24
12 Angst, Benzodiazepine und der Neurotransmitter GABA Beruhigungsmittel - allen voran Benzodiazepine - gehören zu den am mei- sten verschriebenen und konsumierten Pharmaka. 18% der männlichen Be- völkerung und 23% der weiblichen Bevölkerung der BRD nahmen einer Statistik aus dem Jahre 1984 zufolge regelmäßig Beruhigungsmittel - ‘Tranquillanzien’ oder ‘Tranquilizer’ - ein. 1987 wurden in der BRD nahezu 500 Millionen Tagesdosen von Tranquilizern verordnet, davon 210 Millionen Tagesdosen Benzodiazepine. 1 In der Liste der ‘Spitzenreiter’ im Umsatz von Pharmaka befinden sich Beruhigungsmittel nur noch in Gesellschaft von Schmerz- und Abführmitteln. Verglichen mit den bisher behandelten Psychopharmaka, den Neuroleptika und den Antidepressiva, werden Beruhigungsmittel in höherem Ausmaß auch von Internisten und Allgemeinmedizinern verschrieben, und zwar vornehmlich bei Angst- und Spannungszustanden, Schlafstörungen oder bei somatischen Beschwerden ohne unmittelbare organische Ursache, die dann auf Angst, Spannung, Streß zurückgeführt werden. Die Zuordnung von Beruhigungsmitteln im Sinne der in Kapitel 2 vorgestellten Klassifikation ist umstritten: Beruhigungs- mittel werden nicht immer zur Kategorie der ‘Psychopharmaka im engeren Sinne’ gerechnet, die der Heilung oder Linderung psychischer Störungen dienen sollen. Angst und Spannungszustände werden dann nicht als psychi- sche Erkrankungen an sich, sondern eher als Symptome gesehen. Im folgenden wird zunächst ein kurzer Abriß über das Phänomen Angst als Zielsymptom für den Einsatz von Beruhigungsmitteln gegeben. An- schließend werden chemische Struktur, klinische Wirkungen und Nebenwir- kungen von Benzodiazepin-Derivaten vorgestellt. Diese stellen die am häufigsten eingesetzte Gruppe von Tranquilizern dar. Die beruhigenden und anxiolytischen Wirkungen von Benzodiazepinen lassen sich über ihre mole- kularbiologischen Wirkungen auf das GABAerge Neurotransmittersystem, über Wirkungen am GABA-Rezeptor erklären. Abschließend folgt ein 1 Glaeske, G. (1988) Arzneimittelstatistik 1987. Infodienst ‘88 der Deutschen Hauptstelle ge- gen die Suchtgefahren, S. 28/29.

10-16

Embed Size (px)

Citation preview

Page 1: 10-16

12 Angst, Benzodiazepineund der Neurotransmitter GABA

Beruhigungsmittel - allen voran Benzodiazepine - gehören zu den am mei-sten verschriebenen und konsumierten Pharmaka. 18% der männlichen Be-völkerung und 23% der weiblichen Bevölkerung der BRD nahmen einerStatistik aus dem Jahre 1984 zufolge regelmäßig Beruhigungsmittel -‘Tranquillanzien’ oder ‘Tranquilizer’ - ein. 1987 wurden in der BRDnahezu 500 Millionen Tagesdosen von Tranquilizern verordnet, davon 210Millionen Tagesdosen Benzodiazepine. 1 In der Liste der ‘Spitzenreiter’ imUmsatz von Pharmaka befinden sich Beruhigungsmittel nur noch inGesellschaft von Schmerz- und Abführmitteln. Verglichen mit den bisherbehandelten Psychopharmaka, den Neuroleptika und den Antidepressiva,werden Beruhigungsmittel in höherem Ausmaß auch von Internisten undAllgemeinmedizinern verschrieben, und zwar vornehmlich bei Angst- undSpannungszustanden, Schlafstörungen oder bei somatischen Beschwerdenohne unmittelbare organische Ursache, die dann auf Angst, Spannung, Streßzurückgeführt werden. Die Zuordnung von Beruhigungsmitteln im Sinneder in Kapitel 2 vorgestellten Klassifikation ist umstritten: Beruhigungs-mittel werden nicht immer zur Kategorie der ‘Psychopharmaka im engerenSinne’ gerechnet, die der Heilung oder Linderung psychischer Störungendienen sollen. Angst und Spannungszustände werden dann nicht als psychi-sche Erkrankungen an sich, sondern eher als Symptome gesehen.Im folgenden wird zunächst ein kurzer Abriß über das Phänomen Angstals Zielsymptom für den Einsatz von Beruhigungsmitteln gegeben. An-schließend werden chemische Struktur, klinische Wirkungen und Nebenwir-kungen von Benzodiazepin-Derivaten vorgestellt. Diese stellen die amhäufigsten eingesetzte Gruppe von Tranquilizern dar. Die beruhigenden undanxiolytischen Wirkungen von Benzodiazepinen lassen sich über ihre mole-kularbiologischen Wirkungen auf das GABAerge Neurotransmittersystem,über Wirkungen am GABA-Rezeptor erklären. Abschließend folgt ein

1 Glaeske, G. (1988) Arzneimittelstatistik 1987. Infodienst ‘88 der Deutschen Hauptstelle ge-gen die Suchtgefahren, S. 28/29.

Page 2: 10-16

Tranquilizer 183

kurzer Überblick über andere Substanzen, die ebenfalls zur Behandlung vonAngstzustanden eingesetzt werden, z.B. β− adrenerge Rezeptoren-Blocker.Substanzen, die auf das GABAerge Transmittersystem wirken, gehören zurKlasse zentralnervös dämpfender Substanzen, deren Einsatzspektrum vonBeruhigung über Schlafinduktion (Hypnotika) und Dämpfung cerebralerKrampfbereitschaft (Antikonvulsiva) bis hin zur Narkose reicht. Auch be-stimmte Benzodiazepin-Derivate werden als Schlafmittel und als Antiepilep-tika eingesetzt; diese Einsatzmöglichkeiten werden in Kapitel 13 behandelt.

Angst

Aufregung, Angstgefühle, Anspannung sind jedem bekannte Zustände; sie tre-ten bevorzugt auf, wenn man unerwartet oder unvorbereitet mit Gegebenhei-ten konfrontiert wird, für die unmittelbar kein adäquates Bewältigungsreper-toire zur Verfügung steht. Angst ist eine ‘normale’, evolutionär gesehen uralteReaktion mit Schutz- und Alarmfunktion, die den Betroffenen motiviert undbefähigt, bedrohlichen, schädigenden Situationen zu entfliehen. Unerwartete,potentiell bedrohliche Reize oder Situationen lösen diese Reaktion aus, bei derverschiedene körperliche Systeme aktiviert werden, ein Gefühl der Angst undUnruhe aufkommt und bestimmte Verhaltensweisen begünstigt werden. Diesephysiologischen und psychologischen Prozesse bereiten den Organismus zuAbwehr-, Flucht- oder Vermeidungsreaktionen vor. Gefühle der Unsicherheitund Beklemmung sowie körperliche Symptome wie Atemnot, Beklemmung,Herzrasen umfaßt auch das lateinische Wort ‘angustiae’, aus dem der Begriff‘Angst’ abgeleitet wurde. Angst in Maßen ist sehr vorteilhaft und bewahrt vorSchaden. So treten wir vorsichtig an einen Abgrund im Gebirge heran, die‘Angst’ abzustürzen kann ja sehr berechtigt sein. Wird die Höhenangst aber sostark, daß wir uns einem Berg schon gar nicht mehr nähern möchten, so wirddie Angst zum ‘klinischen’ Problem. Angst in Maßen stellt auch häufig einewichtige Motivationsquelle dar und befähigt zu bedeutenden Leistungen. ‘Totalcoole Typen’ sind langweilig, selten kreativ oder motiviert. Zu hohe Angstjedoch blockiert, wenn sich der Betroffene nicht mehr traut, mit anderen inKontakt zu treten, wenn die Angst so intensiv und allgegenwärtig ist, daß sievon jeder Aktivität ablenkt und permanent die Konzentration beeinträchtigt.Wenn die Intensität der emotionalen und körperlichen Reaktionen übermäßigwird, wenn das Bedrohungserleben der realen oder potentiellen Bedrohlichkeitder Situation nicht entspricht oder wenn Angst auch ohne bedrohliche Reize

Page 3: 10-16

184 Kapitel 12

auftritt, wenn Vermeidungsverhalten keine Schutzfunktion mehr hat und wennsich Furcht und Terror bereits beim Versuch einstellen, diese Symptome zubeherrschen, spricht man von Angstsyndrom oder ‘klinischer’ Angst.

Man stelle sich eine Prüfungssituation vor oder die Auseinandersetzung mit einem Vorgesetz-

ten, eine Krankheit, deren Ausgang oder Heilungschancen ungewiß sind, berufliche Anforde-

rungen, denen man sich nicht gewachsen fühlt. Diese Situationen gehen im allgemeinen mit

einer Erhöhung des Aktivierungsniveaus einher - meßbar in erhöhtem Puls, erhöhtem Blut-

druck, erhöhter elektrodermaler Aktivität, erhöhter Muskelanspannung, erhöhter Magen-Darm-

Motilität und Magensaftsekretion - ebenso wie mit Gefühlen von Angst und Unruhe. Mit er-

folgreicher Bewältigung der Situation nehmen Aktivierung und Angstgefühle im allgemeinen

wieder ab. Sind die Bewältigungsbemühungen dagegen nicht erfolgreich, so können Aktivie-

rung und Angstgefühle bei wiederholter Konfrontation mit gleichen oder ähnlichen Situationen

wieder auftreten, ausgelöst durch konditionierte, diskriminative Reize. Extreme Aktivierung

schränkt jedoch die Fähigkeit zu adäquatem Bewältigungsverhalten ein - dem Yerkes-Dodson-

Gesetz einer umgekehrt U-förmigen Beziehung zwischen Aktivierung und Leistung folgend -,

so daß es auf die Dauer zu einem Circulus vitiosus aus Aktivierung, Angst, inadäquaten Be-

wältigungsversuchen und negativen Konsequenzen kommen kann. Sind dem Betroffenen die

Auslöser der Aktivierung nicht offensichtlich (beispielsweise ‘der Chef schreit mich gleich

wieder an’ oder ‘ich kann das Fließbandpensum nicht schaffen’), so daß Angstgefühle und

Aktivierung nicht auf die Auslöser und mangelnde Bewältigung zurückgeführt werden, so

können auf die Dauer die spürbaren Aktivierungskomponenten Anspannung, gastrointestinale

Symptome, Unruhe, gestörter Schlaf dominieren, und der Betroffene sucht seinen Hausarzt

oder einen Internisten auf. Dieser wird nach gründlicher Untersuchung zu dem Ergebnis kom-

men, daß kein organischer Befund vorliegt, aufgrund der Anamnese auf Streßreaktion oder

Überlastung schließen, z.B. ‘vegetative Dystonie’ diagnostizieren und zur allgemeinen Beruhi-

gung und Entspannung einen Tranquilizer verschreiben. In der Tat stehen bei 14% der Konsul-

tationen praktischer Ärzte angstbezogene Symptome im Mittelpunkt. 1

Wir könnten uns auch einen anderen Verlauf dieses Beispiels vorstellen: Der Betroffene er-

kennt, daß er mit bestimmten Situationen (Chef, Partner, Arbeitsbelastung, Prüfung, Krank-

heit) schlecht umgehen kann und deshalb Angstgefühle und Anspannung erlebt und bemüht

sich, z.B. mit Hilfe eines Psychotherapeuten, das entsprechende Bewältigungsrepertoire zu er-

werben, übt z.B. die Auseinandersetzung mit Chef oder Partner, zerlegt übermäßig erscheinen-

de Arbeitsbelastung in kleine Schritte. Macht er dann die Erfahrung, daß sich bei erneuter Kon-

1 Bereits im 16. Jahrhundert beschrieb der Astrologe und Arzt Richard Napier (1559-1634)Familien- und Partnerkonflikte, Trauer, Angst vor Verarmung und Streit mit Nachbarn alshauptsächliche Ursachen für emotionale Störungen und fand bei einem Achtel allerKonsultationen angstbezogene Symptome im Vordergrund. Clare, A.W. (1985) Anxiolyticsin society. In: S.D. Iversen (Ed.) Psychopharmacology - Recent Advances and FutureProspects. Oxford, Oxford University Press, S. 65.

Page 4: 10-16

Tranquilizer 185

frontation mit der angstauslösenden Situation die gelernten Strategien bzw. Verhaltensweisen

erfolgreich einsetzen lassen, so werden sich Angstgefühle und Anspannung zunehmend ver-

ringem.

Dies ist nur eines von vielen möglichen Beispielen, wie Angst entstehen kann. Es ist jedoch

nicht untypisch für die Entwicklung einer Angststörung, die mit Pharmaka behandelt wird. In-

teressanterweise scheint eine Behandlung von Ängsten mit Arzneien immer schon näher gele-

gen zu haben als eine Behandlung durch Verhaltensänderung: Im 17. Jahrhundert setzte man

beispielsweise Rhabarber- und Kräuterextrakte ein, um Ängste aus dem Körper zu treiben. Im

19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts bediente man sich psychotroper Substanzen wie

Opiaten, Schlafmitteln und Alkohol. 1

Angstsymptome:auf subjektiv-emotionaler Ebene:auf Verhaltensebene:auf somatischer Ebene:

auf kognitiver Ebene:

Angst, Unruhe, SpannungVermeidungsverhalten, Flucht

Muskelanspannung,gastrointestinale, kardiovaskuläre,

zentralnervöse AktivierungErwartung aversiver Konsequenzen

‘Klinische’ Angst unterscheidet sich von ‘normaler’ Angst:auf emotionaler Ebene: Angstgefühle überstarkauf somatischer Ebene: Aktivierung überstark und anhaltendauf kognitiver Ebene: unrealistisches Bedrohungserlebenauf Verhaltenseben: Vermeidungsverhalten ohne Schutzfunktion

Die häufigste Störungsgruppe in der Allgemeinbevölkerung, die Angst-syndrome, sind nach DSM III-R (1989) durch die dominierenden MerkmaleAngstsymptomatik und Vermeidungsverhalten definiert. Die Diagnose einesAngstsyndroms ist nicht zu stellen, wenn die Angst auf eine andere Störungzurückzuführen ist. (Manche organische Störungen, beispielsweise Temporal-lappenepilepsien, bestimmte kardiovaskuläre Erkrankungen oder Hypo-glykämie können von intensiven Angstgefühlen begleitet sein.) Bei der Diffe-renzierung der unterschiedlichen Erscheinungsformen von Angst folgt man imallgemeinen der Einteilung in Phobien, generalisierte Angstzustände, Panik-syndrom und Zwangssyndrom (DSM III). Bei Angst vor Tieren, etwa Hunden

1 Clare, A.W. (1985) a.a.O.

Page 5: 10-16

186 Kapitel 12

oder Schlangen, bei Angst vor Aufzügen handelt es sich um einfachePhobien. Bei generalisierter Angst fehlt ein entsprechender Reiz. Die Be-troffenen geben an, daß sie keine Ahnung haben, woher das unangenehmedauerhafte Angstgefühl denn kommt. Manche Patienten, häufig mit einer ehermilden chronischen Angst im Hintergrund, werden episodisch von extrememTerror gepackt, in dem sich alle emotionalen und physiologischen Merkmaleder Angst auf einmal entladen, ohne daß irgendwelche Anzeichen einer solchenPanikattacke verspürt worden waren. Die im Abstand von Monaten auftre-tenden Attacken dauern nur wenige Minuten und lösen sich meist in Stunden,selten in Tagen wieder vollständig auf. Sie begünstigen die Entstehung vonAgoraphobie.2-4% der Gesamtbevölkerung leiden zu irgendeiner Zeit an Symptomen, dieals Angstsyndrome zu klassifizieren sind. Zentrale Behandlungsansätze beiAngstsyndromen sind neben Psychopharmaka psychotherapeutische Verfahrenwie Reizüberflutung, Konfrontation in vivo, Einüben von Bewältigungsreak-tionen, systematische Desensibilisierung, progressive Muskelrelaxation, Hyp-nose. Zumindest Phobien, wie soziale Ängste, Agoraphobien, Tierphobien alsauch posttraumatische Streßstörungen lassen sich sehr gut mit verhaltensthera-peutischen Maßnahmen behandeln und bedürfen eigentlich keines Einsatzes vonPharmaka. Leider ist die verhaltenstherapeutische Schulung mancher prakti-schen Ärzte nicht sehr viel umfangreicher als die eines Holzfällers in Ballett-tanz. Was Wunder also, wenn traditionell auch auf Angstsyndrome primär mitPillen geschossen wird!

Angst kann als ‘normale’ Reaktion auf Bedrohung, als Reaktion mit Schutz-funktion verstanden werden. Sie manifestiert sich auf subjektiv-emotionalerphysiologischer und behavioraler Ebene. Die Reaktionen - und damit das, wasallgemein mit ‘Angst’ gekennzeichnet wird - variieren in ihrer Intensität.Überstarke Ausprägung der Reaktionskomponenten oder Symptome ohne realeBedrohung kennzeichnen ‘klinische’ Angst. Bei leichten bis mittelstarkerAngststörungen und Dominanz körperlicher Symptome wird oft zuerst der In-ternist oder Allgemeinmediziner aufgesucht, schwere Angststörungen (Panik-syndrom, Agora- und Herzphobien, Zwangssyndrom) werden eher als psychia-trische Probleme gesehen. Die aufgesuchte Instanz determiniert häufig derBehandlungsansatz.

Page 6: 10-16

Tranquilizer 187

Benzodiazepine, Beruhigung und Anxiolyse

Zur Geschichte der Benzodiazepine: Benzodiazepine wurden zufällig von dem in

den 40er Jahren nach London emigrierten Tschechen F.Berger entdeckt, als dieser die Wirkun-

gen einer Reihe von chemischen Substanzen auf Bakterien untersuchte, bei denen Penicillin

ohne Wirkung blieb. Als Berger eine der Substanzen, Mephenesin, Mäusen injizierte, beobach-

tete er vorübergehende massive Muskelrelaxation, die die Tiere nahezu lähmte. Trotz dieser

muskelrelaxierenden und sedierenden Wirkung blieben die Tiere jedoch wach und widmeten

ihrer Umgebung unveränderte Aufmerksamkeit. In der Folge dieser Entdeckung konzentrierte

sich das Interesse zunächst vor allem auf die muskelentspannende Wirkung des Mephenesins,

von dem man sich Erfolge bei Hirnschlagpatienten mit spastischen Erscheinungen und für

Schmerzpatienten mit starken Verspannungen versprach. Aber Berger hatte bereits in seiner

ersten Publikation über Mephenesin schon auf die beruhigende, sedierende Wirkung der Sub-

stanz hingewiesen und untersuchte weitere Derivate des Mephenesins gezielt auf ihre Wirkung

bei Erregungszuständen. Dabei erwies sich das Propandiolderivat Meprobamat als erfolgreich:

Affen zeigten neben Muskelentspannung einen deutlichen Rückgang ihrer normalen Lebhaftig-

keit und Aggressivität. 1955 wurde Meprobamat unter dem Handelsnamen Miltaun® mit viel

Werbung und Aufsehen in den USA auf den Markt gebracht - also ungefähr zur gleichen Zeit

wie die neuroleptischen Phenothiazine - und brachte in kurzer Zeit Jahresumsätze von über

Hundert Millionen Dollar ein. Es gab wohl niemanden, dem der Name ‘Miltaun’ nicht geläufig

gewesen wäre. Gepriesen wurde vor allem dessen Eigenschaft, im Gegensatz zu dem bereits

bekannten Phenobarbital nicht schläfrig zu machen, so daß man Beruf oder täglichen Aufgaben

ruhig, aber wach und konzentriert nachgehen konnte. Erst jahrelange sorgfältige Beobachtun-

gen der Wirkungen und Nebenwirkungen führten zu der Erkenntnis, daß die Unterschiede zwi-

schen Meprobamat und Phenobarbital sowohl hinsichtlich der subjektiv erlebten als auch der

zentralnervösen Wirkungen geringer waren als erhofft, und daß Meprobamat - entgegen der

ursprünglichen Annahme-abhängig machen konnte.

Die Entdeckung und der Einsatz von Meprobamat hatte einen Stein ins Rollen gebracht: Es

schien möglich, Substanzen zu synthetisieren, die selektiv Angst- und Spannungszustände be-

einflußten. Angesichts der ubiquitären Natur von Angst und Aktivierung und der Verbreitung

von Angststörungen lag ein nahezu unbegrenzter Absatzmarkt auf der Hand. Ein weiterer Er-

folg gelang Chemikern der Firma Hoffmann-La Roche mit der Entwicklung von Chlordiazep-

oxid (Librium®) und Diazepam (Valium®)l, also der Entdeckung der Benzodiazepine. Librium

1 Der Name ‘Librium’ wurde aufgrund der Äußerung eines Forschers “This drug restors thepatients mental equilibrium” geprägt; der Name ‘Valium’ bezieht sich auf das lateinische‘valere’. d.h. ‘sich wohl fühlen’, ‘stark sein’. Sternbach, L. (1988) Die Benzodiazepin-Story. In: O.K. Linde (Hrsg.) Pharmakopsychiatrie im Wandel der Zeit. Klingenmünster,Tilia-Verlag, S.285.

Page 7: 10-16

188 Kapitel 12

erschien 1960, Valium 1963 auf dem Markt. Inzwischen wurden über 3000 Derivate syntheti-

siert, etwa 30 Benzodiazepin-Derivate sind als Tranquilizer und Anxiolytika im Handel. Ihr

Einsatz in den 60er und 70er Jahren breitete sich so drastisch aus, daß in den USA von der

‘Benzodiazepin-Bonanza’ und ‘Valiumanie’ gesprochen wurde. Umfragen aus den 70er Jahren

weisen 60 Millionen Benzodiazepin-Verschreibungen, die Arzneimittelstatistik 1987 einen An-

stieg auf über 600 Millionen verschriebenen Tagesdosen aus. Mit zunehmender Kritik an un-

kontrolliertem ‘Mißbrauch’ von Tranquilizern und zunehmender Aufmerksamkeit auch für

Abb. 12.1. Chemische Strukturen und Abbauwege einiger Benzodiazepine, die zur Behand-

lung von Angstsyndromen eingesetzt werden. Wie die Darstellung des Stoffwechsels zeigt,

werden auch einige der Metaboliten als Medikamente eingesetzt

Page 8: 10-16

Tranquilizer 189

deren unerwünschte Wirkungen wurden größte Anstrengungen zur Entwicklung neuer Benzo-

Benzodiazepine und zur Spezifizierung ihrer zentralnervösen Wirkungen unternommen. In

diesem Zusammenhang entdeckten Braestrup und Squires (Ferrosan, Dänemark) und Möhler

(Hoffmann-La Roche, Schweiz) 1977 Benzodiazepinrezeptoren im ZNS.

Chemische Struktur und Klassen von Benzodiazepinen: Der Terminus‘Benzodiazepine’ kennzeichnet das strukturelle Merkmal dieser Substanzklasse,ihre Komposition aus einem Benzolring und einem siebengliedrigen Epinring,der durch die Einlagerung zweier Stickstoffatome gekennzeichnet ist (sieheAbb.12.1). Die Wirksamkeit der Benzodiazepine ist an die Intaktheit des Epin-rings gebunden. Einzelne Benzodiazepin-Derivate unterscheiden sich in ihrerWirkung vor allem in Abhängigkeit von Substituenten am Benzolring, wobeidiese Unterschiede eher quantitativer als qualitativer Art sind, d.h. einzelneDerivate unterscheiden sich in Wirkungsdauer und Wirkungsintensität. DieUnterschiede in der Wirkungsdauer (gemessen z.B. an der Halbwertszeit) sindvor allem auf pharmakokinetische Merkmale (s.u.) zurückzuführen.

7-Chlor-Derivate (wie in Abb. 12.1)l haben eine lange Wirkungsdauer1

l haben eine geringe Wirkungsintensität (d.h. bei gleicher angestrebter Wir-kung muß die mittlere Dosierung höher liegen)

Beispiele für 7-Chlor-Derivate:

INN (Freiname)

ChlordiazepoxidMedazepamDiazepamOxazepamDikaliumchlorazepatLorazepamAlprazolamOxazolamKetazolam

Handelsname

LibriumNobriumValiumAdumbran, PraxitenTranxiliumTavor, Pro DormTafilTranquitContamex

Halbwertszeit

6-28 Stunden1-220-404-131-29-2210-206-242

1 Von diesen groben Regeln gibt es Ausnahmen, z.B. Medazepam gegenüber Diazepam

Page 9: 10-16

190 Kapitel 12

7-Nitro-Derivate (mit NO2 anstelle des Chlorions am Benzolring)l haben mittlere Wirkungsdauerl haben starke Wirkung (sie werden bereits als Schlafmittel eingesetzt)

Beispiele für 7-Nitro-Derivate:

INN Handelsname Halbwertszeit

NitrazepamClonazepam

MogadanRivotril

18-31 Stunden8-38

7-Brom-Derivate (Pyridil-Benzodiazepin) mit Bromion (Br) anstelle desChlorions am Benzolringl haben mittlere Wirkungsdauerl haben geringere Wirkungsintensität als 7-Nitro-Derivate aber größere Wir-kungsintensität als 7-Chlor-Derivate

Beispiel für 7-Brom-Derivate:

INN Handelsname Halbwertszeit

Bromazepam Lexotanil, Normoc 19 Stunden

Tricyclische Benzodiazepin-Derivate mit Ringstruktur am Epinringl haben kurze Wirkungsdauerl haben hohe Wirkungsintensität

Beispiel:

INN

Triazolam

Handelsname

Halcion

Halbwertszeit

2-5 Stunden

1,5-Benzodiazepin mit CH3-Gruppe am Stickstoffatom des Epinringsl hat lange Wirkungsdauerl hat mittlere Wirkungsintensität

Page 10: 10-16

Tranquilizer 191

Beispiel:INN Handelsname Halbwertszeit

Clobazepam Frisium 16-50 Stunden

Klinische Wirkungen von Benzodiazepin-Derivaten: Benzodiazepinewirken beruhigend, sie lösen Angst und Spannung und rufen einen Zustand derAusgeglichenheit hervor, fördern (dosisabhängig) den Schlaf. Hinter diesenklinischen, subjektiv erlebten Wirkungen stehen die sedierenden, muskelrela-xierenden, psychomotorisch dämpfenden Effekte. Benzodiazepine fördern dieEnthemmung unterdrückter Verhaltensweisen, beispielsweise Verhaltenswei-sen, die aufgrund von Bestrafung unterdruckt wurden, oder Verhaltensweisen,die frustriert (nicht-belohnt) wurden. Im Humanbereich kommt dies auch inerhöhter Toleranzschwelle in Konfliktsituationen zum Ausdruck. Solche Wir-kungen tragen ebenfalls wieder zur Anxiolyse bei. Aggressionsdämpfende Ef-fekte von Benzodiazepinen sind entsprechend zu spezifizieren: werden Aggres-sionen durch Angst gehemmt, so können Benzodiazepine aggressives Verhaltensogar fördern. Ferner haben Benzodiazepine amnestische Effekte.Unterschiede in der Wirkungsintensität führen entsprechend zu unterschied-lichem Einsatz von Benzodiazepinen sowohl als Beruhigungsmittel, als Schlaf-mittel (z.B. 7-Nitro-Derivate) oder als Antikonvulsivum (z.B. Clonazepam).Als vorteilhaft wird immer auf eine relativ große therapeutische Breite vonBenzodiazepinen hingewiesen, d.h. die Intoxikationsschwelle liegt für Benzodi-azepine sehr hoch. Zu Beginn der Benzodiazepin-Welle in den USA nahmenLebensmüde wiederholt ganze Röhrchen von Valium oder Librium ein, ohnedaß dies zum Tod geführt hätte. ‘Erfolgreiche’ Suizide vermittels Benzodi-azepinen sind fast immer auf das Zusammenwirken mit anderen Sedativa - vorallem Alkohol - zurückzuführen (berühmtestes Beispiel ist Judy Garland), aufUnterkühlung, die unter Benzodiazepinwirkung nicht bemerkt wird, oder aufUnfälle nach einer Kombination von Alkohol und Benzodiazepinen. Benzodi-azepine verstarken die Wirkung zentralnervös dämpfender Substanzen.Die Unterschiede in Wirkungsintensität und Wirkungsdauer sind neben denzentralnervösen Wirkungen (S.U.) vor allem auf pharmakokinetische Cha-rakteristika zurückzuführen: Einige Derivate (z.B. Diazepam) werden beioraler Gabe schnell und gut resorbiert, so daß maximale Plasma-Konzentra-tionen bereits innerhalb einer Stunde erreicht werden. Andere Derivate (z.B.Oxazepam) werden langsamer resorbiert, was zu verzögert einsetzender, aber

Page 11: 10-16

192 Kapitel 12

anhaltender Wirkung führt. Benzodiazepin-Derivate variieren ebenso in ihrerLipidlöslichkeit; wieder stellt Diazepam den Prototyp für sehr hohe Lipidlös-lichkeit dar, gelangt also rasch ins Gehirn, während andere Derivate, wie z.B.Lorazepam, langsamer anfluten. Generell gilt jedoch, daß Benzodiazepine gutlipidlöslich sind. Diese Eigenschaft, ihre Neigung, an Plasma-Proteine zu bin-den und damit die renale Ausscheidung zu erschweren, sowie die Metabolisie-rung einiger Benzodiazepin-Derivate zu ebenfalls lipidlöslichen Abbauproduk-ten (siehe Abb.12.1), die wiederum die Blut-Hirn-Schranke durchdringen undselber zentralnervös wirksam werden, tragen zu den teilweise auffällig langenWirkungs-Halbwertszeiten bei. Diazepam wird beispielsweise zu Desmethyl-diazepam metabolisiert; letzteres hat eine Halbwertszeit von bis zu 80 Stunden.Die Metabolisierung von Benzodiazepinen erfolgt durch enzymatische Um-wandlung in der Leber.Die pharmakokinetischen Merkmale der Benzodiazepine werden für Wahl undDosierung in Abhängigkeit der Zielsymptomatik genutzt: Soll ein Benzodi-azepin schnell und intensiv wirken (z.B. bei einem epileptischen Anfall), so istdas hoch-lipidlösliche, rasch wirksame Diazepam Mittel der Wahl. Ähnlichrasch einsetzende Wirkungen lassen Nitro-Derivate für den Einsatz als Ein-schlafmittel geeignet erscheinen. Eine stabile Plasma-Konzentration wird nachetwa vier Halbwertszeiten erreicht. Zu beachten ist, daß rascher Wirkungs-einsatz nicht mit kurzer Halbwertszeit und rascher Elimination einhergehenmuß. Bei Benzodiazepin-Derivaten mit langen Halbwertszeiten (wiederumDiazepam) ist daher bei wiederholter Gabe Kumulation zu berücksichtigen.1

Diese Gefahr ist vor allem bei älteren Menschen zu beachten: Aufgrund ver-änderter Stoffwechselprozesse steigt die Eliminationshalbwertszeit bei älterengegenüber jüngeren Personen bei Diazepam z.B. um bis zu 200%, bei Chlor-diazepoxid um 80-370%, bei Bromazepam um 75%.2 Andererseits kann Rau-chen durch Enzyminduktion zu beschleunigter Elimination z.B. von Oxazepamoder Desmethyldiazepam führen.

Nebenwirkungen von Benzodiazepinen: Benzodiazepine wurden langeZeit nicht nur wegen ihrer ‘klinischen’ Wirkungen, sondern auch wegen ihrervergleichsweise geringen Nebenwirkungen gern verordnet. Vor allem im ve-

1 Für eine spezifische Diskussion der Pharmakokinetik von Benzodiazepinen siehe auchRichens, A. & Griffiths, N.A. (1985) Pharmacokinetic and pharmacodynamic relationshipswith benzodiazepines. In: S.D. Iversen (Ed.) Psychophannacology - Recent Advances andFuture Prospects. Oxford, Oxford University Press, S. 90-98.

2 Siehe weitere Angaben bei Klotz, U. (1989) Tranquilizer und Hypnotika. In: W.P. Koella(Hrsg.) Psychopharmaka. Stuttgart, Fischer-Verlag, S.59.

Page 12: 10-16

Tranquilizer 193

getativen Bereich fielen keine unerwünschten Wirkungen auf. Inzwischen istman jedoch auf eine Reihe von Folgeerscheinungen der zentralnervös dämp-fenden Wirkungen von Benzodiazepinen, vor allem auf kognitive und behavio-rale Prozesse, aufmerksam geworden.l Eingeschränkt sind beispielsweise das intellektuelle Leistungsvermögen, dasReaktionsvermögen (z.B. im Straßenverkehr), sind Leistungen in visuellen se-lektiven Aufmerksamkeitstests und in Vigilanztests sowie Gedächtnisleistungen.l Die dämpfenden Wirkungen führen zu ausgeprägter Müdigkeit, Ataxie, Be-nommenheit, Schwindel, Koordinationsstörungen; auch paradoxe Erregungs-und Verwirrtheitszustände werden beobachtet; diese Nebenwirkungen tretenvor allem zu Beginn der Behandlung und bei älteren Menschen auf.l Erhöhte Toleranzschwelle und Enthemmung zuvor gehemmter Verhaltens-reaktionen führen nicht nur zu angstfreiem Verhalten, sondern oft zu inad-äquatem Verhalten (‘Wurstigkeit’), Konfliktscheu, enthemmter Aggressivität,die dann oft wieder negative Konsequenzen haben; die oft als Nebenwirkungbeklagte Gewichtszunahme kann entsprechend auf enthemmtes Eßverhalten zu-rückgeführt werden.

Page 13: 10-16

194 Kapitel 12

l In mittlerer und höherer Dosierung führen Benzodiazepine zu Veränderun-gen des normalen Schlafmusters, zu Reduktion der Schlafdauer und Unter-drückung des REM-Schlafs (siehe dazu auch Kapitel 13).Zu beachten sind ferner Wechselwirkungen mit anderen zentralnervös inhibie-renden Substanzen: die Wirkungen von Benzodiazepinen werden unter Alkoholund anderen Sedativa potenziert.

Abhängigkeitsentwicklung: Lange Zeit wurde die Gefahr der Abhängig-keitsentwicklung von Benzodiazepinen nicht erkannt. Inzwischen häufen sichjedoch Befunde, daß anhaltender Benzodiazepin-Konsum nicht nur über Ge-wohnheitsbildung zur Abhängigkeit führt, sondern daß auch Merkmale phy-sischer Abhängigkeit wie Toleranzentwicklung und Entzugserscheinungen auf-treten (siehe Kapitel 15).1 Mitte der 70er Jahre wurde in den USA bereits einehalbe Million Valiumabhängige registriert. Eine Senatsanhörung zu diesemThema machte zum ersten Mal auf das Problem aufmerksam und führte zuetwas vorsichtigerer Verschreibungspraxis. Noch 1990 kommt die Arbeits-gruppe der Amerikanischen Psychiatrischen Gesellschaft (APA Task Force2)zu dem Ergebnis, daß 1,6% aller Amerikaner chronisch, d.h. täglich Benzodi-azepine einnehmen. Toleranzentwicklung wird für bestimmte Wirkungen vonBenzodiazepinen beobachtet, beispielsweise für die sedierenden, muskelrelaxie-renden Wirkungen, nicht jedoch für die enthemmenden, Konfliktscheu för-dernden Effekte. Entzugserscheinungen treten in Gestalt von Schlaflosigkeit,Angstzuständen, Erregung, Schwindel, Kopfschmerzen, Tinnitus, Zittern,Überempfindlichkeiten in der Wahrnehmung auf und können bis hin zu Hypo-tonie, Hyperthermie, Krampfanfällen und psychotischen Zuständen reichen.Der APA Task Force Report differenziert drei Gruppen von Entzugssympto-men: akute, aber im Verlauf einiger Tage reversible ‘Rebound’-Phänomene imSinne inverser Therapie-Effekte (Ängste, Schlafstörungen etc.), Rückfall-Sym-ptome, d.h. Auftreten der ursprünglichen Beschwerden und Entzugserschei-nungen im eigentlichen Sinne, die nicht vorlagen, bevor Benzodiazepine einge-nommen wurden (z.B. Krampfanfalle, psychotische Durchgangssymptomeetc.). Der Drogenstatistik 1987 zufolge entwickeln bereits nach 3-4 Monaten

1 Siehe z.B. Salzman, C. (1990) Benzodiazepine in der ärztlichen Praxis. Der Nervenarzt, 62,61-63; Haefely,W. (1984) Pharmakologie der Tranquilizer und Hypnotika. In: G.Langer &H. Heimann (Hrsg.) Psychopharmaka. Berlin/Heidelberg. Springer-Verlag, S. 315-316;Pertursson, H. & Lader, M. (1984) Dependence on Tranquillizers. Oxford, Oxford UniversityPress; Richens, A. & Griffiths, A.N. (1985) Pharmacokinetic and pharmacodynamic relation-ships with benzodiazepines. In: S.D. Iversen (Ed.) Psychophannacology - Recent Advancesand Future Prospects. Oxford, Oxford University Press, S. 97.

2 Salzman, C. (1990) a.a.O. S.62.

Page 14: 10-16

Tranquilizer 195

regelmäßiger Einnahme von Benzodiazepin-Derivaten 25%, nach einem Jahr80% der Betroffenen Entzugserscheinungen.1 Dauer und Intensität derEntzugserscheinungen variieren auch mit der Halbwertszeit des entsprechendenDerivats. Bei Derivaten mit kurzen Halbwertszeiten setzen Entzugssymptomebeispielsweise schon am Morgen nach der Einnahme ein (z.B. Triazolam),während sich Entzugserscheinungen bei Derivaten mit aktiven Metaboliten(z.B. Desmethyldiazepam) erst langsam einstellen. Kreuztoleranz wurde inner-halb der Benzodiazepin-Derivate beobachtet (z.B. zwischen Nitrazepam undDiazepam), aber auch mit anderen Sedativa wie Alkohol und Barbituraten. Fürdie Toleranzentwicklung wird vor allem veränderte Rezeptorsensitivität ver-antwortlich gemacht, über metabolische Toleranzentwicklung mittels Enzym-induktion liegen keine definitiven Aussagen vor. Körperliche Abhängigkeitkommt auch bei ‘therapeutischen Dosen’ von Benzodiazepinen vor. Besondersgefährdet für eine Abhängigkeitsentwicklung - weil sie am ehesten Beruhi-gungsmittel wünschen und verschrieben bekommen - sind dem APA TaskForce Report zufolge Ältere, die unter Schlafstörungen und körperlichenKrankheiten leiden, Panikpatienten, Depressive und Schlafgestörte. Polytoxi-komane, d.h. auch von anderen Substanzen abhängige Personen, bilden wahr-scheinlich die größte Gruppe, die Benzodiazepine mißbräuchlich einnimmt.

Kreuztoleranz bedeutet, daß nach Entwicklung einer Toleranz gegenüber einer Substanz eine

zweite Substanz ebenfalls keine Effekte mehr ausübt, dieser Substanz gegenüber also ebenfalls

Toleranz erlebt wird. Wird nach Toleranzentwicklung gegenüber einem Barbiturat ein Benzodi-

azepin verabreicht, so sind auch für das Benzodiazepin höhere Dosen notwendig, um die

gleiche Wirkung zu erzielen. Kreuzabhängigkeit bedeutet, daß sich Zeichen der Abhängig-

keit, die sich nach längerer Einnahme einer Substanz entwickelt haben, auch bei Wechsel auf

eine andere Substanz ergeben. Man ist abhängig auch von einer Substanz, die man zuvor noch

nicht eingenommen hat, nur weil man zuvor Abhängigkeit von einer im ZNS ähnlich wirkenden

Substanz entwickelt hat (zum Komplex Toleranz und Abhängigkeit siehe Kapitel 15).

Der GABA-Rezeptor

Verschiedene Beobachtungen führten auf die Spur der Wirkungsweise vonBenzodiazepinen im Gehirn: Ähnlich sedierende Effekte von Benzodiazepinen,Alkohol und Barbituraten (Kapitel 13) lenkten die Aufmerksamkeit auf die

1 G1aeske, G. (1988) Arzneimittelstatistik 1987. Infodienst ‘88 der Deutschen Hauptstellegegen die Suchtgefahren, S.28.

Page 15: 10-16

196 Kapitel 12

Wechselwirkung von Benzodiazepinen mit inhibitorischen Transmittern. Fer-ner weisen Kreuztoleranz und Kreuzabhängigkeit zwischen Benzodiazepinen,Barbituraten und Alkohol auf verwandte molekularbiologische Effekte hin.Benzodiazepine entfalten - verglichen mit Alkohol und Schlafmitteln - bereitsin sehr kleinen Dosen deutliche Effekte. Dies erinnert an die Wirkung vonOpiaten (Kapitel 8) und legte die Annahme einer spezifischen, für Benzodi-azepine sensitiven Membran, also eines Rezeptors nahe. Diese Beobachtungenrichteten die Aufmerksamkeit (a) auf GABA, den hauptsächlichen inhibitori-schen Transmitter im ZNS und (b) auf die Suche nach einem spezifischen Re-zeptor für Benzodiazepine.

Benzodiazepine, Alkohol, Barbiturate und Antikonvulsiva wirken GABA-agonistisch (Kapitel

13). Eine Spezifizierung der Wirkung wurde mit der genaueren Beschreibung des GABA-Re-

zeptors möglich. Die Existenz eines Benzodiazepinrezeptors, also einer spezifisch benzodi-

azepin-sensitiven Struktur im Gehirn, wurde erstmals 1977/78 von Möhler (Schweiz) und dem

Team Braestrup/Squires (Dänemark) nachgewiesen. Im gleichen Jahr entdeckte Tallman in

Baltimore, daß GABA die Bindungsaffinität von Benzodiazepinen am GABA-Rezeptor stimu-

liert und umgekehrt Benzodiazepine die Bindung von GABA am GABA-Rezeptor. Schließlich

datiert ebenfalls auf das Jahr 1978 die Spezifizierung unterschiedlicher Rezeptoruntereinheiten

für Benzodiazepine und Sedativa bzw. Antikonvulsiva durch Bamard in London.

γ− Amino-Buttersäure (GABA) ist der wichtigste bekannte inhibitorischeTransmitter im ZNS. Am postsynaptischen Rezeptor bewirkt GABA Öffnungvon Chlorionen-Kanälen. Einstrom von Chlorionen in die Zelle führt zur Hy-perpolarisation der postsynaptischen Membran, also zu IPSPs. In der Folgewerden weniger Aktionspotentiale weitergeleitet, es kommt zur Dämpfung derErregungsleitung. Stimulation mit GABA und GABA-Agonisten reduzierendie Feuerfrequenz der entsprechenden Neurone. GABAerge Zellen sind inGroß- und Kleinhirnrinde, Hippocampus, Striatum, Thalamus, Hypothalamusund retikulären Hirnstammkernen als Interneurone verteilt, daneben verlaufenlängere GABAerge Projektionsbahnen aus dem Kleinhirnkortex zu Hirnstammund Kleinhirnkernen sowie von der Substantia nigra zum Thalamus. GABA-erge Interneurone vermitteln rekurrente Hemmung.

Der GABA-Rezeptor (Abb. 12.2) besteht aus einem Proteinmolekül, auf demverschiedene Membranuntereinheiten differenziert ,werden können. Benzodiaz-epine weisen hohe Affinität zu einer Untereinheit auf, die entsprechend als‘Benzodiazepin-Untereinheit’ spezifiziert wird, während Alkohol und Barbitu-

Page 16: 10-16

Tranquilizer 197

rate bzw. Antikonvulsiva an diesen Stellen nicht mit gleicher Affinität binden.Diese Sedativa beeinflussen dagegen andere Untereinheiten. Die Rezeptor-untereinheiten unterscheiden sich: die Sedativa/Antikonvulsiva-Untereinheit istTeil der Chlorionen-Kanäle. Bindung von GABA oder Sedativa vom Barbitu-rat-Typ an dieser Untereinheit öffnet die Cl--Kanäle. Der Benzodiazepinrezep-tor ist nicht unmittelbar mit den Chlorionen-Kanälen verbunden, Benzo-diazepine wirken aber über ihre Wechselwirkung mit GABA auf den Chlor-ionen-Einstrom, d.h. sie erhöhen die Zahl der bei einer bestimmten MengeGABA geöffneten Kanäle für Chlorionen.

Abb. 12.2. Gelangt der Neurotransmitter GABA an die Rezeptoren der postsynaptischen

Membran, so bewirkt seine Bindung an das Proteinmolekül eine Öffnung von Kanälen, durch

die Chlorionen in das Innere des postsynaptischen Neurons dringen können und so dessen

Membran hyperpolarisieren. Auch bestimmte Sedativa, Alkohol und Antikonvulsiva führen

wahrscheinlich zu einer Öffnung dieser Ionenkanäle. Bestimmte Benzodiazepin-Derivate akti-

vieren eine andere Untereinheit des Rezeptormoleküls und potenzieren darüber die geschilderte

Wirkung von GABA

Page 17: 10-16

198 Kapitel 12

Charakteristisches Merkmal des GABA-Rezeptors ist, daß die Bindung einerSubstanz an der entsprechenden Untereinheit die Wirkung modifziert, die einezweite Substanz an einer anderen Untereinheit entfaltet. Die Bindung von Ben-zodiazepinen am GABA/Benzodiazepinrezeptor erhöht die Wirkung vonGABA, und GABA erhöht die Bindungsaffinität für Benzodiazepine. Da diestimulierende Wirkung von GABA auf die Benzodiazepinbindung jedoch nichtmit der Verteilung GABA-affiner Bindungsstellen im ZNS korreliert, nimmtman an, daß nicht alle GABA-Rezeptoren zugleich auch Benzodiazepinrezepto-ren umfassen. Vermutet wird1, daß der Benzodiazepinrezeptor als Kopplungs-protein den GABA-Rezeptor mit den Chlorionen-Kanälen verbindet. Außer-dem potenzieren Benzodiazepine die Wirkung von GABA, indem sie hemmen-de Autoregulatoren am GABA-Rezeptor inhibieren, so daß GABA ungehindertauf die Chlorionen-Kanäle wirken kann. Die inhibitorische Wirkung von Ben-zodiazepinen am GABA-Rezeptor muß auf diese besondere Form der Wechsel-wirkung, der gegenseitigen Stimulierung und Potenzierung zurückgeführtwerden. Entsprechend lösen β− Carboline, die eine hohe Affinität zum Benzo-diazepinrezeptor und Benzodiazepinen entgegengesetzte pharmakologischeEffekte aufweisen, bei Probanden starke Angstgefühle aus.2 Alkohol und Seda-tiva wirken kompetitiv mit Benzodiazepinen an der Sedativa/Antikonvulsiva-Untereinheit des GABA-Rezeptors, nicht jedoch an der Benzodiazepin-Unter-einheit.

Liganden am Benzodiazepinrezeptor sind zum einen Agonisten, z.B. Di-azepam, Chlordiazepoxid, Flunitrazepam, zum anderen sogenannte ‘inverseAgonisten’, die bei gleicher Affinität zum Benzodiazepinrezeptor den Benzodi-azepinen entgegengesetzte Wirkungen entfalten, z.B. β− Carbolin-Carboxylat-Äthylester oder das Neuropeptid DBI (Diazepam-Binding Inhibitor), schließ-lich Antagonisten (Ro 15-1788), die die Wirkung von Benzodiazepinen kom-petitiv hemmen. Als endogene Liganden an Benzodiazepinrezeptoren werdenverschiedene Proteine, Peptide, Lipide und L-Thyroxin diskutiert.3

1 Haefely, W. (1984) Neurophysiologische und neurobiochemische Wirkungen der Tranqui-lizer und Hypnotika. In: G. Langer & H. Heimann (Hrsg.) Psychopharmaka. Berlin/Heidelberg. Springer-Verlag. S. 308.

2 Hommer, D.W., Skolnick, P., Paul, S.M. (1987) The benzodiazepine/GABA receptor com-plex and anxiety. In: H. Meltzer (Ed.) Psychopharmacology. New York, Raven Press,S. 981.

3 Siehe z.B. Klotz, U. (1989) Tranquilizer und Hypnotika. In: W.P. Koella (Hrsg.) Psycho-pharmaka. Stuttgart, Fischer-Verlag, S.52.

Page 18: 10-16

Tranquilizer 199

Differenziert werden zwei Typen von GABA-Rezeptoren: an GABAA-Rezeptoren bewirkt

GABA (oder GABA-Agonisten) schnelle IPSPs über Öffnung der Chlorionen-Kanäle. Am

GABAB-Rezeptor bewirkt GABA (oder GABA-Agonisten) zum einen postsynaptische Hyper-

polarisation - und zwar zunehmend mit zunehmendem Kaliumionen-Einstrom, zum anderen

abnehmenden präsynaptischen Calciumionen-Einstrom und abnehmende Ausschüttung von an-

deren Neurotransmittern, z.B. Monoaminen. Die inhibitorische Wirkung am postsynaptischen

Rezeptor wird beim GABAB-Rezeptor durch die Hemmung von cAMP Aktivität erzielt. Benzo-

diazepinrezeptoren sind Teil des GABAA-Rezeptors, aber nicht alle GABAA-Rezeptoren

umfassen auch Benzodiazepinrezeptoren. Beide Rezeptor-Typen finden sich weitverteilt im

Kortex, im Hippocampus und in anderen limbischen Strukturen. 1 Eine Differenzierung der

GABA-Rezeptortypen ist unter klinischem Gesichtspunkt von Bedeutung für die Spezifizierung

der anxiolytischen und antiepileptischen Wirkungen von Benzodiazepinen (Kapitel 13), aber

auch für die Aufklärung bestimmter neurologischer Störungen. Beispielsweise korreliert die

antikonvulsive Wirkung bestimmter Benzodiazepine mit ihrer Affinität zu GABAA/Benzodi-

azepinrezeptoren.

Beim Benzodiazepinrezeptor werden ebenfalls zwei Typen unterschieden und der Einfach-

heit halber BZ1 und BZ2 genannt. Die meisten Benzodiazepine binden an beide Rezeptortypen.

Unterschiede scheinen in der Verteilung in kortikalen und subkortikalen Strukturen zu bestehen:

BZ1 finden sich vor allem im Cerebellum, vermutlich die Hälfte aller Benzodiazepinrezeptoren

im Hippocampus sind BZ2. Überlegungen, daß der anxiolytische Effekt von Benzodiazepinen

über den BZ2 vermittelt sein könnten, haben sich nicht fundieren lassen. Schließlich wird ein

dritter Benzodiazepinrezeptor-Typ, der sogenannten ‘periphere’ oder ‘P-Rezeptor’ in periphe-

ren Organen, z.B. der Niere, aber auch im Gehirn gefunden; er zeichnet sich durch unterschied-

liche Bindungsaffinität für unterschiedliche Benzodiazepine aus.

Die Wirkung von Benzodiazepinen läßt sich weiter über die Verteilung derGABA-/Benzodiazepinrezeptoren deuten. GABA-Rezeptoren finden sichnahezu überall im ZNS. Die höchsten Dichten werden für frontale Regionendes limbischen Systems, die Nuclei amygdalae, Hippocampus, Formatio reticu-laris, Frontal- und Okzipitalkortex, Striatum und Cerebellum berichtet.2 Ent-

1 Enna, S.J. & Möhler, H. (1987) β - Aminobutyric Acid (GABA) receptors and their associa-tion with benzodiazepine recognition sites. In: H. Meltzer (Ed.) Psychopharmacology. NewYork, Raven Press, S. 265-272. und Meldrum, B. (1987) Classification of GABA and ben-zodiazepine receptors. J. Psychopharmacology, 1, 1-5.

2 Iversen, S.D. (1985) Where in the central nervous system do benzodiazepines act? In: S.D.Iversen (Ed.) Psychopharmacology - Recent Advances and Future Prospects. Oxford,Oxford University Press, S. 75 ff.

Page 19: 10-16

200 Kapitel 12

sprechend nimmt man an, daß sich auch benzodiazepin-sensitive GABA-Rezep-toren weiträumig im Gehirn verteilen. Benzodiazepine hemmen die neuronaleÜbertragung auch in Regionen, in denen sich serotonerge Neuronen (Raphé-Kerne), noradrenerge Neurone (Locus coeruleus) und dopaminerge Neurone(Substantia nigra pars compacta) häufen. Beispielsweise führt elektrischeStimulation des Locus coeruleus, dem Ursprung noradrenerger Bahnen, zuAngstreaktionen beim Versuchstier, und die Wirkung von Benzodiazepinen aufaversive Reize ist abhängig von der Intaktheit dieses noradrenergen Systems.Ebenso können Reaktionen dopaminerger Neurone im Frontalkortex aufStreßreize durch Benzodiazepine inhibiert werden. Für die inhibitorische Wir-kung von Benzodiazepinen auf die Sekretion von Serotonin wurde übrigenskeine Toleranzentwicklung beobachtet.

Benzodiazepine wirken über spezifische, benzodiazepin-affine Untereinheiteneiner Untergruppe von GABA-Rezeptoren. Sie wirken über Potenzierung derinhibitorischen Wirkung von GABA. Umgekehrt wird ihre Wirkung durchGABA potenziert.

Vor dem Hintergrund der Wirkungsweise und Lokalisation der GABA-Benzo-diazepinrezeptoren lassen sich die klinischen Wirkungen und Nebenwirkungenvon Benzodiazepinen nun folgendermaßen erklären (auf die Wirkung vonBarbituraten und Antikonvulsiva wird im nächsten Kapitel eingegangen):l Die Stimulation von GABA-Rezeptoren in der Formatio reticularis und demaufsteigenden retikulären Aktivationssystem (ARAS) führt zu allgemeiner Se-dierung.l Unter dem Aspekt der Anxiolyse wird vor allem die inhibitorische Funktionvon Benzodiazepinen an GABA-Rezeptoren im limbischen System betont. DieHemmung serotonerger Übertragung in limbischen Strukturen trägt zur Ent-hemmung unterdrückter Reaktionen, auch gehemmter aggressiver Reaktionenbei.l Dämpfende Effekte in Motorkortex und Cerebellum führen zur Hemmungspinaler Reflexe und darüber zur Muskelrelaxation.l Inhibition im Hippocampus mag verantwortlich für die unter Benzodi-azepinen beobachteten Gedächtnisstörungen sein.l Inhibition auf kortikaler Ebene dürfte die Einschränkung der intellektuellenLeistungsfähigkeit vermitteln.

Page 20: 10-16

Tranquilizer 201

l Stimulation der GABA-Rezeptoren im Frontalkortex könnte ebenfalls zuEnthemmung unterdrückter Verhaltensweisen führen und damit zu Verhaltens-weisen, die mit Konfliktscheu, ‘Wurstigkeit’ beschrieben wurden.l Parallele Lokalisation von Benzodiazepin- und Sedativa/Antikonvulsiva-Re-zeptoren am GABA-Rezeptor erklären die gegenseitig potenzierende Wirkungvon Alkohol, Barbituraten und Benzodiazepinen, ebenso wie Kreuztoleranzund Kreuzabhängigkeit zwischen Benzodiazepinen und Sedativa.l Der Einfluß von Benzodiazepinen auf Schlaf könnte über deren Effekte aufserotonerge und noradrenerge Strukturen, die mit der Schlafregulation asso-ziiert werden, vermittelt sein.

Nicht benzodiazepin-verwandte Tranquilizer

Wie bereits geschildert, ging der Entwicklung der Benzodiazepine die Ent-deckung von Meprobamat voraus.Das Propandiol-Derivat Meprobamat (Miltaun®, Cyrpon®) zeichnet sich- bedingt durch rasche Resorption - durch sehr raschen Wirkungseintritt nachbereits 10-30 Minuten aus; die maximale Wirkung wird nach 1-2 Stunden er-reicht und klingt nach 4-6 Stunden ab. Die Halbwertszeit von Meprobamatliegt bei 12 Stunden. Meprobamat wirkt ähnlich wie Benzodiazepine muskel-relaxierend und beruhigend, weist jedoch keine Affinität zum GABA-oder Benzodiazepinrezeptor auf. Meprobamat wird nur noch sehr vorsichtigeingesetzt, weil es starke Nebenwirkungen auslöst, z.B. Kopfschmerzen,Übelkeit, Ataxie, Hypotension, Hautallergien. Außerdem wurde ein deutlichesAbhängigkeitspotential beobachtet. Bei hoher Dosierung sind die motori-sche Koordination und das Reaktionsvermögen eingeschränkt, bei Überdosie-rung besteht die Gefahr der Intoxikation - die tödliche Dosis liegt bei 20 g.

Hydroxyzin

Meprobamat

Page 21: 10-16

202 Kapitel 12

Hydroxyzin oder Diphenylmethan-Derivate (z.B. Atarax®): Die Beob-achtung, daß Substanzen, die Histamin-Rezeptoren (vor allem H1) blockieren,sedierend wirken, legte den Einsatz dieser Antihistaminika als Tranquilizerund Anxiolytika nahe. Die chemisch den Antihistaminika verwandten Hydro-xyzine wirken nicht nur sedierend, sondern auch analgetisch, antiemetisch undantikonvulsiv. Diese Wirkungen werden vor allem über antihistamine undanticholinerge Effekte vermittelt, die beruhigenden und anxiolytischenEffekte sind also sekundär. Aufgrund rascher Resorption treten psychotropeWirkungen bereits nach 15-30 Minuten ein. Eine maximale Plasma-Konzen-tration wird nach einer Stunde gemessen, die Wirkungen halten aber bis zu 24Stunden an. Entsprechend der anticholinergen Wirkungsweise treten Neben-wirkungen wie Mundtrockenheit, Tachykardie, Hypotonie und Erregungszu-stande auf. Ferner kommt es zu Müdigkeit und starker Einschränkung des Re-aktionsvermögens. Ähnlich wie andere Antihistaminika senken Hydroxyzinedie Krampfschwelle. Bei älteren Personen ist mit einer erhöhten Sensitivitätfür diese Nebenwirkungen zu rechnen. Angesichts dieser gravierenden Neben-wirkungen erscheint die Anmerkung, daß bisher kein Abhängigkeitspotentialfür Hydroxyzine beobachtet wurde, nur als schwacher Trost.

Auch Barbiturate führen in bestimmter Dosierung zu Beruhigung. Da ihrEinsatz vor allem im Bereich der Schlafstörungen liegt, werden sie im folgen-den Kapitel 13 behandelt.

β− β− Rezeptorenblocker (z.B. Aptin®, Beloc®, Tenormin®, Dociton®): Wieerwähnt, geht Angst - aber auch generell Kampf- und Fluchtreaktionen - miteiner Reihe peripher-physiologischer Änderungen einher. Eine wesentlicheReaktion unter akutem Streß bildet die Ausschüttung von Adrenalin und Nor-adrenalin aus dem Nebennierenmark. Adrenalin beschleunigt die Herzfre-quenz, erhöht die muskuläre Leistung und erweitert die Bronchien. Noradre-nalin führt ähnlich zu Blutdruckanstieg. Entsprechend liegt das klassische Ein-satzgebiet von Pharmaka zur adrenergen/noradrenergen Übertragung in derInneren Medizin. Neuerdings werden β− adrenerge Rezeptorenblocker (kurz β−Blocker) jedoch auch als Beruhigungsmittel und Anxiolytika eingesetzt. Zu-nächst wurde angenommen, daß diese Substanzen, die kompetitiv β− adrenergenRezeptoren im sympathischen Nervensystem blockieren und darüber Herzfre-quenz und Blutdruck absenken, ebenfalls sekundär anxiolytisch und beruhi-gend wirken: Sie reduzieren die physiologischen Komponenten der Angstreak-tion und vermitteln über die Wahrnehmung eines ruhigen und gleichmäßigen

Page 22: 10-16

Tranquilizer 203

Herzschlages das Gefühl, nicht aufgeregt, sondern ruhig und entspannt zu sein.Die beruhigende Wirkung von β− Blockern ist danach auf eine Antagonisierungdes streßbedingt erhöhten Sympathicotonus zurückzuführen, auf eine Dämp-fung der Noradrenalin-Sekretion im ZNS und der Adrenalin- und Noradre-nalin-Sekretion aus den Nebennieren. Eine muskelrelaxierende Wirkung vonβ− Blockern wurde nicht nachgewiesen. Da viele β− Blocker (z.B. Propranololoder Metoprolol) die Blut-Hirn-Schranke überwinden, ist jedoch auch einedirekte zentralnervöse Wirkung anzunehmen. Bindungsstellen für β− Blockerwurden beispielsweise im limbischen System, im Hypothalamus, im Cerebel-lum, im extrapyramidalmotorischen System und in der Medulla oblongatagefunden. Viele β− Blocker wirken membranstabilisierend und könnten auchauf diese Weise zentralnervös dämpfend wirken.

Als erster Antagonist β− noradrenerger Rezeptoren im sympathischen Nervensystem und im

ZNS wurde 1964 Propranolol entdeckt. Klinisch dient er zur Behandlung von Bluthochdruck,

zur Verhinderung von Angina-pectoris-Anfallen und kardialen Arrhythmien. β− Blocker wie

Propranolol werden zwar nach oraler Applikation rasch (innerhalb von 30-60 Minuten) absor-

biert, aufgrund eines starken ‘First-pass-Effektes’, also starker Verstoffwechselung bei der

ersten Passage in der Leber, gelangt nur etwa ein Drittel der aufgenommenen Dosis über die

Blutbahn ins ZNS. β− Blocker zeichnen sich durch kurze Halbwertszeit von 3-4 Stunden aus,

wobei die unterschiedliche Lipophilie einzelner β− Blocker auch Halbwertszeiten bis zu 12 Stun-

den bedingen kann. Hohe Plasmaeiweißbindung von β− Blockern führt zu teilweise langen Wir-

kungsdauern. β− Blocker werden in der Leber inaktiviert und über die Nieren ausgeschieden.

Zwar reduziert Propranolol die sympathisch vermittelten Angstsymptome wieTachykardie und Hyperventilation, doch ist noch nicht hinreichend geklärt, obbzw. bei welcher Symptomatik auf diese Weise ein Angstsyndrom zum Ver-schwinden gebracht werden kann. Wie Abb.12.3 veranschaulicht, bleibt zwarunter streßhaften Situationen die Akzeleration der Herzfrequenz aus, subjektivwird dies aber keinesfalls streßmindernd erlebt. β− Blocker sind daher in denUSA nicht als Anxiolytika zugelassen. Bei ihrem Einsatz als Anxiolytika mußinsbesondere auf die kardiovaskulären Nebenwirkungen geachtet werden.Vor allem bestehende organische Probleme wie Herzinsuffizienz oder peri-phere Durchblutungsstörungen werden durch β− Blocker intensiviert, da adre-nerge Kompensationsmechanismen gehemmt werden. Aufgrund ihrer bron-chokonstriktorischen Eigenschaften sind β− Blocker bei Patienten mit Asthmakontraindiziert. Aufgrund ihrer Wirkungen auf den Kohlenhydrat- und Fett-stoffwechsel sollten β− Blocker darüber hinaus nicht bei Diabetes-Patienteneingesetzt werden. Plötzliches Absetzen kann zu ‘Rebound’-Phänomenen, bei-

Page 23: 10-16

204 Kapitel 12

spielsweise Angstzuständen, Tremor, Schmerzen in der Brust, depressivenVerstimmungen und Alpträumen, führen. Bei hohen Dosierungen ist auf er-höhte Krampfbereitschaft zu achten. Gegenüber anderen Tranquilizern beein-trächtigen β− Blocker das Reaktionsvermögen z.B. im Straßenverkehr oder inPrüfungssituationen nicht und führen nicht zu Toleranzentwicklung oder Ent-zugserscheinungen.

Placebo Atenolol Metoprolol Placebo Atenolol Metoprolol

Abb. 12.3. In einer Doppelblindanordnung wurde je 12 gesunden Probanden Placebo oder

einer von zwei β− Blockern verabreicht. Dargestellt sind Herzrate (HR) und subjektive Streßein-

stufung (auf einer Skala von 0-10) vor Einnahme der Substanz (Baseline) und danach während

einer Kopfrechenaufgabe (mentale Belastung). Zwar verhindern beide β− Blocker den HR-An-

stieg unter Streß, senken die HR sogar ab, wirken aber subjektiv nicht streßreduzierend. Das

hydrophile Atenolol, das die Blut-Hirn-Schranke schwerer durchquert als das lipophile Meto-

prolol, führt sogar zu einem subjektiv stärkeren Anstieg als Placebo1

Sind Tranquilizer als Anxiolytika geeignet?

Um die Indikationsstellung für verschiedene Angst- und Spannungssyndromeangesichts der verschiedenen Tranquilizer und Anxiolytika zu erleichtern,wurden immer wieder Schemata von ‘Therapien der Wahl’ erstellt.2 Struktu-rierende Merkmale sind dabei beispielsweise die Beteiligung somatischer undkognitiver Komponenten: Ist die Intensität vegetativ-körperlicher Symptomehoch (etwa bei Panikattacken oder Lampenfieber), werden β− Rezeptorenblok-ker und ‘Psychotherapie’ empfohlen, kommt noch eine starke kognitive Betei-ligung hinzu, so gelten auch Benzodiazepine als Mittel der Wahl. Sind bei starkkognitiv geprägten Ängsten körperliche Symptome schwach ausgeprägt, dreht

1 Schweizer, R., Roth, W.T., Elbert, T. (1991) Effect of two β− blockers on stress during men-tal arithmetic. Psychopharmacology, 105, 573-577.

2 Beispiele siehe Spiegel, R. (1988) Einführung bin die Psychopharmakologie. Bern/Stuttgart,Verlag Hans Huber, S.232 ff.

Page 24: 10-16

Tranquilizer 205

sich die Hierarchie der vorgeschlagenen Therapien um in 1) Psychotherapie,2) β− Rezeptorenblocker und 3) Tranquilizer. Angesichts des eingangs geschil-derten Beispiels zur Entstehung von Angst und angesichts der Nebenwirkungenaller genannten ‘Anxiolytika’ verwundert uns immer wieder, daß verhaltens-orientierte psychotherapeutische Maßnahmen nicht generell im Vordergrundstehen und daß Tranquilizer nicht generell als letzte Wahl empfohlen werden.

Die ‘anxiolytische’ Wirkung von Benzodiazepinen trägt nicht dazu bei, daß dieBedingungen bzw. Verhaltensweisen, die zur Entstehung der Angststörung ge-führt haben, beseitigt werden. Benzodiazepine beseitigen Symptome, aber nichtUrsachen von Angst.

Als Indikationen für Tranquilizer schlagen Pöldinger und Wider1 beispiels-weise Epilepsien, Muskelspasmen, Alkoholentzugssyndrom und Narkosevor-bereitung vor. Demgegenüber dürften in der Praxis Angstzustände, psycho-somatische Störungen und Schlafstörungen als Indikationen hinzukommen,wenn nicht sogar dominieren.

Vertiefende Literatur

zu Angst:

Barlow, D. (1988) Anxiety and its Disorders. New York, Guilford Press.

Zu Tranquilizern:

Haefely, W., Pöldinger, W., Wider, F. (1984) Tranquilizer und Hypnotika: Grundlagen undTherapie. In: G. Langer & H. Heimann (Hrsg.) Psychopharmaka. Berlin/Heidelberg, Springer-Verlag, S. 302-346.

Zu GABA/Benzodiazepin-Rezeptorkomplex:

Enna, S.J. (1984) (Ed.) The GABA Receptors. New York, Wiley & Sons.Hommer, D.W., Skolnick, P., Paul, S.M. (1987) The benzodiazepine/GABA receptor com-plex and anxiety. In: H. Meltzer (Ed.) Psychopharmacology. New York, Raven Press, S.977-984.

Zu β− Rezeptorenblockern:

Defren, G. (1988) Die Entwicklung der β− Rezeptorenblocker. In: O.K. Linde (Hrsg.) Pharma-kopsychiatrie im Wandel der Zeit. Klingenmünster, Tilia-Verlag, S.309-318.

1 Pöldinger, W. & Wider, W. (1984) Indikationen der Therapie mit Tranquilizern und Hypnoti-ka. In: G. Langer, H. Heimann (Hrsg.) Psychopharmaka. Berlin/Heidelberg, Springer-Ver-lag, S. 333 ff.