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5/11/2018 1GeistUndVerdauungTuebingen-slidepdf.com http://slidepdf.com/reader/full/1-geist-und-verdauung-tuebingen 1/21 Titel: Geist und Verdauung Untertitel: Nicht nur die Zunge erfreut sich beim Essen  Autor: Dr. Christian Denker, Universität Wien Publikation: „Geist und Verdauung: Nicht nur die Zunge erfreut sich beim Essen“, Gastrosophical Turn: Essen zwischen Medizin und Öffentlichkeit“, C. Hoffstadt u.a. (Hg.), Projekt Verlag, Freiburg, 2009.  Abschnitt 1.) Verdauung: ein philosophisches Thema Die Philosophie hat den Raum möglicher Begriffe mit Geduld und enzyklopädischem Scharfsinn vermessen. Zwischen „A“ wie „A ist A“ und „Z“ wie „Zynismus“ sind Lücken selten, „i“-Tüpfelchen setzt das Internet. Unter dem Suchbegriff „Philosophie der Verdauungfindet sich allerdings wenig Wissenswertes. „Verdauungsphilosophie“ gilt oft als Schimpfwort. Das ist erstaunlich, insofern Verdauung die Gedanken großer und kleiner Geister seit jeher beflügelt hat. Bemerkungen zur Verdauung ziehen sich wie ein roter Faden durch die Geschichte der abendländischen Philosophie 1 . Insbesondere unser Verständnis des Begriffs „Geist“ ist an „Verdauung“ gekoppelt. Überlegungen von Platon, Aristoteles, Seneca, Augustinus, Montaigne, Descartes, Kant, Hegel, Nietzsche und Foucault schaffen Bezüge 1 Auch in anderen philosophischen Traditionen, etwa in asiatischen oder arabischen Kulturen, ist die Verdauung ein wiederkehrendes Thema. Eine kulturübergreifende Studie liegt nach meinem Wissen nicht vor.

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Titel:

Geist und Verdauung

Untertitel:

Nicht nur die Zunge erfreut sich beim Essen

 Autor:

Dr. Christian Denker, Universität Wien

Publikation:

„Geist und Verdauung: Nicht nur die Zunge erfreut sich

beim Essen“, Gastrosophical Turn: Essen zwischen Medizin

und Öffentlichkeit“, C. Hoffstadt u.a. (Hg.), Projekt

Verlag, Freiburg, 2009.

 Abschnitt 1.) Verdauung: ein philosophisches Thema

Die Philosophie hat den Raum möglicher Begriffe mit

Geduld und enzyklopädischem Scharfsinn vermessen.

Zwischen „A“ wie „A ist A“ und „Z“ wie „Zynismus“ sind

Lücken selten, „i“-Tüpfelchen setzt das Internet. Unter

dem Suchbegriff „Philosophie der Verdauung“ findet sich

allerdings wenig Wissenswertes. „Verdauungsphilosophie“

gilt oft als Schimpfwort.

Das ist erstaunlich, insofern Verdauung die Gedanken

großer und kleiner Geister seit jeher beflügelt hat.

Bemerkungen zur Verdauung ziehen sich wie ein roter Faden

durch die Geschichte der abendländischen Philosophie1.

Insbesondere unser Verständnis des Begriffs „Geist“ ist

an „Verdauung“ gekoppelt. Überlegungen von Platon,

Aristoteles, Seneca, Augustinus, Montaigne, Descartes,

Kant, Hegel, Nietzsche und Foucault schaffen Bezüge

1 Auch in anderen philosophischen Traditionen, etwa in asiatischen

oder arabischen Kulturen, ist die Verdauung ein wiederkehrendesThema. Eine kulturübergreifende Studie liegt nach meinem Wissen nichtvor.

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zwischen geistigen und digestiven Vorgängen. Einen

möglichen Ansatzpunkt für die Ausarbeitung einer

„Philosophy of Digestion“ gibt John Searle: „Geistige

Ereignisse und Vorgänge gehören genauso zu unserer

biologischen Naturgeschichte wie Verdauung, Mitose,

Meiose oder Enzymsekretion“2.

Assoziationen mit Nachttopf, Stuhlgang und Kuhfladen

behindern die philosophische Beschäftigung mit der

Verdauung allerdings. Dabei hat der Aufschluss vom

Nahrung im Verdauungstrakt mit „Kot“ bzw. „Fäzes“ oder

„Exkrementen“ nur insofern etwas zu tun, als der

Verdauungsschlauch unverdauliche Substanzen durch den

Anus ausscheidet. Verdauung ist der Anlass für die

Entwicklung von Ess- und Toilettenkulturen. Es wäre

irreführend, ihre Bedeutung auf unseren Umgang mit ihren

Ausgangs- oder Endprodukten zu reduzieren.

Nichtsdestoweniger gehören Überlegungen zur Verdauung

nicht zum gewöhnlichen Themenkanon der akademischen

Philosophie. Manche Autoren historischer Abhandlungen

erscheint sie für die Erledigung ihrer Denkgeschäfte als

völlig nebensächlich. Willentliche Unterdrückung von

Querverweisen ist keine Ausnahme. Einträge in den

philosophischen Indexen fehlen bisweilen auch in jenen

Werken, die Verdauung ausdrücklich thematisieren.

Einschlägige Texte werden spät, schlecht oder gar nicht

editiert3. Die Ausgrenzung der Verdauung geht einher mit

der philosophischen Nachordnung des Körpers hinter dem

Geist. Aber ist Verdauung nicht eine Voraussetzung

geistiger Tätigkeit, ähnlich der Atmung, dem

Blutkreislauf oder der Nerventätigkeit?

2 John R. Searle, Die Wiederentdeckung des Geistes, Frankfurt a. M.,1996, S. 13.

3 Montaignes Tagebuch einer Badereise gibt ein Beispiel. Siehe dazuConcetta Cavallini, Cette belle besogne: étude sur le Journal devoyage de Montaigne, Paris, 2005.

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Wir wissen aus eigener Erfahrung, dass die Funktion der

Verdauung auf unsere geistige Fassungskraft wirkt. Zwar

stehen und fallen die Gesetze der Logik nicht mit den

Freuden und Leiden unseres Bauches, doch auch unsere

Verdauung ist nicht den Gesetzen der Logik unterworfen!

Dass unser Bauch in „harten“, „analytischen“ oder „streng

akademischen“ Denktraditionen kaum Beachtung findet,

spricht nicht gegen die philosophische Bedeutung der

Verdauung. Fragwürdig scheinen dagegen allzu rigide

Einschränkungen philosophischer Tätigkeiten und

Begriffsbildungen.

Liebe zur Weisheit und Liebe zum Bauch schließen sich

nicht aus. „Gastrosophie“4 bereichert unsere

epistemologischen, ethischen und ästhetischen

Urteilsformen um „innerliches“ Erleben. Die Entwicklung

eines digestiven Paradigmas der Philosophie könnte helfen

begrifflich-symbolische Verbohrungen zu vermeiden. Der

Wille zur gelingenden Verdauung beruht auf klarenGedanken, emotionaler Gewissheit und gemeinem

Menschenverstand. Verdauung liefert Bezugspunkte für

sinnvolle Entwicklungen im Besonderen und im Allgemeinen.

Verdauungsgewissheiten („Verstopfung ist unangenehm“,

„Nahrungsaufnahme ist lebenswichtig“, „Getränke stillen

den Durst“) bestehen unabhängig von ihrer gedanklichen

Erfassung. Ihnen kommt eine kulturübergreifende

Allgemeingültigkeit zu, die nicht allein akademischen

Fachkreisen leicht nachvollziehbar ist. Verdauung wandelt

Dasein in Sein und Sein in Dasein5.

4 Gastrosophie beschränkt sich nicht auf Überlegungen zum Essen odergar zur Feinschmeckerei. Die Erlebnisse unserer Zungen sind Aspekteder komplexen Assimilationsprozesse, die unsere Bäuche „innerlich“bewegen. Hieraus erklärt sich das „tiefe“ philosophische Interesseder gastrosophischen Forschung. Auch die nachhaltigen Wirkungen vonStuhlgängen sind dabei bedeutungsvoll. Kurz und gut: Unser Interesse

am Essen gründet im sinnlichen Reichtum des Bauches, nicht umgekehrt.5 Die begriffliche Reichhaltigkeit der Verdauung wird in diesemArtikel allenfalls angedeutet. Eine eingehende Studie zur

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Die nun folgende Argumentation stützt die Hypothese, dass

Verdauung und Geist keine streng trennbaren Entitäten

sind, sondern gleichermaßen unverzichtbare Aspekte

unserer persönlichen, kulturellen und sprachlichen

Entwicklung.

Gegenüber anderen lebenswichtigen Funktionen des Körpers

nimmt die Verdauung eine besondere Stellung ein. Wer

verdauen will, muss Nahrung aufnehmen. Auch wenn dies

ohne bewusste Entscheidungsprozesse geschehen kann, prägt

die Verdauung doch unsere geistige Entwicklung. Das

unterstreichen schon Überlegungen von Hippokrates zum

Zusammenhang zwischen Psyche und Verdauung6. Eine moderne

Prägung erhält die Erforschung dieses Zusammenhangs

durch Freuds Gedanken zu oralen und analen Aspekten der

frühkindlichen Entwicklung, wobei die digestiven Aspekte

des Schluckens und Ausscheidens unterbewertet scheinen.

Jedenfalls hält Fritz Perls die Kopplung von Hunger und

Aggression auf rein sexueller Grundlage für schwerlicherklärbar. Er verortet die Quelle der Aggression in der

Entwicklung und dem Gebrauch des Zahnwerkes7. Ein Hund der

nach einer Wurst schnappe, folge weniger seinem

Genitaltrieb, als dem Verlangen nach Nahrung. Dahinter

stehe Lust an vermehrter Darmtätigkeit und an der

Steigerung des geistigen Stoffwechsels. Lässt sich

hieraus eine speziell philosophische Bedeutung der

Verdauung für die Entwicklung des Geistes ableiten?

Stellvertretend für viele Philosophen wendet sich Rudolf

Steiner gegen eine digestive Grundlegung des Geistes8. Das

philosophischen Bedeutung der Verdauung ist ein Desiderat.6 Hippokrates, „Lebensordnung Buch IV, Die Träume“, In: Die Werke desHippokrates, Stuttgart, Leipzig, 1934, S. 40-57.7 Frederik S. Perls, Das Ich, der Hunger und die Aggression,

Stuttgart, 1969, S. 140ff.8 Rudolf Steiner, Die Philosophie der Freiheit, Frankfurt a. M.,1985, S. 48.

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Denken könne zwar sich selbst reflektieren, die Verdauung

sich aber nicht selbst verdauen. Nur scheinbar könne dem

Satze ‚wir müssen denken, bevor wir das Denken

betrachten’ gleichberechtigt entgegenstellet werden, dass

wir auch mit dem Verdauen nicht warten können, bis wir

den Vorgang des Verdauens beobachtet haben. Laut Steiner

wäre dies ein Einwand ähnlich dem, den Pascal an

Descartes richtete, indem er behauptete, man könne auch

sagen: ‚ich gehe spazieren, also bin ich’. Steiner nimmt

an, dass wir ganz gewiss auch resolut verdauen müssen,

bevor wir den physiologischen Prozess der Verdauung

studieren können. Aber mit der Betrachtung des Denkens

ließe sich das nur vergleichen, würden wir die Verdauung

nicht denkend betrachten, sondern auch essen und

verdauen.

Dem lässt sich entgegenzuhalten, dass das Denken seine

Unabhängigkeit von der Verdauung nur dann behaupten kann,

wenn die Verdauung keine notwendige Voraussetzung desDenkens ist. Doch wie sollen wir uns Wesen vorstellen,

die denken ohne zu verdauen? Idealistische Grundlegungen

des Geistes durch den Geist bleiben problematisch: einem

Geist, der sich selbst durch Berufung auf seine eigene

Tätigkeit erklärt, bleibt einsam. Erinnern wir uns an

Kants Einsicht, dass Gedanken ohne Inhalt leer,

Anschauungen ohne Begriffe blind sind. Im Gegensatz zu

den Spaziergängen Pascals ist Verdauung eine –nach

unserem derzeitigen Wissenstand– unverzichtbare

Vorraussetzung zur Entwicklung von Gedanken und

Anschauungen9.

9 Ich danke Fabian Goppelsröder für den Hinweis, dass die Reflexiondes eigenen Denkens besonderen Regeln folgt, aber nicht den absolutenGrund des Denkens bildet. Reflektiertes Denken sei immer dieSelbstgewissheit einer Praxis, die im Moment ihrer Nichtausübung

möglich werde, zum Beispiel im Falle des Cogito ergo sum oder wennWittgensteins Spaten sich auf hartem Felsen zurück biegt. Insofernsei auch Pascals Einwand nicht ganz verkehrt: wir können die

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Digero ergo sum, wir sind und wir verdauen. Die Verdauung

wirkt weltbildend und weltverschlingend, längst noch

bevor sich ein Geist mit ihr beschäftigt. Erst im Verlauf

der Naturgeschichte hat sich der Verdauungsschlauch

überhaupt mit Accessoires wie Lunge, Knochengerüst und

Haupthirn umgeben. Sicher ist Verdauung nicht die

einzige, universelle und ewige Grundlage aller

philosophischen Wissenschaft. Aber als eine spezielle

Form des Stoffwechsels verbindet sie uns mit

verschiedenartigsten anderen Lebensformen. Bei der

Bestimmung unserer Einbettung in das ökologische Gefüge

sollte die Bedeutung der Verdauung für die Entwicklung

des Geistes berücksichtigt werden.

 Abschnitt 2.)

Eine kurze Problemgeschichte

In frühen Schriften der Ägypter, wird das Leben als kurz

und die Gegenwart als unfassbar bezeichnet10. Ein „rmt r 

h“, also ein „Mensch der weiß“, solle sich selbst genügen

und in Notfällen auf die ihm eigenen moralischen

Grundlagen verlassen können. Diese Autonomie erlaube ihm

die Vorbereitung auf Verzweiflung, Krankheit, Ruin,

feindliche Umwelt und Tod. Körperliche und geistige

Tätigkeiten rechnen dabei gleichermaßen zum Erwerb der

Weisheit. So erklärt sich, dass neben der Lunge auch

Milz, Leber und Darm in Grabbeilagen, Leber und Galle inOpfergaben Verwendung fanden. Die Pflege und Achtung der

Verdauungsfunktionen war nicht auf das physische

Wohlergehen beschränkt, sondern wurde für die geistige

Verfassung als förderlich angesehen. Eine Vielzahl von

Erfahrung der Selbstgewissheit in jeder Praxis machen, besonderseindrücklich im Moment von Verdauungsstörungen.10 Françoise de Cenival, „Individualisme et désenchantement, une

tradition de la pensée égyptienne“, In: Religion und Philosophie imalten Ägypten: Festgabe für Philippe Derchain, hg. Ursula Verhoeven,Erhart Graefe, Leuven, 1991, S. 79ff.

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Rezepten und Ratschlägen zum den Umgang mit

Verdauungsproblemen unterstreicht diese Annahme11.

Das Grundmotiv der Beschäftigung mit der Verdauung deutet

sich hiermit an: Verdauung wird dann zum Thema, wenn sie

nicht funktioniert. Geistig kontrollierte Diät verspricht

Besserung. Die Geringschätzung der Verdauung nimmt hier

ihren Ausgang.

Platon bringt die Bezüge zwischen Geist und Verdauung auf

eine einfache Gleichung. Wie sich der Magen an Speisen

nähre, so nähre sich der Geist an den Ideen. Die

Verdauung sei eine Bedingung des körperlichen Wachstums,

Hunger und Durst seien Hinweise auf eine Leere im

Körper12. Dass wir essen und trinken möchten, erklärt

Platon mit einer grundlegenden Begierde nach Gutem13. So

wie der Körper nach Speise und Getränk verlange, so

dürste und hungere die Seele nach Wissen und nach

Verstand. Allerdings habe die körperliche Ernährung

weniger Wirklichkeit als die seelische. Wer seelische

Nahrung verschmähe und sich „Fraß und Brunst“ ergäbe, der

irre sein Leben lang zwischen Schmerz und Schmerzfreiheit

umher, koste keine reine Lust, schaue nie das wahre Oben

und nähme die Wirklichkeit nicht in sich auf.

Die Befreiung der unzerstörbaren Seele von körperlichen

Verdauungsproblemen verspricht der Tod. Wer durch träges

und üppiges Leben von Flüssen und Winden voll sei wie ein

11 Besonders das Papyrus Chester Beatty betrifft die Heilung gestörterVerdauung, der Papyrus Ebers widmet dem Thema 33 Paragraphen und auchin den Papirussen Hearst und Berlin finden sich viele entsprechendeStellen. Beschrieben werden u. a. Heilmittel für Leber- undBauchkrankheiten, Harn, allgemeine Eß- und Verdauungsstörungen,Verdauungswege sowie Magenleiden. Paul Ghalioungui, La Medicine des pharaons: Magie et science médicale dans l’Egypte ancienne, Paris,1983, S. 151. Zwischen zahnärztlicher und urologischer Heilkunstbestand keine eindeutige Trennung. L. Viso, J. Uriach, „The‚guardians of the anus’ and their practice“, In: International

Journal of Colerectal Disease, 10(4), 1995, S. 229f.12 Platon, Der Staat, Stuttgart, 1949, S. 317.13 Platon, Der Staat, Stuttgart, 1949, S. 137ff.

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überlaufender See, verdiene keine ärztliche Hilfe14. Warum

würden Worte wie „Blähung“ oder „Katarrh“ überhaupt von

Ärzten verwendet? Zur Zeit des Asklepios hätte es

dergleichen gewiss nicht gegeben! Allenfalls sei eine

Diät zu verschreiben. Verdauungskranke kämen dann schnell

zurück zur Arbeit, andernfalls bringe der Tod die

Erlösung.

Die philosophische Betrachtung der Verdauung als Problem

nimmt damit ihren Lauf. Aristoteles beschäftigen zwar

weniger die Beziehungen zwischen ewigen und endlichen

Verdauungsvorgängen, als die Gesundheit und das

Zusammenleben der Menschen, doch auch in seinen Schriften

erscheint Verdauung im Zusammenhang mit Problemen15,

betreffend Mundgeruch, feuchte Pferdeäpfel, poröse Zähne,

Medikamente im Magen u.ä.

Seneca versteht Verdauungsprobleme als Anzeichen

gestörter geistiger und kultureller Entwicklungen.

Angewidert von der Dekadenz seiner Mitbürger fordert er

Verzicht auf hemmungslose Stimulierung der Bäuche:

Tausenderlei Leckereien seien erfunden worden, die den

Hunger nicht stillen sondern reizen16. Unzählig seien die

durch Üppigkeit verursachten Krankheiten.

Als die Körper noch fest und gediegen waren und die

Speisen noch nicht durch Kunst und Üppigkeit verdorben,

hätte die Arzneikunde in Kenntnissen weniger Kräuter

bestanden. Nun würdige man die Mahlzeiten nicht einmal

mehr der Verdauung. Man erbreche sich, um essen zu

können, und esse, um sich zu erbrechen. Als Steigerung

erwartet Seneca nur noch, dass der Koch das Geschäft der

Zähne besorge oder bereits Gekautes auftrage.

14 Platon, Der Staat, Stuttgart, 1949, S. 97f.

15 Aristoteles, “Problems”, London, 1970.16 Annaeus Seneca, „Briefe an Lucilius“, In: Philosophische Schriften,hg. Manfred Rosenbach, Darmstadt, 1980.

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In diese Kerbe schlägt auch Augustinus, wobei die

Problembezüge zwischen Verdauung und Geist eine neue

Interpretation erfahren17. Es gäbe keine Übereinstimmung

zwischen Geist und Verdauung, doch vollkommen verschieden

seien auch nicht. Freude und Trauer seien bitterer und

süßer Speise vergleichbar. Sie erreichen das Gedächtnis

wie einen Magen. Dort verbleiben sie, können aber ihren

Geschmack nicht entfalten. Verlangen, Freude, Angst und

Sorge erscheinen im Geist durch das Gedächtnis. Gleich

Wiederkäuern, die Nahrung aus dem Magen hoch würgen,

erwecke die Erinnerung Gefühle im Gedächtnis.

Sein Problem: Ernährung fördert die Gesundheit, ist aber

oft von Freude begleitet. Die Erhaltung der Gesundheit

könne deshalb zum Vorwand zur Erlangung von Freude

werden. Solange unser Magen nicht von ewiger

Unbestechlichkeit und wunderbarer Erfüllung ergriffen

sei, müssen wir gegen die Süße der Speise ankämpfen, um

nicht ihr Gefangener zu werden. Ein täglicher Krieg durchFasten solle die Verdauungslüste unter Kontrolle halten,

um Schmerzen durch Freude zu ersetzen. In stetem Kampf

soll der Geist die Kontrolle über die Verdauung gewinnen.

Die verdauungskritische Haltung der geistigen Philosophie

wird radikal18.

Genussfreundlichere Philosophen wie Montaigne sprechen

sich für eine ausgeglichene Betrachtungsweise der Geist-

Verdauungs-Dichotomie aus. Im Menschen finde sich nichts,

17 Augustinus, The Confessions, Chicago, London, Toronto, 1952, S.76ff.18 Diese Radikalisierung im Rahmen der christlichen Philosophie isterstaunlich, eingedenk der Worte aus dem Evangelium nach Markus:„Nichts, was von außen in den Menschen hineinkommt, kann ihn unreinmachen, sondern was aus dem Menschen herauskommt, das macht ihnunrein“ (Mk7,14.) Zur Erklärung dieser Radikalisierung bietet sich diefrühchristlichen Unterscheidung zwischen Herz und Magen an, deren

philosophische und neurowissenschaftliche Brisanz von Ralf Stoeckerunterstrichen wurde („Geist und Gehirn“, Vortrag in derFriedenskirche in Potsdam am 2.12.07).

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das nur rein geistig oder rein körperlich sei19. Der

Körper habe einen erheblichen Anteil an unserem Sein und

bekleide darin einen hohen Rang; seinem Bau und seiner

Gliederung sei Beachtung zu schenken20. Moderater Genuss,

nicht Abstinenz, sei dem Wohlbefinden zuträglich.

Aber wie hält Montaigne es mit Freuden, die keine

Bedürfnisse befriedigen, sondern diese erst entfachen?

Sollen wir unseren Magen nur sachte füllen oder ihn auch

verstopfen? Montaigne unterstreicht die positiven

Wirkungen von Exessen. Nur gealterte Körper verlange es

nach strengen Regeln. So sei Alkoholmissbrauch unwürdig

und dumm, zur Belebung des Verdauungsapparates aber

durchaus nützlich21. Kurzum: Es gelte zu genießen, was

zumutbar sei.

Doch auch bei Montaigne wird die Verdauung zum Problem.

In seinem Reisetagebuch berichtet er dezidiert über seine

Nierenkrankheit, die ihm quälende Schmerzen bereitete22.

Seine Freude an der Erfahrung des eigenen Körpers von

innen23 bewahrte er sich nichtsdestotrotz und befriedete

sein Verdauungsleid durch lebensbejahende Heiterkeit. So

nimmt er amüsiert Notiz von den ärztlichen Verordnungen

aus verschiedenen Teilen Italiens: „Sie waren so

entgegengesetzt [...], dass von zwanzig Konsultationen

nicht zwei übereinstimmten; aber sie verdammten sich

gegenseitig fast alle, klagten einander des

Menschenmordes an24.

19 Michel de Montaigne, The Essays, transl. Charles Cotton, Chicago,London, Toronto, 1952, S. 432.20 Michel de Montaigne, Essais, Frankfurt/M., 1998, II.17, S. 318.21 Michel de Montaigne, The Essays, transl. Charles Cotton, Chicago,London, Toronto, S. 164f.22 Otto Flake, “Veranlassung und Teilnehmer der Reise“, In: Michel deMontaigne, Tagebuch einer Badereise, Stuttgart, 1963, S. 320.23 Richard Shusterman, Leibliche Erfahrung in Kunst und Lebensstil,

Berlin, 2005, S. 142.24 Michel de Montaigne, Tagebuch einer Badereise, Stuttgart, 1963, S.282.

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Bei seinen Versuchen zur Vermittlung zwischen res extensa

und res cogitans vergibt Descartes die Chance einer

unproblematischen Verbindung im Rahmen einer

Verdauungstheorie zugunsten einer übersteigerten

Wertschätzung der Hirnfunktionen25. In der Folge sieht er

sich zu Erklärungen gezwungen, die ihn selber erstaunt

haben dürften, etwa bezüglich der Transsubstantiation von

Wein und Brot in Leib und Blut während der

Eucharistiefeier26. Die Aufnahme des Brotes in den

menschlichen Leib verlaufe „natürlich“ und ohne

Wunderwirkung. Wunderbar wirksam sei allerdings das

Wirken Jesu Christi, das die Assoziation von Leib und

Brot über den Vorgang der Verdauung hinaus erlaube.

Das Wunderbare wurde der Verdauung aber nicht von allen

naturwissenschaftlich interessierten Philosophen

abgesprochen. So erklärt Jean-Baptiste van Helmont,

übrigens noch zu Lebzeiten von Descartes, das die

seelische Tätigkeit den gesamten Körper betreffe, den sieerreiche, wie das Sonnenlicht die Erde27. Dabei kreise die

Seele um einen bestimmbaren Punkt, das duumvirat28,

gebildet im Zusammenspiel verschiedener Verdauungsorgane.

Van Helmont spricht liebevoll von der

„Verdauungsprinzessin“, an deren Thron er das den Körper

25 Wenn bei van Helmont das duumvirat Seele und Körper verbindet tutdies bei Descartes ausdrücklich die Zirbeldrüse: „[...] cette glande

est le principal siège de l’âme“, Descartes, Les passions de l’âme,§32, Nouvelle Edition, enrichie de Figures en Taille-Douce, Paris,Compagnie des Libraires, 1726.26 Siehe dazu Lettre à Mesland vom 9 Februar 1645. Problematisch isthier, dass sich das Interesse des symbolischen Abendmahls derpaulinischen Tradition nicht auf orale Gesten oder gemeinschaftlicheEssensaufnahme beschränkt. Geist und Verdauung werden gleichermaßenerfasst. Die Unterscheidung zwischen Mund und Magen ist für denchristlichen Glauben bedeutungsvoll: "Und ich ging zu dem Engel undbat ihn, mir das kleine Buch zu geben. Er sagte zu mir: Nimm und isses! In deinem Magen wird es bitter sein, in deinem Mund aber süß wieHonig. Da nahm ich das kleine Buch aus der Hand des Engels und aß es.In meinem Mund war es süß wie Honig. Als ich es aber gegessen hatte

wurde mein Magen bitter." (Off 10,9-10)27 André Pichot, Histoire de la notion de vie, Paris, 1983, S. 263.28 André Pichot, Histoire de la notion de vie, Paris, 1983, S. 250.

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bestimmende seelische Prinzip lokalisiert.

Die wunderbare digestive Bindung zwischen Körper und

Seele wird leider auch bei van Helmont zum Problem,

insofern der biblische Sündenfall der souveränen

Herrschaft der Verdauung ihre Grenzen zieht29.

Ursprünglich sei die Verdauung perfekt gewesen,

unsterblich und geschützt vor jeder Krankheit. Die mit

dem Zerbrechen der intellektuellen Seele in einen

vernünftigen und einen sensitiven Teil einhergehenden

Fehlfunktionen verursachten verschiedenste Übel. Seit

Adams Fehltritt sei unsere Verdauung unvollständig.

Auch bei Diderot kommt die Verdauung in die Nähe zum

Wunderbaren. Er spielt gedanklich mit der Möglichkeit,

eine Marmorstatue zu verdauen, um sie zum Leben zu

erwecken30. Ein Mensch, der sich seine Repräsentation

einverleibe, macht diese lebendiger. Die Erweiterung der

Grenzen des Magens könne der gesamten Natur die Fähigkeit

zum Leben verleihen. Das provokative Augenzwinkern der

Ausführungen Diderots ist offensichtlich, ebenso wie die

Ernsthaftigkeit seiner Suche nach einem angemessenen

Verständnis der komplexen Beziehung zwischen Geist und

Verdauung.

Erstaunlich unproblematisch erscheint diese Beziehung bei

Kant, der den Magen zum großmächtigsten Herrscher im

animalischen Reich erklärt31. Alle Empfindung als Gefühl

scheine sich zuerst aufs Eingeweide zu erstrecken,

besonders Musik, aber auch Geruch und Geschmack, ja sogar

farbiges Licht.

29 André Pichot, Histoire de la notion de vie, Paris, 1983, S. 258f.30 Fabrice Chassot, „Un Exemple d’imaginaire scientifique etphilosophique: le complexe de Jonas et le Mythe de la digestion dansl’entretien entre d’Alembert et Diderot“, in: Dix-huitième Siècle,

no. 37, Paris, 2005, S. 473f.31 Immanuel Kant „Zweiter Anhang. Medicin“, Akademie Ausgabe, Bd. XV,Berlin und Leipzig, de Gruyter, 1923, S. 956.

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Lachen fördere die Verdauung, weil es die entsprechenden

Muskeln zum Schwingen bringe32. Das stoßweise Ausatmen der

Luft setze das Zwergfell in heilsame Bewegung und stärke

die Lebenskraft. Am besten entfalte das Lachen seine

verdauungsfreundliche Wirkung im Zusammenspiel mit einer

„Diät des Denkens“. Es sei ungünstig, sich beim Essen

angestrengt mit einem bestimmten Gedanken zu

beschäftigen, denn dabei würden Kopf und Magen mit zwei

Arbeiten zugleich belästigt. Wem das Denken ein

lebenswichtiges Nahrungsmittel sei, dem empfiehlt Kant

eine klare Trennung zwischen Betätigungen der Verdauung

und des Denkens33.

In der Frage Kants „Ist die Pflanze nicht ein Tier, das

seinen Magen äußerlich in der Wurzel hat?“34 kündigen sich

bereits Hegels Überlegungen zum systematischen Ort der

Verdauung innerhalb der Naturphilosophie an. Wenn der

hegelianische Geist in Schwindel erregende Höhe

entschwebt, dann bereitet die Verdauung dabei keinProblem. Allerdings wirkt ihr Anteil an der Werdung des

Geistes reichlich bescheiden. Hegel macht die Verdauung

zu einem Entwicklungsschritt der geistigen Ideen auf dem

Wege zur unmittelbaren Existenz35, bei der Entwicklung des

„in der Äußerlichkeit sich auf sich selbst“ beziehenden

Tieres36. Das Verdauungssystem wird als ein System der

Gestalt des Tieres und der Verdauungsprozess als eine

Form von Assimilation untersucht. Die unmittelbare

32 Immanuel Kant, „Anthropologie in pragmatischer Hinsicht“, AkademieAusgabe, Bd. VII, Berlin und Leipzig, S. 261-262 u. S. 281.33 Immanuel Kant, „Der Streit der Fakultäten“, Akademie Ausgabe, Bd.VII, Berlin und Leipzig, 1923, S. 109.34 Immanuel Kant, „Träume eines Geistersehers, erläutert durch Träumeder Metaphysik“, Akademie Ausgabe, Bd. II, Berlin und Leipzig, 1923,S. 330.35 Georg W. F. Hegel, „System der Philosophie: Die Naturphilosophie“,Sämtliche Werke, hg. Hermann Glockner, Bd. 9, Stuttgart, 1929, p.449.

36 Georg W. F. Hegel, „System der Philosophie: Die Naturphilosophie“,Sämtliche Werke, hg. Hermann Glockner, Bd. 9, Stuttgart, 1929, S.576.

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Rückkehr des äußeren Organismus in sich durch die sich

nach innen zurückschlagende Haut führe zum Begriff des

inneren Organismus und der äußeren Gestalt37.

Marx und Engels beschäftigen die sozialen Ursachen von

Verdauungsproblemen im Rahmen von Beschreibungen des

Elends der proletarischen Klasse. Harald Lehmke bemerkt

zu Recht, dass Feuerbachs These, die besagt, dass der

Mensch ist, was er isst, dabei zu wenig Beachtung

findet38. Eine materialistische Umformulierung der These

sollte jedoch nicht nur das Essen betreffen, sondern auch

dessen dialektische Aufhebung durch die Verdauung! Etwa:

Die Philosophen haben die Verdauung nur verkannt; es

kommt darauf an sie zu erleben. Eine Grundlegung des

dialektischen Materialismus im Verdauungsprozess

entspräche ideal dem Geiste eines digestiven Paradigmas

der Philosophie.

Laut Schopenhauer kann es ebenso wenig ein erkennendes

Bewusstsein ohne Gehirn geben, wie eine Verdauung ohne

Magen39. Das Bewusstsein ersterbe mit dem Leibe, aber

nicht das eigentliche Wesen des Menschen, der

unvergängliche Wille, zu der sich zur Erkenntnis verhält

wie ein Beleuchtetes zum Licht. Damit bereitet er eine

philosophische Neubestimmung der Bezüge zwischen Geist

und Verdauung vor, die Nietzsche zur Durchführung bringt.

Verdauung wird zum Maß historischer Erkenntnis. Jede Zeit

bedürfe so viel Historie, als sie in Fleisch und Blut,

durch Verdauen, umsetzen könne. Würden schwächliche

Zeiten mit ihr überfüllt, so seinen

37 Georg W. F. Hegel, „System der Philosophie: Die Naturphilosophie“,Sämtliche Werke, hg. Hermann Glockner, Bd. 9, Stuttgart, 1929, S.607.38 Harald Lemke, Eine Einführung in die Gastrosophie, Berlin, 2007.39 Arthur Schopenhauer, „Ergänzungen zum zweiten Buch Von der

Erkennbarkeit des Dinges an sich; Vom Primat des Willens imSelbstbewußtseyn“, Die Welt als Wille und Vorstellung , Werke in zehnBänden, Bd. 3, Zürich 1977, S. 234.

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Verdauungsbeschwerden, Ermüdung und Kraftlosigkeit kaum

vermeidbar. Der "Frieden der Seele" gerät bei Nietzsche

zur Dankbarkeit wider Wissen für eine glückliche

Verdauung40, das "gute Gewissen", zu einem physiologischen

Zustand, der mitunter einer glücklichen Verdauung zum

Verwechseln ähnlich sieht41. Der uns bekannte Geist sei

völlig unvermögend, irgend etwas zu tun. Wie armselig sei

jedes Bewusstseinsbild! Das, was uns bewusst werde, könne

zu Nichts die Ursache abgeben. Man vergleiche nur

Verdauung und das, was wir von ihr empfinden!42 Unser

Intellekt könne die Mannigfaltigkeit des klugen

Zusammenspiels des Verdauungsprozesses nicht fassen,

geschweige hervorbringen. Wo große Zweckmäßigkeit sei,

fehlen dem Geist die Mittel: bei Künstler und Werk,

Mutter und Kind, beim Gehen, Kauen und Verdauen geschehe

alles ohne Bewusstsein43.

Die Verdauung sei gerade so reich an Vorgängen, wie der

ganze Prozess des Lebendigen überhaupt: und wer fürletzteren keinen leitenden Intellekt annehme, brauche ihn

auch für ersteren nicht zuzugestehen. Wenn Kant am

Schluss der Kritik praktischen Vernunft sage ‚Zwei Dinge

bleiben ewig verehrenswert’44 so würden wir heute

erkennen, dass die Verdauung ehrwürdiger sei45.

40 Friedrich Nietzsche, „Götzen-Dämmerung, Moral als Widernatur“, In:

Sämtliche Werke, hg. Giorgio Colli u. Mazzino Montinari, München,Berlin, 1999.41 Friedrich Nietzsche, „Götzen-Dämmerung, Die vier grossenIrrthümer“, In: Sämtliche Werke, hg. Giorgio Colli u. MazzinoMontinari, München, Berlin, 1999.42 Friedrich Nietzsche, „Fragmente, Juli 1882 bis Herbst 1885“, Bd. 4,Sommer 1883, 12 [34].43 Friedrich Nietzsche, „Fragmente Juli 1882 bis Herbst 1885“, Bd. 4,Sommer—Herbst 1884, 26 [60]44 „Zwei Dinge erfüllen das Gemüt mit immer neuer und zunehmenderBewunderung und Ehrfurcht, je öfter und anhaltender sich dasNachdenken damit beschäftigt: Der gestirnte Himmel über mir und dasmoralische Gesetz in mir.“ Immanuel Kant, Kritik der praktischen

Vernunft, Frankfurt a. M., 1989, S. 300.45 Friedrich Nietzsche, „Fragmente, X, 1886“, Mappe Ende 1886-Frühjahr 1887, 62 WP 331 (Schlechta 864-65).

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Foucaults Analyse der psychischen und sozialen

Entwicklungsstrukturen betreffen die Verdauung

unmittelbar, auch wenn Foucaults Archäologie auf sexuelle

Strukturen zielt. Hierbei sollte erinnert werden, dass

für die antike Diätik auf die Foucault sich oftmals

bezieht, der Aspekt der Verdauung von zumindest ebenso

zentraler Bedeutung ist wie jener der Sexualität. Es ist

deshalb nicht überraschend, wenn vieles von dem, was

Foucault über Sexualität aussagt, sich auf die Verdauung

übertragen lässt.

Wie die Sexualität repräsentiert Verdauung einen

Verbindungspunkt zwischen Körper und Bevölkerung. Auch

sie gehört zur Norm der Disziplin sowie zur Norm der

Regulierung. Mit der Entwicklung der Ernährungslehren

wird sie Teil der globalen Machttechnik, denn die

Bevölkerungspolitik betrifft auch die Kontrolle der

Verdauung. Das Eindringen der öffentlichen Regeln in das

individuelle und private Hygieneverhalten führt zurVerknüpfung zwischen individuellen Verdauungskörpern und

globaler Verdauungsgemeinschaft. Wer „schlecht“ isst oder

der seinen Kot nicht „ordnungsgemäß“ beseitigt,

provoziert Effekte auf verschieden Ebenen.

Mangelnde Verdauungshygiene kann zum Herd individueller

Krankheiten werden und als Kern der Degeneration

erscheinen. Das Macht-Wissen der Medizin richtet sich

auch auf die Verdauung, als einen gleichermaßen

gesellschaftlichen und körperlichen Prozess. Die

Normierung und Regulierung unserer Verdauungsgewohnheiten

zwischen „Supermarkt“ und „Kläranlage“ zeigt, wie unsere

„Normalisierungsgesellschaft“ Disziplin und Regulierung

miteinander verknüpfet, um die gesamten Bereich

abzudecken, der sich vom Organischen zum Biologischen

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erstreckt46.

Gleich der Sexualität verbindet Verdauung Person und

Welt, Temperament und Klima, Körper und Jahreszeit. Im

Rahmen einer regulierenden Ökonomie der Lust, trägt sie

bei zu unserer ästhetischen Existenz und damit

Ausgangspunkt zur Erklärung des geistig wirksamen

Geschehens. Es wäre naiv zu glauben, dass uns die

Gestaltung unseres gesamten Daseins zum gelungenen

Lebenskunstwerk glücke, solange wir mit Klugheit und

Überlegung verdauen. Nichtsdestoweniger kann Achtsamkeit

gegenüber der Verdauung unserer geistiges Wohlsein enorm

befördern47.

 Abschnitt 3.)

 Verdauung als ästhetisches Erlebnis

Eine Brücke zwischen Geist und Verdauung bildet das

ästhetische Erleben. Es sichert der Philosophie den

Rückweg von den eisigen Gipfeln logischer Bestimmtheit in

die Täler emotionaler Sinnlichkeit. Der Schein der Sonne

wirkt auf den Gipfeln der Berge besonders erhellend, aber

das dortige Klima ist lebensfeindlich. Der Weg zurück in

die Täler ist ein Weg zurück in die Gemeinschaft der

Menschen, zu Fleischeslust, Gastrosophie, Garküchen,

heimeligen Toilettenhäuschen und Lebensfreundlichkeit,

zurück ins wohlig Warme.

Solange die Philosophie den Geist als überlegene Entität

erachtet, erschwert sie sich den Umgang mit sinnlichen

und emotional geprägten Sachverhalten. Die philosophische

Ausgrenzung des Angenehmen aus dem Bereich der Ästhetik

46 Michel Foucault, „Leben machen und sterben lassen: Die Geburt desRassismus“, In: Sebastian Reinfeldt, Richard Schwarz, Bio-Macht,Duisburg, 1993, S. 40.47 Siehe dazu Franz Xavier Mayer, der in der gesunden Verdauung den

Schlüssel zu Wohlstand des Einzelnen, der Familie, des Staates undder ganzen Menschheit vermutet. Franz Xavier Mayer, Schönheit und Verdauung , Bad Gopisern, 1975, S. 160ff.

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erklärt sich in diesem Zusammenhang, ebenso wie die

Ausgrenzung der Empfindungen bestimmter Organe, etwa

Zunge und Darm. Sie entspringt einer Haltung, die

Sinneseindrücken nur in Folge einer rationalen

Kanalisierung als philosophisch relevant erkennt. Doch

wie sinnvoll sind ästhetische Regeln, die sich auf

knurrende Mägen nicht anwenden lassen?

Dass die Beurteilung des Essens in der Philosophie der

näheren Vergangenheit häufig versucht wurde,

unterstreicht die Notwendigkeit einer Neubestimmung des

ästhetischen Sinnenspektrums, insbesondere bezüglich

„innerer Erlebnisse“. Die Einbettung von

Verdauungseindrücken in den Bereich der Philosophie

erfordert keinen Verzicht auf rationale Ansprüche, aber

eine Öffnung der Rationalität gegenüber dem Leben, in

welchem der Rhythmus der Verdauungsvorgänge eine zentrale

Rolle spielt. Wir verkürzen die Philosophie künstlich,

wenn wir versuchen, die Welt unabhängig von solchenRhythmen zu begreifen. Sicher sind Verdauungsrhythmen

kein unhintergehbarer philosophischer Wert, aber das

Interesse einer Ästhetik, die sich unter Missachtung

dieser Prozesse entwickelt, ist bestenfalls „rein“

geistig. Unsere Fähigkeit zu distanziertem Denken ist

aber verdauungsabhängig. „Voller Bauch studiert nicht

gern“, „mir die Galle hoch“, „Liebe geht durch den

Magen“, erklärt der Volksmund.

Gegen eine Ästhetik der Verdauung scheint der Mangel an

intersubjektiven Kriterien zu sprechen. Der Genuss, den

wir zum Beispiel bei der Verdauung eines Pilzragouts

empfinden, scheint verborgen im Inneren unseres Körpers

und damit unzugänglich für andere Menschen, der durch den

Nahrungsbrei in unserem Verdauungsschlauch bewirkte

Genuss scheint nicht universell genießbar.

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Diesem Einwand liegt der Irrtum zu Grunde, dass einer

ästhetischen Freude eine vom Betrachter unabhängige

Erscheinung zukommen muss. Maßgeblich für solche Freude

ist aber sinnliches Erleben, das sich nicht notwendiger

Weise auf Erscheinungen außerhalb des Erkennenden

bezieht. Ohne sinnliches Erleben ist ästhetische Freude

unvorstellbar, handle es sich um Kino, Wasserfall,

Stadtbilder oder Kartoffelsuppe. Die Einzigartigkeit

unserer inneren und äußeren Wahrnehmung spricht nicht

gegen geteilte Freuden.

Wir mit Grund davon ausgehen, dass unser Nachbar in einem

Klavierkonzert Töne etwas wahrnimmt, das mehr oder 

weniger dem entspricht, was unser Trommelfell in unserem

Gehörgang verursacht. Wenn eine Mehlspeise unseren Magen

erfreut, so können wir das –zumindest im Rahmen unserer

kulturellen Geschmacksgemeinschaft– mit Grund auch für

andere Menschen annehmen.

Sicherlich sind die Regel- und Unregelmäßigkeiten der

Nahrungsverarbeitung von anderer Art als jene der Ton-,

Bild- oder Tastwahrnehmung. Gegen die Möglichkeit

ästhetischer Bewertung spricht das nicht. Körperliche und

geistige Abweichungen stehen intersubjektiver Abstimmung

nicht entgegen.

Geist und Verdauung stehen in Wechselwirkung. Ein

Gemüseauflauf kann uns zu einem Gedicht inspirieren. Ein

Foto kann uns auf den Magen schlagen. Das bedeutet nicht,

dass alles geistige eine direkte Entsprechung im

Verdauungsschlauch findet. Auch sind nicht alle

Verdauungsfreuden geistig erfassbar. Geist und Verdauung

können einander anregen oder frustrieren.

Die Abwendung von der Betrachtung der Verdauung als

Problem hin zu einer Wertschätzung ihrer Funktion

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eröffnet der Philosophie Zugang zu der bisher kaum

erforschten Sensibilität des inneren Erlebens in welchem

Geist und Verdauung sich untrennbar vermengen. Dabei

braucht die Liebe zur Weisheit des Bauches sich nicht auf

unser ästhetisches Erleben zu beschränken, sondern kann

auch ethische, epistemologische und metaphysische Aspekte

beinhalten. Als ein Modell eines gesunden Lebens48 ist

Verdauung ein Anhaltspunkt philosophischer Orientierung.

Es dreht sich mehr um unseren Bauch, als Feinschmecker

und Skatologen sich träumen lassen.

Biographie

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48 „Das angemessenste Modell eines gesunden Lebens, auch auf demGebiet der Kultur, wäre die Verdauung. Die lebendige Tradition isteine Verdauung des Gewesen zugunsten der Zukunft.“ Rémi Brague,

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