernt sind. Das sind ν+ ⋅ c ⋅ NA ⋅ A ⋅|v+| ⋅ t Kationen der Ladung z+ ⋅ e und ν− ⋅ c ⋅ NA ⋅A ⋅ |v−| ⋅ t Anionen der Ladung z− ⋅ e. Damit ergibtsich unter Berücksichtigung von Gl. (1.6-8) für denGesamtstrom

I = Qt= F ⋅ A(ν+cz+ν+ + ν−c|z−|ν−) (1.6-24)

oder, wennwirmit der Feldstärke E = Ul erweiternund

Gl. (1.6-23) beachten,

I = F ⋅ Al

(ν+cz+u+ + ν−c|z−|u−)U (1.6-25)

Nach Gl. (1.6-25) ist der Strom, wie wir es bei Gül-tigkeit des Ohm’schen Gesetzes erwarten sollten, demSpannungsabfall U proportional. Diesem Ergebnisscheint die experimentelle Erfahrung zu widerspre-chen, denn nach Abb. 1.6-4 ergibt sich keine Pro-portionalität zwischen dem Strom und der angeleg-ten Spannung. Unterhalb der Zersetzungsspannungist der Zellenwiderstand, der Reziprokwert der Stei-gung, offenbar sehr groß, oberhalb der Zersetzungs-spannung wird er wesentlich kleiner. Als Ursache fürdiese scheinbare Diskrepanz müssen wir die im voran-gehenden Abschnitt erwähnten Potentialsprünge anden Elektroden ansehen, die wie ein zusätzlicher Wi-derstand wirken. Wir werden später (Abschnitt 2.8.3)erfahren, dass sie auf die Ausbildung einer elektro-lytischen Doppelschicht an der Phasengrenze Me-tall/Elektrolytlösung zurückgeführt werden müssen.Legen wir nun nicht eine Gleichspannung, sondern ei-ne Wechselspannung an die Elektroden der Elektroly-sezelle, so wird die Doppelschicht im Rhythmus derWechselspannung umgeladen, wie wir es von einemKondensator her kennen. Das heißt aber, dass nundurch den Stromkreis, der aus der Spannungsquelle,den Zuleitungsdrähten, den Elektrodenwiderständen(Doppelschichten) und demWiderstand der elektroly-tischen Lösung besteht, ein Strom fließen kann, ohnedass ein Ladungsdurchtritt an der Phasengrenze Me-tall/Elektrolytlösung erforderlich ist.Messen wir die Strom-Spannungs-Kennlinie einer

Elektrolysezelle mit Wechselstrom, so finden wir, wie

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116 1 Einführung in die physikalisch-chemischen Betrachtungsweisen, Grundbegriffe und Arbeitstechniken

Abb. 1.6-7 Strom-Spannungs-Kennlinie einer Elektrolysezellebei Verwendung von Gleichstrom (=) undWechselstrom (∼).

Abb. 1.6-7 zeigt, im Gegensatz zur Gleichstrommes-sung tatsächlich eine Bestätigung des Ohm’schen Ge-setzes.Der Faktor vor U in Gl. (1.6-25) ist also gleich dem

Reziprokwert des Widerstandes, so dass gilt

1R

= F(ν+cz+u+ + ν−c|z−|u−)Al

(1.6-26)

Anstelle des Widerstandes R, der noch vom Quer-schnitt A und der Länge l des elektrolytischen Leiters

abhängt, betrachten wir den spezifischen Widerstand

𝜚 = R ⋅ Al

(1.6-27)

oder besser noch seinen Kehrwert, die

elektrische Leitfähigkeit κ

κ = 1𝜚= F ⋅ c(ν+z+u+ + ν−|z−|u−) (1.6-28)

Tabelle 1.6-2 vermittelt uns einen Überblick über dieLeitfähigkeiten verschiedener Stoffe.Wir erkennen imWesentlichen drei Gruppen: Die höchsten Leitfähig-keiten (≈ 105 Ω−1 cm−1) finden wir bei den metal-lischen Elektronenleitern. Leitfähigkeiten im Bereichvon 10−1 Ω−1 cm−1 zeigen Elektrolytlösungen, wenndie Elektrolytkonzentration etwa 1M ist. Etwas höherist die Leitfähigkeit geschmolzener Elektrolyte. Dieüberaus geringe Leitfähigkeit von reinem Wasser undreiner Essigsäure ist, wie wir später sehen werden, aufdie sehr geringe Eigendissoziation zurückzuführen.Extrem geringe Leitfähigkeit (unter 10−14 Ω−1 cm−1)

Tab. 1.6-2 Leitfähigkeit κ verschiedener Stoffe.

Leiter TK

κΩ−1 cm−1

Leitfähigkeit zurückzuführen auf

Al 273 4.00 ⋅ 105 ElektronenleitungAu 273 4.85 ⋅ 105 ElektronenleitungCu 273 6.45 ⋅ 105 ElektronenleitungHg 273 1.06 ⋅ 104 ElektronenleitungGraphit 273 1.2 ⋅ 103 Elektronenleitung, anisotropNaCl-Schmelze 1173 3.77 IonenleitungKCl-Schmelze 1173 2.40 Ionenleitungsehr reines H2Ofl 273 1.58 ⋅ 10−8 Ionenleitung infolge geringfügiger Eigendissoziationdestilliertes H2Ofl 273 10−6 bis 10−5 Ionenleitung infolge Dissoziation von Spuren von Salzen u. Koh-

lensäurewässrige 1M KCl-Lösung

293 1.02 ⋅ 10−1 Ionenleitung infolge vollständiger Dissoziation von KCl

wässrige 0.1M KCl-Lösung

293 1.17 ⋅ 10−2 Ionenleitung infolge vollständiger Dissoziation von KCl

wässrige 1M NaCl-Lösung

291 0.74 ⋅ 10−1 Ionenleitung infolge vollständiger Dissoziation von NaCl

wässrige 1M HCl-Lösung

298 3.32 ⋅ 10−1 Ionenleitung infolge vollständiger Dissoziation von HCl

wässrige 1M KOH-Lösung

291 1.84 ⋅ 10−1 Ionenleitung infolge vollständiger Dissoziation von KOH

wässrige 1MCH3COOH-Lösung

291 1.3 ⋅ 10−3 Ionenleitung infolge teilweiser Dissoziation von CH3COOH

reine CH3COOH 273 5 ⋅ 10−9 Ionenleitung infolge geringfügiger Eigendissoziationreines Benzol 293 5 ⋅ 10−14 Ionenleitung infolge Dissoziation von WasserspurenDiamant 288 2 ⋅ 10−15 bis 3 ⋅ 10−14 –Glimmer (Muskovit) 293 3.3 ⋅ 10−16 –

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1171.6 Einführung in die Elektrochemie

beobachten wir schließlich bei Stoffen, bei denen kei-ne Dissoziation vorliegt und die auch keine Elektro-nenleitung zeigen.

1.6.3 Die molare Leitfähigkeit eines Elektrolytenund eines Ions

Gleichung (1.6-28) entnehmen wir, dass die Leitfähig-keit noch von der Stoffmengenkonzentration c = n∕Vdes Elektrolyten abhängt. Um eine Stoffkonstante zuerhalten, müssen wir die Leitfähigkeit deshalb auf dieKonzentration beziehen. Wir bezeichnen

Λ = κc

(1.6-29)

alsmolare Leitfähigkeit des Elektrolyten.

Aus der Zusammenfassung von Gl. (1.6-28) undGl. (1.6-29) folgt

Λ = ν+Fz+u+ + ν−F|z−|u− (1.6-30)

Die molare Leitfähigkeit des Elektrolyten setzt sichalso additiv aus zwei Anteilen zusammen, dem Leit-fähigkeitsanteil der Kationen und dem der Anionen.Die beiden Summanden in Gl. (1.6-30) enthalten diefür das Kation (z+ und u+) bzw. für das Anion (z−und u−) charakteristischen Ladungszahlen und elek-trischen Beweglichkeiten.

Wir bezeichnen die Größe

Λ+ = Fz+u+ (1.6-31)

alsmolare Leitfähigkeit des Kations und die Größe

Λ− = F|z−|u− (1.6-32)

alsmolare Leitfähigkeit des Anions.

So können wir für Gl. (1.6-30) auch schreiben

Λ = ν+Λ+ + ν−Λ− (1.6-33)

Das ist das erste Kohlrausch’sche Gesetz der unab-hängigen Ionenwanderung.

Wir sehen, dass bei der Berechnung der molaren Leit-fähigkeit des Elektrolyten aus den molaren Leitfähig-keiten der Ionen die stöchiometrischen Faktoren ν+und ν− als Gewichtsfaktoren auftreten.Nach Gl. (1.6-31) und Gl. (1.6-32) sind die molaren

Leitfähigkeiten der Ionen dem Produkt der Größenui und zi proportional. Die erstere Größe berücksich-tigt, wie aus der Herleitung derGl. (1.6-24) bis (1.6-26)

folgt, dieWanderungsgeschwindigkeit des Ions als La-dungsträger im elektrischen Feld, die letztere ledig-lich die Tatsache, dass z-fach geladene Ionen bezüg-lich des Stromtransportes die z-fache Wirkung habenwie einwertige Ionen. Um aus Leitfähigkeitsmessun-gen auf die Bewegung der Ionen im elektrischen Feldschließen und die Eigenschaften verschiedener Ionenmiteinander vergleichen zu können, ist es wünschens-wert, den genannten Einfluss der Ladungszahl zu eli-minieren. Ein Blick auf die Gl. (1.6-24) bis (1.6-28)zeigt uns, dass wir dies wegen des Auftretens des Pro-duktes c|ν+z+| = c|ν−z−| [vgl. Gl. (1.6-1)] erreichenkönnen, wenn wir der Konzentrationsberechnung ei-ne Formeleinheit zugrunde legen, die dem |ν+z+|-tenTeil der kleinsten nach außen hin elektrisch neutra-len Spezies entspricht. (ImGrunde genommen ist diesnichts anderes als die Einführung der früher üblichenÄquivalentleitfähigkeit). Verfährt man konsequent indieser Weise, so treten in Gl. (1.6-30) das Produktν+z+ bzw. ν−|z−| in Gl. (1.6-31) z+, in Gl. (1.6-32)|z−| und in Gl. (1.6-33) ν+ und ν− nicht mehr auf.Ein Vergleich solcher molarer Ionen-Leitfähigkeitenist dann identisch mit einem Vergleich der elektri-schen Beweglichkeiten der Ionen [vgl. Gl. (1.6-23)].Zur Zeit herrscht in der Literatur keine Einheitlichkeitbezüglich dieses Vorgehens. UmVerwechslungen vor-zubeugen, muss deshalb bei der Angabe molarer Leit-fähigkeiten stets die in der Konzentration c vorliegen-de Formeleinheit angegeben werden. An einigen Bei-spielen soll dies erläutert werden.

Λ(KCl) = Λ(K+) + Λ(Cl−) (1.6-34)

Λ(MgSO4) = Λ(Mg2+) + Λ(SO2−4 ) (1.6-35)

Λ(12MgSO4

)= Λ(12Mg2+

)+Λ(12SO2−

4

)(1.6-36)

Λ(Mg2+) = 2Λ(12Mg2+

)(1.6-37)

Λ(MgCl2) = Λ(Mg2+) + 2Λ(Cl−) (1.6-38)

Λ(12MgCl2

)= Λ(12Mg2+

)+ Λ(Cl−) (1.6-39)

Wir werden die Schreibweise der Gl. (1.6-30) bisGl. (1.6-33) beibehalten, die unabhängig von derWahlder Formeleinheit bei Verwendung molarer Konzen-trationen richtig bleibt, wenn man die Aussagen derGl. (1.6-37) beachtet.

1.6.4 Die Konzentrationsabhängigkeit derLeitfähigkeit und der molaren Leitfähigkeit

In den beiden letzten Abschnitten haben wir sehr for-mal einige Beziehungen hergeleitet. Wir müssen nun

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118 1 Einführung in die physikalisch-chemischen Betrachtungsweisen, Grundbegriffe und Arbeitstechniken

Abb. 1.6-8 Spezifische Leitfähigkeit einiger Elektrolytlösun-gen in Abhängigkeit von der Konzentration bei 291 K (* bei288K).

untersuchen, inwieweit sie mit den experimentellenBefunden übereinstimmen.Nach Gl. (1.6-28) sollte die Leitfähigkeit proportio-

nal mit der Elektrolytkonzentration zunehmen, undnach Gl. (1.6-29) sollte dann die molare Leitfähigkeitunabhängig von der Konzentration sein, sofern – wiewir stillschweigend vorausgesetzt haben – die elektri-schen Beweglichkeiten der Ionen konzentrationsun-abhängig sind. Zur Prüfung dieses Sachverhaltes istzunächst in Abb. 1.6-8 die Leitfähigkeit einiger Elek-trolytlösungen gegen die Konzentration aufgetragen.Bei Gültigkeit von Gl. (1.6-28) und konzentrations-unabhängigen elektrischen Beweglichkeiten müsstenwir durch den Nullpunkt verlaufende Geraden erhal-ten. Dies ist bei weitem nicht der Fall. Bei hohenKonzentrationen beobachten wir im Allgemeinen so-gar ein Maximum im Verlauf der Kurven. Mit abneh-mender Konzentration scheinen sich die Kurven al-lerdings durch den Nullpunkt gehenden Geraden an-zunähern. Das würde bedeuten, dass Gl. (1.6-28) einfür niedrige Konzentrationen geltendes Grenzgesetzdarstellt.Das Verhalten bei niedrigen Konzentrationen prü-

fen wir speziell in Abb. 1.6-9. Hier ist für dieMehrzahlder in Abb. 1.6-8 betrachteten Elektrolyte die mola-re Leitfähigkeit als Funktion der Konzentration aufge-tragen. Nach Gl. (1.6-30) sollten wir für Λ einen kon-zentrationsunabhängigen Wert erhalten, was jedochnach Abb. 1.6-9 selbst bei niedrigsten Konzentratio-nen nicht der Fall ist. Wir können jedoch eine gewisseSystematik erkennen: Die geringste Konzentrations-abhängigkeit finden wir bei den ein-einwertigen Elek-trolyten. Bei denmehrwertigen Elektrolyten ist sie we-sentlich größer. Völlig aus dem Rahmen fällt das Ver-halten der Essigsäure, bei der bei sehr geringen Kon-

Abb. 1.6-9 Molare Leitfähigkeit einiger Elektrolytlösungen inAbhängigkeit von der Konzentration bei 298 K (* bei 291 K).

zentrationen ein überaus starker Abfall der molarenLeitfähigkeit vorliegt.Da alle Kurven in Abb. 1.6-9 (mit Ausnahme der Es-

sigsäurelösung) einen ähnlichen Verlauf zeigen, liegtes nahe, nach einem allgemein gültigen analytischenAusdruck zu suchen. Auf empirischem Wege fandKohlrausch dafür das nach ihm benannte

Kohlrausch’sche Quadratwurzelgesetz

Λc = Λ0 − k ⋅√c (1.6-40)

Λc bedeutet dabei die molare Leitfähigkeit bei derKonzentration c, Λ0 diejenige bei verschwindend klei-ner Konzentration, k eine Konstante. Wie Abb. 1.6-10zeigt, ist dieses Gesetz bei sehr kleinen Konzentra-tionen tatsächlich gut erfüllt, wenn wir wiederumvon der Essigsäurelösung absehen. Wir entnehmenAbb. 1.6-10 weiterhin, dass die Geraden für alle 1 : 1-Elektrolyte nahezu parallel zueinander verlaufen, dasheißt, dass für diese Elektrolyte ein sehr ähnlicherk-Wert vorliegt. Je höher die Wertigkeit der Ionen ist,desto steiler sind die Geraden, d. h. desto größer istk. Das legt den Schluss nahe, dass für die Konzen-trationsabhängigkeit dermolaren Leitfähigkeit der be-trachteten Elektrolytlösungen (wieder mit Ausnahmeder Essigsäurelösung) Coulomb’sche Wechselwirkun-gen verantwortlich sind. Damit stoßen wir zum erstenMal auf interionische Wechselwirkungen und somitauf ein Abweichen vom idealen Verhalten. Interioni-sche und intermolekulare Wechselwirkungen werdenuns später (Abschnitte 1.6.9 und 2.5.5) noch sehr in-tensiv beschäftigen.Wir haben also erkannt, dass im allgemeinen Fall

wegen der nichtlinearen Beziehung zwischen der spe-

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1191.6 Einführung in die Elektrochemie

Abb. 1.6-10 Molare Leitfähigkeit nach dem Kohlrausch’schenQuadratwurzelgesetz bei 298K (* bei 288 K).

zifischen Leitfähigkeit und der Konzentration einer-seits und wegen der Konzentrationsabhängigkeit dermolaren Leitfähigkeit andererseits die elektrischenBeweglichkeiten u− und u+ in Gl. (1.6-30) bis (1.6-32)keine Stoffkonstanten sind, sondern von der Konzen-tration abhängen. Rührt diese Konzentrationsabhän-gigkeit, wie oben vermutet wurde, vonCoulomb’schenWechselwirkungen zwischen den Ionen her, so solltesie bei sehr großem Abstand der Ionen voneinander,d. h. bei sehr starker Verdünnung (c → 0), keine Rol-le mehr spielen. Dann müssten die durch Extrapola-tion der Geraden in Abb. 1.6-10 auf c = 0 erhaltenenmolaren Leitfähigkeiten und die in ihnen enthaltenen

elektrischen Beweglichkeiten der Ionen Stoffkonstan-ten sein.Wir wollen das auf folgende Weise nachprüfen: Bil-

den wir die Differenz der molaren Leitfähigkeitenzweier Elektrolyte mit gleichem Kation bzw. Anion,dann ergibt sich daraus nach Gl. (1.6-33) die Diffe-renz der molaren Leitfähigkeiten der unterschiedli-chenAnionen bzw. Kationen. DieseDifferenzenmüss-ten unabhängig vom Kation bzw. Anion sein, wenndie elektrischen Beweglichkeiten tatsächlich Stoffkon-stanten sind. Tabelle 1.6-3 entnehmen wir, dass wirfür die Differenz Λ(K+) − Λ(Na+) bei einer Elektro-lytkonzentration von 0.1mol dm−3 noch unterschied-liche, bei einer gegen null gehenden Elektrolytkonzen-tration dagegen recht gut übereinstimmende Werteerhalten, wenn wir Chloride, Iodide und Perchlora-te vergleichen. Entsprechendes finden wir für die Dif-ferenz Λ(I−) − Λ(ClO−

4 ) beim Vergleich der Kalium-und Natriumsalze. Das besagt, dass bei nicht einmalsehr hohen Elektrolytkonzentrationen die den mola-ren Leitfähigkeiten proportionalen elektrischen Be-weglichkeiten der Ionen von der chemischen Naturder übrigen anwesenden Ionen abhängig sind. Nur beiunendlicher Verdünnung sind die elektrischen Beweg-lichkeiten wirkliche Stoffkonstanten, und nur für die-sen Fall gilt das Gesetz von der unabhängigenWande-rung der Ionen:

Λ0 = ν+Fz+u+0 + ν−F|z−|u−0 = ν+Λ+

0 + ν−Λ−

0 (1.6-41)

Im allgemeinen Fall (c ≠ 0mol dm−3 gilt natürlichauch die Beziehung

Λc = ν+Fz+u+c + ν−F|z−|u−c = ν+Λ+

c + ν−Λ−

c (1.6-42)

Tab. 1.6-3 Prüfung des Gesetzes der unabhängigen Ionenwanderung (T = 298 K; Λ in Ω−1 cm2 mol−1).

Λ(KCl) Λ(NaCl) Λ(KI) Λ(NaI) Λ(KClO4) Λ(NaClO4)Λ(K+) − Λ(Na+) Λ(K+) − Λ(Na+) Λ(K+) − Λ(Na+)

c = 128.96 106.74 1–31.11 108.78 115.20 98.430.1mol dm−3 22.22 22.33 16.77c → 149.86 126.45 1–50.38 126.94 140.04 117.480mol dm−3 23.41 23.44 22.56

Λ(KI) Λ(KClO4) Λ(NaI) Λ(NaClO4)Λ(I−) − Λ(ClO−

4) Λ(I−) − Λ(ClO−

4)

c = 131.11 115.20 108.78 98.430.1mol dm−3 15.91 10.35c → 150.38 140.04 126.94 117.480mol dm−3 10.34 9.46

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120 1 Einführung in die physikalisch-chemischen Betrachtungsweisen, Grundbegriffe und Arbeitstechniken

doch sind die u(±)c und Λ(±)c von der eigenen Konzen-

tration und der Konzentration aller anderen Lösungs-partner abhängig.Bei Kenntnis der Grenzleitfähigkeiten Λ+

0 und Λ−0

der Ionen können wir die molaren Leitfähigkeiten be-rechnen. Das gelingt auch schon bei geeigneter Kom-bination verschiedener molarer Leitfähigkeiten. Wirwollen das an den Beispielen der Tab. 1.6-3 sehen. Esist

Λ(NaCl) = Λ(Na+) + Λ(Cl−)= Λ(Na+) + Λ(ClO−

4 ) + Λ(K+) + Λ(Cl−)

− Λ(K+) − Λ(ClO−4 )

Λ(NaCl) = Λ(NaClO4) + Λ(KCl) − Λ(KClO4)(1.6-43)

Das ist natürlich nur bei Verwendung der Grenzleitfä-higkeiten möglich. Λ0(NaCl) = (117.48 + 149.86 −140.04)Ω−1 cm2 mol−1 = 127.30Ω−1 cm2 mol−1.Dieser Wert stimmt recht gut mit dem direkt ge-messenen (126.45Ω−1 cm2 mol−1) überein. Ver-wendet man die molaren Leitfähigkeiten bei c =0.1mol dm−3, so weicht der berechnete Wert(112.19 Ω−1 cm2 mol−1) beträchtlich von dem ge-messenen (106.74 Ω−1 cm2 mol−1) ab. Das hier er-läuterte Verfahren hat besondere Bedeutung bei derErmittlung der Grenzleitfähigkeiten der später (in Ab-schnitt 1.6.8) zu behandelnden schwachenElektrolyte,zu denen beispielsweise die Essigsäure zählt. Bei ih-nen ändert sich die molare Leitfähigkeit gerade imBereich geringer Konzentrationen (s. Abb. 1.6-9) sehrstark, so dass eine Extrapolation gemessener Werteauf unendliche Verdünnung sehr unsicher ist.

1.6.5 Elektrische Beweglichkeiten, molareLeitfähigkeiten der Ionen und Überführungszahlen

Leitfähigkeitsmessungen liefern uns, wie wir gesehenhaben, nur Summen oder Differenzen von molarenLeitfähigkeiten oder elektrischen Beweglichkeiten derIonen. Für die Diskussion des Leitungsverhaltens derKationen oderAnionen allein wäre eswünschenswert,Aufschluss über die einzelnenmolaren Leitfähigkeitender Ionen zu erhalten. Zu ihrer experimentellen Be-stimmung bieten sich zwei Möglichkeiten an.Nach Gl. (1.6-23) sind die elektrischen Beweglich-

keiten der Ionen als ihre auf die Feldstärke bezoge-ne Wanderungsgeschwindigkeit definiert. Gelingt es,letztere unmittelbar zumessen, dann gewinntmanda-mit auchdie elektrischenBeweglichkeiten. Eine solcheMessung ist dannmöglich, wenn die Kationen gefärbt,die Anionen farblos sind oder umgekehrt wie im Falldes Kaliumpermanganats. Unterschichtet man in ei-

Abb. 1.6-11 Elektrolysege-fäß zur direkten Messungder Wanderungsgeschwin-digkeit.

nem Elektrolysegefäß, wie es in Abb. 1.6-11 dargestelltist, eine Kaliumnitratlösung so vorsichtig mit einerKaliumpermanganatlösung, dass sich scharfe Schicht-grenzen ausbilden, so beobachtet man nach dem An-legen einer Gleichspannung an die Elektroden auf dereinen Seite des U-Rohres ein Ansteigen, auf der an-deren Seite ein Absinken der Schichtgrenze. DurchMessung der Verschiebung in Abhängigkeit von derZeit lässt sich die Wanderungsgeschwindigkeit unddaraus bei Kenntnis der angelegten Spannung unddes Elektrodenabstandes die elektrische Beweglich-keit des MnO−

4 -Ions ermitteln. Wir wollen uns eineVorstellung von der Geschwindigkeit machen, mit dersich ein Permanganat-Ion im elektrischen Feld zwi-schen den Elektroden bewegt: Bei einem Feld von1V cm−1 ist die Wanderungsgeschwindigkeit etwa 5 ⋅10−4 cm s−1.Im Allgemeinen wird dieses Verfahren jedoch nicht

anwendbar sein, weil sowohl die Kationen als auch dieAnionen farblos sind. In diesem Fall wird man auf einvon Hittorf angegebenes Verfahren, die Bestimmungder Überführungszahlen, zurückgreifen.Nach Gl. (1.6-24) setzt sich der gesamte, durch die

Elektrolytlösung fließende Strom I aus zwei Anteilenzusammen, dem durch die Kationen transportiertenTeil (I+) und dem durch die Anionen transportierten(I−).

Den Bruchteil ||| I+I ||| des durch die Wanderung derKationen bewirkten Stromes nennen wir Überfüh-rungszahl der Kationen (t+), den Bruchteil ||| I−I |||Überführungszahl der Anionen (t−).

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1211.6 Einführung in die Elektrochemie

Unter Beachtung der Gl. (1.6-24), (1.6-25), (1.6-1) und(1.6-30) bis (1.6-32) ergibt sich eine Reihe von Bezie-hungen:

t+ =|||| I+I |||| = Q+

Q+ + |Q−| = u+u+ + u−

= ν+Λ+

ν+Λ+ + ν−Λ−

= ν+Λ+

Λ(1.6-44)

t− =|||| I−I |||| = |Q−|

Q+ + |Q−| = u−u+ + u−

= ν−Λ−

ν+Λ+ + ν−Λ−

= ν−Λ−

Λ(1.6-45)

Q+ und |Q−| sind die jeweils transportierten La-dungsmengen. Die Addition dieser beiden Gleichun-gen führt zu

t+ + t− = 1 (1.6-46)

Es gilt weiter

I = u+u+ + u−

⋅ I + u−u+ + u−

⋅ I = ν+Λ+

Λ⋅ I + ν

−Λ−

Λ⋅ I

(1.6-47)

Infolge der unterschiedlichen elektrischen Beweglich-keiten von Anionen und Kationen kommt es bei derElektrolyse zu unterschiedlichen Konzentrationsab-nahmen in der Nähe der Kathode und in der Näheder Anode, was man sich bei der Bestimmung derÜberführungszahl zunutze macht. Abbildung 1.6-12stellt eine für diesen Zweck geeignete Elektrolysezel-le dar. Wir erkennen drei gegeneinander abtrennbareVolumina, den Kathodenraum K, den Anodenraum Aund einenMittelraumM. Schematisch finden wir die-se Einteilung in Abb. 1.6-13 wieder. Das obere Teil-bild zeigt uns die Verhältnisse zu Beginn der Elektroly-se: Kathoden-, Mittel- und Anodenraum sind mit dergleichen Elektrolytlösung gefüllt (im Beispiel ein ein-einwertiger Elektrolyt). In allen drei Räumen habenwir die gleiche Konzentration vorliegen.Wir wollen nun einmal annehmen, dass die elek-

trische Beweglichkeit des Kations viermal so groß istwie die des Anions, wie es bei der Salzsäure ungefährder Fall ist. Dann werden nach Gl. (1.6-47) vier Fünf-tel des Stromes in der Elektrolytlösung durch die Kat-ionen- und ein Fünftel des Stromes durch die Anio-nenwanderung bewirkt. Den Strom durch die Elek-trolytlösung messen wir, wie wir im Abschnitt 1.6.2gesehen haben, durch die Zahl der Ladungen, die in

Abb. 1.6-12 Elektrolysezelle nach Coehn zur Bestimmung derHittorf’schen Überführungszahl.

Abb. 1.6-13 Einfluss der unterschiedlichen elektrischen Be-weglichkeiten der Ionen auf die Konzentrationsänderungenbei der Elektrolyse.

der Zeit t durch eine senkrecht zur Stromrichtung ge-dachte Fläche, beispielsweise die Trennfläche Katho-denraum/Mittelraum oder Mittelraum/Anodenraum,hindurchtritt. Die gleiche Anzahl von Ladungen mussaber in derselben Zeit sowohl an der Kathode (un-ter gleichzeitiger Reduktion der Kationen) als auchan der Anode (unter gleichzeitiger Oxidation der An-ionen) ausgetauscht werden. Der mittlere Teil vonAbb. 1.6-13 veranschaulicht uns dies:Wenn5 molKat-ionen entladen werden, werden gleichzeitig 5mol An-ionen entladen. In derselben Zeit müssen 4mol Kat-ionen aus demMittelraum in den Kathodenraum und4mol Kationen aus dem Anodenraum in den Mittel-raum wandern, während jeweils 1mol Anionen diebeiden Trennflächen in entgegengesetzter Richtungpassiert.Der untere Teil von Abb. 1.6-13 zeigt das Re-

sultat dieser Elektrolyse: Insgesamt hat die Lö-sung 5mol Elektrolyt verloren, davon 1mol imKathodenraum, 4mol im Anodenraum. Das Ver-hältnis der messbaren KonzentrationsabnahmeΔcKathodenraum∕ΔcAnodenraum ist gleich dem Verhält-nis u−Anion∕u

+Kation.

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122 1 Einführung in die physikalisch-chemischen Betrachtungsweisen, Grundbegriffe und Arbeitstechniken

Vorgang Kathodenraum Mittelraum Anodenraum

Reaktion an der Elektrode −1mol Kationen – −1mol AnionenEinwanderung +t+mol Kationen +t+mol Kationen +t− mol Anionen

+t−mol AnionenAuswanderung −t−mol Anionen −t+mol Kationen −t+ mol Kationen

−t−mol AnionenKonzentrationsänderung bei −(1 − t+)mol Kationen – −(1 − t−)mol KationenDurchgang von 1F −t−mol Anionen = −t+ mol Anionen =

−t−mol Kationen −t+ mol Kationen−t−mol Anionen = −t+ mol Anionen =−t−mol Elektrolyt −t+ mol Elektrolyt

Wir formulieren diese Überlegungen noch einmalganz allgemein. Wenn wir durch die Lösung unse-res ein-einwertigen Elektrolyten gerade eine Ladungs-menge F ⋅ 1mol hindurchschicken, geschehen die inder Tabelle oben aufgeführten Vorgänge.Wir entnehmen daraus unmittelbar

ΔcKathodenraumΔcAnodenraum

= t−t+

(1.6-48)

Beachten wir noch Gl. (1.6-46), so finden wir, dass

t+ =ΔcAnodenraum

ΔcAnodenraum + ΔcKathodenraum(1.6-49)

t− =ΔcKathodenraum

ΔcAnodenraum + ΔcKathodenraum(1.6-50)

Man kann also, wie eingangs gesagt, aus den Konzen-trationsabnahmen im Anoden- und Kathodenraumdie Überführungszahlen ermitteln, sofern man da-für sorgt, dass nicht durch Diffusion oder Rühreffek-te die Konzentrationsverschiebungen wieder ausgegli-chen werden.Aus den Überführungszahlen lassen sich gemäß

Gl. (1.6-44) und Gl. (1.6-45) bei Kenntnis der mola-ren Leitfähigkeit des Elektrolyten die molaren Leit-fähigkeiten der Ionen und weiterhin mithilfe vonGl. (1.6-31) und Gl. (1.6-32) die elektrischen Beweg-lichkeiten der Ionen berechnen.Die im Abschnitt 1.6.4 behandelte Konzentrations-

abhängigkeit der molaren Leitfähigkeit kann nachGl. (1.6-31) bis (1.6-33) nur eine Folge einer Kon-zentrationsabhängigkeit der elektrischen Beweglich-keiten der Ionen sein. Da nach Gl. (1.6-44) undGl. (1.6-45) die Überführungszahlen den Quotien-ten aus der elektrischen Beweglichkeit der betrachte-ten Ionenart und der Summe der Beweglichkeiten al-ler anwesenden Ionenarten darstellen, hebt sich dieKonzentrationsabhängigkeit weitgehend heraus, so-weit man bei niedrigen Konzentrationen von unter

0.01M misst. Es ist in guter Näherung t+ = t+0 undt− = t−0 , so dass mit der molaren GrenzleitfähigkeitΛ0 die molaren Ionengrenzleitfähigkeiten Λ+

0 und Λ−0

ermittelt werden können, selbst wenn die Überfüh-rungszahlen im nicht-idealen Bereich gemessen wür-den. In Tab. 1.6-4 sind für eine Reihe von Ionen die bei298K ermittelten molaren Grenzleitfähigkeiten zu-sammengestellt.

Tab. 1.6-4 Molare Ionengrenzleitfähigkeiten Λ+0 und Λ−

0 inwässrigen Lösungen bei 298 K.

IonΛ+0

Ω−1 cm2 mol−1Ion

Λ−0

Ω−1 cm2 mol−1

H+ 349.8 OH− 198.6Li+ 38.7 F− 55.4Na+ 50.1 Cl− 76.4K+ 73.5 Br− 78.1Rb+ 77.8 I− 76.8Cs+ 77.2Ag+ 61.9 NO−

3 71.5ClO−

3 64.6NH4

+ 73.6 BrO−3 55.7

N(CH3)+4 44.9 ClO−4 67.4

N(C2H5)+4 32.7 HCO−3 44.5

N(C3H7)+4 23.4N(C4H9)+4 19.5 HCOO− 54.6

CH3COO− 40.91∕2Be2+ 45 C2H5COO− 35.81∕2Mg2+ 53.1 C3H7COO− 32.61∕2Ca2+ 59.51∕2 Sr2+ 59.5 1∕2 SO2−

4 80.01∕2Ba2+ 63.6 1∕2CO2−

3 69.31∕2Cu2+ 56.6

1∕3 Fe(CN)3−6 100.91∕3 La3+ 69.71∕3Ce3+ 69.8 1∕4 Fe(CN)4−6 110.5

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1231.6 Einführung in die Elektrochemie

Tab. 1.6-5 Hittorf’sche Überführungszahlen in wässrigenLösungen bei 298 K.

t+ t−

HCl 0.821 0.179LiCl 0.337 0.663NaCl 0.401 0.599KCl 0.496 0.504CaCl2 0.438 0.562LaCl3 0.477 0.523KOH 0.274 0.726KCl 0.496 0.504KBr 0.484 0.516KI 0.489 0.511K2SO4 0.477 0.523

Wie wir schon mehrfach hervorgehoben haben, istdie molare Ionengrenzleitfähigkeit eine charakteris-tische Größe für ein bestimmtes Ion. Das ist jedochnicht der Fall für die Hittorf ’sche Überführungszahl.Sie ist abhängig von der Natur des Gegenions, dennsie stellt den Anteil am gesamten Stromtransport dar.Tabelle 1.6-5 veranschaulicht uns das am Beispiel ei-niger Chloride und einiger Kaliumsalze.

1.6.6 Die Hydratation der Ionen

Wir wollen nun versuchen, das in Tab. 1.6-4 zusam-mengestellte Zahlenmaterial zu unseren eingangs an-gestellten Überlegungen in Beziehung zu setzen. ImAbschnitt 1.6.2 hatten wir für die elektrische Beweg-lichkeit der IonenGl. (1.6-23) abgeleitet. Fassen wir siezusammenmit Gl. (1.6-31) bzw. (1.6-32), so finden wir

Λ(±)0i = Fziu

(±)0i =

F ⋅ z2i ⋅ e6πri ⋅ η

(1.6-51)

Die molaren Ionengrenzleitfähigkeiten sollten dem-nach bei gleicher Temperatur und im gleichen Lö-sungsmittel (η = const.) umgekehrt proportional zumRadius des Ions sein. Wenn wir nun aus Tab. 1.6-4 dieReihe Li+ → Rb+ und die Reihe NH+

4 → N(C4H9)+4herausgreifen, so sehen wir, dass die Voraussage wohlbei den großenTetraalkylammonium-Ionen erfüllt ist,nicht aber bei den Alkali-Ionen. Hier nimmt die mo-lare Grenzleitfähigkeit mit steigendem Ionenradius,wie wir ihn beispielsweise aus den Ionengittern er-mitteln können, zu. Bei den Anionen betrachtet man,wenn auch weit weniger deutlich ausgeprägt, etwasÄhnliches. Bei den großen Fettsäure-Anionen nimmtdie molare Grenzleitfähigkeit mit der Ionengröße ab,vom Fluorid-Ion zum Bromid-Ion hingegen nimmtsie zu.

Um diese Effekte verstehen zu können, müssenwir beachten, dass Wasser aufgrund der gewinkeltenStruktur desWassermoleküls (vgl. Abschnitt 1.2.3) einsehr polares Lösungsmittel ist. Die Wassermolekülehaben starke Dipoleigenschaften. Da die Ionen desElektrolyten wegen ihrer Ladung ein elektrisches Feldbesitzen, kommt es zu einer elektrostatischen Wech-selwirkung, als deren FolgeWassermoleküle an die Io-nen angelagert werden. Wir sprechen von Hydratati-on, allgemeiner von Solvatation. Das Ausmaß der Sol-vatation, d. h. auch die Größe der Solvat- oder Hy-drathülle, hängt natürlich von der Stärke des elek-trischen Feldes des Ions ab. Die Alkali-Ionen tragensämtlich eine positive Ladung (mit dem Schwerpunktim Atomkern), haben aber sehr unterschiedliche, ausden Gitterdimensionen der festen Salze berechenbareIonenradien. Sie betragen r(Li+) = 0.068 nm, r(Na+) =0.097 nm, r(K+) = 0.133 nm, r(Rb+) = 0.147 nm undr(Cs+) = 0.167 nm. Wir sehen, dass sich die RadienvonLi+ undK+ wie 1 : 2 verhalten.Das besagt, dass daselektrische Feld unmittelbar außerhalb des Li+-Ionsviermal so stark ist wie unmittelbar außerhalb einesK+-Ions. Es darf uns deshalb nicht verwundern, dasssich um das Li+-Ion eine größere Hydrathülle aufbautals um das Na+- oder das K+-Ion. Verschiedene Un-tersuchungen lassen erkennen, dass an ein Li+-Ion fastdoppelt so viele (14) Wassermoleküle angelagert wer-denwie an einNa+-Ion und fast dreimal so viele wie anein K+-Ion. Das hat zur Folge, dass der Radius des hy-dratisierten Li+-Ions wesentlich größer ist als der Ra-dius des hydratisierten K+-Ions. Da das Ion im ange-legten elektrischen Feld mit seiner Hydrathülle wan-dert, ergibt sich die aus Tab. 1.6-4 ablesbare Reihen-folge der molaren Ionengrenzleitfähigkeiten. Bei densubstituierten Ammonium-Ionen spielt wegen ihrerGröße die Hydratation keine ausschlaggebende Rolle,undwir beobachten die „richtige“ Reihenfolge dermo-laren Ionengrenzleitfähigkeiten.In gewissen Grenzen lässt sich Gl. (1.6-51) zur Er-

mittlung des Radius eines hydratisierten Ions heran-ziehen. Doch ist zu beachten, dass das Stokes’scheRei-bungsgesetz, das dieser Gleichung zugrunde liegt, imkonkreten Fall nur Näherungscharakter haben dürfte.Im Rahmen der Besprechung der Thermodynamik

werden wir uns noch intensiv mit der Hydratationzu beschäftigen haben (Abschnitt 2.2.3). Es sei daraufhingewiesen, dass dort die hier entwickelten Vorstel-lungen vollauf bestätigt werden.Besonders auffällig ist in Tab. 1.6-4 die ungewöhn-

lich hohe Leitfähigkeit der lösungsmitteleigenen Io-nen H+ und OH−. Wegen ihrer geringen Größe unddes darauf zurückzuführenden starken elektrischenFeldes sollten diese Ionen ebenfalls hydratisiert sein,und zwar so stark, dass ihre effektiven Radien denen

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124 1 Einführung in die physikalisch-chemischen Betrachtungsweisen, Grundbegriffe und Arbeitstechniken

(a) (b)

Abb. 1.6-14 Struktur des Hydronium-Ions (a) und des IonsH9O

+4 (b).

der hydratisierten Alkali-Ionen durchaus entsprechenmüssten. Ihre Leitfähigkeit ist jedoch um einen Fak-tor von etwa 5 bzw. etwa 3 größer als die der Alkali-Ionen. Das ist nur erklärbar, wenn bei ihnen als denlösungsmitteleigenen Ionen ein besonderer Leitungs-mechanismus vorliegt.Nackte Protonen sind inWasser nicht beständig. Sie

lagern sich sofort an ein Wassermolekül an unter Bil-dung eines Hydronium-Ions H3O+, dessen Strukturnach Kernresonanzuntersuchungen, wie Abb. 1.6-14azeigt, dem NH3-Molekül ähnlich ist. Die positive La-dung ist nicht fixiert, alle drei OH-Bindungen sindgleichwertig, denn die positive Überschussladung istsymmetrisch auf die drei Protonen verteilt. Diese ver-mögen deshalb drei stabile Wasserstoffbrücken-Bin-dungen zu benachbarten Wassermolekülen auszubil-den. So führt die sekundäre Hydratation des Protonszu dem in Abb. 1.6-14b wiedergegebenen H9O+

4 -Ion.Ihm kommt nach massenspektrometrischen Unter-suchungen eine im Vergleich zu anderen Assoziaten(z. B. H5O+

2 , H7O+3 , H11O+

5 ) besondere Stabilität zu.Innerhalb dieses Komplexes ist das Proton sehr be-weglich, d. h. es kann auch einem der drei äußerenWassermoleküle angehören. Gegenüber Abb. 1.6-14bwürde das einen Austausch zwischen einer OH- undeiner Wasserstoffbrücken-Bindung bedeuten.Außer der sekundären Hydratation ist auch noch ei-

ne tertiäre zu berücksichtigen, weil die äußeren Was-sermoleküle des H9O+

4 -Komplexes mit Wassermole-külen der umgebenden flüssigen Phase weitere, aller-dings schwächereWasserstoffbrücken-Bindungen bil-den können. Das bedeutet, dass die Umgebung deräußeren Wassermoleküle in Abb. 1.6-14b sich nichtgrundlegend von der des zentralen H3O+-Ions imH9O+

4 -Komplex unterscheidet, so dass sie nach demoben erwähnten Austausch der Bindungen leicht zumZentrum eines neuen, um eine Bindungslänge ver-schobenen H9O+

4 -Komplexes werden können. Manspricht dann von einer Strukturdiffusion des gesamtenHydratkomplexes.Die für das hydratisierte Proton angestellten Über-

legungen können wir sinngemäß leicht auf das hydra-

Abb. 1.6-15 Zur Wanderung der Wasserstoff- und Hydroxid-Ionen in wässriger Lösung.

tisierte OH−-Ion übertragen. Es entspricht dem Hy-dronium-Ion, sein sekundärer Hydratkomplex ist dasH7O−

4 -Ion.Diese Erkenntnisse lassen uns nun auch verstehen,

weshalb die Protonen und Hydroxid-Ionen imWassereine so hohe Leitfähigkeit besitzen.Schematisch und stark idealisiert ist der Leitungs-

mechanismus in Abb. 1.6-15 dargestellt, und zwar fürdieWasserstoff-Ionen in der oberen, für dieHydroxid-Ionen in der unteren Zeile.Das in der oberen Zeile links gezeigte H3O+-Ion

sei das zentrale Ion eines H9O+4 -Komplexes. Von sei-

ner Hydratsphäre ist lediglich ein H2O-Molekül auf-geführt. Durch den oben erwähnten Protonenüber-gang (Pfeil in Abb. 1.6-15) geht dieses in ein H3O+-Ionüber. Als nächster Schritt kann das Proton wegender Gleichwertigkeit der drei OH-Bindungen entwe-der auf das Ausgangsmolekül zurückspringen oder aufeines der beiden anderen Wassermoleküle in der Hy-dratsphäre übergehen. Unter der Wirkung des ange-legten elektrischen Feldes wird der Schritt in Feld-richtung der wahrscheinlichste sein. Nach fünf sol-chen Schritten ist das Hydronium-Ion um fünf Was-sermoleküle „weitergewandert“, ohne dass eine wirk-liche Ionenwanderung, wie wir sie bei den übrigen Io-nen besprochen haben, stattgefunden hat. Wir ent-nehmen Abb. 1.6-15 unmittelbar, dass eine Kettevon Wassermolekülen, über die ein Protonentrans-port stattgefunden hat, wegen des erfolgten Bin-dungsaustausches zu einem zweiten Protonentrans-port in der gleichen Richtung nicht befähigt ist. Esmuss zuvor eine Reorientierung der Wassermolekülestattfinden.Die untere Zeile in Abb. 1.6-15 lesen wir von rechts

nach links. Wir erkennen dann die „Wanderung“ desHydroxid-Ions.Wir müssen uns nun noch die Frage vorlegen, was

ein jeder der durch einen Pfeil angezeigten Schrittebeinhaltet. Da der O–H-Abstand in der OH-Bindungkürzer ist als in der H…O-Brückenbindung, zeigt je-

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1251.6 Einführung in die Elektrochemie

der Pfeil eine Verschiebung einesWasserstoffatoms inBindungsrichtung und eine Umlagerung der binden-den Elektronen an. Kinetische Messungen und Un-tersuchungen des Isotopieeffektes, d. h. des Einflus-ses, den die Substitution eines H-Atoms durch einD-Atom auf die Kinetik ausübt, lassen erkennen, dassder Positionswechsel des Protons nicht auf klassi-schem Wege erfolgen kann. Es muss vielmehr ange-nommen werden, dass das Proton von der einen indie andere Position „tunnelt“, so wie wir es im Ab-schnitt 1.4.15 für das Elektron besprochen haben. Einsolcher Tunneleffekt setzt eine optimale gegenseitigeOrientierung derWasserstoffmoleküle voraus, wie siein Abb. 1.6-15 angegeben ist.Im Eis ist diese Orientierung durch die Struktur

vorgegeben, im flüssigen Wasser wird sie durch dieTemperaturbewegung gestört. Deshalb ist die Driftge-schwindigkeit des Protons im Eis um zwei Zehnerpo-tenzen größer als im flüssigen Wasser. Der geschwin-digkeitsbestimmende Schritt ist im Eis die Durchtun-nelung des Potentialwalls, im flüssigenWasser die Ein-stellung derWassermoleküle in eine für den Tunnelef-fekt geeignete Ausrichtung.

1.6.7 Die Temperatur- undLösungsmittelabhängigkeit der molarenIonengrenzleitfähigkeit

Wir greifen noch einmal auf Gl. (1.6-51) zurück undfragen nach der Abhängigkeit der molaren Grenzleit-fähigkeit eines bestimmten Ions von der Temperaturund von der Art des Lösungsmittels. Setzen wir vor-aus, dass sich der Ionenradius nicht mit der Tempe-ratur ändert, d. h. dass eine etwa vorhandene Hydrat-hülle im interessierenden Temperaturintervall wederauf- noch abgebaut wird, bzw. dass der Ionenradi-us nicht vom Lösungsmittel abhängt (unsolvatisiert),so kann eine Temperatur- oder Lösungsmittelabhän-gigkeit nur auf die Viskosität zurückgeführt werden.Gleichbedeutend damit ist, dass das Produkt Λ±

0i ⋅ ηentsprechend der

Walden’schen Regel

Λ±0i ⋅ η =

F ⋅ z2i ⋅ e6πri

(1.6-51)

temperaturunabhängig ist.

Tab. 1.6-6 Zur Prüfung der Walden’schen Regel.

a) Temperaturabhängigkeit des Produktes Λ±0i⋅ η bei einigen wässrigen Elektrolytlösungen.

η(H2O, 273 K) = 1.792 ⋅ 10−3 kgm−1 s−1, η(H2O, 298 K) = 0.890 ⋅ 10−3 kgm−1 s−1, η(H2O, 373 K) = 0.282 ⋅ 10−3 kgm−1 s−1

IonΛ±0i⋅ η

10−3 Ω−1 cmmol−1 kg s−1

273 K 298K 373K

Li+ 0.342 0.346 0.339K+ 0.721 0.657 0.43Cs+ 0.787 0.687 0.564NH+

4 0.721 0.659 0.520N(C2H5)+4 0.287 0.295 0.293Cl− 0.741 0.682 0.584CH3COO− 0.363 0.365 0.367Pikrat-Ion 0.274 0.268 0.27

b) Lösungsmittelabhängigkeit des Produktes Λ±0i⋅ η für einige Ionen bei 298 K.

Wasser Methanol Ethanol Aceton Nitrobenzol

η10−3 kgm−1 s−1

0.89 0.53 1.09 0.306 1.85

K+ Λ+0 ∕Ω

−1 cm2 mol−1 73.5 53.7 22.0 82.0 19.2Λ+

0 ⋅ η∕10−3Ω−1 cmmol−1 kg s−1 0.657 0.285 0.240 0.251 0.355N(C5H11)+4 Λ+

0 ∕Ω−1 cm2 mol−1 17.5 – – 62.8 11.9

Λ+0 ⋅ η∕10−3Ω−1cmmol−1 kg s−1 0.156 – – 0.192 0.220

Pikrat-Ion Λ+0 ∕Ω

−1 cm2 mol−1 30.8 49 27 84.5 15.0Λ+

0 ⋅ η∕10−3Ω−1 cmmol−1 kg s−1 0.268 0.260 0.294 0.259 0.278

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126 1 Einführung in die physikalisch-chemischen Betrachtungsweisen, Grundbegriffe und Arbeitstechniken

Wir erkennen, dass die Gültigkeit der Walden’schenRegel auch die Anwendbarkeit des Stokes’schen Ge-setzes (Gl. 1.6-21) voraussetzt.Wirwenden uns zunächst derTemperaturabhängig-

keit des Produktes Λ±0i ⋅ η bei einigen wässrigen Elek-

trolytlösungen zu. In Tab. 1.6-6a finden wirWerte vonΛ±0i ⋅ η für verschiedene Ionen bei drei verschiedenen

Temperaturen. Bei K+, Cs+, NH+4 und Cl− stellen wir

eine starke Abhängigkeit derWerte von der Tempera-tur fest. Hier ändern sich offensichtlich die Hydratati-onsverhältnisse (und auch die Viskosität desWasser inunmittelbarer Umgebung der Ionen) mit der Tempe-ratur. Bei den großen, schwach oder nicht hydratisier-ten Ionen und auch beim Li+-Ion mit der sehr fest ge-bundenen Hydrathülle ist die Walden’sche Regel aberrecht gut erfüllt.Einen Überblick über die Lösungsmittelabhängig-

keit des Produktes Λ±0i ⋅ η gibt uns Tab. 1.6-6b.Wir se-

hen, dass auch hier beim K+-Ion starke Wertschwan-kungen auftreten, dass aber bei großen Kationen oderAnionen die Walden’sche Regel im Großen und Gan-zen erfüllt wird.

1.6.8 Schwache Elektrolyte

Bei der Besprechung der Konzentrationsabhängigkeitder molaren Leitfähigkeit im Abschnitt 1.6.4 hattenwir festgestellt, dass sich bei der Mehrzahl der be-sprochenen Elektrolyte die Konzentrationsabhängig-keit von Λ mithilfe des Kohlrausch’schen Quadrat-wurzelgesetzes darstellen ließ. Dies Verfahren versag-te (vgl. Abb. 1.6-10) jedoch völlig bei der Essigsäure.Das gleiche beobachtet man bei einer großen Anzahlweiterer anorganischer und organischer Säuren undBasen.Wir sind bislang stets davon ausgegangen, dass die

Elektrolyte in der Lösung vollständig dissoziiert vor-liegen. Wir wollen uns nun die Frage stellen, wel-chen Einfluss eine nur teilweise Dissoziation auf dieKonzentrationsabhängigkeit der molaren Leitfähig-keit hat. Bei einer nur unvollständigen Dissoziationliegen in der Lösung nebeneinander undissoziierteAusgangsstoffe – im Fall von Säuren HA – und dieDissoziationsprodukte H+ und A− vor.Wenn es zu ei-nem stationären Zustand kommt – und dieser liegt,wie uns die Messungen zeigen, vor –, dann muss of-fenbar die Geschwindigkeit der Dissoziation

HA +H2Okd→ A− +H3O+ (1.6-52)

gleich der Geschwindigkeit der Rekombination

A− +H3O+ kr→ HA +H2O (1.6-53)

sein. Wir können dann wie im Abschnitt 1.5.7 für dieGesamtgeschwindigkeit formulieren

R.G. = kd [HA] ⋅ [H2O]− kr[A−][H3O+]= 0 (1.6-54)

oder

[A−][H3O+][HA][H2O]

=kdkr

= K (1.6-55)

Beachten wir, dass in dem wässrigen System die Was-serkonzentration als konstant angenommen werdenkann, dann erhalten wir für das „Dissoziationsgleich-gewicht“

HA +H2O ⇌ A− +H3O+ (1.6-56)

die „klassische Gleichgewichtskonstante“ Kc

[A−] ⋅ [H3O+][HA]

= Kc (1.6-57)

Wir werden im Abschnitt 2.6 sehen, dass wir exakter-weise anstelle der Konzentration die Aktivitäten ver-wenden müssten. Dann würden wir die thermody-namische Gleichgewichtskonstante erhalten. Für diehier angestellten Überlegungen genügt uns jedochGl. (1.6-57). Bezeichnen wir nun alsDissoziationsgradα den Anteil der ursprünglich eingesetzten Moleküle,der dissoziiert ist, so ist bei einer Ausgangskonzentra-tion c die Konzentration der Anionen [A−] = α ⋅ c. DieKonzentration der Kationen muss gleich groß sein,d. h. [H3O+] = α ⋅ c. Die Konzentration an nicht dis-soziierter Säure ist [HA] = c(1 − α). Setzen wir dieseWerte in Gl. (1.6-57) ein, so ergibt sich

α2c2c(1 − α)

= α2c(1 − α)

= Kc (1.6-58)

Da die undissoziierte Säure HA nicht zur Leitfähigkeitbeitragen kann, sondern nur die Ionen [H3O+] und[A−], Λ0 hingegen auf vollständige Dissoziation bezo-gen ist (vgl. Berechnung von Λ0 in Abschnitt 1.6.4),sollte der Quotient aus der bei der Konzentration c ge-messenenmolaren LeitfähigkeitΛc und Λ0 gleich demDissoziationsgrad sein:

ΛcΛ0

= α (1.6-59)

Setzen wir diesen Ausdruck in Gl. (1.6-58) ein, so er-halten wir

das Ostwald’sche Verdünnungsgesetz,

Λ2c

(Λ0 − Λc)Λ0⋅ c = Kc (1.6-60)

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1271.6 Einführung in die Elektrochemie

Tab. 1.6-7 Prüfung des Ostwald’schen Verdünnungsgesetzesam Beispiel der Essigsäure bei 298 K.

c10−3 mol dm−3

Λc

Ω−1 cm2 mol−1α

Kc

10−5 mol dm−3

0 390.59 1 –0.1114 127.71 0.327 1.771.028 48.13 0.123 1.775.912 20.96 0.0537 1.80

12.83 14.37 0.0368 1.8020.00 11.56 0.0296 1.8150.00 7.36 0.0188 1.80

100.00 5.20 0.0133 1.79

Es ist ein Spezialfall desMassenwirkungsgesetzes. Umdie Gültigkeit der Beziehung Gl. (1.6-60) nachzuprü-fen, berechnen wir aus den Versuchsdaten die lin-ke Seite der Gleichung und kontrollieren, ob sie tat-sächlich unabhängig von c0 einen konstanten Wertergibt.Für den Fall der Essigsäure bestätigt uns Tab. 1.6-7

die Richtigkeit vonGl. (1.6-60). Die geringfügigen Ab-weichungen von der Konstanz von Kc , die wir ausTab. 1.6-7 entnehmen, sind eine Folge davon, dass wiranstelle der Aktivitäten die Konzentrationen verwen-det haben.

1.6.9 Starke Elektrolyte,die Debye-Hückel-Onsager-Theorie

Nachdem wir mit dem Ostwald’schen Verdünnungs-gesetz eine quantitative Erklärung des Leitungsverhal-tens der schwachen Elektrolyte gefunden haben, wol-len wir uns noch einmal dem Verhalten der starkenElektrolyte zuwenden.Würdenwir versuchen, auch bei einem starkenElek-

trolyten die Konzentrationsabhängigkeit von Λc ge-mäß Gl. (1.6-60) auf eine unvollständige Dissoziati-on zurückzuführen, d. h. auf einen starken Elektro-lyten das Ostwald’sche Verdünnungsgesetz anzuwen-den, dann kämen wir zu völlig unbrauchbaren Ergeb-nissen. Kc erwiese sich als stark abhängig von c. ImFall der Salzsäure würde sich Kc für Konzentrationenzwischen 2 ⋅ 10−5 M und 2 ⋅ 10−3 M um eine Zehner-potenz ändern. Dass wir das Ostwald’sche Verdün-nungsgesetz nicht auf einen starken Elektrolyten an-wenden können, erkennen wir auch daran, dass es fürsehr niedrige Konzentrationen eine lineare Abhängig-keit von c liefert und nicht die experimentell bestätig-te lineare Abhängigkeit von

√c (vgl. Abschnitt 1.6.4

und Abb. 1.6-10). Für extrem kleine Konzentrationenmuss nämlich nach Gl. (1.6-58) α gegen 1 streben,so dass Λc ≈ Λ0. Wir können für Gl. (1.6-60) dann

schreibenΛ20

(Λ0 − Λc)Λ0⋅ c = Kc (1.6-61)

Λ0 − Λc =Λ0 ⋅ cKc

(1.6-62)

Λc = Λ0 −Λ0Kc

⋅ c (1.6-63)

Wenn die starken Elektrolyte demOstwald’schen Ver-dünnungsgesetz nicht gehorchen, ist ihr Dissozia-tionsgrad konzentrationsunabhängig, was wiederumnur möglich ist, wenn sie stets vollständig dissoziiertvorliegen. Eine Konzentrationsabhängigkeit von Λckann dann nur bedeuten, dass zwischen den Ladungs-trägern, d. h. zwischen den Ionen, mit zunehmenderKonzentration zunehmende Wechselwirkungen auf-treten, die die bei der Ableitung von Gl. (1.6-60) an-genommene, von anderen Ionen unbeeinflusste elek-trische Beweglichkeit der Ionen einschränken. Bei denschwachen Elektrolyten ist wegen des kleinen Dis-soziationsgrades die Konzentration der Ionen so ge-ring (nach Tab. 1.6-7 beträgt der Dissoziationsgrad füreine 10−1 M Essigsäurelösung bei 298K nur 0.0133),dass sich aufgrund ihrer großen gegenseitigen Entfer-nung diese Wechselwirkungskräfte nicht so deutlichbemerkbar machen. Bei ihnen überwiegt bei weitemder Einfluss der Konzentrationsabhängigkeit von α.Wenn wir uns nun zumAbschluss des einführenden

Kapitels der Betrachtung der interionischen Wechsel-wirkung zuwenden, verlassen wir damit die von unsbisher (mit Ausnahme der Hydratation) vorausgesetz-te Annahme eines idealenVerhaltens der Teilchen undleiten damit gleichzeitig über zur Behandlung des rea-len Verhaltens der Materie (vgl. Abschnitt 2.1).Für die starken Elektrolyte schreiben wir in formaler

Analogie zu Gl. (1.6-59)

ΛcΛ0

= fΛ (1.6-64)

und nennen fΛ den Leitfähigkeitskoeffizienten.

Wir suchen nach einerModellvorstellung für denAuf-bau einer Elektrolytlösung und für die zwischen denIonen wirkenden Kräfte und versuchen dann, die Aus-wirkung dieser Kräfte auf die elektrolytische Leitfähig-keit, d. h. den Leitfähigkeitskoeffizienten, zu berech-nen. Wir folgen dabei den Vorstellungen von Debyeund Hückel.

Modell der ElektrolytlösungWir setzen voraus, dass starke Elektrolyte bei allenKonzentrationen vollständig dissoziiert sind. Die Io-

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128 1 Einführung in die physikalisch-chemischen Betrachtungsweisen, Grundbegriffe und Arbeitstechniken

Abb. 1.6-16 Nahordnung in Elektrolyt-lösungen.

nen sind solvatisiert. Wir betrachten sie als kugel-förmige, nicht polarisierbare Ladungen mit einemkugelsymmetrischen elektrischen Feld. Zwischen ih-nen sind anziehende und abstoßende elektrostatischeKräfte wirksam (andere als Coulomb-Kräfte schlie-ßen wir aus), aufgrund derer es zur Ausbildung ei-nerNahordnung kommt.Diese Nahordnung rührt da-her, dass sich jedes Ion mit Ionen des entgegengesetz-ten Vorzeichens zu umgeben versucht, so wie es inAbb. 1.6-16 angedeutet ist. Jedes Ion ist also gleich-zeitig Zentralion und Bestandteil der Ionenwolke ei-nes Nachbarions. Wie ungeladene Teilchen unterlie-gen die Ionen aber auch einer ungeordneten thermi-schen Bewegung, die der Ausbildung der Nahordnungentgegenwirkt. Wir gehen weiterhin davon aus, dassdie Coulomb’sche Anziehungsenergie klein ist gegen-über der thermischen Bewegungsenergie. Da die Cou-lomb-Kräfte mit dem Quadrat des Abstandes abfal-len, können wir diese Forderung erfüllen, wenn wirnur hinreichend verdünnte Lösungen betrachten, beidenen die Ionen im Mittel weit voneinander entferntsind. In diesen verdünnten Lösungen können wir dieDielektrizitätskonstante der Lösung als identisch mitder des Lösungsmittels annehmen.Wenn wir eine solche Lösung in ein äußeres elek-

trisches Feld bringen, so werden, wie wir es in Ab-schnitt 1.6.2 ausgeführt haben, die Ionen entspre-chend ihrer Ladung auf eine der beiden Elektroden zu-wandern. Zusätzlich zu den in Abschnitt 1.6.2 behan-delten Effekten müssen wir aber zwei weitere berück-sichtigen, die man als Relaxationseffekt und elektro-phoretischen Effekt bezeichnet. Der Relaxationseffektrührt daher, dass unter dem Einfluss des elektrischenFeldes die entgegengesetzt geladenen Ionen in entge-gengesetzter Richtung beschleunigt werden. Dadurchwird die Nahordnung gestört, die Ionenwolke mussimmer wieder neu aufgebaut werden, was einige Zeitbeansprucht. Ein Ion wandert deshalb dem Schwer-punkt seiner Ionenwolke etwas voraus. Daraus resul-tiert eine zurückhaltende Kraft, eine Bremswirkung.Bei der Einführung der Stokes’schen Reibung in Ab-schnitt 1.6.2 waren wir von einer Bewegung der Ionenin einem ruhenden Medium ausgegangen. Wir müs-sen nun aber beachten, dass die Ionen der Ionenwolkemit ihren Hydrathüllen in entgegengesetzter Richtungwie das Zentralion mit seiner Hydrathülle wandern.

Dadurch wird der Reibungseffekt noch verstärkt (elek-trophoretischer Effekt). Bevor wir uns jedoch mit derBerechnung des Leitfähigkeitskoeffizienten beschäf-tigen können, müssen wir uns der quantitativen Be-handlung der interionischen Wechselwirkung zuwen-den, auf die wir auch später bei der Besprechung derAktivitäten (Abschnitt 2.5.5) zurückgreifen werden.

Quantitative Behandlung der interionischenWechselwirkungFür die von uns angenommene kugelsymmetrischeLadungsverteilung um das Zentralion liefert die

Poisson’sche Gleichung

1r2

⋅ 𝜕𝜕r

(r2𝜕𝜑(r)𝜕r

)= − 𝜚(r)

εrε0(1.6-65)

den Zusammenhang zwischen dem elektrischen Po-tential𝜑(r) , der Ladungsdichte 𝜚(r) und demAbstandr vom Zentralion, wenn εr die Dielektrizitätskonstan-te des Mediums und ε0 die elektrische Feldkonstanteist. Wir übernehmen diese Gleichung ohne Ableitungaus den Lehrbüchern der Elektrostatik.Für die Berechnung der interionischen Wechselwir-

kung benötigen wir die Kenntnis von 𝜑(r). Wir erhal-ten sie, wenn wir die Poisson’sche Gleichung lösen,wozu wir allerdings zuvor die Ladungsdichte 𝜚(r) ken-nen müssen. Wir wollen sie mithilfe einer Analogie-betrachtung herleiten. Wie wir oben ausgeführt ha-ben, liegt in unserer Elektrolytlösung einWechselspielzweier Energien vor, der elektrostatischen Anziehung,für ein Ion der Ladung zi ⋅ e im Potential 𝜑(r) gege-ben durch zi ⋅ e ⋅ 𝜑(r), und der thermischen Energie.Ein vergleichbares Wechselspiel, nämlich zwischender potentiellen Energie m ⋅ g ⋅ h [vgl. Gl. (1.1-3)] undder thermischen Energie, findenwir bei derDichtever-teilung im Schwerefeld der Erde (barometrische Hö-henformel). Für das Verhältnis 1Ni(r)∕1Ni von Zahl1Ni(r) der Ionen pro Volumeneinheit im Abstand rvom Zentralatom zur mittleren Zahl 1Ni dieser Ionenin der Volumeneinheit der Lösung ergibt sich deshalb

1Ni(r)1Ni

= e−zi ⋅e⋅𝜑(r)kT (1.6-66)

Die Ladungsdichte 𝜚(r) erhalten wir, wenn wir die Io-nendichte 1Ni(r) mit der Ladung zi ⋅ e dieser Ionenmultiplizieren und über alle Ionenarten i summieren:

𝜚(r) =∑izie1Ni e

− zi ⋅e⋅𝜑(r)kT (1.6-67)

Ist in einer sehr verdünnten Lösung zie𝜑(r) ≪ kT (s.oben), so können wir die e-Funktion in einer Reihe

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1291.6 Einführung in die Elektrochemie

entwickeln

e−zi ⋅e⋅𝜑(r)kT = 1−

zi ⋅ e ⋅ 𝜑(r)kT

+ 12!

(zi ⋅ e ⋅ 𝜑(r)

kT

)2+…

(1.6-68)

und die Reihe nach dem 2. Glied abbrechen. Es istdann

𝜚(r) =∑izi e1Ni

(1 −

zi ⋅ e ⋅ 𝜑(r)kT

)(1.6-69)

𝜚(r) =∑izi e1Ni −

e2𝜑(r)kT

∑iz2i ⋅

1 Ni (1.6-70)

Diesen Ausdruck können wir weiter vereinfachen.Wegen der Elektroneutralitätsbedingung muss dererste Term, der lediglich die Summation aller Ladun-gen beinhaltet, null sein. Beachten wir weiterhin, dass

1Ni = NA ⋅ ci (1.6-71)

mit der Stoffmengenkonzentration ci ist, und führenwir nach Lewis und Randall für

12∑

z2i ci = I (1.6-72)

den Begriff Ionenstärke

ein, so ergibt sich aus Gl. (1.6-70) für

die Ladungsdichte

𝜚(r) = −2NAe2IkT

⋅ 𝜑(r) (1.6-73)

Die Poisson’sche Gleichung erhält somit die Form

1r2

𝜕𝜕r

(r2𝜕𝜑(r)𝜕r

)=

2NAe2Iεrε0kT

𝜑(r) (1.6-74)

Zweckmäßigerweise setzen wir noch als Abkürzung

1β=(2NAe2Iεrε0kT

)1∕2

(1.6-75)

und schreiben für die Poisson’sche Gleichung, diemannun

Poisson-Boltzmann-Gleichung nennt,

1r2

𝜕𝜕r

(r2 𝜕𝜑(r)

𝜕r

)=(1β

)2⋅ 𝜑(r) (1.6-76)

Die Lösung dieser Gleichung (vgl. MathematischerAnhang P) führt zu

𝜑(r) = Are−

rβ + B

r⋅ e

rβ (1.6-77)

mit den beiden Integrationskonstanten A und B. Fürihre Bestimmung stehen uns zwei Bedingungen zurVerfügung, die Forderung, dass für r → ∞ 𝜑(r) ge-gen null gehen muss, und die Elektroneutralitätsbe-dingung. Wir erkennen unmittelbar, dass die erste Be-dingung nur erfüllt werden kann, wenn B = 0 ist. Glei-chung (1.6-77) reduziert sich also auf

𝜑(r) = Are−

rβ (1.6-78)

Die Elektroneutralitätsbedingung fordert, dass die ge-samte Ladung der Ionenwolke gleich der Ladung desZentralions, jedoch mit entgegengesetztem Vorzei-chen ist. Die gesamte Ladung der als kugelsymme-trisch angenommenen Ionenwolke erhalten wir durchIntegration der Ladungsdichte über den gesamtenRaum der Ionenwolke. Die Ladungsdichte in Ab-hängigkeit von r erhalten wir durch Einsetzen vonGl. (1.6-78) in Gl. (1.6-73) unter Berücksichtigung vonGl. (1.6-75)

𝜚(r) = −εrε0 ⋅Aβ2r

⋅ e−rβ (1.6-79)

so dass die gesamte Ladung der Ionenwolke gegebenist durch

∫v

𝜚 dV = −εrε0 ⋅A∞

∫a

1β2

⋅1r⋅ e−

rβ ⋅ 4πr2 dr (1.6-80)

wobei berücksichtigt ist, dass sich die Ionenwolkevom kleinstmöglichen Abstand vom Zentralion (a =Radius des Ions i) bis ins Unendliche erstreckt. Dierechte Seite von Gl. (1.6-80) muss nach dem obenGesagten gleich dem negativen Wert der Ladung desZentralions sein, so dass wir mit

−zi ⋅ e = −4πεrε0 ⋅ A∞

∫aβ

rβ⋅ e−

rβ ⋅ d(rβ

)(1.6-81)

eine Bestimmungsgleichung für A erhalten. PartielleIntegration liefert

(1 + α

β

)e−

αβ , so dass wir für A den

Wert

A =zie

4πεrε0⋅ e

aβ(

1 + aβ

) (1.6-82)

finden. Setzen wir Gl. (1.6-82) in Gl. (1.6-78) ein, soergibt sich schließlich für das Potential 𝜑(r)

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130 1 Einführung in die physikalisch-chemischen Betrachtungsweisen, Grundbegriffe und Arbeitstechniken

𝜑(r) =zie

4πεrε0⋅

eaβ

1 + aβ

⋅e−

r(1.6-83)

Diese Gleichung ist die zentrale Gleichung der De-bye-Hückel’schen Theorie.

Wir wollen sie deshalb ein wenig näher diskutieren.Das Potential 𝜑(r) sollte aus zwei Anteilen aufgebautsein, einem Anteil 𝜑z(r). der vom Zentralion, und ei-nem Anteil 𝜑w(r), der von der Ionenwolke herrührt.Der erste Anteil ist durch

𝜑z(r) =zie

4πεrε0r(1.6-84)

gegeben. Für den zweiten folgt aus Gl. (1.6-83) undGl. (1.6-84)

𝜑w(r) = 𝜑(r) −𝜑z(r) =zie

4πεrε0r⋅⎛⎜⎜⎝ e

1 + aβ

⋅ e−rβ − 1

⎞⎟⎟⎠(1.6-85)

Gleichung (1.6-84) würde auch bei Abwesenheit jeg-licher interionischer Wechselwirkung gültig bleiben.Gleichung (1.6-85) wird bestimmt durch die Größe βund beschreibt die eigentliche interionische Wechsel-wirkung. Nach Gl. (1.6-75) ist β umgekehrt propor-tional der Wurzel aus der Ionenstärke. Geht die Kon-zentration und somit nach Gl. (1.6-72) auch die Io-nenstärke gegen null, so strebt β gegen ∞ und nachGl. (1.6-85) 𝜑w(r) gegen null. Wir nähern uns demidealen Verhalten an.Die Größe β hat die Dimension einer Länge. Man

bezeichnet sie als Radius der Ionenwolke, weil in die-sem Abstand vom Mittelpunkt des Zentralatoms dieLadungsdichte d𝜚∕ dr = 𝜚4πr2 innerhalb der Ionen-wolke maximal ist. Wir sehen dies sofort, wenn wir inGl. (1.6-79) den aus Gl. (1.6-82) folgenden Wert für Aeinsetzen,

𝜚(r) = −zi ⋅ e4πβ2

⋅ eaβ(

1 + aβ

) ⋅ 1r⋅ e−

rβ (1.6-86)

durch Multiplikation mit 4πr2 dr die Ladung inner-halb einerKugelschalemit demRadius r undderDickedr berechnen,

𝜚 ⋅ 4πr2 dr = const. ⋅ r ⋅ e−rβ dr (1.6-87)

und nach Bilden der 1. Ableitung den Extremwert von𝜚 ⋅ 4πr2 bestimmen:

d(𝜚4πr2)dr

= 0 = const.[e−

rβ − 1

β⋅ r ⋅ e−

](1.6-88)

Tab. 1.6-8 Radius der Ionenwolke imWasser bei 298K fürver-schiedene Salztypen (z+, z− bzw. z−, z+) in Abhängigkeit vonder Konzentration.

cmol dm−3

Salztyp

β(1,1)/nm β(1,2)/nm β(2,2)/nm β(1,3)/nm

10−1 0.96 0.55 0.48 0.3910−2 3.04 1.76 1.52 1.2410−3 9.6 5.55 4.81 3.9310−4 30.4 17.6 15.2 12.4

Diese Gleichung ist erfüllt für

r(𝜚4πr2)max = β (1.6-89)

Setzen wir in Gl. (1.6-75) die universellen Konstantenein, so erhalten wir

für den Radius der Ionenwolke

β = 6.288 ⋅10−11(

molK ⋅m

)1∕2( εrTI

)1∕2(1.6-90)

und für den speziellen Fall wässriger Lösungen bei298K [εr(H2O) = 78.30]

β(H2O, 298K) =

1.358 ⋅ 10−8(molm

)1∕2 (∑z2i ci)−1∕2

(1.6-91)

Tabelle 1.6-8 zeigt uns, dass die nach Gl. (1.6-91) be-rechneten Radien der Ionenwolke mit abnehmenderKonzentration und abnehmender Ionenladung starkzunehmen. Bei 10−1 M Lösungen sind die Radien derIonenwolke in der Größenordnung der Ionenradien,bei 10−4 M Lösungen jedoch um fast zwei Zehnerpo-tenzen größer.Wir wollen nun zum Schluss noch nach dem Poten-

tial der Ionenwolke am Rand des Zentralions fragen.Dieses Problemwird uns später (Abschnitt 2.5.5) nochsehr beschäftigen. Da kein Ion der Ionenwolke dich-ter als bis auf den Abstand a an den Mittelpunkt desZentralions herankommen kann, erhalten wir das ge-suchte Potential, indem wir in Gl. (1.6-85) r durch aersetzen:

𝜑w(r = a) =zie

4πεrε0a

⎛⎜⎜⎝ eaβ

1 + aβ

⋅ e−aβ − 1

⎞⎟⎟⎠ (1.6-92)

𝜑w(r = a) = −zie

4πεrε0⋅ 1β + a

(1.6-93)

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Gerd Wedler und Hans-Joachim Freund: Lehr- und Arbeitsbuch Physikalische Chemie — 2018/7/2 — Seite 131 — le-tex

1311.6 Einführung in die Elektrochemie

Berechnung des Leitfähigkeitskoeffizienten fΛDebye, Hückel und Onsager verknüpften zur Berech-nung des Leitfähigkeitskoeffizienten fΛ die oben ent-wickelte Theorie der interionischen Wechselwirkungmit der Kontinuitätsgleichung der Hydrodynamik. InAnbetracht der sehr schwierigen mathematischen Be-handlung wollen wir uns hier damit begnügen, die Re-sultate der Berechnungen anzugeben. Aufgrund derExistenz des Relaxationseffektes und des elektropho-retischen Effektes setzt sich die molare LeitfähigkeitΛc aus drei Anteilen zusammen, der molaren Grenz-leitfähigkeit Λ0, dem Relaxationsanteil Λrel und demelektrophoretischen Anteil Λel:

Λc = Λ0 − Λrel − Λel (1.6-94)

Aus den Ausführungen bezüglich des Modells derElektrolytlösung dürfen wir schließen, dass Λrel undΛel stark von den Ladungszahlen der Ionen und demRadius β der Ionenwolke abhängen werden. Weiter-hin sollte beim Relaxationseffekt die Geschwindigkeitdes Zentralions im Feld eine Rolle spielen. Für dieseist Λ0 ein Maß. Beim elektrophoretischen Effekt istzu erwarten, dass wegen der gegensinnigen Bewegungdes Ions und der Ionen der Ionenwolke wieder dasStockes’sche Reibungsgesetz und damit die Viskositäteine Rolle spielt. Für einen einfachen, vollständig dis-soziierten Elektrolyten findet man

Λrel =e23k|z+z−|q1 +√q⋅ 14πεrε0T

⋅ Λ0 ⋅1β

(1.6-95)

Λel =F ⋅ e6π

⋅|z+| + |z−|

η⋅ 1β

(1.6-96)

mit

q = |z+z−||z+| + |z−| ⋅ Λ+0 + Λ−

0|z+|Λ−0 + |z−|Λ+

0(1.6-97)

Fassen wir die Gl. (1.6-94) bis (1.6-96) zusammen undberücksichtigen noch Gl. (1.6-90), so erhalten wir

Λc = Λ0 −[8.8606 ⋅ 10+4

(K3∕2 m3∕2

mol1∕2

)1

(εrT)3∕2

⋅|z+z−|q1 +√qΛ0 + 1.304 ⋅ 10−5 A

2s2m1∕2K1∕2

mol3∕2

⋅ 1η(εrT)1∕2

(|z+| + |z−|)]√I(1.6-98)

Dabei ist die Viskosität in kgm−1 s−1 einzusetzen.Wenden wir diesen Ausdruck auf wässrige Elektro-lytlösungen bei 298K an, für die εr = 78.30 und η =0.890 ⋅ 10−3 kgm−1 s−1 ist, so ergibt sich

Λc = Λ0 −

[2.486 ⋅ 10−2

(m3

mol

)1∕2 |z+z−|q1 +√qΛ0

+9.592 ⋅ 10−5 m7∕2

mol3∕2 Ω(|z+| + |z−|)]√I

(1.6-99)

Für 1,1-wertige Elektrolyte ist |z+|= |z−|= 1 und q ausGl. (1.6-97) nimmt den Wert 1

2 an, so dass für diesenspeziellen Fall gilt

Λc(1,1-wertig) =Λ0 − [7.281 ⋅ 10−3Λ0 + 1.918 ⋅ 10−4 m2Ω−1 mol−1]

⋅(

m3

mol

)1∕2√c (1.6-100)

Wir sehen, dass wir bei den verwendeten Zahlen-werten die Stoffmengenkonzentration in mol ⋅m−3

einsetzen müssen und die molare Leitfähigkeit inm2 Ω−1 mol−1 erhalten.Wollenwir die Konzentrationals Molarität, d. h. in mol dm−3, und die molare Leitfä-higkeit in cm2 Ω−1 mol−1 angegeben, so wie wir es inden Tabellen getan haben, so folgt aus Gl. (1.6-100)

Λc(1,1-wertig) =Λ0 − [0.2302Λ0 + 60.68 cm2 Ω−1 mol−1]

⋅(dm3

mol

)1∕2√c (1.6-101)

und

für den Leitfähigkeitskoeffizienten fΛ

fΛ(1,1-wertig) =

1 − 1Λ0

[0.2302Λ0 + 60.68 cm2 Ω−1 mol−1]

⋅(dm3

mol

)1∕2√c (1.6-102)

Wir erkennen sofort die Übereinstimmungmit dem Kohlrausch’schen

√c-Gesetz [vgl. Gl.

(1.6-40)].

Bedenkenwir, dasswir bei derAbleitung der interioni-schen Wechselwirkung die Bedingung erfüllen muss-ten, dass die Coulomb’sche Wechselwirkungsenergie≪ kT sein musste, was nur bei sehr verdünnten Lö-sungen gilt, so verstehen wir, dass auch die Debye-Hückel-Onsager’sche Theorie nur bei hohen Verdün-nungen (≪ 10−2 M) eine gute Übereinstimmung mitdem experimentellen Ergebnis liefert.

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132 1 Einführung in die physikalisch-chemischen Betrachtungsweisen, Grundbegriffe und Arbeitstechniken

Selbstverständlich spielt die interionische Wechsel-wirkung auch bei schwachen Elektrolyten eine Rolle,doch wird, wie wir bereits oben diskutiert haben, dieKonzentrationsabhängigkeit des Dissoziationsgradeseinen größeren Einfluss auf die molare Leitfähigkeithaben als die interionische Wechselwirkung. Bei ei-ner genauenUntersuchungmüssen wir bei schwachenElektrolyten deshalb anstelle von Gl. (1.6-59) schrei-ben

ΛcΛ0

= fΛ ⋅ α (1.6-103)

Für den Leitfähigkeitskoeffizienten eines schwachen1,1-wertigen Elektrolyten folgt unter Beachtung vonGl. (1.6-102) für 298K

fΛ =ΛcΛ0 ⋅ α

= 1 −0.2302Λ0 + 60.68 cm2 Ω−1 mol−1

Λ0

⋅(dm3

mol

)1∕2√αc (1.6-104)

Dabeimuss beachtet werden, dass α eine Funktion vonc ist.

1.6.10 Anwendungen derLeitfähigkeitsmessungen

Dank der Tatsache, dass die molare Leitfähigkeit ei-ne einfache Funktion der Konzentration ist, bietensich Leitfähigkeitsmessungen für Konzentrationsbe-stimmungen an. Darauf gründen sich verschiedeneAnwendungen im Bereich der Thermodynamik (Be-stimmung des Ionenproduktes des Wassers, Bestim-mung des Löslichkeitsproduktes eines schwerlösli-chen Salzes, Bestimmung der Lösungswärme einesschwerlöslichen Salzes, Bestimmung von thermody-namischen Gleichgewichtskonstanten und Aktivitäts-koeffizienten schwacher Elektrolyte), worauf wir beigegebener Gelegenheit in Kapitel 2 noch zurückkom-men werden. Auch für kinetische Untersuchungenkönnen Leitfähigkeitsmessungen in Frage kommen,und zwar dann, wenn bei der Reaktion Ionen ent-stehen oder verschwinden oder wenn langsam wan-dernde Ionendurch schnell wandernde ersetztwerdenoder umgekehrt.Aus diesem Grund eignen sich Leitfähigkeits-

messungen auch als Indikator bei Titrationen. InAbb. 1.6-17 ist der Leitfähigkeitsverlauf bei der Titra-tion einer Säure dargestellt. Auf der Abszisse ist dieMenge zugesetzter Lauge, auf der Ordinate die Leit-fähigkeit aufgetragen. Im anfänglichen Teil sinkt dieLeitfähigkeit, weil die schnell wandernden Protonendurch langsamer wandernde Alkali-Ionen ersetzt wer-den. Hinter demÄquivalenzpunkt steigt die Leitfähig-

Abb. 1.6-17 Leitfähigkeitstitrationeiner Säure.

keit wieder, da ohne weitere chemische Reaktion Al-kali- und Hydroxid-Ionen hinzukommen.Bislang haben wir noch nicht davon gesprochen,

dass bei der elektrolytischen Ionenwanderung auchein Isotopieeffekt auftritt. Er ist zwar klein, doch ist esgelungen, unter Ausnutzung dieses Effektes Isotopen-anreicherungen bei festen und geschmolzenen Salzen,bei wässrigen Lösungen und bei Metallen zu erzielen.

1.6.11 Kernpunkte des Abschnitts 1.6

✓⃞ Erstes und zweites Faraday’sches Gesetz,Abschnitt 1.6.1

✓⃞ Zersetzungsspannung, Abschnitt 1.6.1✓⃞ Elektrolyse – galvanische Stromerzeugung,

Abschnitt 1.6.1✓⃞ Stokes’sches Gesetz, Gl. (1.6-21)✓⃞ Elektrische Beweglichkeit der Ionen, Gl. (1.6-23)✓⃞ Spezifische Leitfähigkeit, Gl. (1.6-28)✓⃞ Molare Leitfähigkeit, Gl. (1.6-29)✓⃞ Erstes Kohlrausch’sches Gesetz von der

unabhängigen Wanderung der Ionen, Gl. (1.6-33)Konzentrationsabhängigkeit der molarenLeitfähigkeit, Abschnitt 1.6.4✓⃞ Kohlrausch’sches Quadratwurzelgesetz,

Gl. (1.6-40)✓⃞ Messung elektrischer Ionenbeweglichkeiten und

Überführungszahl, Abschnitt 1.6.5Hydratation der Ionen, Abschnitt 1.6.6✓⃞ Walden’sche Regel, Gl. (1.6-51)Schwache Elektrolyte, Abschnitt 1.6.8✓⃞ Ostwald’sches Verdünnungsgesetz, Gl. (1.6-60)Starke Elektrolyte – Debye-Hückel-Onsager-Theorie,Abschnitt 1.6.9✓⃞ Leitfähigkeitskoeffizient, Gl. (1.6-64)✓⃞ Poisson’sche Gleichung, Gl. (1.6-65)✓⃞ Ionenstärke, Gl. (1.6-72)✓⃞ Poisson-Boltzmann-Gleichung, Gl. (1.6-76)✓⃞ Radius der Ionenwolke, Gl. (1.6-90), (1.6-91)✓⃞ Leitfähigkeitskoeffizient, Berechnung,

Gl. (1.6-102)Anwendungen der Leitfähigkeitsmessungen,Abschnitt 1.6.10

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1331.6 Einführung in die Elektrochemie

1.6.12 Rechenbeispiele zu Abschnitt 1.6

1 In einem Stromkreis sind ein Knallgas- und ein Sil-bercoulometer hintereinandergeschaltet.WelchesVo-lumen hat das entwickelte Knallgas bei 0.960 bar und298K, wenn im Silbercoulometer 856mg Silber abge-schieden worden sind?

2 In einer elektrolytischen Zelle misst man für ei-ne 0.001M Kaliumnitratlösung bei 291K einen Wi-derstand von 3866.3Ω. Für reines Wasser fand man96 ⋅ 104 Ω. Wie groß ist die molare Leitfähigkeit einer0.001M Rubidiumchloridlösung, wenn man bei dergleichenTemperatur für eine solche Lösung einenWi-derstand von 3698.0 Ω erhält? [Λ(0.001M KNO3) =123.65 Ω−1 cm2 mol−1]

3 Bei 298K beträgt die Leitfähigkeit einer gesättig-ten AgBr-Lösung 15.37 ⋅ 10−8 Ω−1 cm−1. Wie großist die Löslichkeit des AgBr bei dieser Tempera-tur (in g dm−3), wenn das zum Lösen verwendeteWasser eine Leitfähigkeit von 4.05 ⋅ 10−8 Ω−1 cm−1

besitzt? Die molaren Grenzleitfähigkeiten wässrigerLösungen von AgNO3, HNO3 und HBr betragenbei der gleichen Temperatur 133.3 Ω−1 cm2 mol−1,420.0 Ω−1 cm2 mol−1 bzw. 429.4 Ω−1 cm2 mol−1.

4 In einer 0.1M NaCl-Lösung beträgt bei 291K dieÜberführungszahl des Cl−-Ions 0.617. Bei der glei-chen Temperatur und Konzentration ist die molareLeitfähigkeit des NaCl 92.02 Ω−1 cm2 mol−1. Mit wel-cherGeschwindigkeit wandern die Chlorid-Ionen unddie Natrium-Ionen, wenn an die 90mm voneinanderentfernten Elektroden eine Spannung von 5.2V ange-legt wird?

5 Die molare Grenzleitfähigkeit des Tetrabu-tylammoniumpikrats beträgt in Nitrobenzol bei298K 27.9Ω−1 cm2 mol−1, die Viskosität dieses Lö-sungsmittels bei der gleichen Temperatur 1.811 ⋅10−3 kgm−1 s−1. Wie groß ist die molare Grenzleit-fähigkeit des Tetrabutylammonium-Ions bei 298Kin Pyridin, wenn für dessen Viskosität 0.8824 ⋅10−3 kgm−1 s−1 angegeben werden und die molareGrenzleitfähigkeit des Pikrat-Ions in Pyridin bei 298K33.7 Ω−1 cm2 mol−1 ist?

6 Für die Konzentrationsabhängigkeit der molarenLeitfähigkeit des Kaliumnitrats findet man bei 291Kfolgende Werte:

cmol dm−3 0.0001 0.0002 0.0005 0.001 0.002 0.005

ΛΩ−1 cm2 mol−1

125.50 125.18 124.44 123.65 122.60 120.47c

mol dm−3 0.01 0.02 0.05 0.1 0.2 0.5Λ

Ω−1 cm2 mol−1118.19 115.21 109.86 104.79 98.74 89.24

Man ermittle die molare Grenzleitfähigkeit Λ0 undvergleiche die experimentell gefundene Konzentrati-onsabhängigkeit mit der von derDebye-Hückel-Onsa-ger’schen Theorie vorausgesagten. Bei 291K betragenεr(H2O) = 80.8 und η(H2O) = 106 ⋅ 10−5 kgm−1 s−1.

7 Für die Konzentrationsabhängigkeit der molarenLeitfähigkeit der Benzoesäure bei 298K findet manfolgende Werte:

cmol dm−3 9.02 ⋅ 10−5 1.91 ⋅ 10−4 2.63 ⋅ 10−4 3.81 ⋅ 10−4 7.51 ⋅ 10−4

ΛΩ−1 cm2 mol−1

212.94 166.03 147.66 127.85 96.68c

mol dm−3 1.07 ⋅ 10−3 1.32 ⋅ 10−3 2.05 ⋅ 10−3 7.22 ⋅ 10−3 1.436 ⋅ 10−2Λ

Ω−1 cm2 mol−182.94 75.68 62.17 34.96 24.86

Man versuche, die Konzentrationsabhängigkeit ent-sprechend Gl. (1.6-40) und Gl. (1.6-63) darzustel-len. Was ist aus dem Resultat zu folgern? Wiegroß ist die molare Grenzleitfähigkeit Λ0? Die mo-lare Grenzleitfähigkeit des Natriumbenzoats beträgtbei der gleichen Temperatur 82.3 Ω−1 cm2 mol−1, dievon NaCl 126.5 Ω−1 cm2 mol−1 und die von HCl426.0 Ω−1 cm2 mol−1. Wie groß ist der Dissoziations-grad der Benzoesäure bei den oben angegebenen Kon-zentrationen? Man ermittle die Dissoziationskonstan-te der Benzoesäure nach Gl. (1.6-58).

8 Schreiben Sie dieGesamtreaktion für eine funktio-nierende galvanische Zelle, die aus den beiden Halb-zellenreaktionen

Hg2+2 + 2 e− → 2Hg und Cu2+ + 2 e− → Cu

konstruiert wird. Welches Material, Hg oder Cu, istdie Anode? Wie groß ist ΔE0 für die Zelle? Berech-nen Sie die Gleichgewichtskonstante Keq für die Ge-samtreaktion bei 25 °C. Wie groß ist die elektromoto-rische Kraft dieser Zelle, wenn [Hg2+2 ] = 0.10M und[Cu2+] = 0.10M ist?

9 Geschmolzenes ZnCl2 wird in einer Elektrolyse-zelle durch Hindurchleiten eines Stroms von 3.0Awährend einer bestimmten Zeit elektrolysiert. Dabeiwerden 24.5 g Zn abgeschieden. Wie lange muss dafürder Strom eingeschaltet werden? Was ist die chemi-sche Gleichung für die Reaktion an der Kathode? Ander Anode? Wieviel g Chlorgas werden dabei freige-setzt?

10 Eine Standard-Wasserstoff-Halbzelle wird mit ei-ner Standard-Silber-Halbzelle gekoppelt. Natrium-bromid wird zu der Silber-Halbzelle hinzugegeben, sodass ein Niederschlag von AgBr ausfällt. Die Zugabeerfolgt so lange, bis [Br−] = 1.00M. Die Spannung ander Zelle beträgt an diesem Punkt 0.072V. BerechnenSie das Löslichkeitsprodukt für Silberbromid.

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134 1 Einführung in die physikalisch-chemischen Betrachtungsweisen, Grundbegriffe und Arbeitstechniken

11 Warum kann man angelaufenes Silberbesteckin heißer Kochsalzlösung mit Aluminiumfolie „reini-gen“?

12 Ein galvanisches Element besteht auszwei Pb∕Pb2+-Halbzellen mit unterschiedlicherBlei(II)-ionen-Konzentration. Erklären Sie, weshalbzwischen den beiden Bleielektroden eine elektrischeSpannung auftritt.Wie ändert sich qualitativ die Span-nung, wenn man zur Elektrolyt-Lösung mit der ge-ringeren Blei(II)-ionen-Konzentration folgende Salzegibt:

a) Natriumnitratb) Blei(II)-nitratc) Natriumsulfat

Begründen Sie Ihre Aussagen.

13 In einer Kaliumdichromat-Lösung sind Dichro-mat- und Chrom-III-Ionen im Verhältnis 10 000 : 100enthalten. Berechnen Sie, ob sich mit dieser LösungChloridionen oxidieren lassen, wenn der pH-Wert= 1ist.

14

a) Welches Standardpotential hat die ElektrodeGa2+∕Ga bei 25 °C, wenn bei dieser Temperaturdie Standardpotentiale E0h(Ga3+∕Ga) = −0.529Vund E0h(Ga3+, Ga2+) = −0.650V betragen?

b) Die Standard-Elektrodenpotentiale der Sn2+∕Sn4+-Elektrode und der Fe2+∕Fe3+-Elektrode bei25 °C betragen +154mV bzw. +772mV. Berech-nen Sie die freie Standard-Reaktionsenthalpie unddie Gleichgewichtskonstante der Reaktion

2 Fe3+ + Sn2+ ←→ 2 Fe2+ + Sn4+

bei dieser Temperatur.

1.6.13 Literatur zu Abschnitt 1.6

Kortüm, G. (1972) Lehrbuch der Elektrochemie, VerlagChemie, Weinheim.

Bergmann, L. und Schaefer, C. (2003) Bestandteile derMaterie, Atome, Moleküle, Atomkerne, Elementar-teilchen, in Lehrbuch der Experimentalphysik, Bd. 4,(Hrsg. W. v. Raith, mit Beitr. v. M. Fink, R.-D. Heuer,H. Kleinpoppen, K.-P. Lieb, N. Risch, P. Schmüser), 2.überarb. Aufl., Walter de Gruyter & Co. KG, Berlin.

Gileadi, E. (2011) Physical Electrochemistry: Fundamen-tals, Techniques and Applications, Wiley-VCH VerlagGmbH, Weinheim.

Hamann, C.H., Hamnett, A. and Vielstich, W. (2007)Electrochemistry, 2nd edn, Wiley-VCH Verlag GmbH,Weinheim.

Hamann, C.H. und Vielstich, W. (2005) Elektrochemie, 4.Aufl., Wiley-VCH Verlag GmbH, Weinheim.

Bard, A.J. and Faulkner, L.R. (2001) ElectrochemicalMethods: Fundamentals and Applications, 2nd edn.,JohnWiley & Sons, New York.

Crow, D.R. (1994) Principles and Applications of Electro-chemistry 4th edn., CRC Press, Boca Raton.

Kortüm, G. (1972) Lehrbuch der Elektrochemie, VerlagChemie, Weinheim.

1.7 Beugungserscheinungen undreziprokes Gitter

Wir hatten immer wieder gesehen, welch große Be-deutung der Kenntnis der mikroskopischen Struk-tur von Verbindungen zukommt. Die Methode, mitder man heute Strukturinformation (zumindest fes-ter Stoffe) erhält, ist die Röntgenstrukturanalyse. Da-bei beobachtet man die Beugungserscheinungen vonRöntgenlicht nach Durchdringung fester Stoffe. Da-mit schließt dieser Abschnitt an die Versuche mit derElektronenbeugung an (Abschnitt 1.4.6), bei der mandie Wellennatur der Elektronen nutzt, um Beugungs-erscheinungen zu untersuchen. Alle diese Beugungs-erscheinungen unterliegen denselben Prinzipien, undwirwerden sie auchnoch an anderer Stelle nutzen.Derfolgende Abschnitt soll dazu dienen, in die Prinzipiender Beugung an regelmäßigen geometrischen Struktu-ren einzuführen.Bei Licht handelt es sich um elektromagnetische

Strahlung, die eine elektrische und eine magnetischeFeldkomponente besitzt. Beide folgen einer periodi-schen Schwingung im Raum. Elektrische und magne-tische Komponenten stehen senkrecht aufeinandersowie auf der Ausbreitungsrichtung, wie in Abb. 1.7-1angedeutet.

Abb. 1.7-1 Darstellung der Schwingung von elektrischen undmagnetischen Felddichtenbei elektromagnetischer Strahlungbei Ausbreitung in x-Richtung.

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1351.7 Beugungserscheinungen und reziprokes Gitter

Abb. 1.7-2 Schematische Darstellung des Aufbaus zur Rönt-genbeugung nach Laue.

Abb. 1.7-3 Beugungsmuster von Mo und Pt, wobei die Kris-talle in (111)-Richtung (Richtung der Raumdiagnonalen derGitter in Abb. 1.7-4) durchstrahlt werden.

Wir beschränken uns auf die Betrachtung des elek-trischen Feldes (die magnetische Komponente kannanalog beschrieben werden, ist aber für die folgen-den Betrachtungen im Kontext des Buches von gerin-ger Bedeutung, da wir magnetische Wechselwirkun-gen kaum betrachten):

E = E0 ⋅ sin{ω(t − x∕c)} (1.7-1)

Hier sind die Kreisfrequenz ω = 2πν (ν: Frequenz) unddie Wellenlänge λ = c2π∕ω mit der Phasenverschie-bung Φ

Φ = (2π∕λ)x (1.7-2)

verknüpft. Letztere wird wichtig, wenn zwei Licht-wellen interferieren. Für das Beugungsbild spielt dieKenntnis der Phasenverschiebung die entscheidendeRolle. Abbildung 1.7-2 zeigt schematisch eine Anord-nung zur Durchführung der Röntgenbeugung (Laue-Anordnung). In Abb. 1.7-3 sind die Beugungsbildervon Pt und Mo gezeigt. Ein Gitter (Mo) gehört zumkubisch raumzentrierten Typ, das andere zum kubischflächenzentrierten Typ, wie Abb. 1.7-4 zeigt.

(a) (b)

Abb. 1.7-4 Schematische Darstellung eines kubisch flächen-zentrierten Gitters (a), sowie eines raumzentrierten Gitters (b).

Wirwerden sehen, dass sich die Intensitätsverteilungim Beugungsbild aus der Überlagerung dreier Termeergibt, dieweitgehendunabhängig voneinander sind.Dies sind einmal die Primärintensität der Röntgen-strahlung, zum zweiten ein Term, der sich aus derForm der Elementarzelle ergibt, und zum dritten einTerm, der aus der periodischen Anordnung der Ele-mentarzellen folgt. Man muss dazu wissen, dass dieWahrscheinlichkeit für die Beugung von Licht an ei-nemAtommit der Zahl der an diesemAtom vorhan-denen Elektronen zusammenhängt. Daher habenwirdie schweren Elemente Mo und Pt als Proben ge-wählt.

Im Folgenden wird nun die Beugung an einfachenOb-jekten (Spalten) diskutiert, umEinblick in die oben an-gesprochene Verteilung der Intensität im Raum undden Zusammenhang zur geometrischen Struktur desbeugenden Objektes zu gewinnen.

1.7.1 Allgemeine Merkmaleder Beugungserscheinungen

Beugungserscheinungen treten allgemein bei Wel-len immer dort auf, wo diese durch Hindernisse be-grenzt werden. Man findet dann auch im geome-trischen Schattenbereich der Hindernisse eine Wel-lenerregung, d. h. die Begrenzung einer Welle verur-sacht eine Abweichung von der gradlinigen Wellen-ausbreitung. Diese Erscheinung wird umso deutlicher,je mehr die Dimension der Hindernisse oder der frei-en Durchlässe (Spalte, Löcher in Blenden) sich derGrößenordnung der Wellenlänge nähert. An Hinder-nissen greifen also die Wellen um diese herum. Die-se Erscheinung bezeichnet man als Beugung und diein die geometrischen Schattenräume hineindringen-den Wellen als gebeugte Wellen. Die Deutung derBeugung ist mithilfe des Huygens-Fresnel’schen Prin-zips möglich. Trifft eine ausgedehnte Wellenfront aufein undurchlässiges Hindernis, das nur einen Teilder Wellenfront durchtreten lässt (z. B. eine Blende

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136 1 Einführung in die physikalisch-chemischen Betrachtungsweisen, Grundbegriffe und Arbeitstechniken

Abb. 1.7-5 Optischer Strahlengang bei der Beugung am Spalt.

mit Öffnung oder ein Gegenstand, der kleiner ist alsdie gesamte Wellenfront), so wird jeder Punkt desnicht behinderten Teils der Wellenfront Ausgangs-punkt einer Elementarwelle, die sich kugelförmig aus-breitet und somit die Wellenerregung auch in diegeometrische Schattenzone hineinträgt. Hier inter-ferieren die Elementarwellen und erzeugen je nachdenGangunterschieden verschiedeneWellenerregun-gen. Das gebeugte Wellenfeld zeigt daher eine be-stimmte Interferenzstruktur, die man Beugungsfigurnennt.Bei der Behandlung optischer Beugungserscheinun-

gen unterscheidet man zwei verschiedene Beugungs-arten, die Fraunhofer’sche und die Fresnel’sche Beu-gung. Bei der Fraunhofer’schen Beugung liegt dieLichtquelle und der Beobachtungsort unendlich weitvom beugenden Objekt entfernt, d. h. die Beugungs-erscheinung wird mit ebenen Wellen beobachtet. Beider praktischen Durchführung wird die Lichtquelle inden Brennpunkt einer Sammellinse gebracht und dieBeugungsfigur in der Brennebene einer zweiten Sam-mellinse beobachtet (Abb. 1.7-5).Von Fresnel’scher Beugung spricht man, wenn die

Quelle oder der Beobachtungspunkt oder beide inendlicher Entfernung vom beugenden Hindernis lie-gen. Hier treten dann gekrümmte Wellenflächen, alsodivergente und konvergente Strahlenbündel auf. DieFresnel’sche Beugung liegt vor bei Anordnungen oh-ne Linse mit kleinen Abständen. Die mathematischeBehandlung der Fresnel’schen Beugung ist schwierigerals die der Fraunhofer’schen Beugung.Wir beschränken uns auf die Diskussion der Fraun-

hofer’schen Beugung.

1.7.2 Fraunhofer’sche Beugung am Spalt

Eine ebene Welle (Parallelstrahlbündel) fällt senk-recht auf einen Spalt, dessen Breite d die Grö-ßenordnung der Lichtwellenlänge λ hat. Die Spalt-ebene ist eine Wellenfläche, alle ihre Punkte wir-ken als gleichphasig schwingende Erregerzentrenvon Elementarwellen gleicher Amplitude. Die Ele-mentarwellen sind kohärent, ihre Überlagerungim Unendlichen ergibt die Fraunhofer’sche Beu-gungsfigur des Spaltes. Wir charakterisieren die

Abb. 1.7-6 Charakteristische Größen für die Diskussion desGangunterschieds gebeugterWellen.

einfallende Lichtwelle, die in x-Richtung auf denSpalt falle, durch den elektrischen Feldvektor E =E0 ⋅ sin{ω(t) − (x∕c)}. Wir teilen die Spaltbreited in m Teile, wobei m eine große ganze Zahl sei(Abb. 1.7-6).In einer Ebene senkrecht zur Spaltlänge (Zeichen-

ebene) verläuft dann aus jedem Spaltteil unter demWinkel α zur Einfallsrichtung ein Elementarwellen-strahl der Amplitude E(0). Die resultierende Ampli-tude E(α) in Richtung α im unendlich weit entfern-ten Punkt P ergibt sich durchAddition aller Teilstrahl-amplituden unter Berücksichtigung der Phasenunter-schiede der Teilwellen. Die Strahlen 1 und m habeneinen Gangunterschied Δ = d ⋅ sin α, dem ein Pha-senunterschied von Φ = (2π∕λ)Δ, d. h. Φ = k ⋅ Δmit k = 2π

λ , Δ = d ⋅ sin α, entspricht. Zwei benach-barte Teilstrahlen haben einen Gangunterschied δ =Δm = (d∕m) sin α, dem ein Phasenunterschied von𝜑 =(2πd∕λm) sin α entspricht.Wir führen die phasengerechte Addition der Teil-

wellenamplituden graphisch als entsprechende Vek-toraddition durch. Jede Teilwelle wird dargestelltdurch einen Vektor der Länge E(0), die Vektoren zwei-er benachbarter Teilwellen bilden den Winkel 𝜑 mit-einander (Abb. 1.7-7).In Richtung der einfallendenWelle ist α = 0 und da-

mit Δ= δ = 0. DieAmplituden der Teilwellen addierensich daher in dieser Richtung im Punkt P0 algebraisch

Abb. 1.7-7 Hilfskonstruktion für die Summation der Amplitu-den gebeugter Teilstrahlen.

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1371.7 Beugungserscheinungen und reziprokes Gitter

zu E(0) = mE0.

E(α) = E(0) ⋅sin(πdλ ⋅ sin α

)m ⋅ sin

(πdλm ⋅ sin α

) (1.7-3)

Um nun exakt den Einfluss der gesamten Spaltbreitezu erfassen, muss noch der Grenzübergang m → ∞durchgeführt werden. Es ist

limm→∞

(m ⋅ sin

[πdλm

sin α])

= limm→∞

(m ⋅

πdλm

sin α)

= πdλ

sin α (1.7-4)

Somit folgt

E(α) = E(0) ⋅sin(πdλ ⋅ sin α

)πdλ sin α

(1.7-5)

Da nun die Lichtintensität proportional dem Qua-drat der Lichtwellenamplitude ist, I ∼ E2, folgt fürdie Intensität I(α) in Richtung α

I(α) = I0sin2(πdλ sin α

)(πdλ sin α

)2 (1.7-6)

Danach ist die Intensität null, d. h. es liegen Inter-ferenzminima vor, unter solchenWinkeln α für die(πd∕λ) sin α = kπ mit k ≠ 0 ist (Abb. 1.7-8).Damit ist die Bedingung für Minima:

d sin α = kλ, k = ±1,±2,±3,… (1.7-7)

Dem Wert k = 0 entspricht der Winkel α = 0 bzw.(πd∕λ) sin α = 0.Bezeichnen wir (πd∕λ) sin α ≡ u, so ist

(sin u∕u)u=0 = 1, d. h. hier herrscht die Intensität I0.

Abb. 1.7-8 Intensitätsverteilungbei der Beugung am Spalt.

Dieses ist die größte in der Beugungsfigur vorkom-mende Intensität, sie liegt in der Mitte der Beugungs-figur und wird als Hauptmaximum bezeichnet.

Zwischen den Minima liegen weitere Nebenma-xima, ihre Lage erhält man aus der BedingungdI∕ du = 0. Sie liegen in guter Näherung unter sol-chen Winkeln α für die gilt:

d sin α = (2k+1) λ∕2 , k =±1,±2,±3,… (1.7-8)

Die Intensität der Nebenmaxima ist nur gering, vergli-chen mit der Intensität I0 des Hauptmaximums, undsie nimmt mit steigender Ordnungszahl schnell ab.Für sie gilt:

Ik =I0(

k + 12

)2π2

(1.7-9)

woraus für k = 1, 2 und 3 folgt: I1 = 0.045 I0,I2 = 0.016 I0 und I3 = 0.008 I0.Außerdem ist bemerkenswert, dass die Breite des

Hauptmaximums doppelt so groß ist wie die der Ne-benmaxima. Die erhaltenen Bedingungen für die Beu-gungsstrukturen gelten in allen Ebenen senkrecht zurSpaltlänge. Bei der Beobachtung der Beugungsfigur imEndlichen mithilfe einer Linse entsteht daher in derenBrennebene ein System aus hellen und dunklen Strei-fen, die parallel zur Spaltlänge liegen.Wegen der starken Intensitätsabnahme der Neben-

maxima mit steigender Ordnungszahl k, können nurdie Beugungsstrukturen niedriger Ordnung beobach-tet werden. Damit aber auch dieses möglich ist, darfdie Spaltbreite d nicht wesentlich größer als die Wel-lenlänge λ sein, weil sonst die Minima und Maximabei zu kleinen Winkeln α liegen und nicht mehr ge-trennt wahrgenommen werden können. Bei Verwen-dung von weißem Licht entstehen auf dem Schirm imZentrum ein weißer Streifen und sonst farbige Strei-fen, da an jeder Stelle eine bestimmte Farbe durchInterferenz ausgelöscht wird, so dass die zugehörigeKomplementärfarbe auftritt.

Bestimmung der Wellenlänge monochromatischenLichtes aus der Breite des Hauptmaximums beiBeobachtung ohne Linse in großer EntfernungDie interferierenden Teilstrahlen können in großerEntfernung als parallel angesehen werden, d. h. es gel-ten die Bedingungen der Fraunhofer’schen Beugung(Gl. (1.7-7)). Wenn mit a die Entfernung der beiden1. Minima bezeichnet wird, gilt (s. Abb. 1.7-9)

sin α1 =λd= a

2L(1.7-10)

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138 1 Einführung in die physikalisch-chemischen Betrachtungsweisen, Grundbegriffe und Arbeitstechniken

Abb. 1.7-9 Bestimmung der Wellenlänge aus der Position vonMaxima und Minima.

und damit

λ = d ⋅ a2L

(1.7-11)

1.7.3 Fraunhofer’sche Beugung am Doppelspalt

Es sei d die Breite beider Spalte und D ihr gegen-seitiger Abstand, wobei D > d vorausgesetzt werde.Jeder Spalt entwirft einmal ein Beugungsbild, beideBeugungsbilder fallen zusammen und ergeben somitdas gleiche Interferenzmuster, das bei einem Einzel-spalt entsteht. Als weitere Erscheinung tritt aber nochhinzu, dass jetzt auch noch korrespondierende Strah-len aus beiden Spalten miteinander interferieren. Eskommt daher unter bestimmten Winkeln zu weiterenAuslöschungen, was zu einer Modulation des Einzel-spaltbildes führt (Abb. 1.7-10).Es sei E(α) die Amplitude des gebeugten Lichtes

in Richtung α aus einem Einzelspalt. Die Wellen ausRichtung α aus beiden Spalten, die einander korres-pondieren, haben einen Gangunterschied Δ = D sin αder einem Phasenunterschied von 𝜑 = (2π∕λ)D sin αentspricht. Die Gesamtamplitude ED(α) in Richtung αergibt sich dann durch die Addition der Einzelspalt-amplituden unter Berücksichtigung des Phasenunter-schiedes. Diese Addition kann wieder graphisch alsVektoraddition (siehe Abschnitt 1.7.2) erfolgen, als Er-gebnis folgt:

ED(α) = 2 E(α) cos (𝜑∕2) (1.7-12)

Für den Einzelspalt hatten wir erhalten:

ED(α) = E(0) ⋅sin ( πdλ sin α)

πdλ sin α

(1.7-13)

Abb. 1.7-10 Strahlengang bei der Beugung am Doppelspalt.

Damit folgt jetzt für die Intensität ID(α) ∼ E2D(α)des amDoppelspalt gebeugten Lichtes (wobei nochdie Beziehung sin 2β = 2 sin β cos β benutzt wird):

ID(α) = I0 ⋅⎡⎢⎢⎣sin ( πdλ sin α)

πdλ sin α

⎤⎥⎥⎦2

[sin ( 2πDλ sin α)

sin ( πDλ sin α)

]2(1.7-14)

Der erste Klammerterm rührt von der Beugungdurch die Einzelspalte her, der zweite Term hatseinen Ursprung in der Interferenz des gebeugtenLichtes aus beiden Spalten. Es gelten folgende Be-dingungen für die

Interferenzstrukturen (Abb. 1.7-11)

I. Klasse Minima: Maxima:(Einzelspalt): d sin α = kλ d sin α = (2k + 1) λ∕2

k = 1, 2, 3,…und α = 0

Interferenzstrukturen

II. Klasse: Minima: Maxima:D sin α = (2k′ + 1) λ∕2 D sin α = k′λk′ = 0, 1, 2,…

Die Winkelbreite des Hauptmaximums I. Klasse ist2λ∕d, die eines Maximums II. Klasse λ∕D. Daher lie-gen im Hauptmaximum z = (2λ∕d)∕(λ∕D) = 2D∕dMaxima II. Klasse.

Abb. 1.7-11 Intensitätsverteilungnach Beugung amDoppelspalt.

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1391.7 Beugungserscheinungen und reziprokes Gitter

1.7.4 Fraunhofer’sche Beugung am ebenenoptischen Strichgitter

Ein optisches Strichgitter besteht aus einer sehr gro-ßen Zahl paralleler (Abb. 1.7-12), äquidistanter Spalt-öffnungen in einem Schirm.Man benutzt meist Glasgitter, bei denen auf plan-

parallelen Glasplatten in gleichem Abstand paralleleFurchen geritzt werden (Rowland-Gitter). Die unver-letzten Stellen zwischen den Furchen wirken als licht-durchlässige Spalte. Die Zahl der Gitterspalte werdemit N bezeichnet. Der Abstand zweier entsprechen-der Punkte in aufeinanderfolgenden Öffnungen heißtGitterkonstante d. Die einzelne Spaltbreite nennenwirhier b. Man kann mit modernen Hilfsmitteln mehre-re tausend Spalten pro cm erzeugen, und die bestenGitter enthalten eine Gesamtzahl von über N = 105Strichen.Die Betrachtungen desDoppelspalts sind jetzt aufN

Spalte zu erweitern. Alle Spalte erzeugen einzeln iden-tische Beugungsbilder, die zusammenfallen und insge-samt das Beugungsbild des Einzelspalts ergeben. Da-neben aber interferieren noch unter gleichem Win-kel α verlaufende Elementarwellen aus allen Spaltenmiteinander. Die dabei entstehende Interferenzfigurmoduliert das Einzelspaltbeugungsbild. Das Zusam-menwirken der Elementarwellen zweier benachbar-ter Spalte wiederholt sich in allen weiteren Spalten.Die Gesamtamplitude unter demWinkel α ergibt sichdurch Addition der Teilamplituden unter Berücksich-tigung des Gangunterschiedes Δ = d sin α benachbar-ter Teilwellen. Als Intensitätsverteilung des gebeugtenLichtes folgt dann:

I(α) = I0 ⋅⎡⎢⎢⎢⎣sin(πbλ sin α

)πbλ sin α

⎤⎥⎥⎥⎦2

⎡⎢⎢⎢⎣sin(Nπdλ sin α

)sin(πdλ sin α

) ⎤⎥⎥⎥⎦2

(1.7-15)

Abb. 1.7-12 Strahlengang bei der Beugung amMehrfachspalt.

Wir schreiben diesen Ausdruck kurz in der FormI = I0 ⋅ I1 ⋅ I2 (Abb. 1.7-13).Der Term I1 bestimmt das Beugungsbild des Ein-

zelspaltes, der Term I2 die Modulation durch dieInterferenz des gebeugten Lichtes aus allen Spal-ten. Die beiden Terme haben unter folgenden Be-dingungen Extremalwerte:

Term I1: Maxima: b sin α =(2k′ + 1) λ∕2und α = 0 mit k′ =

±1,±2,±3,…Nullstellen: b sin α = k′λ

Term I2: Maxima: d sin α = kλund α = 0 mit k =

0,±1,±2,…Man nennt diese Maxima Hauptmaxima.

Nullstellen: d sin α =(k + m∕N)λ

mit k =0,±1,±2,±3,…und m =1, 2, 3,… ,(N − 1)

Zwischen zwei Hauptmaxima gibt es also N − 1 Null-stellen.Zwischen zwei aufeinanderfolgenden Nullstellen

liegt jeweils noch ein Nebenmaximum. Die Intensi-tät derNebenmaxima beträgt aber nur einen Bruchteilvon denen der Hauptmaxima und wird umso kleiner,je größer N ist.Die einemHauptmaximum folgende erste Nullstelle

liegt um so näher an diesem, je größer N ist, d. h. dieHauptmaxima sind um so schärfer, je größer die Zahlder Gitterstriche ist.Die Abb. 1.7-13 zeigt die gesamte Intensitätsvertei-

lung für den Fall N = 8.

Abb. 1.7-13 Intensitätsverteilungnach Beugung an achtSpalten.

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140 1 Einführung in die physikalisch-chemischen Betrachtungsweisen, Grundbegriffe und Arbeitstechniken

Abb. 1.7-14 Bestimmung der Auflösung.

Da dieHauptmaxima bei großer Zahl vonGitterstri-chen sehr scharf sind, kann mithilfe von Beugungsgit-tern die Wellenlänge des einfallenden Lichtes sehr ge-nau gemessen werden. Man bestimmt dazu die Win-kel α unter denen die Hauptmaxima der verschiede-nen Ordnungen k auftreten, und benutzt die Bezie-hung d sin α = kλ zur Berechnung von λ.Fällt Licht mit verschiedenen Wellenlängen auf ein

Gitter, so erzeugen – da sin α proportional zu λ ist –die verschiedenen Wellenlängen die Beugungsmaxi-ma bestimmter Ordnung unter verschiedenen Win-keln (Abb. 1.7-14). Eine Ausnahme bildet das Maxi-mumnullterOrdnung, das für alleWellenlängen unterα = 0 liegt. Das System der Maxima einer bestimm-ten Ordnung für alle Wellenlängen stellt ein Spek-trum des einfallenden Lichtes dar. Entsprechend derOrdnung derMaxima unterscheidenwir Spektren ers-ter, zweiter, dritter usw. Ordnung. In den Spektrenliegen jeweils die größeren Wellenlängen auch unterden größeren Winkeln. Dies ist genau entgegenge-setzt zum Spektrum, das von einem Prisma erzeugtwird.Die Möglichkeit, verschiedene Wellenlängen mit-

hilfe eines Beugungsgitters trennen zu können, wirdin den Gitterspektralapparaten ausgenutzt. Als Dis-persion des Gitters wird die Größe D = dα∕dλ defi-niert. Sie gibt die Größe des Winkelunterschieds dαan, den die Maxima gleicher Ordnung für die Wel-lenlängen λ und λ + dλ besitzen. Aus der Beziehungd ⋅ sin α = kλ folgt d ⋅ cos α = k ⋅ dλ

dα und damit für die

Dispersion des Gitters

D = dαdλ

= kd ⋅ cos α

(1.7-16)

Die Dispersion ist hiernach umso größer, je höher dieOrdnung der Beugung und je kleiner die Gitterkon-stante ist.Die Leistungsfähigkeit eines Spektralapparates zur

Trennung verschiedener Wellenlängen wird durchsein spektrales Auflösungsvermögen λ∕dλ gekenn-zeichnet. Dabei sind λ und λ + dλ zwei Wellenlängen,

die gerade noch deutlich unterschieden werden kön-nen. Beim Gitter ist das gerade der Fall, wenn das Ma-ximum k-ter Ordnung für die Wellenlänge λ + dλ indas erste Minimum k-ter Ordnung für die Wellenlän-ge λ fällt. Esmuss daher gelten d ⋅ sin α = (k+1∕N)λ =k(λ + dλ) (Abb. 1.7-14).Daraus folgt für das

Auflösungsvermögen des Gitters

λ∕ dλ = kN . (1.7-17)

Aus Intensitätsgründen können beim Gitter immernur die Spektren niedriger Ordnung beobachtet wer-den. Um ein ausreichendes Auflösungsvermögen zuerreichen, muss daher die Zahl N der Gitterstricheentsprechend groß gewählt werden. Das gelbe Lichteiner Natrium-Dampflampe besteht aus einem Ge-misch vonWellen mit zwei engbenachbarten Wellen-längen von λ1 = 5890Å und λ2 = 5896Å. Im Git-terspektrum liefert jede Wellenlänge eine Linie, mannennt diese Linien die D-Linien des Natriums. Wirdin erster Ordnung beobachtet, so ist für ihre Trennungein Auflösungsvermögen von λ∕ dλ = 5890∕6 ≈ 103nötig, d. h., es muss ein Gitter mit mindestens 1000Gitterstrichen benutzt werden. Für die Spektroskopiemit sehr hoher Auflösung (Untersuchung der Fein-und Hyperfeinstruktur der Spektrallinien der Atome)stehen Gitter mit N = 105 und mehr zur Verfügung.Die größte Zahl vonGitterstrichen erzielt man bei densog. Reflexionsgittern, bei denen dünne Furchen aufMetallflächen (Gold) geritzt werden. Im Gegensatz zuden Transmissionsgittern wird bei den Reflexionsgit-tern die Interferenz der von den nicht beschädigtenSpalten in rückwärtiger Richtung ausgehenden Ele-mentarwellen ausgenutzt.

1.7.5 Fraunhofer’sche Beugung am Kreuzgitter

Ein zweidimensionales Beugungsgitter oder Kreuzgit-ter entsteht, wenn zwei Strichgitter gekreuzt überein-andergelegt werden (Abb. 1.7-15).

Abb. 1.7-15 Beispiel für ein zweidimensionales Gitter.

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1411.7 Beugungserscheinungen und reziprokes Gitter

Abb. 1.7-16 Gangunterschied zwischen interferierendenStrahlen bei senkrechtem Einfall.

Wir wollen nur den Fall senkrechter Kreuzung be-trachten. Lichtdurchlässig sind jetzt nur noch dieKreuzungsstellen, ein Kreuzgitter liegt daher auchvor, wenn ein lichtundurchlässiger Schirm an denKreuzungsstellen zweier gekreuzter Strichgittersys-teme jeweils kleine gleichartige Öffnungen besitzt.Wird ein solches Gitter mit parallelem monochroma-tischem Licht bestrahlt, so entsteht als Beugungsfigurin Fraunhofer’scher Beobachtung ein System hellerPunkte. Diese Beugungsmaxima liegen in den Schnitt-punkten eines rechteckigen Netzes.Die Beugungsfigur entsteht durch Interferenz der

Elementarwellen aus den einzelnen Öffnungen. DasKreuzgitter liege in der xy-Ebene und habe die Git-terkonstanten d1 in x-Richtung und d2 in y-Richtung.Die Bestrahlung des Gitters erfolge in z-Richtung. DieWinkel, die ein abgebeugter Strahl mit der x- undy-Achse bildet, werden mit α und β bezeichnet. Zweiäquivalente Strahlen aus zwei in x-Richtung aufein-anderfolgenden Öffnungen, die mit der x-Achse denWinkel α bilden, haben einen Gangunterschied Δ1 =d1 cos α (Abb. 1.7-16).Würden also nur solche Elementarwellen miteinan-

der interferieren, die von Öffnungen ausgehen, wel-che jeweils in x-Richtung aufgereiht sind, so entstän-den Maxima unter allen Richtungen, für die der Win-kel α der Bedingung d1 cos α = k1λ genügt. Entspre-chend folgt, dass die Interferenz allein solcher Ele-mentarwellen, die aus Öffnungen stammen, welche je-weils in y-Richtung aufgereiht sind, unter allen Rich-tungenMaxima liefernwürde, für die derWinkel β derBedingung d2 cos β = k2λ genügt. Tatsächlich interfe-rieren aber die Elementarwellen aus beiden Systemenvon Öffnungen, daher erscheinen nur unter solchenRichtungen (α, β) Maxima, für die gleichzeitig beideBedingungen erfüllt sind, also sind die

Bedingungen für Helligkeitsmaxima beim Kreuz-gitter

d1 cos α = k1λd2 cos β = k2λmit k1, k2 = 0,±1,±2,…

Jeder helle Lichtpunkt im Beugungsbild ist durchein Paar ganzer Zahlen (k1, k2) bestimmt. Wie beimStrichgitter sind die Maxima umso deutlicher ausge-prägt, je größer die Zahl der Öffnungen im Gitter ist.Bei Einstrahlung von weißem Licht tritt an die Stelleeinfarbiger Lichtpunkte ein System von farbigen Spek-tren. Solche Kreuzgitterspektren können leicht beob-achtet werden, wenn man eine Lichtquelle durch einfeines Drahtnetz oder ein feinmaschiges Stoffgewebe(Seide, Bespannung des Regenschirms, Gardinen) be-trachtet.Das Beugungsbild des Kreuzgitters entsteht auch,

wenn anstelle eines Schirms mit Öffnungen eineentsprechende komplementäre Anordnung aus klei-nen undurchsichtigen Teilchen benutzt wird (Babi-net’sches Theorem).

1.7.6 Fraunhofer’sche Beugung am Raumgitter,Röntgenstrahlinterferenzen

Wenn sich nunmehr in z-Richtung in Abständen d3ein ebenes Punktgitter periodisch wiederholt, ent-steht ein dreidimensionales Gitter oder Raumgitter(Abb. 1.7-17).Natürliche Gitter dieser Art stellen die Einkristalle

dar; bei diesen bilden Atome,Moleküle oder Ionen dieGitterpunkte. Die Abstände der Gitterpunkte, also dieGitterkonstanten d1, d2 und d3 sind bei den Kristall-gittern von derGröße einiger Ångström.Das einfachs-te Raumgitter ist das kubische Gitter, bei dem die dreiGitterkonstanten gleich groß sind. In diesem Gitterkristallisiert z. B. Pt, die Gitterkonstante beträgt hierd = 3.92Å. Zur Erzeugung von Beugungserscheinun-gen mit einem Raumgitter ist es wie bei den Strich-und Kreuzgittern erforderlich, dass die Wellenlängender eingestrahlten Primärstrahlung die Größenord-nung der Gitterkonstante hat. Beugungserscheinun-gen anKristallgittern tretendaher auf beiVerwendungvon Röntgenstrahlung mit Wellenlängen im Bereichvon etwa 1–10Å. Ähnlich wie beim Kreuzgitter be-stehen die auf einem Schirm (photographische Plat-te) aufgefangenen Beugungsfiguren aus einem System

Abb. 1.7-17 Dreidimensionale Gitter.

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142 1 Einführung in die physikalisch-chemischen Betrachtungsweisen, Grundbegriffe und Arbeitstechniken

Abb. 1.7-18 Gangunterschiede zwischen interferierendenStrahlen bei schiefem Einfall.

punktförmiger Intensitätsmaxima. Die Beugungsfigu-ren können in Transmission und Reflexion beobach-tet werden. Einen Vektor, der von einem willkürlichgewähltem Ursprung zu einem Punkt auf deren Git-ter führt, kann man schreiben als R = n1 d1 + n2 d2 +n3d3, wobei n1 , n2 und n3 ganze Zahlen und d1, d2und d3 die Einheitsvektoren des Gitters sind.Wir bezeichnen die Richtungswinkel, die eine be-

stimmte Raumrichtung mit der x-, y- und z-Achsebilden, mit α, β und γ. Fällt ein Röntgenstrahlbündelder Wellenlänge λ auf das Kristallgitter, so wird jederGitterpunkt (Atom, Ion) zur Emission von kohären-ter Streustrahlung angeregt, die die gleiche Wellen-länge wie der Primärstrahl hat und sich als Kugelwel-le ausbreitet. Die Streuwellen interferieren miteinan-der. In bestimmten Raumrichtungen tritt Verstärkungauf, d. h. auf einem Schirm erscheinen an den entspre-chenden Stellen punktförmige Intensitätsmaxima. DieRichtungswinkel α, β und γ dieser Maxima ergebensich analog der Betrachtung beimKreuzgitter.Das Pri-märbündel falle unter den Winkeln α0, β0 und γ0 aufden Kristall (Abb. 1.7-18).

Die Gangdifferenz von Streustrahlen, die von inx-Richtung benachbarten Gitterpunkten ausgehen,ist:

Δ1 = d1 cos α − d1 cos α0 = d1(cos α − cos α0)(1.7-18)

Entsprechende Beziehungen gelten für die Gang-unterschiede von Strahlen, die von in y- undz-Richtung benachbarten Gitterpunkten ausge-hen. Damit ergeben sich folgende Bedingungenfür Interferenzmaxima beim Raumgitter, die auchLaue’sche Interferenzgleichungen genannt werden(1912 von Max v. Laue angegeben):Bedingungen für Interferenzmaxima beim

Raumgitter

d1(cos α − cos α0) = k1λ (1.7-19)

d2(cos β − cos β0) = k2λ (1.7-20)

d3(cos γ − cos γ0) = k3λ (1.7-21)

mit k1, k2, k3 = 0,±1,±2,…

Zu den Laue’schen Gleichungen kommen als Neben-bedingungen noch die im rechtwinkligen Koordina-tensystem für die Richtungswinkel gültigen folgendenBeziehungen hinzu:

cos2 α0 + cos2 β0 + cos2 γ0 = 1 (1.7-22)

cos2 α + cos2 β + cos2 γ = 1 (1.7-23)

Wegen dieser Nebenbedingungen sind die Inter-ferenzgleichungen bei vorgegebenen Werten fürα0, β0, γ0, sowie d1, d2 und d3 im Allgemeinen nichtmit ganzen Zahlen k1, k2 und k3 zu erfüllen. Zu je-dem Zahlentripel k1, k2, k3 gibt es nur eine einzigeWellenlänge, die die Interferenzgleichungen erfüllt.Sie folgt aus den fünf Bedingungsgleichungen

(1.7-19 bis 1.7-23) zu:

λ = −2 ⋅k1d1

cos α0 +k2d2

cos β0 +k3d3

cos γ0(k1d1

)2+(k2d2

)2+(k3d3

)2 (1.7-24)

Im Gegensatz zum Strich- und Kreuzgitter werden al-so beimRaumgitter nur ganz bestimmteWellenlängengebeugt. Strahlt man dagegen ein ganzes Wellenlän-genkontinuum („weißes“ Röntgenlicht) ein, so suchtsich das Raumgitter aus dieser Gesamtheit gerade dieWellenlängen heraus, die obiger Bedingungsgleichungfür λ mit ganzen Ordnungszahlen k1 , k2, k3 genü-gen. Die Beugungsmaxima sind also auch dann mo-nochromatisch. Bei bekannten Gitterkonstanten kannaus der Anordnung der Interferenzpunkte die Wel-lenlänge des gebeugten Röntgenlichtes bestimmt wer-den. Bei unbekannten Kristallen kann aus der Anord-nung und Intensität der Interferenzpunkte die räumli-che Anordnung der Gitterbausteine, also die Kristall-struktur ermittelt werden.Die geschilderte Röntgenstrahlbeugung an Einkris-

tallen kann nach W.L. Bragg (Vater und Sohn, 1913)auch als Interferenz von Strahlen gedeutet werden,die an parallelenNetzebenen reflektiert werden. Netz-ebenen sind Ebenen im Kristall, die mit Gitterbau-steinen besetzt sind. In einem Kristall sind immereine große Zahl von Systemen einander parallelerNetzebenen vorhanden, in ihrer Gesamtheit umfas-sen sie alle Punkte des Gitters. Das einfallende Rönt-genstrahlbündel bildemit denNetzebenen einerNetz-ebenen-Schar einenWinkel ϑ, man nennt diesenWin-kel Glanzwinkel. Von allen Punkten der Netzebenen-Schar gehen kohärente Streuwellen aus. Betrachtetwird jetzt die Interferenz der Streustrahlen, die mitden Netzebenen ebenfalls denWinkel ϑ bilden und soverlaufen, als wären sie die zu den einfallenden Strah-len an den Netzebenen reflektierten Strahlen.

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1431.7 Beugungserscheinungen und reziprokes Gitter

Abb. 1.7-19 Beugung an Netzebenen bei schiefem Einfall zurAbleitung der Bragg’schen Gleichung.

Es kommt dann zur Verstärkung aller Streustrah-len, wenn der Gangunterschied benachbarter „re-flektierter“ Strahlen aus zwei aufeinanderfolgendenNetzebenen ein ganzzahliges Vielfaches der Wel-lenlänge ist. Ist d der Abstand der Netzebenen, sofolgt für den Gangunterschied (Abb. 1.7-19) (Dieswurde bereits in Abschnitt 1.4.4, Gl. (1.4-14) be-handelt):

Δ = 2AB = 2d sin ϑ (1.7-25)

Somit ergibt sich einMaximum der Röntgenstrahl-intensität, wenn der Glanzwinkel der folgendenBragg’schen Bedingung genügt:

2d sin ϑ = kλ k = 0, 1, 2,…

Man kann beweisen (wir wollen darauf aber hierverzichten, werden aber den Zusammenhang weiterunten erkennen), dass die von-Laue-Gleichung unddie Bragg’schen Gleichungen gleichbedeutend sind.DurchMessung derGlanzwinkel ϑ, dieMaxima der aneiner Netzebenen-Schar reflektierten Röntgenstrah-lung kann die Wellenlänge der Strahlung ermitteltwerden, wenn der Netzebenenabstand d bekannt ist,und umgekehrt (Kristallspektrometer für Röntgen-strahlung). Zur Bestimmung des Netzebenabstands dmuss mit monochromatischer Röntgenstrahlung ein-gestrahlt werden (Gl. 1.7-25).Dies ist die Grundlage der Röntgenstrukturanalyse.

Bei der Bestimmung des Gitters rotiert man die Ein-kristallprobe relativ zum einfallenden Röntgenstrahlund bestimmt mit einem Detektor für Röntgenstrah-lung die gestreute Intensität als Funktion dieses Win-kels (Abb. 1.7-20).Das oben abgeleitete Zahlentripel k1, k2, k3 wird

häufig durch das Buchstabentrio h, k, l ersetzt. Mannennt dieses Zahlentripel „Miller’sche Indizes“. Eswird als (hkl), also etwa (100), (111) oder (211), ange-geben. Negative Indizes werden mit einem Überstrichgekennzeichnet, z. B. (110). Ein solches Zahlentripel

Abb. 1.7-20 Schematische Darstellung eines Drehkristall-Diffraktometers für Röntgenstrahlen nach dem Bragg’schenReflexionsverfahren.

(111) wurde in Abb. 1.7-3 zur Angabe der Einstrah-lungsrichtung des Röntgenlichtes verwendet.Zum Schluss dieses Abschnitts wollen wir eine ele-

gantere Darstellung der möglichen Interferenzmaxi-ma vorstellen und den Begriff des „reziproken Gitter-vektors“ einführen.Wir gehen davon aus, dass der Ab-stand zweier Punkte, an denen das einfallende Lichtgestreut wird, durch einen Gittervektor

R = n1d1 + n2d2 → +n3d3 (1.7-26)

wie zu Beginn des Abschnitts definiert, gegeben ist.Der Wellenvektor k0 der einfallenden Welle sowiederjenige der gestreuten Welle k haben natürlich, daes sich ja um elastische Streuung handelt, denselbenBetrag, aber die Richtung, die den Gangunterschiedbestimmt, hat sich naturgemäß geändert. Die Rich-tungsänderung ist in den Laue’schen Interferenzglei-chungen durch die Differenz der Richtungskosinus,z. B. cos α des gestreuten und cos α0 des einfallendenStrahls berücksichtigt. Für die Richtungskosinus einesVektors a = (ax , ay , az) gilt allgemein

cos αi =ai|a| mit i = x, y, z (1.7-27)

wobei |a| wie oben den Betrag des Vektors darstellt.Man kann dann statt Gl. (1.7-19) auch schreiben

Δ1 = Rx ⋅

(kx|k| − k0x|k0|

)= k1λ mit Rx = n1d1

(1.7-28)

Entsprechende Beziehungen lassen sich für die y- unddie z-Richtung aufschreiben. Diese drei Gleichungenkannman zu einemAusdruck für den gesamtenGang-unterschied Δ zusammenfassen:

Δ = Δ1 + Δ2 + Δ3 = R ⋅

(k|k| − k0|k0|

)(1.7-29)

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144 1 Einführung in die physikalisch-chemischen Betrachtungsweisen, Grundbegriffe und Arbeitstechniken

Für konstruktive Interferenz muss gelten

Δ = mλ mit m = k1 + k2 + k3 = 0,±1,±2,…(1.7-30)

Nutzt man noch die Beziehung

|||k||| = |k0| = 2πλ

(1.7-31)

erhält man für das Skalarprodukt

R ⋅ (k − k0) = 2π ⋅ m (1.7-32)

Diese Gleichung ist mathematisch äquivalent zu

eiR⋅(k−k0) = ei⋅2π⋅m = 1 (1.7-33)

Dies bedeutet, dass das Skalarprodukt der Vektoren Rund K = k − k0 denWert null ergeben muss, die Vek-toren also senkrecht aufeinander stehen. Man nenntdeshalb den Vektor K den reziproken Gittervektor.Wenn e1 , e2 , e3 die Einheitsvektoren des reziprokenGitters bezeichnen und d1 , d2 , d3 die Einheitsvekto-ren des realen Gitters, gilt

K = k1 e1 + k2 e2 + k3 e3 (1.7-34)

und

ei ⋅ d j = 2πδi j i, j = 1, 2, 3 ; δi j : Kronecker-Symbol

Auch die Einheitsvektoren des realen und des rezipro-ken Gitters stehen also senkrecht aufeinander.

Bildet man nun das Skalarprodukt der Vektoren Rund K , so ergibt sich

d1 ⋅ K = 2π ⋅ k1 (1.7-35)

d2 ⋅ K = 2π ⋅ k2 (1.7-36)

d3 ⋅ K = 2π ⋅ k3 (1.7-37)

Dies sind aber genau die oben abgeleiteten Laue-Gleichungen. Zwei wichtige Resultate ergeben sichdaraus:

1. Die Miller’schen Indizes sind die Vorfaktoreneines reziproken Gittervektors.

2. Man erhält genau dann konstruktive Interfe-renz, wenn die Änderung des Wellenvektorsbeim Streuprozess einem reziproken Gittervek-tor entspricht.

Das bedeutet: Die Punkte, die sich bei Durchstrahlungeines Gitters oder in Reflexion an Netzebenen erge-ben, sind dieGitterpunkte des zugehörigen reziprokenGitters. Die Punkte des reziproken Gitters haben diegleiche Symmetrie wie das Realgitter. Die Länge derGittervektoren im Realraum und im reziproken Raumverhält sich reziprok, d. h. je länger ein Einheitsvek-tor im Realraum ist, umso kürzer ist er im reziprokenRaum.

1.7.7 Kernpunkte des Abschnitts 1.7

✓⃞ Licht als elektromagnetische Strahlung, Gl. (1.7-1)✓⃞ Fresnel’sche und Fraunhofer’sche Beugung,

Abschnitte 1.7.1 bis 1.7.6✓⃞ Winkelverteilung der am Spalt gebeugten

Strahlung, Gl. (1.7-6)✓⃞ Haupt- und Nebenmaxima, Abschnitt 1.7.2✓⃞ Winkelverteilung der an mehreren Spalten

gebeugten Strahlung, Gl. (1.7-15)✓⃞ Dispersion des Gitters, Gl. (1.7-16) und Auflösung✓⃞ Laue-Gleichung, Gl. (1.7-19)–(1.7-21)✓⃞ Reziprokes Gitter, Abschnitt 1.7.6✓⃞ Röntgendiffraktometer nach dem Laue-Verfahren

und nach dem Bragg’schen Reflektionsverfahren,Abschnitt 1.7.6

1.7.8 Rechenbeispiele zu Abschnitt 1.7

1 Mit Licht der Wellenlänge λ = 532nm wird einEinfachspalt beleuchtet. Auf einem 60 cm hinter demSpalt aufgestellten Schirm (Abstand a) entsteht ein In-terferenzmuster. Man beobachtet die beiden Minimaerster Ordnung in einem Abstand d von 2.1 cm. Be-rechnen Sie die Spaltbreite l.

2 Ein Gitter mit 400 Strichen pro Millimeter wirdmit Laserlicht der Wellenlänge 670nm senkrecht be-leuchtet. Das Beugungsbild wird in einem Abstandvon d = 50 cm aufgenommen. In welchem Abstand xbefinden sich Lichtpunkte 1. Ordnung?

3 Man beleuchtet das Gitter mit dem Laserstrahlnicht senkrecht, sondern unter einemWinkel von 45°.Unter welchem Winkel treten die gebeugten Strahlenhinter dem Gitter aus?

1.7.9 Literatur zu Abschnitt 1.7

Freund, H.-J. (1989/90) Unterrichtsmaterialien zur Vor-lesung „Physikalische Chemie I“ , Ruhr-Universität Bo-chum.