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1. Grundsatzreferat /Exposéprincipal Die Entwicklung der schweizerischen Sozialversicherung seit dem Zweiten Weltkrieg Von H. P. Tschudi, Basel 1. Einleitung Die schweizerische Sozialpolitik zeichnet sich durch charakteristische Eigenar- ten und durch eine beachtliche Selbständigkeit aus. Im internationalen Vergleich können wir auf einige Pionierleistungen hinweisen, während wir häufig im Mittel- feld liegen und zum Teil mit der Nachhut marschieren. Auch in der Organisation und Durchführung der Sozialversicherung sind interessante Besonderheiten fest- zustellen mit einerseits positiven, andererseits aber auch fragwürdigen Aspekten. Diese Bemerkungen vorausgeschickt, darf betont werden, dass die wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse in der Schweiz denjenigen in andern fortschrittlichen Industriestaaten weitgehend entsprechen; infolgedessen liegen die Bedürfnisse nach sozialer Sicherung der Einwohner sehr ähnlich. Auch für uns muss die in Art. 22 der von der UNO verkündeten allgemeinen Erklärung der Menschenrechte festgelegte Zielsetzung als massgeblich und richtig anerkannt werden. Jeder Mensch hat als Mitglied der Gesellschaft Recht auf soziale Sicherheit; er hat Anspruch darauf, durch innerstaatliche Massnahmen und internationale Zusammenarbeit unter Berücksichtigung der Organisation und der Hilfsmittel jedes Staates in den Genuss der für seine Würde und die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit unentbehrlichen wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte zu gelangen. Im internationalen Recht erfolgt die Konkretisie- rung dieser Prinzipien durch Konventionen und Empfehlungen der Internationa- len Arbeitsorganisation mit Sitz in Genf. Die grundlegende Konvention von 1952 über die Minimalnormen der sozialen Sicherheit sieht ein umfassendes System der sozialen Sicherheit vor, das alle Risiken einschliesst, die der Ausfall oder das Ungenügen des Erwerbseinkommens zur Folge haben können, und das die gesamte Bevölkerung und nicht bloss einzelne Klassen umschliesst. Leistungen werden vorgesehen für folgende Tatbestände : - Krankheit - Unfall und Berufskrankheit - Arbeitslosigkeit Schweiz. Zeitschrift für Volkswirtschaft und Statistik, Heft 3/1976

1. Grundsatzreferat /Exposéprincipal Die Entwicklung der ...313 Verzögerungen bringen. Andererseits dürften aber gerade diese Rechte bewirken, dass mehr als andernorts das Volk

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  • 1. Grundsatzreferat /Exposéprincipal

    Die Entwicklung der schweizerischen Sozialversicherung seit dem Zweiten Weltkrieg

    Von H. P. Tschudi, Basel

    1. Einleitung

    Die schweizerische Sozialpolitik zeichnet sich durch charakteristische Eigenar-ten und durch eine beachtliche Selbständigkeit aus. Im internationalen Vergleich können wir auf einige Pionierleistungen hinweisen, während wir häufig im Mittel-feld liegen und zum Teil mit der Nachhut marschieren. Auch in der Organisation und Durchführung der Sozialversicherung sind interessante Besonderheiten fest-zustellen mit einerseits positiven, andererseits aber auch fragwürdigen Aspekten. Diese Bemerkungen vorausgeschickt, darf betont werden, dass die wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse in der Schweiz denjenigen in andern fortschrittlichen Industriestaaten weitgehend entsprechen; infolgedessen liegen die Bedürfnisse nach sozialer Sicherung der Einwohner sehr ähnlich.

    Auch für uns muss die in Art. 22 der von der UNO verkündeten allgemeinen Erklärung der Menschenrechte festgelegte Zielsetzung als massgeblich und richtig anerkannt werden. Jeder Mensch hat als Mitglied der Gesellschaft Recht auf soziale Sicherheit; er hat Anspruch darauf, durch innerstaatliche Massnahmen und internationale Zusammenarbeit unter Berücksichtigung der Organisation und der Hilfsmittel jedes Staates in den Genuss der für seine Würde und die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit unentbehrlichen wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte zu gelangen. Im internationalen Recht erfolgt die Konkretisie-rung dieser Prinzipien durch Konventionen und Empfehlungen der Internationa-len Arbeitsorganisation mit Sitz in Genf. Die grundlegende Konvention von 1952 über die Minimalnormen der sozialen Sicherheit sieht ein umfassendes System der sozialen Sicherheit vor, das alle Risiken einschliesst, die der Ausfall oder das Ungenügen des Erwerbseinkommens zur Folge haben können, und das die gesamte Bevölkerung und nicht bloss einzelne Klassen umschliesst. Leistungen werden vorgesehen für folgende Tatbestände : - Krankheit - Unfall und Berufskrankheit - Arbeitslosigkeit

    Schweiz. Zeitschrift für Volkswirtschaft und Statistik, Heft 3/1976

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    - Alter - Mutterschaft - Familienlasten (d.h. Kinderzulagen) - Invalidität - Verlust des Ernährers (Hinterlassenenleistungen)

    Für unseren Kontinent ordnen die Europäische Konvention der Menschen-rechte und vor allem die Europäische Sozialcharta die gleichen Materien. Sie gehen von der Konvention von 1952 der Internationalen Arbeitsorganisation aus, tendieren aber nach einer eher günstigeren Regelung für die Versicherten. Die Schweiz hat die erwähnte Konvention der Internationalen Arbeitsorganisation und die Europäische Sozialcharta noch nicht ratifiziert, weil wir bis zur 8. AHV-Revision hinsichtlich der Leistungen im Rückstand waren und weil auch gewisse Besonderheiten unseres Systems sich nicht völlig im Einklang mit den internationa-len Konventionen befanden. Gemäss den Richtlinien der Regierungspolitik für die Legislaturperiode 1975-1976 soll nächstes Jahr die Ratifikation beantragt werden. Es kann jedenfalls festgehalten werden, dass im ganzen gesehen unsere Sozialversi-cherungen nicht weniger günstig sind als diejenigen mancher Staaten, die den Konventionen beigetreten sind.

    Die Schweiz hat nicht ein geschlossenes System der sozialen Sicherheit aufge-baut, dagegen werden in unserem Lande alle vom internationalen Recht erfassten Risiken ebenfalls gedeckt. Zur Sozialversicherung werden bei uns überdies gerech-net die Militärversicherung sowie die Erwerbsersatzordnung für Wehr- und Zivilschutzpflichtige, Sozialmassnahmen, die im Ausland eher als Verteidigungs-aufwendungen qualifiziert werden.

    Der Aufbau unserer sozialen Sicherheit entspricht der Staatszielbestimmung unserer Bundesverfassung (Art. 2) ; Beförderung der gemeinsamen Wohlfahrt der Eidgenossen. Sie wurde 1947 ergänzt durch BV Art. 31bis Abs. 1 : Der Bund hat im Rahmen seiner verfassungsmässigen Befugnisse die zur Hebung der Wohlfahrt des Volkes und zur Sicherung der Bürger geeigneten Massnahmen zu treffen.

    2. Der Stand der schweizerischen Sozialversicherung zur Zeit des Zweiten Weltkrieges

    Das imposante Werk der sozialen Sicherheit darf im wesentlichen als Schöpfung unserer Generation bezeichnet werden. Zwar wurde in dem vom Eidgenössischen Volkswirtschaftsdepartement 1924 herausgegebenen Werk «Volkswirtschaft, Arbeitsrecht und Sozialversicherung der Schweiz» hinsichtlich der Sozialversiche-rung «die wachsende Bedeutung und eine rege Tätigkeit auf verschiedenen Gebieten» verzeichnet. Doch wurde erklärend beigefügt, «dass die Teilung der Staatsgewalt zwischen Bund und Kantonen sowie die Volksrechte hier und dort

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    Verzögerungen bringen. Andererseits dürften aber gerade diese Rechte bewirken, dass mehr als andernorts das Volk sich mit der Lösung dieser Probleme vertraut macht und dass letzten Endes auch die Gesetzgebung, den politischen Einrichtun-gen des Landes angepasst, in vermehrtem Masse von der Rechtsüberzeugung des Volkes getragen wird. Deshalb entwickelt sich auch in der Schweiz die Sozialversi-cherung in der Richtung einer Volksversicherung, welche nicht den Angestellten und Arbeitern allein, sondern auch den Selbständigerwerbenden, den Kleinbauern und den Kleingewerbetreibenden vor allem zugute kommt, welche ihrer wohl ebenso bedürfen» (Band I, S. 659). Dieser weite Geltungsbereich - Volks- und nicht Klassenversicherung - unterscheidet noch heute unsere Regelung von ausländi-schen Systemen. Abgesehen von der Arbeitslosen- und der Unfallversicherung, erfassen die eidgenössischen Sozialversicherungen neben den Arbeitnehmern auch die Selbständigerwerbenden und die Nichterwerbstätigen. Zur Zeit geplante Revi-sionen sollen den Selbständigerwerbenden die Möglichkeit verschaffen, sich frei-willig gegen Arbeitslosigkeit und gegen Unfälle zu versichern. Auf freiwilliger Basis werden sie sich auch der beruflichen Vorsorge (zweite Säule) anschliessen können.

    Zu Beginn des Zweiten Weltkrieges standen das Kranken- und Unfallversiche-rungsgesetz von 1911 mit der Versicherung gegen Unfälle und Berufskrankheiten sowie einer Subventionsregelung für die Krankenkassen in Kraft. Ferner funktio-nierte die Militärversicherung als Kranken-, Unfall-, Invaliden- und Hinterlasse-nenversicherung für Wehrmänner. Endlich wurden seit dem Ersten Weltkrieg die Arbeitslosenkassen der Kantone, Gemeinden und Verbände unter bestimmten Bedingungen unterstützt.

    Die Versicherung unserer Bevölkerung gegen Schicksalsschläge war nach heuti-ger Anschauung völlig ungenügend. Es ist für uns fast unvorstellbar, dass noch vor relativ kurzer Zeit viele Betagte nach Abschluss eines arbeitsreichen Berufslebens buchstäblich vor dem Nichts standen und der Zukunft mit schwersten Sorgen entgegenblicken mussten. Invalide überliess man weitgehend ihrem Schicksal; Kinder mit Geburtsgebrechen vegetierten oft elendiglich dahin, weil Sonderschu-len und Eingliederungsmassnahmen noch fast vollständig fehlten.

    Der rudimentäre Ausbau der Sozialversicherung hatte zur Folge, dass die Betriebe bloss minimale Sozialversicherungsprämien zu entrichten hatten. Immer-hin dürfen die freiwilligen Leistungen nicht übersehen werden. Stärker war bereits die Belastung der Arbeitnehmer, weil die Kranken- und die Arbeitslosenversiche-rung weitgehend durch Beiträge der Versicherten selber finanziert werden. Auch musste der Bund mit nicht unerheblichen Subventionen einspringen.

    Vor einigen Jahrzehnten herrschte manche Not in unserem Lande. Doch Hess man Betagte, Invalide und Kranke nicht rücksichtslos ohne Nahrung und Woh-nung. Die Armenfürsorge spielte neben der Hilfe karitativer Institutionen eine bedeutende Rolle. In den Budgets der Kantone und Gemeinden erreichten die Fürsorgelasten hohe Summen, während sie heute ziemlich bedeutungslos gewor-

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    den sind. Auch diese Aufwendungen mussten von der Wirtschaft getragen werden. Es wäre daher irrtümlich, anzunehmen, der gesamte Sozialaufwand sei neu. Hinzugekommen ist vor allem die Differenz zwischen einer minimalen Nothilfe und einer einigermassen würdigen Lebenshaltung. Verschoben haben sich auch die Anteile der drei Kostenträger : Arbeitgeber, Arbeitnehmer und öffentliche Hand.

    3. Der Ausbau der Sozialversicherung durch Verfassungsrevisionen und durch die Gesetzgebung

    Zwar reichen die Bestrebungen verschiedener Kreise nach Ausbau des Sozial-staates ziemlich weit zurück ; doch blieb es bei Teillösungen. Insbesondere war die Zwischenkriegszeit ziemlich steril auf dem Sektor Sozialpolitik. Um so eindrück-licher ist der Umschwung, der während des Zweiten Weltkrieges und in der folgenden Periode eintrat. Mehrere Ursachen haben zur Änderung der Einstellung der Bevölkerung und der Behörden geführt. Zweifellos hat die Bedrohung unseres Landes eine Rolle gespielt. Das Solidaritätsbewusstsein zwischen den verschiede-nen Bevölkerungsgruppen wurde erheblich gestärkt. Man war auch bestrebt, soziale Spannungen, die am Ende des Ersten Weltkrieges infolge der Not in der Arbeiterschaft eingetreten waren, zu vermeiden. Endlich erleichterte der ökonomi-sche Aufschwung der fünfziger und sechziger Jahre die Finanzierung neuer Sozialleistungen.

    Ein grundsätzlicher Durchbruch erfolgte bereits kurz nach Kriegsbeginn. Am 20. Dezember 1939 erliess der Bundesrat den Bundesratsbeschluss über die provi-sorische Regelung der Lohnausfallentschädigung an Aktivdienst tuende Arbeit-nehmer (Lohnersatz), dem am 15. Juni 1940 die Verdienstersatzordnung für die Selbständigerwerbenden und kurz vor Kriegsende die Studienausfallordnung für Studierende folgten. Diese Vollmachtenbeschlüsse dürfen als historische Taten bezeichnet werden. Nicht nur sicherten sie den Familien der mobilisierten Wehr-männer einen angemessenen Lebensunterhalt. Für die Zukunft sollte sich die Finanzierung durch lohnprozentuale Beiträge der Arbeitgeber und Arbeitnehmer sowie das Ausgleichssystem durch Ausgleichskassen als sozialpolitisch überaus fruchtbar erweisen. Auf dieser Basis beruhen heute nicht nur die Erwerbsersatzord-nung für Wehr- und Zivilschutzpflichtige, sondern auch die AHV, die Invaliden-versicherung sowie die landwirtschaftlichen Familienzulagen. Hätte das System sich nicht so gut bewährt und die Organisation so reibungslos gespielt, hätten AHV und Invalidenversicherung nicht so rasch und so grosszügig verwirklicht werden können. Die im Krieg eingeführte Prämie von je 2 Lohnprozenten zu Lasten der Arbeitgeber und Arbeitnehmer galt für die AHV unverändert bis zum Jahre 1969.

    Noch vor Kriegsende (1944) hat der Bundesrat ebenfalls auf dem Vollmachten-weg Beihilfen (Familienzulagen) an landwirtschaftliche Arbeitnehmer und selb-

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    ständige Gebirgsbauern eingeführt. Im gleichen Zeitabschnitt haben welsche Kantone und Luzern Kinderzulagengesetze für die Uriselbständigerwerbenden geschaffen. Dieses Beispiel machte Schule, so dass seit dem Jahre 1965 die Arbeitnehmer in sämtlichen Kantonen Anspruch auf Kinderzulagen haben. Die Kinderzulagen an landwirtschaftliche Arbeitnehmer wurden in der Folge erhöht und der Geltungsbereich der Institution insofern wesentlich erweitert, als 1962 auch die selbständigen Kleinbauern des Unterlandes als bezugsberechtigt erklärt wurden. Die landwirtschaftliche Zulagenordnung erhielt nachträglich die verfas-sungsrechtliche Basis, da der 1945 in die Verfassung aufgenommene Familien-schutzartikel 34^uin(iuies den Bund generell zur Gesetzgebung auf dem Gebiete der Familienzulagen ermächtigt. Eine umfassende, nicht mehr auf die Landwirtschaft beschränkte Bundesgesetzgebung wurde angestrebt. 1959 hat eine Expertenkom-mission einen ausführlichen Bericht mit Grundsätzen über die obligatorische Ausrichtung von Kinderzulagen an Arbeitnehmer veröffentlicht. Wegen des starken Widerstandes der Arbeitgeber und vieler Kantone haben die Experten von einem landesweiten Ausgleich mit einheitlichen Prämien und Kinderzulagen abgesehen. Sie haben lediglich einen sog. indirekten Ausgleich vorgeschlagen in der Form von Beiträgen des Bundes und der Kantone : Kassen, die bei Erhebung eines Arbeitgeberbeitrags von 1,3% des Lohnes die Kosten für die Ausrichtung der Kinderzulagen nicht hätten decken können, sollten Bundes- und Kantonssubven-tionen in der Höhe des Fehlbetrages erhalten. Doch stiess auch diese Lösung auf so grosse Opposition, dass der Expertenbericht den eidgenössischen Räten nicht vorgelegt und infolgedessen auch nicht realisiert worden ist.

    Als das markanteste Jahr der schweizerischen Sozialversicherungsgeschichte wird wohl stets 1947 bezeichnet werden. Am 6. Juli haben Volk und Stände die sog. Wirtschaftsartikel der Bundesverfassung und damit eine neue Wirtschafts- und Sozialverfassung angenommen. Am gleichen Tag wurde das Referendum gegen das Bundesgesetz über die AHV verworfen; das Sozial werk wurde von den Stimmbürgern mit einem Rekordergebnis gebilligt. Nachdem schon zwei Jahre früher mit dem Familienschutzartikel die verfassungsrechtliche Grundlage für eine Familienzulagengesetzgebung sowie für eine Mutterschaftsversicherung geschaf-fen worden war, brachten nun die neuen Wirtschaftsartikel dem Bund Kompeten-zen zur Regelung des Lohn- und Verdienstersatzes infolge Militärdienstes sowie der Arbeitslosenversicherung. Seit 1947 verfügen wir über die verfassungsrecht-liche Basis für alle in internationalen Konventionen behandelten Sozialversiche-rungszweige. Mit der Einführung der AHV ist das grösste sozialpolitische Werk unseres Landes realisiert worden, und zwar sowohl im Hinblick auf die Zahl der Bezüger wie auch auf die Höhe von Prämieneinnahmen und Rentenauszahlungen. Entsprechend bedeutsam sind die wirtschaftlichen und sozialen Konsequenzen. Ausgehend vom System der Lohn- und Verdienstersatzordnung, gelang ein glänzender Wurf. Die soziale Komponente ist in unserer AHV stärker als in den

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    meisten ausländischen Versicherungen, weil die Einkommen ohne obere Begren-zung zu Prämien und damit zu Solidaritätsleistungen herangezogen werden und weil die Bezüger niedriger Einkommen hinsichtlich der Renten wesentlich begün-stigt werden. Wenn die AHV seither durch acht wichtige Gesetzesänderungen und durch einige weitere Zwischenrevisionen ergänzt worden ist, so beweist dies mehr ihre Popularität als bestehende Lücken oder Mängel. Man wollte die vorzüglich funktionierende Versicherung möglichst weitgehend ausbauen.

    Da der ursprüngliche Art. 34^uater BV vorgeschrieben hatte, dass die Invaliden-versicherung nach der AHV zu verwirklichen sei, trat jene erst 12 Jahre später, auf 1. Januar 1960, in Kraft. Die Invalidenrenten sind identisch mit denjenigen der AHV, und die Durchführung erfolgt durch dieselben Ausgleichskassen. Doch beruht die Invalidenversicherung auf der Maxime «Eingliederung geht vor Rente», einem Grundsatz, der aus menschlichen und sozialpolitischen Erwägungen nicht hoch genug bewertet werden kann. 1967 erfolgte eine umfassende Revision, die vor allem erhebliche Verbesserungen hinsichtlich der Eingliederungsmassnahmen brachte; die Anträge beruhten auf den Erfahrungen der Praxis.

    AHV und Invalidenversicherung waren auf den Konzeptionen einer Basisversi-cherung (ursprüngliche Mindestrente Fr. 40.- im Monat) aufgebaut worden. Die Renten genügten zur Deckung des Lebensunterhaltes nicht; der Versicherte bedurfte weiterer Einnahmequellen. Dieses theoretische Prinzip vermochte nicht zu befriedigen, weil in Wirklichkeit die zusätzlichen Einkünfte nicht selten ausblie-ben. In den sechziger Jahren versuchte man, die bedenkliche Lücke zu schliessen. Die Studien führten zur sog. 3-Säulen-Konzeption, einer Kombination von staatlicher Versicherung, obligatorischen Pensionskassen und ergänzender Eigen-vorsorge. Doch benötigt insbesondere die Verwirklichung der beruflichen Vor-sorge (zweite Säule) viel Zeit. Deshalb wurden zur Beseitigung eigentlicher Notlagen 1965 Ergänzungsleistungen zur AHV und Invalidenversicherung einge-führt. Jedem Rentner wird ein sehr bescheidenes Existenzminimum gewährleistet. Soweit die staatliche Rente und seine allfalligen sonstigen Einkünfte eine be-stimmte Einkommensgrenze nicht erreichen, wird der Fehlbetrag in Form einer Ergänzungsleistung ausgerichtet. Damit wurde erstmals anerkannt, dass die Sozialversicherung nicht Basisleistungen, sondern existenzsichernde Renten zu erbringen hat.

    Das 1963 im Zusammenhang mit der 6. AHV-Revision erstmals entwickelte Konzept setzte sich im Parlament und in der öffentlichen Meinung durch. 1972 wurde der Verfassungsartikel 34fiuater betreffend die Altersversicherung revidiert und die frühere reine Kompetenznorm durch ein sozialpolitisches Programm ersetzt.

    Die staatliche AHV soll den Existenzbedarf in angemessener Weise decken. Durch die berufliche Vorsorge soll zusammen mit den AHV-Renten die

    Fortsetzung der gewohnten Lebenshaltung in angemessener Weise sichergestellt werden.

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    Durch die sich rasch folgenden Revisionen der AHV, insbesondere durch die 8. Revision von 1973/1975, sind wir dem Ziele der existenzsichernden Rente für Betagte und Invalide nahegekommen, ohne es - besonders in den Städten mit hohen Lebenshaltungskosten - schon zu erreichen. Deshalb wird bereits die 9. AHV-Revision vorbereitet. Der Entwurf zum Bundesgesetz über die berufliche Alters-, Hinterlassenen- und Invalidenvorsorge liegt vor den eidgenössischen Räten. Sofern die Beratungen erwartungsgemäss verlaufen, kann das Gesetz am 1. Januar 1978 in Kraft treten. Unter der Subventionsordnung hatte sich die von Bundes wegen freiwillige Arbeitslosenversicherung ziemlich gut entwickelt. Alle Kantone hatten Arbeitslosenversicherungsgesetze erlassen, einige sogar Obligato-rien festgelegt. Für die Kriegs- und Nachkriegszeit erwartete man allgemein eine schwere Wirtschaftskrise entsprechend der Situation nach 1918. Um gerüstet zu sein, ersetzte der Bundesrat 1942 auf Grund der Kriegsvollmachten die Subven-tionsregelung durch materielle Vorschriften über die Arbeitslosenversicherung. Diese wurden weitgehend unverändert in das heute noch geltende Bundesgesetz über die Arbeitslosenversicherung von 1951 übergeführt. Während der Wirt-schaftsblüte der fünfziger und sechziger Jahre genügte diese Regelung nicht nur, sie erschien vielmehr zahlreichen Mitbürgern als überflüssig. In der jetzigen Rezession änderte sich die Lage schlagartig. Gewisse Verbesserungen konnten im Rahmen des Gesetzes verwirklicht werden. Doch war die 1947 geschaffene verfassungs-rechtliche Basis viel zu eng für eine moderne Arbeitslosenversicherung, die sowohl saisonale, konjunkturelle und strukturelle Arbeitslosigkeit ausreichend versichert als auch Massnahmen zur Verhütung und Bekämpfung von Arbeitslosigkeit finanziert. Im Juni wird eine revidierte Verfassungsbestimmung Volk und Ständen unterbreitet werden. Als wichtigste Neuerungen sind die Erweiterung des Versiche-rungszwecks durch Präventivmassnahmen, dann die Statuierung des Obligatori-ums und die Beteiligung der Arbeitgeber an der Finanzierung zu erwähnen. Wie bei anderen Sozialversicherungszweigen lassen sich ein genügender Risikoausgleich und eine Versicherung aller Kreise, die ihrer bedürfen, auch in der Arbeitslosenver-sicherung nur durch ein Obligatorium erreichen. Bisher wurden die Arbeitslosen-kassen durch Beiträge der Versicherten und Leistungen der öffentlichen Hand finanziert; eine solide finanzielle Basis der Versicherung erfordert jedoch eine Mitbeteiligung der Arbeitgeber. Nach dem Vorbild der AHV sollen die Prämien hälftig geteilt werden zwischen dem Arbeitgeber und dem Arbeitnehmer.

    Die Krankenversicherung als älteste Sozialversicherung wird seit langer Zeit als revisionsbedürftig bezeichnet. An Vorschlägen und Entwürfen hat es nicht gefehlt. Doch sind die Auseinandersetzungen durch ideologische Gegensätze emotionali-siert; auch relativ geringfügige Reformvorschläge lösen heftigste Diskussionen aus. Angesichts dieser Schwierigkeiten wagte es der Bundesrat erstmals zu Beginn der sechziger Jahre, mit einem Antrag auf eine Teilrevision der Krankenversiche-rung an die eidgenössischen Räte zu gelangen. Die Beratungen waren höchst

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    mühsam und kamen erst 1964 zum Abschluss. Das Ergebnis bestand im wesent-lichen in einer Verbesserung der Leistungen, besonders bei langdauernden Erkran-kungen, in einer Erhöhung der Bundesbeiträge sowie in der Ersetzung des bisherigen Systems des tiers payant (die Krankenkasse bezahlt direkt die Arztrech-nung) durch das System des tiers garant (der Patient bezahlt die Arztrechnung, wogegen ihm die Krankenkasse nach Tarif eine Rückerstattung gewährt). Die Bemühungen in Richtung auf eine Totalrevision sind bis jetzt gescheitert, und zwar sowohl auf Gesetzesebene (Flimser Modell) als auch in Form einer Verfassungsre-vision (Verwerfung der sozialdemokratischen Krankenversicherungsinitiative und des Gegenvorschlages am 8. Dezember 1974). Da schwerwiegende Probleme offengeblieben sind, muss rasch ein neuer Anlauf genommen werden.

    Im Sektor Unfallversicherung sind in den letzten Jahrzehnten vor allem Revisio-nen zu verzeichnen, die der Erhöhung der Löhne und Preise Rechnung trugen. Ein wesentlicher Fortschritt lag in der Verstärkung des Kampfes gegen die Berufs-krankheiten und in den verbesserten Leistungen an die erkrankten Versicherten (Ergänzung des KUVG von 1947 und Verordnung über die Verhütung von Berufskrankheiten von 1960).

    Die Militärversicherung wurde nach Kriegsende (1947) total revidiert und seither mehrfach verbessert, so dass heute eine moderne Regelung vorliegt, die bei Krankheit, Unfall, Invalidität von Wehrmännern und Zivilschutzpflichtigen im ganzen gesehen die günstigsten Leistungen aller Sozialversicherungszweige er-bringt.

    Die durch Vollmachtenbeschluss zu Kriegsbeginn geschaffene Erwerbsersatz-ordnung wurde 1952 gesetzlich geordnet und den Bedürfnissen der Friedenszeit angepasst. Der Geltungsbereich wurde auf den Zivilschutzdienst ausgedehnt, und die Leistungen mussten mehrfach der Preis- und Lohnentwicklung angepasst werden. Auf den 1. Januar 1976 haben die eidgenössischen Räte die Entschädigun-gen für alleinstehende Personen sowie für Absolventen von Beförderungsdiensten erhöht. In solchen Beschlüssen kommt klar zum Ausdruck, dass in der Erwerbser-satzordnung militärische Gesichtspunkte neben den sozialpolitischen eine Rolle spielen.

    Dieser summarische Überblick über die Entwicklung zeigt, dass in letzter Zeit das Parlament sich Jahr für Jahr mit mehreren Sozialversicherungsvorlagen zu befassen hatte. Doch ist die Zahl weniger wichtig als die Qualität. An sozialer und wirtschaftlicher Tragweite mangelte es den meisten dieser Entwürfe zweifellos nicht.

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    4. Die schweizerische Sozialversicherung zu Beginn des letzten Viertels des 20. Jahrhunderts

    Eine Bilanz der geschilderten Entwicklung kann im Rahmen dieses Vortrags nicht vollständig sein; ich muss mich auf die wichtigsten Punkte beschränken.

    a) Die Krankenversicherung

    Unter der Herrschaft des KUVG von 1911 hat sich die Krankenversicherung in erstaunlichem Masse entfaltet. Die wichtigste Ursache für die Ausdehnung der Versicherungsdichte liegt selbstverständlich in der Tatsache, dass eine Versiche-rung gegen die finanziellen Folgen der Krankheit angesichts der hohen Pflegeko-sten vor allem für die Familien einem unausweichlichen Bedürfnis entspricht. Die Krankenkassen haben ferner durch Verbesserung ihres Leistungsangebots wesent-lich zur Popularisierung der Krankenversicherung beigetragen. In ungebrochenem Anstieg erhöhte sich der Versichertenbestand von 10% der Bevölkerung nach Inkrafttreten des KUVG auf 56% am Ende des Zweiten Weltkrieges (1945) und überschreitet gegenwärtig 90%. Zu beachten ist, dass die Krankenversicherung in zwei grosse Gruppen zerfallt: die Krankenpflege- und die Krankengeld- (Ver-dienstausfall-) Versicherung. Ein Versicherter kann beiden Kategorien angehören. Die Krankenpflegeversicherung kommt für die Kosten von Arzt, Arznei und Heüanstaltsbehandlung auf, wobei der Versicherte eine Franchise sowie einen Selbstbehalt auf sich nehmen muss. Diese Einschränkungen sollen der sog. surconsommation médicale entgegenwirken. In der Krankengeld Versicherung ist ein minimales Taggeld von Fr .2- vorgeschrieben. In Kollektivverträgen wird in der Regel ein Taggeld von wenigstens 50% des Lohnes versichert.

    Die Auszahlungen der Krankenkassen haben sich von 11,1 Millionen Franken im Jahre 1915 auf 146,2 Millionen Franken im Jahre 1945 erhöht und erreichten 1975 die gewaltige Summe von rund 4 Milliarden. Die Bundessubventionen haben diesen Höhenflug mitgemacht: 1915 2,3 Millionen Franken, 1945 25,8 Millionen Franken und 1975 653 Millionen Franken. Die Ursache für die Steigerung der Krankenversicherungsleistungen liegt einerseits in der Erhöhung der Zahl der Versicherten, andererseits, und zwar in weit stärkerem Ausmass, in der Kostenex-plosion des Gesundheitswesens. Diese wird besonders eindrücklich, wenn man bedenkt, dass die Krankenversicherung nur etwa 45% der gesamten Kosten des Gesundheitsdienstes trägt; ungefähr 30% bezahlt die öffentliche Hand in Form von Spitaldefiziten, und der Rest geht zu Lasten der Patienten.

    Trotz ihrer beachtlichen Entwicklung weist unsere Krankenversicherung be-denkliche Mängel auf: Versicherungsvorbehalte und Begrenzung der Leistungs-dauer bei Spitalbehandlung. Schwerer ins Gewicht fallt die Tatsache, dass eine

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    erhebliche Zahl von Betagten nicht gegen Krankheitsfolgen versichert ist und infolgedessen bei länger dauernder Erkrankung trotz AHV-Renten und Ergän-zungsleistungen die Fürsorgebehörden in Anspruch nehmen muss. Die wichtigste Kritik an unserer Krankenversicherung richtet sich gegen ihre Familienfeindlich-keit. Da sie als individuelle Versicherung und nicht als Familienversicherung konzipiert ist, muss der Familienvater mehrere Prämien bezahlen, während im Ausland mit einer einzigen Prämie die ganze Famüie versichert wird.

    b) Mutterschaftsversicherung

    Unser Land hat bis jetzt keine Mutterschaftsversicherung realisieren können. Durch Abs. 4 des Familienschutzartikels der Bundesverfassung (34

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    mindestens während der ersten Monate intensiv von ihr betreut wird. Soll dies der arbeitenden Mutter ermöglicht werden, so bedarf es einer leistungsfähigen Mutter-schaftsversicherung.

    c) Die Unfallversicherung

    Die obligatorische Unfallversicherung hat die strenge Kausalhaftung der Fabrikinhaber abgelöst. An ihr sind somit Arbeitgeber und Arbeitnehmer unmit-telbar interessiert. Infolgedessen konnte 1911 das Obligatorium der Betriebs- und Nichtbetriebsunfallversicherung bei einer selbständigen Bundesanstalt (SUVA) eingeführt werden. In den 60 Jahren ihres Bestehens hat die Unfallversicherungsge-setzgebung keine wesentlichen Änderungen erfahren. Selbstverständlich mussten die versicherten Löhne und die in festen Ziffern bestimmten Leistungen der Lohn-und Preisentwicklung angepasst werden. Durch eine Gesetzesrevision von 1947 wurde die Versicherung der Berufskrankheiten wesentlich erweitert. Trotz dieser Stabilität der rechtlichen Grundlagen sind die Auszahlungen der SUVA von 106 Millionen Franken im Jahre 1946 auf 1,3 Milliarden Franken im Jahre 1974 gestiegen. Zu beachten ist, dass der Bund der SUVA seit 1968 keine Beiträge mehr gewährt; die Unfallversicherung ist selbsttragend.

    Durch das Bundesgesetz über die Förderung der Landwirtschaft und die Erhaltung des Bauernstandes sind die Inhaber landwirtschaftlicher Betriebe ver-pflichtet worden, ihr Personal gegen Betriebsunfälle zu versichern. Der Bund richtet landwirtschaftlichen Betrieben im Berggebiet Beiträge aus zur Erleichte-rung ihrer Prämienbelastung.

    Eine sowohl sozialpolitisch als auch im Hinblick auf die Kosten nicht unwesent-liche Massnahme soll demnächst realisiert werden. Auf Grund des Berichtes der Expertenkommission vom 14. September 1973 wird beabsichtigt, das Versiche-rungsobligatorium, dem zur Zeit nur etwa zwei Drittel aller Arbeitnehmer unter-stellt sind, praktisch auf alle Betriebe und Arbeitnehmer auszudehnen. Damit würde sich die Schweiz der in allen europäischen Industriestaaten geltenden Ordnung anschliessen. Als Träger der erweiterten obligatorischen Unfallversiche-rung sollen die privaten Versicherungsgesellschaften dienen, weil viele der neu dem Obligatorium unterstellten Betriebe seit langer Zeit bei diesen Unfallversiche-rungsverträgen abgeschlossen haben.

    Die Prämien für die Betriebsunfallversicherung müssen von den Arbeitgebern, diejenigen für die Nichtbetriebsunfallversicherung von den Arbeitnehmern aufge-bracht werden. Sie sind nach Risikoklassen abgestuft. Während früher die Kosten der Betriebsunfälle überwogen, erreichen heute diejenigen der Nichtbetriebsun-falle ungefähr die gleiche Höhe. Für diese unerfreuliche Entwicklung sind vor allem die Verkehrs- und die Sportunfalle verantwortlich. Nach den Angaben der

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    Expertenkommission belastete die Unfallversicherung die Wirtschaft 1970 mit 1,6% der AHV-Einkommen ; nach der Ausdehnung des Obligatoriums wird es sich 1980 um 2,5% handeln. Doch liegt nicht im gesamten Umfang ein effektiver Kostenanstieg vor, weil ein grosser Teil der neuen Versicherten bereits jetzt freiwillig in bestimmtem Ausmass gegen die Folge von Unfällen versichert war.

    d) Die AHV

    Sie steht im Vordergrund des öffentlichen Interesses. Dass sie «des Schweizer-volkes liebstes Kind» bezeichnet werden konnte, stellt unserer Bevölkerung ein hervorragendes Zeugnis aus. Die aktive Generation fühlt sich solidarisch mit den Betagten.

    Die dominierende Stellung der AHV ergibt sich aus folgenden Ziffern für das Jahr 1975:

    Zahl der Rentner rund 1 Million Prämieneinnahmen 6800 Millionen Franken Beiträge von Bund und Kantonen 1200 Millionen Franken Ausgaben 8612 Millionen Franken

    Die Prämie, die anfanglich für Arbeitgeber und Arbeitnehmer zusammen 4% des Lohns betrug, beläuft sich heute auf 8,4%. Die minimale einfache Altersrente setzte 1948 mit Fr. 40.- im Monat ein und erreicht jetzt Fr. 500.-, zusammen mit Ergänzungsleistungen Fr. 650.-. Die maximale einfache Altersrente beträgt heute Fr. 1000.- (das Doppelte der Mindestrente).

    Trotz dem sehr erfreulichen Ausbau unserer AHV bleiben noch offene Aufga-ben. Nach dem Verfassungsartikel 34^uater sollen die AHV-Renten den Existenzbe-darf in angemessener Weise decken. Sie sind mindestens der Preisentwicklung anzupassen. Die blosse Indexierung der Renten genügt nicht, weil bei steigender Produktivität der Wirtschaft und wachsenden Löhnen rasch ein erheblicher Abstand zwischen dem Lebensniveau der Rentner und demjenigen der aktiven Generation eintreten würde. Die auf 1. Januar 1978 in Aussicht genommene 9. AHV-Revision soll für längere Frist das Problem der Anpassung der Renten an die Preis- und Lohnentwicklung regeln.

    Das zweite durch die Verfassung festgelegte Ziel : die angemessene Sicherung der bisherigen Lebenshaltung im Alter und bei Invalidität soll durch die obligatorische berufliche Alters-, Hinterlassenen- und Invalidenvorsorge (zweite Säule) erreicht werden. Die beiden Komponenten werden bei voller Versicherungsdauer und für Einkommen bis Fr. 36000.- Renten von mindestens 60% an Alleinstehende und etwa 80% an Ehepaare erbringen. Die vom Arbeitgeber und Arbeitnehmer gemeinsam aufzubringenden Prämien für die berufliche Vorsorge belaufen sich

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    durchschnittlich auf 10% des AHV-Einkommens. Von grösster Bedeutung ist die Tatsache, dass es sich hierbei nicht um eine völlig neue Belastung handelt. Da die Pensionskassen auf freiwilliger Grundlage eine grosse Verbreitung erfahren haben, wird die Wirtschaft als zusätzlichen Aufwand nur ungefähr 2% der gesamten AHV-Einkommenssumme aufbringen müssen. Sobald AHV und zweite Säule verfassungsgemäss ausgebaut sein werden, wird die Schweiz über ein Altersvorsor-gesystem verfugen, das den besten ausländischen zur Seite gestellt werden kann. Nicht zu übersehen ist, dass eine erhebliche Übergangsfrist verläuft, bis die berufliche Vorsorge durchwegs die gesetzlichen Mindestleistungen erbringen wird.

    e) Die Invalidenversicherung

    Der Versicherte, der mindestens zu zwei Dritteln invalid ist, erhält die gleiche Rente wie ein AHV-Bezüger. Ein Anspruch auf die halbe Rente besteht bei einer Invalidität von wenigstens 50%. Die Prämien der Invalidenversicherung werden nach dem genau gleichen System erhoben wie diejenigen der AHV. Sie betragen für Arbeitgeber und Arbeitnehmer insgesamt 1% des Lohnes.

    Das Ziel der Versicherung liegt in der Eingliederung der Invaliden in das Erwerbsleben und in die Gesellschaft. Deshalb kennt sie mannigfache Eingliede-rungsmassnahmen (wie medizinische Massnahmen, berufliche Ausbildung, Um-schulung, Sonderschulung und Betreuung hilfloser Minderjähriger, Abgabe von Hilfsmitteln). Die Versicherung subventioniert auch den Bau und die Einrichtung von Sonderschulen, Eingliederungsstätten, Werkstätten und Wohnheimen, dazu leistet sie gegebenenfalls auch Betriebsbeiträge.

    Sowohl im Bericht der Expertenkommission von 1956 wie auch in der Botschaft des Bundesrates von 1958 wird ausdrücklich betont, dass keine zuverlässigen Unterlagen für die Schätzung der Kosten der Invalidenversicherung vorhanden waren. Man kannte in unserem Land die Zahl der Invaliden nicht, und für die Eingliederungsmassnahmen fehlten Vergleichszahlen. Auf dieser mehr als prekä-ren Basis schätzte man die Gesamtausgaben zu Beginn auf 135 Millionen Franken pro Jahr und erwartete keine wesentliche Steigerung, weil man davon ausging, dass die Zahl der Invaliden stabil ist. Im ersten Jahr blieben die effektiven Auszahlungen unter der Annahme. Seither sind aber die Aufwendungen sowohl für Renten als auch insbesondere für individuelle Massnahmen und für Beiträge an Eingliede-rungsstätten usw. konstant gestiegen bis auf 1,6 Milliarden Franken. Es bedurfte einer langen Anlaufzeit, bis die vielfaltigen und zum Teil komplizierten Massnah-men für die zweckmässige Behandlung aller Einzelfalle spielten. Wenn auch die Vervielfachung der Aufwendungen als wenig erfreulich erscheint, so ist der positive Gegenposten eindeutig: Keine andere Sozialversicherungseinrichtung wirkt sich im Einzelfall so segensreich aus wie die Invalidenversicherung.

  • 324

    f) Die Arbeitslosenversicherung

    Der Versicherungsgrad war lange Zeit völlig unbefriedigend. Noch vor kurzem waren weniger als 20% der Arbeitnehmer gegen Arbeitslosigkeit versichert. Seit Ende 1974 steigt der Bestand von Kassenmitgliedern allerdings steü an; Ende 1975 betrug die Versicherungsdichte bereits gegen 40% der Arbeitnehmer. Ferner ist der Versicherungszweck zu eng. Es ist nicht zweckmässig, bei Arbeitslosigkeit lediglich Taggelder auszurichten. Im Interesse des einzelnen wie der Volkswirtschaft muss vor allem die Arbeitslosigkeit bekämpft werden durch Beiträge an Deplacements-kosten, Umschulungen, Anlernen usw. Endlich fehlt gegenwärtig ein wirksamer Finanzausgleich zwischen stark belasteten und gut situierten Kassen. Durch die geplante Verfassungsrevision soll die Arbeitslosenversicherung auf einer völlig neuen Grundlage organisiert werden. Die künftige Gesetzgebung wird Leistungen und Prämien zu regeln haben. Die Leistungen werden sich wie bisher nach dem früheren Lohn richten und den Familienbelastungen Rechnung tragen, der Höhe nach sollen sie sich an jene der Unfallversicherung anlehnen. Eine versicherungs-mathematische Berechnung der Aufwendungen ist ausgeschlossen, weil weder Ausmass noch Dauer einer Wirtschaftskrise vorausgesehen werden können und weil sich auch Strukturveränderungen der Wirtschaft nicht einplanen lassen. Künftig sollen Arbeitgeber und Arbeitnehmer je die Hälfte der Prämien bezahlen, die sich zusammen voraussichtlich unter 1 % der Löhne halten dürften. Grundsätz-lich soll die Arbeitslosenversicherung selbsttragend sein; nur bei ausserordent-lichen Verhältnissen hätten Bund und Kantone mit Beiträgen einzuspringen.

    g) Erwerbsersatzordnung und Militärversicherung

    Die beiden für die Wehrmänner bestimmten Versicherungen befriedigen. Die Inflation einerseits und die Leistungsverbesserungen andererseits haben auch bei diesen beiden Versicherungswerken seit Kriegsende zu einer Vervielfachung der Auszahlungen geführt (1975 Erwerbsersatzordnung 334 Millionen Franken, Mili-tärversicherung 162 Millionen Franken).

    h) Kinderzulagen

    In der öffentlichen Meinung besteht kein Konsens über das richtige Ausmass der Familienzulagen. Inwieweit sollen die Arbeitnehmer nach den Leistungen (Lohn) und inwieweit nach den Bedürfnissen (Familienzulage) bezahlt werden? Diese Grundsatzfrage hat neben regionalen Verschiedenheiten dazu geführt, dass unser Land eine ganze Musterkollektion von Kinderzulagenregelungen aufweist.

  • 325

    Durch Bundesgesetz sind für landwirtschaftliche Arbeitnehmer monatliche Haushaltzulagen von Fr. 100.- und Kinderzulagen von Fr. 50.- im Unterland sowie von Fr. 60.- im Berggebiet pro Kind festgelegt. Kleinbauern erhalten die gleichen Kinderzulagen, jedoch keine Haushaltzulage. Die Zulagen an die land-wirtschaftlichen Arbeitnehmer werden durch Arbeitgeberbeiträge und durch die öffentliche Hand finanziert. Die Arbeitgeberprämien von 1,8% der ausbezahlten Löhne decken knapp die Hälfte der Kosten. Die Aufwendungen für die Zulagen an die Kleinbauern gehen voll zu Lasten von Bund und Kantonen. Die Kinderzulagen für Arbeitnehmer nach kantonalem Recht variieren zwischen Fr. 50.- und Fr. 85.-pro Kind. Mehrere Kantone richten überdies Geburts- und Ausbildungszulagen aus. Die Finanzierung erfolgt ausschliesslich durch Beiträge der Arbeitgeber im Rahmen zwischen 1,5% und 3% der Lohnsumme.

    5. Zusammenfassende Würdigung

    Die verschiedenen schweizerischen Sozialversicherungen ergeben keine harmo-nische Einheit, kein geschlossenes Ganzes. Sie stammen aus verschiedenen Peri-oden. Allerdings wurden in letzter Zeit alle Werke teilweise revidiert, so dass der Entwicklungsstand der einzelnen Versicherungen nicht mehr allzu unterschiedlich ist.

    Ursprünglich lag das Ziel der Sozialversicherung in der Sicherung des Existenz-minimums, in der Freiheit von Not. Die Leistungen waren infolgedessen kaum günstiger als die Armenunterstützung oder lagen wie die anfanglichen Basisrenten der AHV sogar darunter. Der Vorzug der Sozialversicherung findet sich vor allem in der besseren Rechtsstellung des Versicherten. Er hat Anspruch auf bestimmte, klar umschriebene Leistungen und ist nicht abhängig vom Ermessen der Fürsorge-behörden. Dazu kommt die Verwirklichung des Prinzips der Selbsthilfe. Durch die Entrichtung von Prämien sorgt der Versicherte vor für die Risiken des Lebens. Da der einzelne vielfach nicht in der Lage wäre, selber ausreichend vorzusorgen, wird in der Sozialversicherung das Versicherungsprinzip mit dem Solidaritätsprinzip koordiniert. Die Versicherung wird durch eine soziale Komponente verstärkt.

    Wegen dieser grossen Vorzüge setzte sich die Sozialversicherung machtvoll durch. Parallel zum wirtschaftlichen Aufschwung und zur Hebung des Lebensstan-dards konnte ihre Zielsetzung erweitert werden. Sie lautet jetzt nicht mehr Freiheit von Not, sondern angemessene Fortsetzung der gewohnten Lebenshaltung bei Alter, bei Arbeitsunfähigkeit aus anderen Gründen (Invalidität usw.) oder bei Fehlen von Arbeitsgelegenheiten.

    Durch eine Revision der Bundesverfassung wurde 1972 dieser Grundsatz für die AHV und für die Invalidenversicherung klar und eindeutig festgelegt. Unmittelbar gilt er nur für diese Versicherungszweige. Doch bildet die Verfassung eine Einheit.

  • 326

    Infolgedessen strahlt das wichtige Prinzip der angemessenen Sicherung des bisheri-gen Lebensstandards aus auf andere Sozialversicherungen, für die in der Bundes-verfassung lediglich eine Kompetenznorm, jedoch kein sozialpolitisches Pro-gramm enthalten ist. Erwerbsersatzordnung und Militärversicherung haben dieses Ziel weitgehend erreicht. Kranken- und Unfallversicherung sollen durch Revision ebenfalls durchwegs auf diesen Stand gebracht werden.

    Die Gesamteinnahmen der verschiedenen Sozialversicherungszweige haben sich wie folgt entwickelt :

    I960 1970 1975 19801

    Milliarden Franken Prozent des Volkseinkommens Prozent des AHV-pflichtigen Einkommens

    4,4 14,0 22,1

    12,9 17,4 25,9

    24,7 20,8 28,5

    42 26,6 36,5

    1 1980 bei Annahme des Ausbaus der Kranken-, Unfall- und Arbeitslosenversicherung sowie Verwirklichung der zweiten Säule der Altersvorsorge.

    Wichtig ist auch die Verteilung der Belastung zwischen Versicherten und der öffentlichen Hand.

    Finanzquellen 1960 1970 1975 1980

    Beiträge der Versicherten und der Arbeitgeber Beiträge der öffentlichen Hand Andere Einnahmen (Zinsen)

    Beiträge der Versicherten und Arbeitgeber Beiträge der öffentlichen Hand Andere Einnahmen (Zinsen)

    Beträge in Milliarden Franken

    3,25 0,35 0,8

    4,4

    8,7 1,7 2,5

    12,9

    18,4 3,5 2,8

    24,7

    33,6 5,2 3,2

    42,0

    Prozentzahlen

    73,9 7,9

    18,2

    100,0

    67,4 13,2 19,4

    100,0

    74,5 14,2 11,3

    100,0

    80,0 12,4 7,6

    100,0

    Im internationalen Vergleich hält sich der schweizerische Anteil der öffentlichen Hand an den Sozialversicherungsausgaben an der unteren Grenze. Dennoch wurde 1975 wegen der Budgetschwierigkeiten der bisherige Bundesbeitrag an die Ausgaben der AHV von 15% auf 9% herabgesetzt (zulässiger Bundesbeitrag nach BV Art. 34quater höchstens 50%).

    Die hohen Aufwendungen für die Sozialversicherung sind aus folgenden Grün-den gerechtfertigt :

  • 327

    1. Gegenwärtig ist in der Schweiz der Anteil der Sozialausgaben am Volksein-kommen eher niedriger als in den meisten Industriestaaten. 1980 werden sie im Rahmen der Sozialkosten der mit uns vergleichbaren Länder liegen.

    2. Aus diesen Mitteln muss ein erheblicher Teil der Bevölkerung den Lebens-unterhalt bestreiten. Die schweizerische Sozialversicherung kennt keinen Luxus. Auch wenn die Altersvorsorge ihren vollen Ausbau erreicht haben wird, müssen die Betagten spürbare Einbussen im Vergleich zum früheren Netto-Lohn in Kauf nehmen (Alleinstehende etwa 33%, Ehepaare etwa 11%).

    3. Richtig ist, dass wegen der gesonderten Regelung der einzelnen Versiche-rungszweige Überschneidungen und damit auch Überversicherungen vorkom-men. Sie sollen in nächster Zeit durch Gesetzesrevisionen beseitigt werden. Die dadurch erzielten Einsparungen sind erwünscht, doch wird es sich im Verhältnis zu den Gesamtausgaben um kleine Beträge handeln.

    4. Niemand wird die Betagten und Invaliden dem Elend preisgeben wollen; die Sicherung des Existenzminimums dürfte unbestritten sein. Somit liegt das Problem nur darin, ob die Wirtschaft die Differenz zwischen dem Existenzminimum und den etwas höher liegenden Ansprüchen der angemessenen Gewährleistung des bisherigen Lebensstandards aufbringen kann. Mir scheint, dass wir Vertrauen in die entsprechende Leistungsfähigkeit unserer Wirtschaft haben dürfen.

    Bei steigendem Volkseinkommen fiel die Finanzierung der Sozialversicherung leicht. Obwohl viel vom Umverteilungseffekt der Sozialversicherung geschrieben wurde, musste niemand einen Verzicht leisten. Effektiv wurde lediglich ein Teil des Mehrertrags der nicht mehr aktiven Generation zur Verfügung gestellt. Sollte allerdings - wie im Jahre 1975 - das Volkseinkommen während längerer Zeit rückläufig sein, so würden Verteilungsprobleme akut. Der Minderbetrag muss bei den Ausgabeposten eingespart werden. Doch bleibt die Schweiz nach wie vor ein wohlhabendes Land. Es darf daher nicht erwogen werden, bei den ersten Schwie-rigkeiten die Lebenshaltung der Betagten, Invaliden, Witwen und Waisen einzu-schränken.

    5. Thema dieser Tagung sind die wirtschaftlichen Aspekte der sozialen Siche-rung. Meine historische Darstellung gibt bereits einige Anhaltspunkte über die weitreichenden wirtschaftlichen und finanziellen Folgen der Sozialversicherung. Doch darf die Materie nie bloss aus einer Sicht beurteilt werden. Ebenso wichtig wie die wirtschaftliche Seite der Sozialversicherung sind die sozialen Verpflichtun-gen der Wirtschaft, das ethische Gebot des sozialen Ausgleichs. Der viel zitierte Slogan, wonach die Sozialversicherung nicht unwirtschaftlich und die Wirtschaft nicht unsozial sein darf, trifft das Richtige. Die Entwicklung der schweizerischen Sozialversicherung seit dem Zweiten Weltkrieg wurde von dieser Maxime geleitet.

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    Zusammenfassung

    Die Entwicklung der schweizerischen Sozialversicherung seit dem Zweiten Weltkrieg

    Das imposante Werk der sozialen Sicherheit darf im wesentlichen als Schöpfung unserer Generation bezeichnet werden. Zu Beginn des Zweiten Weltkrieges war die soziale Sicherung unserer Bevölkerung gegen Schicksalsschläge noch völlig ungenügend. Der entscheidende Durchbruch erfolgte gleich nach Kriegsausbruch mit der Schaffung der Erwerbsersatzordnung für Wehrmänner. Ihren Höhepunkt erreichte die Entwicklung im Jahre 1947, in dem eine neue Wirtschafts- und Sozial Verfassung angenommen und das Referendum gegen die AHV verworfen worden ist. Im letzten Vierteljahrhundert hatten sich die eidgenössischen Räte Jahr für Jahr mit sozialpolitischen Vorlagen zu beschäftigen. Heute verfugt die Schweiz über alle in Abkommen Internationaler Arbeitsorganisationen und des Europarates geregelten Sozialversicherungszweige. Die soziale Sicherheit nimmt 20% des Volksein-kommens in Anspruch; beim geplanten Ausbau dürfte der Anteil ab 1980 etwa 26% erreichen. Aus diesen Mitteln muss ein erheblicher Teil unserer Bevölkerung seinen Lebensunterhalt bestreiten.

    Résumé

    Le développement de l'assurance sociale suisse depuis la Seconde Guerre mondiale

    L'œuvre importante de la sécurité sociale est essentiellement une réalisation de notre génération. Au début de la Seconde Guerre mondiale, la population suisse ne bénéficiait encore que d'une assurance sociale tout à fait insuffisante contre les coups du sort. Un pas décisif a été franchi peu après l'ouverture des hostilités, grâce à l'introduction, en faveur des militaires, du régime des allocations pour perte de gain. L'évolution a passé par un point culminant en 1947, lorsque furent admis de nouveaux articles constitutionnels relatifs aux domaines économique et social et que le peuple rejeta le référendum contre l'AVS. Durant le dernier quart de siècle, les Chambres fédérales ont dû s'occuper chaque année de projets de politique sociale. La Suisse dispose aujourd'hui de toutes les branches d'assurances sociales réglées par les accords des organisations internationales du travail ainsi que du Conseil de l'Europe. La sécurité sociale absorbe 20% du revenu national; après les améliorations prévues, cette part atteindra vraisemblablement 26% vers 1980. Une bonne partie de notre population n'a pas d'autres ressources pour subvenir à ses besoins.