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1 Sprache und Sprache und Selbstorganisation Selbstorganisation : : Von der biologischen zur Von der biologischen zur kulturellen Evolution der kulturellen Evolution der Sprache Sprache Wolfgang Wildgen Wolfgang Wildgen (Universität Bremen) (Universität Bremen) Linguistisches Kolloquium im Rahmen des „Festivals der Sprachen“, Teerhof, Bremen, 18.09.2009

1 Sprache und Selbstorganisation : Von der biologischen zur kulturellen Evolution der Sprache Wolfgang Wildgen (Universität Bremen) Linguistisches Kolloquium

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Sprache und Sprache und SelbstorganisationSelbstorganisation : :

Von der biologischen zur Von der biologischen zur kulturellen Evolution der kulturellen Evolution der

SpracheSprache

Wolfgang Wildgen (Universität Wolfgang Wildgen (Universität Bremen)Bremen)

Linguistisches Kolloquium im Rahmen des „Festivals der Sprachen“, Teerhof, Bremen, 18.09.2009

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InhalteInhalte 11 Was heißt „Selbstorganisation“?Was heißt „Selbstorganisation“? 22 Inwieweit ist die Sprache, zumindest in Inwieweit ist die Sprache, zumindest in

einigen einigen Bereichen ein selbstorganisiertes Bereichen ein selbstorganisiertes System?System?

33 Szenarien einer biologischen Szenarien einer biologischen Selbstorganisation Selbstorganisation der menschlichen der menschlichen SprachfähigkeitSprachfähigkeit

44 Exkurs: Die mögliche Struktur einer Exkurs: Die mögliche Struktur einer ProtospracheProtosprache

55 Kulturelle Sprachevolution und Kulturelle Sprachevolution und SelbstorganisationSelbstorganisation

66 Modelle der „Selbstorganisation“Modelle der „Selbstorganisation“ 77 SchlussbemerkungenSchlussbemerkungen

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Was heißt Was heißt „Selbstorganisation“? „Selbstorganisation“?

Das Gegenteil von Selbstorganisation ist eine simple kausale Das Gegenteil von Selbstorganisation ist eine simple kausale Kette, die von einem Erstbeweger ausgehend das Kette, die von einem Erstbeweger ausgehend das Endergebnis (das beobachtbar ist) erzeugt. Endergebnis (das beobachtbar ist) erzeugt.

Etwas metaphysischer, aber nach dem gleichen Schema: Gott Etwas metaphysischer, aber nach dem gleichen Schema: Gott bewegt den äußersten Himmel, dieser den nächsten usw.; bewegt den äußersten Himmel, dieser den nächsten usw.; in der sublunaren Welt wird der Mensch bewegt. in der sublunaren Welt wird der Mensch bewegt.

Wenn man sich auf einige zentrale Merkmale konzentriert, Wenn man sich auf einige zentrale Merkmale konzentriert, dann heißt „Selbstorganisation“:dann heißt „Selbstorganisation“:

Das Ganze zeigt eine einfache Dynamik trotz der Das Ganze zeigt eine einfache Dynamik trotz der unüberschaubaren Vielfalt einzelner Teile und Prozesse.unüberschaubaren Vielfalt einzelner Teile und Prozesse.

Die kausalen Wirkungen erfolgen in viele Richtungen Die kausalen Wirkungen erfolgen in viele Richtungen gleichzeitig und ihre Effekte überlagern sich, wobei neue gleichzeitig und ihre Effekte überlagern sich, wobei neue Strukturen hervortreten (Emergenz).Strukturen hervortreten (Emergenz).

Es gibt Kreisprozesse, d. h. die Wirkungen werden mit den Es gibt Kreisprozesse, d. h. die Wirkungen werden mit den Ursachen zurückgekoppelt; dabei können neutrale Ursachen zurückgekoppelt; dabei können neutrale Vermittler (so genannte Katalysatoren) auftreten. Vermittler (so genannte Katalysatoren) auftreten.

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Selbstorganisationsprozesse in Selbstorganisationsprozesse in der Sprache: Ein Überblick der Sprache: Ein Überblick

1.1. EvolutionäreEvolutionäre Prozesse. Sieht man von der Prozesse. Sieht man von der Hypothese einer göttlichen Detailsteuerung ab, so Hypothese einer göttlichen Detailsteuerung ab, so kommen eigentlich nur kommen eigentlich nur Selbstorganisationsprozesse in Frage. Dabei Selbstorganisationsprozesse in Frage. Dabei herrschen allerdings komplizierte Rand-herrschen allerdings komplizierte Rand-bedingungen, die im Rahmen einer modernen bedingungen, die im Rahmen einer modernen Evolutionstheorie zu beschreiben sind.Evolutionstheorie zu beschreiben sind.

2.2. Die romantische Sprachwissenschaft versuchte, Die romantische Sprachwissenschaft versuchte, Sprachen wie Sprachen wie OrganismenOrganismen zu behandeln und sogar die zu behandeln und sogar die Evolutions-theorie Darwins zur Beschreibung der Evolutions-theorie Darwins zur Beschreibung der Ausdifferenzierung von Sprachfamilien heranzuziehen Ausdifferenzierung von Sprachfamilien heranzuziehen (siehe die Stammbäume von Sprachen und Spezies bei (siehe die Stammbäume von Sprachen und Spezies bei Schleicher 1863). Die Selbstorganisationstheorie kann Schleicher 1863). Die Selbstorganisationstheorie kann die Gründerintuition der Philologen des frühen 19. Jh.s die Gründerintuition der Philologen des frühen 19. Jh.s in einem geeigneten Rahmen realisieren. in einem geeigneten Rahmen realisieren.

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3.3. Der Der SpracherwerbSpracherwerb wurde schon seit den Arbeiten wurde schon seit den Arbeiten von Piaget als Selbstorganisationsprozess von Piaget als Selbstorganisationsprozess verstanden (er spricht von „Formen kognitiver verstanden (er spricht von „Formen kognitiver Selbstregulationen, die flexibel und konstruktiv Selbstregulationen, die flexibel und konstruktiv sind“ (Furth, 1972: 275).sind“ (Furth, 1972: 275).

4.4. In der neueren komparatistischen Forschung In der neueren komparatistischen Forschung stehen Grammatikalisierungsprozesse im stehen Grammatikalisierungsprozesse im Vordergrund, Untersuchungen zum Sprachwandel Vordergrund, Untersuchungen zum Sprachwandel „in progress“ behandeln das Zusammenwirken „in progress“ behandeln das Zusammenwirken von inneren und äußeren Kräften beim von inneren und äußeren Kräften beim Sprachwandel oder wählen die Sprachwandel oder wählen die „hidden hand“-„hidden hand“-MetapherMetapher, die ein historischer Vorläufer der , die ein historischer Vorläufer der Selbstorganisationstheorien ist. Die Anwendung Selbstorganisationstheorien ist. Die Anwendung von Modellen der Selbstorganisation in diesem von Modellen der Selbstorganisation in diesem Bereich ist aber noch kaum entwickelt. Bereich ist aber noch kaum entwickelt.

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5.5. In der In der Lautproduktion und -rezeptionLautproduktion und -rezeption spielen sich komplexe, spielen sich komplexe, hochkooperative Prozesse ab. In diesem Bereich können gut hochkooperative Prozesse ab. In diesem Bereich können gut entwickelte Modelle der Selbstorganisation angewandt entwickelte Modelle der Selbstorganisation angewandt werden (vgl. Kelso, 1997 und Oudeyer 2006). werden (vgl. Kelso, 1997 und Oudeyer 2006).

6.6. Ziemlich einfach lässt sich der Selbstorganisationscharakter Ziemlich einfach lässt sich der Selbstorganisationscharakter bei der spontanen Erzeugung („Aktualgenese“) sprachlicher bei der spontanen Erzeugung („Aktualgenese“) sprachlicher Strukturen beobachten. Dazu gehören sowohl Strukturen beobachten. Dazu gehören sowohl Innovationen Innovationen im Lexikonim Lexikon als auch Makroformen wie die Erzählung und der als auch Makroformen wie die Erzählung und der Diskurs. Bei der Reifung des Gehirns spielen sich Diskurs. Bei der Reifung des Gehirns spielen sich komplizierte Selbstorganisationsprozesse ab. Es ist komplizierte Selbstorganisationsprozesse ab. Es ist keineswegs so, dass das Wachstum direkt durch den keineswegs so, dass das Wachstum direkt durch den genetischen Code gesteuert ist, vielmehr werden Neuronen genetischen Code gesteuert ist, vielmehr werden Neuronen "im Überschuss" produziert, deren Überleben dann durch "im Überschuss" produziert, deren Überleben dann durch lokal sehr unterschiedliche Mechanismen reguliert wird, lokal sehr unterschiedliche Mechanismen reguliert wird, wodurch eine plastische und funktional adaptierte Struktur wodurch eine plastische und funktional adaptierte Struktur entsteht. Diese Struktur des Gehirns ist die Basis für eine entsteht. Diese Struktur des Gehirns ist die Basis für eine interaktive, soziale Formung des Denkens und der Sprache interaktive, soziale Formung des Denkens und der Sprache in den Prägungsphasen.in den Prägungsphasen.

In diesem Vortrag nicht behandelt:

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Szenarien einer biologischen Szenarien einer biologischen Selbstorganisation der Selbstorganisation der

menschlichen Sprachfähigkeitmenschlichen Sprachfähigkeit Während die Abtrennung der zum Menschen führenden Evolutionslinie von derjenigen der heutigen Primaten (Schimpansen, Orang-Utan, Gorilla) fast 10 Millionen Jahre (MJ) zurückliegt, sind menschenähnliche Formen mit dem Typ des Homo erectus ab 2 MJ belegt; genetische Berechnungen an heute lebenden menschlichen Populationen lassen einen gemeinsamen Ausgangspunkt der genetischen Differenzierung vor etwa 400.000-200.000 J.v.h. vermuten.

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Drei große Phasen der Migration und Drei große Phasen der Migration und biologischen/kulturellen Evolutionbiologischen/kulturellen Evolution

Zeitraum Biologische Migration Symbolische Migration

Steinzeitab 2 MJ v.h.

Entwicklung des Homo habilis aus den Australopithicinen, Migration des Homo erectus nach Eurasien.

Homo habilis stellt Steinwerkzeuge her; Verbreitung der Protosprache und der Steinindustrien.

nach 60.000 bis zum Ende der Eiszeit12.000 v.h.

Der moderne Menschen (Speziesbildung um 300.000 v.h.) verlässt Afrika; er verdrängt die Neandertaler (bis 25.000 v.h.).

Ausbreitung der rezenten Sprache und von Kultur/Kunst/Technik/Mythos; Entstehung großräumiger Kulturen; Besiedlung Amerikas.

Neolithikumab 10.000;Metallzeit

Migration von größeren Populationen; Konzentration und Vermischung in günstigen Regionen (z.B. im Niltal).

Entwicklung von Ackerbau und Viehzucht; Übergang zur Metallherstellung, Sprach- und Kulturmischungen.

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Szenario ASzenario A: Das Szenario einer Evolution der : Das Szenario einer Evolution der Sprache als Sprache als NebeneffektNebeneffekt (spandrel) (spandrel) anderer anderer evolutionärer Prozesse. Die Evolution betrifft zuerst evolutionärer Prozesse. Die Evolution betrifft zuerst kognitive Fähigkeiten (im Wesentlichen Motorik und kognitive Fähigkeiten (im Wesentlichen Motorik und Wahrnehmung) im Zusammenhang der Entwicklung Wahrnehmung) im Zusammenhang der Entwicklung des aufrechten Ganges, des frontal orientierten des aufrechten Ganges, des frontal orientierten Gesichtes und der Mobilität und verfeinerten Gesichtes und der Mobilität und verfeinerten Kontrolle der Hände. Diese Entwicklungen wurden Kontrolle der Hände. Diese Entwicklungen wurden von einem Gehirnwachstum begleitet, das von einem Gehirnwachstum begleitet, das seinerseits eine Vergrößerung des Beckens seinerseits eine Vergrößerung des Beckens (besonders bei Frauen) und eine Art regulärer (besonders bei Frauen) und eine Art regulärer „Frühgeburt“ des Menschen als notwendige „Frühgeburt“ des Menschen als notwendige Anpassungen voraussetzte. Als Nebeneffekt dieser Anpassungen voraussetzte. Als Nebeneffekt dieser wohl unter Selektionsdruck entstandenen wohl unter Selektionsdruck entstandenen Veränderungen entstand ein Sprachpotential (das bei Veränderungen entstand ein Sprachpotential (das bei der Selektion nicht selbst eine Rolle gespielt haben der Selektion nicht selbst eine Rolle gespielt haben muss). muss).

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Szenario BSzenario B: Sprache als : Sprache als Ergebnis von Isolation und Ergebnis von Isolation und genetischem Driftgenetischem Drift, das , das Bottle-Neck-Bottle-Neck-Szenario. Auf der Szenario. Auf der Basis des bereits in der Tierkommunikation verfügbaren Basis des bereits in der Tierkommunikation verfügbaren Verhaltensrepertoires und einer großen Variation dieses Verhaltensrepertoires und einer großen Variation dieses Repertoires konnten sich isolierte Teilgruppen auf eine Repertoires konnten sich isolierte Teilgruppen auf eine sehr spezielle Variante der Lautkommunikation sehr spezielle Variante der Lautkommunikation konzentrieren. Dieser Prozess könnte sich wiederholt konzentrieren. Dieser Prozess könnte sich wiederholt haben, wobei nach der Isolation jeweils eine haben, wobei nach der Isolation jeweils eine „sprachstarke“ Variante überlebt und sich ausgebreitet „sprachstarke“ Variante überlebt und sich ausgebreitet hätte. Wenn die anderen isolierten Gruppen aussterben, hätte. Wenn die anderen isolierten Gruppen aussterben, kann eine iterierte Bottle-Neck-Situation relativ schnell kann eine iterierte Bottle-Neck-Situation relativ schnell die „sprachstarke“ Variante durchsetzen. Ist das die „sprachstarke“ Variante durchsetzen. Ist das Merkmal der Sprachkapazität einmal ausreichend Merkmal der Sprachkapazität einmal ausreichend ausgeprägt, kann es als Fitness-Vorteil im normalen ausgeprägt, kann es als Fitness-Vorteil im normalen darwinistischen Mutation-/Selektions-Mechanismus darwinistischen Mutation-/Selektions-Mechanismus konsolidiert bzw. optimiert werden. Als Koevolution konsolidiert bzw. optimiert werden. Als Koevolution müssen Gehirnwachstum und lange Prägungs- bzw. müssen Gehirnwachstum und lange Prägungs- bzw. Lernphasen parallel entstehen, da sonst die zerebralen Lernphasen parallel entstehen, da sonst die zerebralen und sozialen Mindestbedingungen für den Spracherwerb und sozialen Mindestbedingungen für den Spracherwerb nicht gegeben sind.nicht gegeben sind.

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Szenario CSzenario C: Sprache als Ergebnis einer : Sprache als Ergebnis einer schnellen schnellen sexuellen Selektionsexuellen Selektion, das „runaway“-Szenario. Eine , das „runaway“-Szenario. Eine schnelle, auch „run-away“-Evolution genannt, schnelle, auch „run-away“-Evolution genannt, könnte durch eine innerartliche Koevolution könnte durch eine innerartliche Koevolution weiblicher Präferenzen (auch männlicher) und der weiblicher Präferenzen (auch männlicher) und der Förderung passender Merkmale durch sexuelle Förderung passender Merkmale durch sexuelle Selektion erfolgt sein. Es kann zu einem Selektion erfolgt sein. Es kann zu einem „Wettrüsten“ – etwa zwischen Männchen – „Wettrüsten“ – etwa zwischen Männchen – kommen. Die sexuelle Selektion geht aber nicht nur kommen. Die sexuelle Selektion geht aber nicht nur vom (passiven) Weibchen aus. Wird etwa die vom (passiven) Weibchen aus. Wird etwa die Sozialstruktur derart verändert, dass das Männchen Sozialstruktur derart verändert, dass das Männchen mehr in die Brutpflege investieren muss, wird die mehr in die Brutpflege investieren muss, wird die Auswahl geeigneter Männchen reduziert, d.h. die Auswahl geeigneter Männchen reduziert, d.h. die Weibchen müssen „aufrüsten“ und um die „besten“ Weibchen müssen „aufrüsten“ und um die „besten“ Männchen konkurrieren, so dass deren Präferenzen Männchen konkurrieren, so dass deren Präferenzen als Kriterien der sexuellen Selektion zum Tragen als Kriterien der sexuellen Selektion zum Tragen kommen. kommen.

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Szenario DSzenario D: Die Explosion der Nachahmung wird : Die Explosion der Nachahmung wird als Basis eines schnellen Anstiegs der als Basis eines schnellen Anstiegs der Repräsentations-formen angenommen, die durch Repräsentations-formen angenommen, die durch die Entfaltung der Sprachfähigkeit stabilisiert und die Entfaltung der Sprachfähigkeit stabilisiert und vermehrt werden. Dieses Szenario geht davon vermehrt werden. Dieses Szenario geht davon aus, dass eine bestimmte neuronale Ausstattung aus, dass eine bestimmte neuronale Ausstattung charakterisiert durch die Existenz von charakterisiert durch die Existenz von „„Spiegel-Spiegel-NeuronenNeuronen““ das Beobachten fremden Verhaltens, das Beobachten fremden Verhaltens, die Übertragung auf den eigenen Körper und die Übertragung auf den eigenen Körper und damit das Fremdverstehen und Verhaltenslernen damit das Fremdverstehen und Verhaltenslernen potenziert. Die Anlage dazu existiert bereits bei potenziert. Die Anlage dazu existiert bereits bei Primaten, ermöglicht in der weiteren Entwicklung Primaten, ermöglicht in der weiteren Entwicklung jedoch eine neue Dimension sozialen Lernens und jedoch eine neue Dimension sozialen Lernens und damit die Herausbildung von „Traditionen“. Die damit die Herausbildung von „Traditionen“. Die Sprache wäre das Medium, welches zur besseren Sprache wäre das Medium, welches zur besseren Organisation dieser Traditionen benötigt wird. Organisation dieser Traditionen benötigt wird.

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Szenario ESzenario E: Die Lautsprache als Folge der : Die Lautsprache als Folge der Evolution menschlicher Evolution menschlicher WerkzeugeWerkzeuge und als und als Konkurrenz zu einer „Hand-Sprache“. Dieses Konkurrenz zu einer „Hand-Sprache“. Dieses funktionalistische Szenario wurde bereits von funktionalistische Szenario wurde bereits von Condillac (1746) unter der Überschrift „Le langage Condillac (1746) unter der Überschrift „Le langage d’action et celui des sons articulés considérés dans d’action et celui des sons articulés considérés dans leur origine“ skizziert. Durch die neueren leur origine“ skizziert. Durch die neueren Forschungen zur Sprachähnlichkeit der Forschungen zur Sprachähnlichkeit der Taubstummensprachen bekam diese vielfach Taubstummensprachen bekam diese vielfach kritisierte Theorie neue Nahrung. Armstrong, kritisierte Theorie neue Nahrung. Armstrong, Stokol und Wilkox (1995) sprechen von einer Stokol und Wilkox (1995) sprechen von einer Ablösung des Ablösung des „hand-talk“„hand-talk“ durch einen durch einen “speech-“speech-alone-talk“.alone-talk“. Die „Hand-Sprache“ kann man Die „Hand-Sprache“ kann man außerdem mit der Entwicklung von außerdem mit der Entwicklung von Steinwerkzeugen seit etwa 2 MJ und deren Steinwerkzeugen seit etwa 2 MJ und deren Differenzierung bis zum Aufkommen der Differenzierung bis zum Aufkommen der Metallbearbeitung in Zusammenhang bringen. Sie Metallbearbeitung in Zusammenhang bringen. Sie ist zeitlich zumindest koextensiv mit dem ist zeitlich zumindest koextensiv mit dem möglichen Zeitraum der Sprachevolution. möglichen Zeitraum der Sprachevolution.

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Szenario FSzenario F: Sprache als : Sprache als Medium kultureller SymboleMedium kultureller Symbole. . Unter der Annahme, dass die kognitive Evolution im Unter der Annahme, dass die kognitive Evolution im Wesentlichen sprachunabhängig erfolgt sei, wäre eine Wesentlichen sprachunabhängig erfolgt sei, wäre eine relativ späte Ausbildung der lautsprachlichen relativ späte Ausbildung der lautsprachlichen Kommunikation vorstellbar. In diesem Fall könnte man Kommunikation vorstellbar. In diesem Fall könnte man anstelle der Kommunikation und Sozialstruktur von anstelle der Kommunikation und Sozialstruktur von Primaten (etwa von Schimpansen) die Sozialstruktur Primaten (etwa von Schimpansen) die Sozialstruktur traditioneller Stammeskulturen, z.B. in Südafrika, traditioneller Stammeskulturen, z.B. in Südafrika, Nordsibirien oder Australien, als Ausgangsbasis nehmen. Nordsibirien oder Australien, als Ausgangsbasis nehmen. Livingstone (1983) geht davon aus, dass der Vorteil für die Livingstone (1983) geht davon aus, dass der Vorteil für die Entwicklung einer hochspezialisierten menschlichen Laut-Entwicklung einer hochspezialisierten menschlichen Laut-Sprache nicht ausreichend gewesen wäre. Dagegen sei Sprache nicht ausreichend gewesen wäre. Dagegen sei die Raumaufteilung konkurrierender Gruppen, wenn sie die Raumaufteilung konkurrierender Gruppen, wenn sie ohne ausgedehnte Pufferzonen und ständige Aggression ohne ausgedehnte Pufferzonen und ständige Aggression auskommen wollen, auf ein symbolisches Medium auskommen wollen, auf ein symbolisches Medium angewiesen. Livingstone verdeutlicht das Prinzip an der angewiesen. Livingstone verdeutlicht das Prinzip an der Kariera-Population in Nordaustralien. Es herrscht ein Kariera-Population in Nordaustralien. Es herrscht ein exogames Prinzip, d.h. die Frauen werden mit exogames Prinzip, d.h. die Frauen werden mit benachbarten (klar definierten) Gebieten ausgetauscht. benachbarten (klar definierten) Gebieten ausgetauscht. Die Territorien selbst sind durch den Besitz von Totem-Die Territorien selbst sind durch den Besitz von Totem-Orten symbolisch besetzt und werden durch eine sakrale Orten symbolisch besetzt und werden durch eine sakrale Instanz stabilisiert. Instanz stabilisiert.

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Exkurs: Die mögliche Exkurs: Die mögliche Struktur einer Struktur einer ProtospracheProtosprache

Proto-Phonetik (Phonologie), wobei die auditive Proto-Phonetik (Phonologie), wobei die auditive von der produktiven Phonetik/Phonologie zu von der produktiven Phonetik/Phonologie zu unterscheiden ist,unterscheiden ist,

Protopragmatik und Protosemantik (Umsetzung Protopragmatik und Protosemantik (Umsetzung des erweiterten ökologischen und sozialen des erweiterten ökologischen und sozialen Wissens in eine Form der sozialen Wissens in eine Form der sozialen Kommunikation).Kommunikation).

Protosyntax (sowohl von Wörtern als auch von Protosyntax (sowohl von Wörtern als auch von Sätzen); der Ausgangspunkt ist die Entstehung Sätzen); der Ausgangspunkt ist die Entstehung von Morphemfolgen bzw. das Anwachsen des von Morphemfolgen bzw. das Anwachsen des Lexikons (z.B. jenseits von 30-50 Wörtern). Die Lexikons (z.B. jenseits von 30-50 Wörtern). Die Protosemantik und Protosyntax bilden eventuell Protosemantik und Protosyntax bilden eventuell eine noch nicht differenzierte Protosemantax.eine noch nicht differenzierte Protosemantax.

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Protophonetik (auditiv und Protophonetik (auditiv und produktiv)produktiv)

MacNeillage und Davis (2000) gehen von einfachen MacNeillage und Davis (2000) gehen von einfachen Bewegungen der Backenmuskulatur und der Lippen Bewegungen der Backenmuskulatur und der Lippen aus, wie sie für das Kauen, Beißen, für aus, wie sie für das Kauen, Beißen, für Lippenbewegungen (Saugen; bei Schimpansen auch Lippenbewegungen (Saugen; bei Schimpansen auch Lippengestik) Lippengestik) vorvor der Sprache verfügbar waren. der Sprache verfügbar waren.

Silben einer Protosprache Silben einer Protosprache CVCV – koronaler Konsonant + frontaler Vokal, z.B. te–– koronaler Konsonant + frontaler Vokal, z.B. te–

te–tete–te CVCV – labialer Konsonant + zentraler Vokal , z.B. ba–– labialer Konsonant + zentraler Vokal , z.B. ba–

ba–ba– baba CVCV – dorsaler Konsonant + hinterer Vokal – dorsaler Konsonant + hinterer Vokal , z.B., z.B. go– go–

go–go– gogo CVC – labialer Konsonant – Vokal – koronaler CVC – labialer Konsonant – Vokal – koronaler

Konsonant: , Konsonant: , z.B. bat, bod, pet, …z.B. bat, bod, pet, …

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ProtosemantikProtosemantik Hierarchie der SituationsdistanzHierarchie der Situationsdistanz

1.1. Das Das indexikalischeindexikalische Zeichen (z.B. Rauch für Feuer; Zeichen (z.B. Rauch für Feuer; Donner für Blitzschlag) beinhaltet zwar eine zeitliche Donner für Blitzschlag) beinhaltet zwar eine zeitliche und räumliche Distanz (Blitz und Donner werden und räumliche Distanz (Blitz und Donner werden zeitlich oft viele Sekunden getrennt wahrgenommen, zeitlich oft viele Sekunden getrennt wahrgenommen, da das Licht schneller ist als der Schall). Im Prinzip da das Licht schneller ist als der Schall). Im Prinzip sind kausale Verbindungen aber schon auf der Stufe sind kausale Verbindungen aber schon auf der Stufe der höheren Primaten einsehbar.der höheren Primaten einsehbar.

2.2. Das Das ikonischeikonische Zeichen bezieht sich auf eine dem Zeichen bezieht sich auf eine dem Benützer interne Ähnlichkeitsmatrix, löst sich also Benützer interne Ähnlichkeitsmatrix, löst sich also vom raumzeitlichen Kontext; außerdem können die vom raumzeitlichen Kontext; außerdem können die Ähnlichkeitsdimensionen aus einer großen Vielfalt an Ähnlichkeitsdimensionen aus einer großen Vielfalt an Möglichkeiten ausgewählt werden. In Bereichen wie Möglichkeiten ausgewählt werden. In Bereichen wie der Form- und Prozesswahrnehmung können die der Form- und Prozesswahrnehmung können die Raster allerdings so spezies-typisch einheitlich sein, Raster allerdings so spezies-typisch einheitlich sein, dass auch die ikonische Beziehung stark motiviert ist.dass auch die ikonische Beziehung stark motiviert ist.

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3.3. Das Das SymbolSymbol schließlich maximiert die schließlich maximiert die Unabhängigkeit von Situation und Unabhängigkeit von Situation und Individuum, ist minimal oder gar nicht Individuum, ist minimal oder gar nicht motiviert und entspricht dem Prototyp des motiviert und entspricht dem Prototyp des arbiträren Zeichens bei Ferdinand de arbiträren Zeichens bei Ferdinand de Saussure.Saussure.

Die jeweiligen Auswahlchancen, die sich vom Die jeweiligen Auswahlchancen, die sich vom Index über das Ikon zum Symbol in ihrem Index über das Ikon zum Symbol in ihrem Informationsgehalt steigern, haben als Informationsgehalt steigern, haben als Preis, dass sie im Gedächtnis verstetigt Preis, dass sie im Gedächtnis verstetigt werden müssen, und dass dieses werden müssen, und dass dieses Gedächtnis sozial geteilt werden muss, Gedächtnis sozial geteilt werden muss, damit die Verständigung zuverlässig ist. damit die Verständigung zuverlässig ist.

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Protopragmatik und kulturelle Protopragmatik und kulturelle TechnikenTechniken

Für die Protopragmatik ist die kognitive Für die Protopragmatik ist die kognitive Planung und Ausführung komplexer Planung und Ausführung komplexer Handlungen wichtig. Diese motorischen Handlungen wichtig. Diese motorischen Programme sind die mögliche Basis der Programme sind die mögliche Basis der Beherrschung komplexer symbolischer Beherrschung komplexer symbolischer Gestalten, z.B. in der „Sprache“ komplexe Gestalten, z.B. in der „Sprache“ komplexe Wörter, Sätze, Texte. Aus der Pragmatik Wörter, Sätze, Texte. Aus der Pragmatik komplexer zeitlich geordneter Gestalten komplexer zeitlich geordneter Gestalten könnten sich semantisch-syntaktische Muster, könnten sich semantisch-syntaktische Muster, wie sie auch morphologisch komplexe Wörter, wie sie auch morphologisch komplexe Wörter, Sätze und Texte aufweisen, entwickelt haben.Sätze und Texte aufweisen, entwickelt haben.

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2020

Die präziseren Abschlagtechniken des Homo Die präziseren Abschlagtechniken des Homo erectus (in seiner weiteren Evolution) sind erectus (in seiner weiteren Evolution) sind gegliedert und beinhalten bis zu 50 einzelne gegliedert und beinhalten bis zu 50 einzelne Schritte. Diese Technik wurde neben der Schritte. Diese Technik wurde neben der Verarbeitung von Holz und Knochen zur Verarbeitung von Holz und Knochen zur Grundlage von sog. „Industrien“, d.h. es Grundlage von sog. „Industrien“, d.h. es wurde große Serien gleichartiger Objekte wurde große Serien gleichartiger Objekte hergestellt.hergestellt.

Beim Cro-Magnon-Menschen kommen sehr Beim Cro-Magnon-Menschen kommen sehr kleine Instrumente (etwa Pfeilspitzen, kleine Instrumente (etwa Pfeilspitzen, Nadeln) hinzu; die Technik des Abdrückens Nadeln) hinzu; die Technik des Abdrückens der Kanten erlaubt außerdem schärfere der Kanten erlaubt außerdem schärfere Instrumente bzw. deren Nachschärfung. Instrumente bzw. deren Nachschärfung.

Erst im Neolithikum kommen das Schleifen von Erst im Neolithikum kommen das Schleifen von Stein (nicht in Tasmanien) und dann Stein (nicht in Tasmanien) und dann natürlich die Metalltechniken (Gold, Silber, natürlich die Metalltechniken (Gold, Silber, Kupfer, Bronze, Eisen usw.) hinzu. Kupfer, Bronze, Eisen usw.) hinzu.

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Protosyntax Protosyntax In vielen (minimalistischen) Sprachverwendungen In vielen (minimalistischen) Sprachverwendungen

sind verzichtbar :sind verzichtbar : RekursivitätRekursivität (wie Mehrfachattribute und (wie Mehrfachattribute und

wiederholte Subordinationen).wiederholte Subordinationen). Positionelle Positionelle FlexibilitätFlexibilität im Sinne der im Sinne der

Transformations-grammatik.Transformations-grammatik.Als zentrale Eigenschaften einer Protosyntax Als zentrale Eigenschaften einer Protosyntax

bleiben:bleiben: StrukturStruktur: Der Satz ist keine zufällige Abfolge von : Der Satz ist keine zufällige Abfolge von

Elementen; es gibt Regeln der Satzordnung (die Elementen; es gibt Regeln der Satzordnung (die Techniken können verschieden sein).Techniken können verschieden sein).

HierarchieHierarchie: Es gibt mehr als eine Ebene, auf der : Es gibt mehr als eine Ebene, auf der solche Strukturen (siehe oben) existieren. solche Strukturen (siehe oben) existieren.

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Von der biologischen zur Von der biologischen zur kulturellen kulturellen

SelbstorganisationSelbstorganisation Die Sprachfähigkeit als solche wurde nicht mehr Die Sprachfähigkeit als solche wurde nicht mehr

modifiziert, da jede Sprache von allen heutigen Menschen modifiziert, da jede Sprache von allen heutigen Menschen im Kindesalter erlernbar ist. Die weitere „Evolution“ im Kindesalter erlernbar ist. Die weitere „Evolution“ betrifft in erster Linie die kulturelle Organisation und die betrifft in erster Linie die kulturelle Organisation und die weiteren bzw. abgeleiteten symbolischen Formen: weiteren bzw. abgeleiteten symbolischen Formen: Religion (Mythos), Wissenschaft/Technik, Kunst und Religion (Mythos), Wissenschaft/Technik, Kunst und spezielle Sprachformen, wie Schriftsprachen, neue Medien spezielle Sprachformen, wie Schriftsprachen, neue Medien usw. In diesem Kontext stellt sich die Frage: Sind usw. In diesem Kontext stellt sich die Frage: Sind Veränderungen der sozialen Organisation, wie sie etwa Veränderungen der sozialen Organisation, wie sie etwa die paläolithische Höhlenmalerei (37-16.000 J. BP) oder die paläolithische Höhlenmalerei (37-16.000 J. BP) oder die neolithische Revolution mit Ackerbau und Viehzucht die neolithische Revolution mit Ackerbau und Viehzucht mit sich brachten, oder auch die Organisation der frühen mit sich brachten, oder auch die Organisation der frühen Reiche in Mesopotamien und Ägypten (ab 5000 BP) Reiche in Mesopotamien und Ägypten (ab 5000 BP) wirklich „Evolutionen“, welche im Kulturellen die wirklich „Evolutionen“, welche im Kulturellen die biologische Evolution fortsetzen? biologische Evolution fortsetzen?

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Wendet man diese Fragestellung auf jetzt stattfindende und Wendet man diese Fragestellung auf jetzt stattfindende und beobachtbare Prozesse an, stößt man auf die negative Antwort, beobachtbare Prozesse an, stößt man auf die negative Antwort, das von Labov diskutierte Darwin-Paradox:das von Labov diskutierte Darwin-Paradox:

„„The evolution of The evolution of speciesspecies and the evolution of language are and the evolution of language are identical in form, although the fundamental mechanism of the identical in form, although the fundamental mechanism of the former is absent in the latter“ (Labov, 2001: 15)former is absent in the latter“ (Labov, 2001: 15)

Gemäß einer bereits kurz nach Darwins Schrift (1859) von August Gemäß einer bereits kurz nach Darwins Schrift (1859) von August Schleicher (1863) formulierten These verhalten sich Sprachen Schleicher (1863) formulierten These verhalten sich Sprachen scheinbar wie Spezies, d.h. sie erzeugen „genetische scheinbar wie Spezies, d.h. sie erzeugen „genetische Stammbäume“. Wörter und sprachliche Konstruktionen werden Stammbäume“. Wörter und sprachliche Konstruktionen werden verdrängt, ersetzt (ausgelesen). Es ist aber die fast einhellige verdrängt, ersetzt (ausgelesen). Es ist aber die fast einhellige Meinung moderner Typologen (Humboldt sprach wie Herder Meinung moderner Typologen (Humboldt sprach wie Herder noch von einer Höherentwicklung der flektierenden Sprachen), noch von einer Höherentwicklung der flektierenden Sprachen), dass sich Sprachen insgesamt in ihrer Leistungsfähigkeit nicht dass sich Sprachen insgesamt in ihrer Leistungsfähigkeit nicht unterscheiden, also nicht direkt oder nachweisbar einem unterscheiden, also nicht direkt oder nachweisbar einem Adaptations- oder Selektionsdruck unterliegen. Adaptations- oder Selektionsdruck unterliegen. Greenberg Greenberg (1959: 69) sagt:(1959: 69) sagt:

„„Taking linguistic change as a whole, there seems to be no Taking linguistic change as a whole, there seems to be no discernible movement toward greater efficiency such as might discernible movement toward greater efficiency such as might be expected if in fact there were a continuous struggle in which be expected if in fact there were a continuous struggle in which superior linguistic innovations won out as a general rule.“superior linguistic innovations won out as a general rule.“

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Spätestens in den Hochkulturen Ägyptens und Spätestens in den Hochkulturen Ägyptens und Mesopotamiens gab es eine Schicht von Priestern, Mesopotamiens gab es eine Schicht von Priestern, Schriftkundigen und Gelehrten, durch die symbolische Schriftkundigen und Gelehrten, durch die symbolische Formen, wie der Mythos, die Schriftsprache und die Kunst, Formen, wie der Mythos, die Schriftsprache und die Kunst, gezielt gestaltet wurden, d.h. es gab Pläne und Absichten. gezielt gestaltet wurden, d.h. es gab Pläne und Absichten. Allerdings sind deren Akteure wiederum viele und sie Allerdings sind deren Akteure wiederum viele und sie handeln insgesamt als Teilsystem eines größeren handeln insgesamt als Teilsystem eines größeren kulturellen Systems. Die Summe ihrer Entscheidungen kulturellen Systems. Die Summe ihrer Entscheidungen muss deshalb jeweils in ein Gleichgewicht mit vielen muss deshalb jeweils in ein Gleichgewicht mit vielen Kräften gebracht werden und die Bedingungen verändern Kräften gebracht werden und die Bedingungen verändern sich in historischer Zeit. So kam es z.B. beim Wechsel der sich in historischer Zeit. So kam es z.B. beim Wechsel der Dynastien (und der Hauptstädte) in Ägypten jeweils zu Dynastien (und der Hauptstädte) in Ägypten jeweils zu religiösen und künstlerischen Umbrüchen. Echnaton religiösen und künstlerischen Umbrüchen. Echnaton versuchte eine religiöse Revolution in Richtung eines versuchte eine religiöse Revolution in Richtung eines Monotheismus (als Sonnekult) und scheiterte, während Monotheismus (als Sonnekult) und scheiterte, während vergleichbare monotheistische Tendenzen von Moses nach vergleichbare monotheistische Tendenzen von Moses nach dem Auszug aus Ägypten in Palästina verwirklicht werden dem Auszug aus Ägypten in Palästina verwirklicht werden konnten. Die Schriftsysteme der mesopotamischen und konnten. Die Schriftsysteme der mesopotamischen und ägyptischen Kulturen wurden von den Seevölkern (z.B. den ägyptischen Kulturen wurden von den Seevölkern (z.B. den Phöniziern, später den Griechen) adaptiert und schließlich Phöniziern, später den Griechen) adaptiert und schließlich zur Alphabetschrift umgeformt, die sich dann in vielen zur Alphabetschrift umgeformt, die sich dann in vielen Varianten über die Welt ausbreitete. Varianten über die Welt ausbreitete.

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Selbstorganisation in der Selbstorganisation in der KreolgeneseKreolgenese

In der Kreolgenese einer Sklavenhalter- oder In der Kreolgenese einer Sklavenhalter- oder Plantagengesellschaft steht einer Mehrheit nicht organisierter Plantagengesellschaft steht einer Mehrheit nicht organisierter (da aus vielen Ethnien und Sprachen stammender), meist (da aus vielen Ethnien und Sprachen stammender), meist sehr jungen und deshalb kulturell schwachen Sklaven eine sehr jungen und deshalb kulturell schwachen Sklaven eine Minderheit von Europäern gegenüber, von denen außerdem Minderheit von Europäern gegenüber, von denen außerdem nur wenige mit den Sklaven in intensive Kommunikation nur wenige mit den Sklaven in intensive Kommunikation treten (so etwa Missionare oder Mitglieder von staatlichen treten (so etwa Missionare oder Mitglieder von staatlichen Kommissionen zur Kontrolle der Kolonisation). In dieser Kommissionen zur Kontrolle der Kolonisation). In dieser Situation kann eine kleine Gruppe halbwegs zweisprachiger Situation kann eine kleine Gruppe halbwegs zweisprachiger Sklaven, die zwischen Kolonisatoren und Sklaven und Sklaven, die zwischen Kolonisatoren und Sklaven und zwischen Neuankömmlingen und bereits in der Kolonie zwischen Neuankömmlingen und bereits in der Kolonie sozialisierten Sklaven vermitteln, eine Schlüsselrolle sozialisierten Sklaven vermitteln, eine Schlüsselrolle einnehmen. Sie sind quasi der Kristallisationspunkt, an dem einnehmen. Sie sind quasi der Kristallisationspunkt, an dem sich eine Vielfalt unstabiler Behelfssprachen (auf beiden sich eine Vielfalt unstabiler Behelfssprachen (auf beiden Seiten) zu einem brauchbaren Kommunikationsinstrument Seiten) zu einem brauchbaren Kommunikationsinstrument formt, das dann als Sprachangebot von den folgenden formt, das dann als Sprachangebot von den folgenden Generationen weiter ausgebaut und konsolidiert wird. Generationen weiter ausgebaut und konsolidiert wird.

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In einer anderen ebenfalls typischen Kolonialsituation In einer anderen ebenfalls typischen Kolonialsituation findet der Kontakt nur in begrenzten Situationen (z.B. findet der Kontakt nur in begrenzten Situationen (z.B. am Arbeitsplatz, etwa im Hafen) statt (siehe das am Arbeitsplatz, etwa im Hafen) statt (siehe das China-Coast Pidgin). Die Muttersprachen der Arbeiter China-Coast Pidgin). Die Muttersprachen der Arbeiter und ihre Ursprungskultur werden von dem Erwerb und ihre Ursprungskultur werden von dem Erwerb der Zweisprache (des Pidgin) nur unwesentlich der Zweisprache (des Pidgin) nur unwesentlich beeinflusst (etwa über Entlehnungen). In vielen beeinflusst (etwa über Entlehnungen). In vielen Fällen entstehen die Städte aber erst dadurch, dass Fällen entstehen die Städte aber erst dadurch, dass eine Handelszone (ein Hafen) geschaffen wird. Die eine Handelszone (ein Hafen) geschaffen wird. Die aus dem Hinterland einströmenden Bewohner etwas aus dem Hinterland einströmenden Bewohner etwas in Papua Neuguinea haben keine gemeinsame in Papua Neuguinea haben keine gemeinsame Sprache und eines (oder mehrere bei eine Sprache und eines (oder mehrere bei eine Konkurrenz von Städten) der vorübergehend Konkurrenz von Städten) der vorübergehend entstandenen Pidgins wird zum Kreol ausgebaut. entstandenen Pidgins wird zum Kreol ausgebaut. Dies ist die Situation, welche von der Dies ist die Situation, welche von der Standardhypothese: Pidgin > erweitertes Pidgin > Standardhypothese: Pidgin > erweitertes Pidgin > Kreol abgedeckt wird. Kreol abgedeckt wird.

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Die Entstehung von Kreolsprachen als Die Entstehung von Kreolsprachen als Muster der Organisation von Muster der Organisation von

SprachsystemenSprachsystemen Aus den Englischen „by and by“ entstanden Aus den Englischen „by and by“ entstanden

folgende Formen:folgende Formen: baimbai – temporales Adverb vor dem Verbbaimbai – temporales Adverb vor dem Verb bai – Futurindikator /em bai I go / = ich werde bai – Futurindikator /em bai I go / = ich werde

gehengehen Reduzierung /em bi-i go / = ich werde gehenReduzierung /em bi-i go / = ich werde gehen

Sankoff und Laberge (1973) konnten Eltern und Sankoff und Laberge (1973) konnten Eltern und ihre Kinder in der Entwicklung des Tok Pisin, einer ihre Kinder in der Entwicklung des Tok Pisin, einer nach der Unabhängigkeit von Papua Guinea zum nach der Unabhängigkeit von Papua Guinea zum Kreol (schließlich zur Nationalsprache) Kreol (schließlich zur Nationalsprache) entwickelten Kontaktsprache, beobachten.entwickelten Kontaktsprache, beobachten.

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Die Kinder folgen ihren Eltern in der Die Kinder folgen ihren Eltern in der Tendenz und verstärken diese lediglich.Tendenz und verstärken diese lediglich.

Korrelation Korrelation der Kinder der Kinder und Eltern und Eltern bei der bei der Akzent-Akzent-reduktion reduktion der Futur-der Futur-Markierung Markierung baibai im Tok im Tok Pisin.Pisin.

vgl. vgl. Labov, Labov, 2001: 4252001: 425

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SelbstorganisationsprozessSelbstorganisationsprozesse in der Sprachgeschichtee in der Sprachgeschichte

Es galt lange als akzeptiert, dass die historische Es galt lange als akzeptiert, dass die historische Linguistik eine maximale Zeit-Tiefe von 8 000 bis 10 000 Linguistik eine maximale Zeit-Tiefe von 8 000 bis 10 000 Jahren hat, da zu viel Rauschen in den Daten sei, um Jahren hat, da zu viel Rauschen in den Daten sei, um zuverlässig weiter zurück zu gelangen. Immerhin wurden zuverlässig weiter zurück zu gelangen. Immerhin wurden Sprachfamilien wie das Eurasiatische (Greenberg) oder Sprachfamilien wie das Eurasiatische (Greenberg) oder gar das Nostratische (Dolgopolsky) vorgeschlagen, die gar das Nostratische (Dolgopolsky) vorgeschlagen, die jenseits dieser Grenze liegen. Genetische Analysen haben jenseits dieser Grenze liegen. Genetische Analysen haben zudem für die Rekolonisation Europas nach der letzten zudem für die Rekolonisation Europas nach der letzten Eiszeit aus einem Refugium in Südfrankreich/Nordspanien Eiszeit aus einem Refugium in Südfrankreich/Nordspanien die Zeitspanne zwischen 15 000-10 000 angesetzt. Die die Zeitspanne zwischen 15 000-10 000 angesetzt. Die Erstbesiedlung Amerikas und damit der Ursprung der von Erstbesiedlung Amerikas und damit der Ursprung der von Greenberg Amerind genannten Sprachfamilie liegt auch Greenberg Amerind genannten Sprachfamilie liegt auch jenseits der 10 000-Jahre-Grenze (Erstbesiedlung 15-jenseits der 10 000-Jahre-Grenze (Erstbesiedlung 15-50 000 J. v.h.; vgl. Cavalli-Sforza, 1996: 81). Abb. 2 zeigt 50 000 J. v.h.; vgl. Cavalli-Sforza, 1996: 81). Abb. 2 zeigt Renfrews Hypothese einer Ausbreitung der franko-Renfrews Hypothese einer Ausbreitung der franko-kantabrischen Bevölkerung nach der letzten Eiszeit. kantabrischen Bevölkerung nach der letzten Eiszeit.

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Langzeitentwicklungen und Langzeitentwicklungen und Rekonstruktionen Rekonstruktionen

Ausbreitungswege einer franko-kantabrischen Bevölkerung von 15 000-10 000 J.v.h.

(vgl. Renfrew, 2000: 478). Auf sie folgen nach der neolithischen Revolution in Kleinasien Ausbreitungsgradienten von Südosten nach Westen und von Nordosten nach Westen.

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Karte der ersten Hauptkompo-nente der Gen-Variation in Europa (nach Cavalli-Sforza 2001: 116) als sput einer Migration von Südosten nach Westeuropa.

Ein zweiter Gradient führt aus dem Nordosten nach Nordeuropa

Parallel zu diesem genetische Gradienten könnten sich indo-europäische Sprachen nach Westeuropa ausgedehnt haben (Hypothese von Cavalli-Sforza).

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Gibt es „Fortschritte“ in der Gibt es „Fortschritte“ in der Sprachgeschichte der letzten Sprachgeschichte der letzten

Jahrtausende?Jahrtausende?Vorschläge von Bichakjian (2002) Vorschläge von Bichakjian (2002) Obstruenten ersetzen glottalisierte Konsonanten,Obstruenten ersetzen glottalisierte Konsonanten, Lange und kurze Vokale ersetzen Laryngale (der Lange und kurze Vokale ersetzen Laryngale (der

Grund wäre die leichtere neuromuskuläre Kontrolle Grund wäre die leichtere neuromuskuläre Kontrolle der Artikulation),der Artikulation),

Verlust des Duals und Abbau von Verlust des Duals und Abbau von Genusmarkierungen,Genusmarkierungen,

Ersatz von Aspektmarkierungen durch Tempus-Ersatz von Aspektmarkierungen durch Tempus-markierungen,markierungen,

Bevorzugung der Subjekt-Kategorie mit Passivierung Bevorzugung der Subjekt-Kategorie mit Passivierung gegen andere (Ergativ-Konstruktionen),gegen andere (Ergativ-Konstruktionen),

Bevorzugung von Kopf-Erst- gegenüber Kopf-Letzt-Bevorzugung von Kopf-Erst- gegenüber Kopf-Letzt-Positionen.Positionen.

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Universalien des Universalien des Sprachwandels und Sprachwandels und

Grammatikalisierungsprozesse Grammatikalisierungsprozesse Da die Grammatikalisierung ein Prozess des Verlustes Da die Grammatikalisierung ein Prozess des Verlustes

(semantischer) Information ist, ist sie gerichtet und (semantischer) Information ist, ist sie gerichtet und irreversibel. Gleichzeitig muss der Verlust (dem ein irreversibel. Gleichzeitig muss der Verlust (dem ein organisatorischer Gewinn für das grammatische organisatorischer Gewinn für das grammatische System entspricht) kompensiert werden. Der System entspricht) kompensiert werden. Der Sprachwandel stellt sich somit als eine komplexe Sprachwandel stellt sich somit als eine komplexe Koppelung von Prozessen auf verschiedenen Ebenen Koppelung von Prozessen auf verschiedenen Ebenen mit Erhaltung der Gesamtinformation dar. mit Erhaltung der Gesamtinformation dar. Längerfristig kann solch ein zyklischer Längerfristig kann solch ein zyklischer Ausgleichsprozess aber zur funktionalen Ausgleichsprozess aber zur funktionalen Umgestaltung des Systems führen.Umgestaltung des Systems führen.

Wichtiger als die allgemeinen Verlustprozesse sind Wichtiger als die allgemeinen Verlustprozesse sind Prozesse, die das Gesamtsystem längere Zeit in Prozesse, die das Gesamtsystem längere Zeit in einem stationären Fließgleichgewicht bleibt. einem stationären Fließgleichgewicht bleibt.

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Zwei Typen von Ressourcen Zwei Typen von Ressourcen a) a) Starre StrukturenStarre Strukturen. Sie halten ein . Sie halten ein

Grundinventar von Kategorien stabil, für Grundinventar von Kategorien stabil, für die jeweils Sprachformen gefunden die jeweils Sprachformen gefunden werden müssen. Man kann von einer werden müssen. Man kann von einer tiefenkategorialen Stabilitättiefenkategorialen Stabilität der Sprache der Sprache sprechen (Position von Seiler). sprechen (Position von Seiler).

Kontextabhängige Kontextabhängige pragmatischepragmatische Strukturen, z.B. die Skala: Ich (Sprecher) Strukturen, z.B. die Skala: Ich (Sprecher) du/er (Hörer) oder ein Inventar von du/er (Hörer) oder ein Inventar von Sprechakt-Typen (Searle- Hypothese). Sprechakt-Typen (Searle- Hypothese).

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Fazit zum Sprachwandel Fazit zum Sprachwandel Die Selbstorganisation des Sprachwandels hat mindestens zwei Die Selbstorganisation des Sprachwandels hat mindestens zwei

Ebenen: Ebenen: (1) die des Systems, das im Wesentlichen restrukturiert wird und (1) die des Systems, das im Wesentlichen restrukturiert wird und

dazu ein Potential hat; dazu ein Potential hat; (2) die der Sprachgemeinschaft, die sich in ihrer (2) die der Sprachgemeinschaft, die sich in ihrer

Zusammensetzung durch Migration veränderter kann und Zusammensetzung durch Migration veränderter kann und durch den Generationen-wechsel eine ständige durch den Generationen-wechsel eine ständige Variationsquelle aufweist, deren Folgen sozial kanalisiert Variationsquelle aufweist, deren Folgen sozial kanalisiert werden (Selektion). werden (Selektion).

Das Potential wird einerseits durch die Sprachfähigkeit, Das Potential wird einerseits durch die Sprachfähigkeit, andererseits durch die langfristige Systementwicklung andererseits durch die langfristige Systementwicklung bestimmt. Der Wandel hat Kosten (z. B. das Verwischen von bestimmt. Der Wandel hat Kosten (z. B. das Verwischen von Bedeutungsunterschieden durch den Lautwandel oder den Bedeutungsunterschieden durch den Lautwandel oder den Verlust von Lexemen bei der Grammatikalisierung). Diese Verlust von Lexemen bei der Grammatikalisierung). Diese können kompensiert werden; allerdings können auch können kompensiert werden; allerdings können auch Situationen entstehen, in denen das semantische und Situationen entstehen, in denen das semantische und pragmatische Potential (die Gesamtinformation) verändert pragmatische Potential (die Gesamtinformation) verändert wird.wird.

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Modelle der Modelle der „Selbstorganisation“„Selbstorganisation“

1.1. Die Position einer abgeschlossenen Selbstbezüglichkeit, die Die Position einer abgeschlossenen Selbstbezüglichkeit, die dem klassischen dem klassischen StrukturalismusStrukturalismus (F. de Saussure, L. (F. de Saussure, L. Hjelmslev) implizit ist. Demnach wäre etwa das System Hjelmslev) implizit ist. Demnach wäre etwa das System Sprache ein geschlossenes System, das sich zwar unter Sprache ein geschlossenes System, das sich zwar unter äußeren Einflüssen selbst neu organisiert und einen Grad der äußeren Einflüssen selbst neu organisiert und einen Grad der Ökonomie und Ordnung (Symmetrie, Regelhaftigkeit) Ökonomie und Ordnung (Symmetrie, Regelhaftigkeit) anstrebt, insgesamt aber nicht aus größeren anstrebt, insgesamt aber nicht aus größeren Systemzusammenhängen hervorgeht oder bezüglich solcher Systemzusammenhängen hervorgeht oder bezüglich solcher emergentemergent ist. Charakteristisch für die Position, die auch ist. Charakteristisch für die Position, die auch Chomsky seit Jahrzehnten hartnäckig vertritt, ist die Chomsky seit Jahrzehnten hartnäckig vertritt, ist die Weigerung, Fragen zur historischen (sozialen, kulturellen) Weigerung, Fragen zur historischen (sozialen, kulturellen) Genese oder gar der Evolution zu stellen oder zu behandeln. Genese oder gar der Evolution zu stellen oder zu behandeln. Lediglich der Spracherwerb, als Eintritt des Kindes in das Lediglich der Spracherwerb, als Eintritt des Kindes in das bestehende System, ist begrenzt relevant. Dass die Kinder bestehende System, ist begrenzt relevant. Dass die Kinder dabei partiell die Sprache neu erfinden, wird ausgeschlossen; dabei partiell die Sprache neu erfinden, wird ausgeschlossen; Phänomene, wie die Kreolgenese, wo eine neue Sprache Phänomene, wie die Kreolgenese, wo eine neue Sprache entsteht, werden als Effekt einer Biogrammatik verstanden entsteht, werden als Effekt einer Biogrammatik verstanden (vgl. Bickerton, 1981).(vgl. Bickerton, 1981).

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2.2. Die Die Morphogenese-PositionMorphogenese-Position, die René Thom in , die René Thom in Anlehnung an den Biologen Charles Waddington Anlehnung an den Biologen Charles Waddington vertreten hat und die dem Begriff der vertreten hat und die dem Begriff der Selbstorganisation, wie ihn kybernetisch Selbstorganisation, wie ihn kybernetisch inspirierte Forscher, z.B. von Foerster u.a., inspirierte Forscher, z.B. von Foerster u.a., vertreten, gegenüber steht. Thom nimmt an, dass vertreten, gegenüber steht. Thom nimmt an, dass es sehr grundlegende Formgebungsprinzipien es sehr grundlegende Formgebungsprinzipien gibt, die sozusagen „hinter“ den Darwin’schen gibt, die sozusagen „hinter“ den Darwin’schen Mechanismen wirksam sind und welche mögliche Mechanismen wirksam sind und welche mögliche Evolutionsrouten vorbestimmen. Die Darwin’sche Evolutionsrouten vorbestimmen. Die Darwin’sche Evolution wählt quasi über einen Zufallsgenerator Evolution wählt quasi über einen Zufallsgenerator und einen Selektionsfilter (der sich selbst sehr und einen Selektionsfilter (der sich selbst sehr variabel mit den ökologischen Nischen verändert) variabel mit den ökologischen Nischen verändert) aus der durch Morphogenese beschränkten aus der durch Morphogenese beschränkten Alternativenmenge aus. Die längerfristig Alternativenmenge aus. Die längerfristig hervortretenden Muster spiegeln aber weniger hervortretenden Muster spiegeln aber weniger den Zufallsprozess oder die Umgebungsvariation, den Zufallsprozess oder die Umgebungsvariation, sondern eher die Beschränkungen für mögliche sondern eher die Beschränkungen für mögliche Evolutionswege wider. Evolutionswege wider.

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3.3. Das Modell für die Evolution von Leben von Eigen und Das Modell für die Evolution von Leben von Eigen und Schuster (1969) stellt das Konzept des Schuster (1969) stellt das Konzept des HyperzyklusHyperzyklus ins ins Zentrum. Prozesse der Katalyse und der Autokatalyse Zentrum. Prozesse der Katalyse und der Autokatalyse ermöglichen eine schnelle und radikale Selbstorganisation ermöglichen eine schnelle und radikale Selbstorganisation auf molekularer Ebene. Inwieweit dieses molekulare auf molekularer Ebene. Inwieweit dieses molekulare Modell auf höhere Lebensformen und die Sprache Modell auf höhere Lebensformen und die Sprache übertragbar ist, muss geprüft werden. Letztlich muss der übertragbar ist, muss geprüft werden. Letztlich muss der Begriff der Katalyse soweit verallgemeinert werden, dass Begriff der Katalyse soweit verallgemeinert werden, dass er auf Phänomene der Sprache und Kultur anwendbar ist. er auf Phänomene der Sprache und Kultur anwendbar ist. Die Quasi-Dinglichkeit der symbolischen Medien, die Die Quasi-Dinglichkeit der symbolischen Medien, die Sprache als akustisches Ereignis, das Bild als visueller Sprache als akustisches Ereignis, das Bild als visueller Input, könnte wie ein Katalysator wirken, insofern diese Input, könnte wie ein Katalysator wirken, insofern diese „Dinge“ in der Kommunikation nicht verbraucht werden. „Dinge“ in der Kommunikation nicht verbraucht werden. Die Art, wie Zeichen und Symbole zwischen Geist und Die Art, wie Zeichen und Symbole zwischen Geist und Welt vermitteln, d.h. inwiefern sie eine vermittelnde Welt vermitteln, d.h. inwiefern sie eine vermittelnde Funktion haben, beide Ebenen in einem Dritten vereinen, Funktion haben, beide Ebenen in einem Dritten vereinen, muss genauer aufgeklärt werden. muss genauer aufgeklärt werden.

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SchlussbemerkungenSchlussbemerkungen1.1. Viele dem Selbstorganisationsansatz entgegen gesetzte Viele dem Selbstorganisationsansatz entgegen gesetzte

Fragestellungen haben sich in den letzten Jahrzehnten als Fragestellungen haben sich in den letzten Jahrzehnten als Sackgassen erwiesen und bieten damit eine indirekte Sackgassen erwiesen und bieten damit eine indirekte Bestätigung für die Notwendigkeit eines Bestätigung für die Notwendigkeit eines Selbstorganisations-ansatzes:Selbstorganisations-ansatzes:

2.2. Dass die Sprache keine nachträglich eingesetzte Dass die Sprache keine nachträglich eingesetzte Ausstattung des Menschen durch Gott ist, hat bereits Ausstattung des Menschen durch Gott ist, hat bereits Herder (1770) überzeugend dargestellt. Sie ist auch keine Herder (1770) überzeugend dargestellt. Sie ist auch keine vom angeborenen Sprachorgan physikalisch determinierte vom angeborenen Sprachorgan physikalisch determinierte Struktur (wie uns Chomsky lange glauben ließ).Struktur (wie uns Chomsky lange glauben ließ).

3.3. Der Sprachwandel verläuft nicht nach ewigen Gesetzen, Der Sprachwandel verläuft nicht nach ewigen Gesetzen, die in Physik und Physiologie ihr Fundament haben (siehe die in Physik und Physiologie ihr Fundament haben (siehe die Lautgesetze der Junggrammatiker um 1870). Saussure die Lautgesetze der Junggrammatiker um 1870). Saussure hat aus dem Scheitern des Programms der hat aus dem Scheitern des Programms der Junggrammatiker eine voreilige Konsequenz gezogen, und Junggrammatiker eine voreilige Konsequenz gezogen, und geglaubt, der Sprachwandel sei wissenschaftlich gar nicht geglaubt, der Sprachwandel sei wissenschaftlich gar nicht zu erklären.zu erklären.

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Eine kurze BibliographieEine kurze Bibliographie BichakjBichakjian, Bernard H., 2002. Language in a Darwinian Perspectiveian, Bernard H., 2002. Language in a Darwinian Perspective.. Lang, Bern. Lang, Bern. Cavalli-Sforza, Luigi Luca, 2001. Gene, Völker und Sprachen. Die biologischen Grundlagen Cavalli-Sforza, Luigi Luca, 2001. Gene, Völker und Sprachen. Die biologischen Grundlagen

unserer Zivilisation, dtv, München. unserer Zivilisation, dtv, München. Chaudenson, Robert, 2003. La Créolisation: Théorie applications, implications. Chaudenson, Robert, 2003. La Créolisation: Théorie applications, implications.

L’Harmattan, Paris.L’Harmattan, Paris. Dunbar, RobinDunbar, Robin, 2003. The Origin and Subsequent Evolution of Language, in: Morten H. , 2003. The Origin and Subsequent Evolution of Language, in: Morten H.

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Jan-Ola Östman und Jef Verschueren unter Mitarbeit von Eline Versluys). Benjamins, Jan-Ola Östman und Jef Verschueren unter Mitarbeit von Eline Versluys). Benjamins, Amsterdam, 2007: http://www.fb10.uni-bremen.de/homepages/wildgen/pdf/05wild.pdfAmsterdam, 2007: http://www.fb10.uni-bremen.de/homepages/wildgen/pdf/05wild.pdf..