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11 Ionisierende Strahlung 11.1 Übersicht 11.1.1 Einsatz von ionisierender Strahlung Man spricht von ionisierender Strahlung, wenn diese beim Durchgang durch Materie Ionen erzeugt. Not- wendige Voraussetzung dafür ist eine genügend ho- he Energie der Photonen oder Teilchen. Diese Vor- aussetzung ist erfüllt, wenn die Energie mehr als ei- nige Elektronenvolt erreicht. Ionisierende Strahlung wird in der Medizin im We- sentlichen zu 2 unterschiedlichen Zwecken einge- setzt: Beim Röntgen ist man interessiert an einer teil- weisen Transmission der Strahlung durch das Gewe- be, wobei die ionisierenden Effekte möglichst gering gehalten werden sollen. Bei der Strahlentherapie je- doch ist man spezifisch daran interessiert, solche io- nisierenden Effekte zu nutzen, in erster Linie für die Beseitigung von malignem Gewebe. Aufgrund der hohen Eindringtiefe ist es möglich, auch tief liegen- des Gewebe auf diese Weise zu zerstören. Abbildung 11.1: Formen der Strahlentherapie: Tele- therapie (links) und Brachytherapie (rechts). Strahlentherapie kann mit elektromagnetischer Strahlung durchgeführt werden (Röntgen-, γ - Strahlung), oder mit geladenen Teilchen (Elektro- nen, Kerne). Prinzipiell sind auch Neutronen als Strahlungsart verwendbar, allerdings wird das nur in sehr geringem Ausmaß genutzt. Das Ziel dieses Kapitels ist es, eine Übersicht über die vorhan- denen Methoden zu geben und das grundlegende Verständnis zu vermitteln, wie die Wirkung dieser Therapien auf mikroskopischer Ebene verstanden werden kann. Dies ist z.B. Voraussetzung für die Entwicklung der entsprechenden Geräte, aber auch für die Planung der Therapien. Ionisierende Strahlung wird entweder eingesetzt, in- dem man ein radioaktives Präparat in den Körper einbringt (Brachytherapie; brachys = kurz, nah), re- sp. indem man den Körper mit einer externen Quelle bestrahlt (Teletherapie, tele = fern). Bei der Brachy- therapie erreicht man eine gute Dosiszentrierung auf das Zielvolumen, allerdings ist sie eine invasive Me- thode und die Planung ist schwieriger. Die Telethe- rapie wird häufiger eingesetzt, obwohl sich eine un- günstigere Dosisverteilung ergibt. Ein Vorteil ist die Möglichkeit der fraktionierten Strahlenbehandlung. In den beiden Techniken kommen unterschiedliche Arten von Strahlung zum Einsatz. 11.1.2 Wechselwirkung mit Materie Um solche Techniken gezielt anwenden zu können, muss man die Wechselwirkung der Strahlung mit dem Gewebe im Detail verstehen. Man unterschei- det bei allen Arten von Wechselwirkung zwischen primären und sekundären Effekten. Bei den primären Effekten handelt es sich um die Wechselwirkung der Strahlung selber mit dem Ge- webe. Handelt es sich um Photonen, so erfolgt die Wechselwirkung primär mit den Elektronen. Im Fal- le von schweren Teilchen kann zusätzlich die Wech- selwirkung mit den Kernen eine Rolle spielen. Im Falle von Neutronen erfolgt die Wechselwirkung fast ausschließlich mit den Kernen. 207

11 Ionisierende Strahlung - qnap.e3.physik.tu-dortmund.de · schnitt für Compton Streuung als Funktion von Streuwinkel und Energie. Abbildung 11.7:Gesamter Wirkungsquerschnitt als

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11 Ionisierende Strahlung

11.1 Übersicht

11.1.1 Einsatz von ionisierender Strahlung

Man spricht von ionisierender Strahlung, wenn diesebeim Durchgang durch Materie Ionen erzeugt. Not-wendige Voraussetzung dafür ist eine genügend ho-he Energie der Photonen oder Teilchen. Diese Vor-aussetzung ist erfüllt, wenn die Energie mehr als ei-nige Elektronenvolt erreicht.

Ionisierende Strahlung wird in der Medizin im We-sentlichen zu 2 unterschiedlichen Zwecken einge-setzt: Beim Röntgen ist man interessiert an einer teil-weisen Transmission der Strahlung durch das Gewe-be, wobei die ionisierenden Effekte möglichst geringgehalten werden sollen. Bei der Strahlentherapie je-doch ist man spezifisch daran interessiert, solche io-nisierenden Effekte zu nutzen, in erster Linie für dieBeseitigung von malignem Gewebe. Aufgrund derhohen Eindringtiefe ist es möglich, auch tief liegen-des Gewebe auf diese Weise zu zerstören.

Abbildung 11.1: Formen der Strahlentherapie: Tele-therapie (links) und Brachytherapie(rechts).

Strahlentherapie kann mit elektromagnetischerStrahlung durchgeführt werden (Röntgen-, γ-Strahlung), oder mit geladenen Teilchen (Elektro-

nen, Kerne). Prinzipiell sind auch Neutronen alsStrahlungsart verwendbar, allerdings wird das nurin sehr geringem Ausmaß genutzt. Das Ziel diesesKapitels ist es, eine Übersicht über die vorhan-denen Methoden zu geben und das grundlegendeVerständnis zu vermitteln, wie die Wirkung dieserTherapien auf mikroskopischer Ebene verstandenwerden kann. Dies ist z.B. Voraussetzung für dieEntwicklung der entsprechenden Geräte, aber auchfür die Planung der Therapien.

Ionisierende Strahlung wird entweder eingesetzt, in-dem man ein radioaktives Präparat in den Körpereinbringt (Brachytherapie; brachys = kurz, nah), re-sp. indem man den Körper mit einer externen Quellebestrahlt (Teletherapie, tele = fern). Bei der Brachy-therapie erreicht man eine gute Dosiszentrierung aufdas Zielvolumen, allerdings ist sie eine invasive Me-thode und die Planung ist schwieriger. Die Telethe-rapie wird häufiger eingesetzt, obwohl sich eine un-günstigere Dosisverteilung ergibt. Ein Vorteil ist dieMöglichkeit der fraktionierten Strahlenbehandlung.In den beiden Techniken kommen unterschiedlicheArten von Strahlung zum Einsatz.

11.1.2 Wechselwirkung mit Materie

Um solche Techniken gezielt anwenden zu können,muss man die Wechselwirkung der Strahlung mitdem Gewebe im Detail verstehen. Man unterschei-det bei allen Arten von Wechselwirkung zwischenprimären und sekundären Effekten.

Bei den primären Effekten handelt es sich um dieWechselwirkung der Strahlung selber mit dem Ge-webe. Handelt es sich um Photonen, so erfolgt dieWechselwirkung primär mit den Elektronen. Im Fal-le von schweren Teilchen kann zusätzlich die Wech-selwirkung mit den Kernen eine Rolle spielen. ImFalle von Neutronen erfolgt die Wechselwirkung fastausschließlich mit den Kernen.

207

11 Ionisierende Strahlung

Bei den Primärprozessen wird häufig so viel Energieauf die Elektronen übertragen, dass diese aus demMolekül heraus gelöst werden und selber genügendEnergie besitzen, um weitere Ionisationsprozesse zubewirken. Man bezeichnet dies als Sekundärwech-selwirkung.

Im letzten Teil dieses Kapitels werden wir auch dieGrundregeln des Strahlenschutzes diskutieren. Da-bei geht es darum, unerwünschte Strahlenexpositionzu vermeiden.

11.2 Energiedeposition durchPhotonen

11.2.1 Phänomenologie

In erster (und recht guter) Näherung gilt für elektro-magnetische Strahlung, dass die transmittierte Ener-gie exponentiell mit der Eindringtiefe x abnimmt:

I = I0 · e−µx ,

sofern die Materie homogen ist. Wie in Kapitel 6.2.3gezeigt wurde, ist µ proportional zur (Teilchen-)Dichte:

µ = nσ =NA ρ

mmolσ .

Hier stellt σ den Wirkungsquerschnitt dar [σ ]=m2,n ist die Teilchendichte [n] =m−3, mmol ist die Mol-masse [kg/Mol], NA ist die Avogadrokonstante NA =6 ·1023 Mol−1, und ρ ist die Massendichte in kg/m3.

Die mittlere freie Weglänge von 1MeV-Photonen inWasser beträgt 〈x〉 = 1/µ = 14,4cm. Damit ergibtsich ein Wirkungsquerschnitt

σ(H2O, 1MeV) = 2,1 ·10−24cm2 = 2,1b.

Die Energie, die nicht transmittiert wird, wird ent-weder gestreut oder absorbiert. Damit setzt sich derlineare Abschwächungskoeffizient µ aus dem Streu-koeffizienten σ (bei Richtungsänderung) und demAbsorptionskoeffizienten τ zusammen: µ = σ +τ . Dabei entspricht der Streukoeffizient der Wahr-scheinlichkeit für eine Richtungsänderung des Pho-tons, während der Absorptionskoeffizient die Wahr-scheinlichkeit beschreibt, dass die Strahlung vomGewebe absorbiert wird.

11.2.2 Primärprozesse für Photonen

Abbildung 11.2: Primärprozesse Photonen.

Beiträge zum Streukoeffizienten sind die Rayleigh-Streuung (kohärente Streuung eines Photons am ge-samten Atom) und die Thomson-Streuung (elasti-sche Streuung von Photonen an gebundenen Elek-tronen).

Der Wirkungsquerschnitt für die Rayleigh-Streuungsteigt mit der Kernladungszahl des Atoms, mit einemExponenten von 2 bis 3: σR ∝ Z2..3. Für die ThomsonStreuung kann man einen Wirkungsquerschnitt von

σT = 8π

3r2

e = 6.6 ·10−29m2 = 0.66b

berechnen. Hier stellt

re =e2

4πε0mec2 = 2.8179 ·10−15m

den klassischen Elektronenradius dar.

Die Beiträge zum Absorptionskoeffizienten sind diespäter ausführlicher besprochenen Phänomene Pho-toeffekt, Compton-Effekt und Paarbildung.

11.2.3 Streuung von Licht

Ein einfaches Modell für die Streuung von Licht istdie Betrachtung eines Elektrons, das sich im Po-tential eines harmonischen Oszillators bewegt (Fre-quenz ω0, Dämpfung Γ). Zusätzlich wirkt das elek-trische Feld ~E einer elektromagnetischen Welle aufdas Elektron. Dabei reicht es, wenn wir nichtrelati-vistische Geschwindigkeiten betrachten, sodass dieWirkung des Magnetfeldes vernachlässigt werdenkann: die relative Stärke des Magnetfeldes ist∼ v/c,

208

11 Ionisierende Strahlung

verglichen mit der des elektrischen Feldes. Im Rah-men eines einfachen Modells kann man für die Aus-lenkung des Elektrons schreiben

m~r0 +mΓ~r0 +mω20~r0 =−e~E0e−iωt ,

wobei schon die Näherung exp(i~k~r0) ≈ 1 benutztwurde. Das zeitabhängige Dipolmoment des Elek-trons ergibt sich zu

~p(t) =−e~r0(t) =e2/m

ω20 −ω2− iΓω

~E0e−iωt .

Der differenziellen Wirkungsquerschnitt ist gleichder abgestrahlten Leistung pro RaumwinkelelementdP/dΩ, geteilt durch die einfallende Leistung proFläche (Betrag des Poynting-Vektors |~S|)

dΩ=

dP/dΩ

〈|~S|〉.

(Jeweils zeitliche Mittelwerte.) Für Dipolstrahlunggilt

〈|~S|〉= ε0

2c |~E0|2,

und für die pro Raumwinkelelement im Mittel abge-strahlte Leistung

dPdΩ

=1

32π2ε0c3 ω4|~p|2 sin2(ϑ),

wobei ϑ den Winkel zur Auslenkungsrichtung be-zeichnet. Setzt man diese beiden Gleichungen in die-jenige für den differenziellen Wirkungsquerschnittein, so kann man daraus den totalen Wirkungsquer-schnitt berechnen:

σt =∫

dΩdσ

dΩ.

Man erhält im Rahmen dieses Modells eine Reso-nanzkurve

σt = σT ·ω4

(ω20 −ω2)2 +ω2Γ2 .

Für sehr hohe Frequenzen (ω ω0) erhält manThomson-Streuung, σt ≈ σT = 8π

3 r2e , und für sehr

kleine Frequenzen die Rayleigh-Streuung σt ≈ σR =σT

ω4

ω40.

Abbildung 11.3: Resonanzkurve des Streuquer-schnitts

11.2.4 Photoeffekt

Beim Photoeffekt wird die gesamte Energie des Pho-tons dazu benutzt, ein in einem Atom gebundenesElektron mit der Bindungsenergie EB < 0 aus derElektronenhülle zu entfernen. Es besitzt danach diekinetische Energie Ekin = Eγ +EB. Hier stellt Eγ dieEnergie des Photons dar.

Absorption eines Photons ist nur möglich, wennEnergie und Impuls erhalten bleiben. Für die Ener-gieerhaltung sorgt die obige Beziehung. Impulser-haltung setzt voraus, dass zusätzlich zum Elektronein weiteres Teilchen vorhanden ist. Dies ist nor-malerweise der Kern, der zwar wenig Energie auf-nimmt, aber einen wesentlichen Teil des Impulses.

Der Wirkungsquerschnitt für die Photoabsorption istmaximal wenn die Photonenenergie der Bindungs-energie entspricht Eγ ≈ EB. Es gibt jedoch keineneinfachen analytischen Ausdruck für die Abhängig-keit der Eindringtiefe von Energie und Material. Fürdie Strahlentherapie gilt in guter Näherung für denAbsorptionskoeffizienten

τph ∼ ρ

(ZEγ

)3

(1+0.008Z) .

Im Bereich der biologischen Gewebe (Z ∼ 8) nimmtsomit die Absorption etwa mit der dritten Potenz derKernladungszahl zu, bei schwereren Kernen mit et-wa der vierten Potenz.

Für chemische Verbindungen, heterogene Mischun-gen wie zum Beispiel Gewebe, wird eine effektive

209

11 Ionisierende Strahlung

Kernladungszahl eingeführt:

Zmeff := ∑

ini Zm

i ,

wobei ni den Gewichtsanteil der i-ten Atomsorte be-zeichnet und die Summe über alle Atomsorten läuft.Mit dieser Definition bekommt man für m = 3 undWasser Zeff = 7.69.

Material Zeff Zmax

Luft 7.64 8Wasser 7.42 8Muskel 7.42 8

Knochen 13.8 20Fett 5.92 7

Das vom befreiten Elektron zurückgelassene Lochwird durch Übergänge anderer, noch gebundenerElektronen, aufgefüllt. Die dabei freiwerdende Ener-gie wird durch die Ausstrahlung charakteristischerPhotonen (Fluoreszenzstrahlung) oder die Emissi-on von Auger-Elektronen aus dem Atom transpor-tiert. Die Energie der Auger-Elektronen ist relativgering und ihre Reichweite deshalb klein. Darausfolgt eine nahezu lokale Energiedeposition, die beibiologischen Systemen wichtig ist.

11.2.5 Compton-Effekt

Beim Compton-Effekt wird die Photonenenergie nurteilweise auf ein schwach gebundenes (”freies”)Elektron übertragen. (Für den typischen Energiebe-reich der Compton-Streuung von einigen MeV kanndie Bindungsenergie der Elektronen vernachlässigtwerden.)

Das Elektron (Masse mc2 = 511 keV) verlässt dasAtom mit einer kinetischen Energie Ekin, das ge-streute Photon besitzt die Restenergie E

′γ . Die Vertei-

lung der Energie ist durch die Erhaltung von Energieund Impuls gegeben und damit abhängig vom Streu-winkel θ :

E′γ =

1+ Eγ

mc2 (1− cosθ).

Wichtige Grenzfälle sind

Abbildung 11.4: Compton Effekt.

Abbildung 11.5: Restenergie des gestreuten Photonsals Funktion des Streuwinkels, fürunterschiedliche Energien des ein-fallenden Photons.

• niedrige Photonenenergie, Eγ→ 0: E ′γ ≥Eγ(1−Eγ

mc2 2)

• hohe Photonenenergie, Eγ mc2 : E ′γ,min =

mc2

2 .

Die statistische Verteilung der Prozesse auf die ver-schiedenen Streuwinkel θ erhält man über den diffe-rentiellen Wirkungsquerschnitt nach Klein und Nis-hina.

Für zunehmende einfallende Photonenenergie wer-den die Photonen zunehmend in Vorwärtsrichtunggestreut und verlieren somit nur einen geringen Teilihrer Energie.

11.2.6 Energieübertrag auf Elektron

Von entscheidender Bedeutung für die Bildgebungund Therapie ist die Frage, wie sich die Energie

210

11 Ionisierende Strahlung

Abbildung 11.6: Differentieller Wirkungsquer-schnitt für Compton Streuung alsFunktion von Streuwinkel undEnergie.

Abbildung 11.7: Gesamter Wirkungsquerschnitt alsFunktion der Energie des einfal-lenden Photons und Wirkungsquer-schnitt für die Übertragung derEnergie auf ein Elektron.

auf gestreutes Photon und Elektron aufteilt. Beiniedrigen Energien besitzt das Photon fast die ge-samte Energie. Mit zunehmender Photonenenergienimmt der Wirkungsquerschnitt ab, aber der Anteilder Energie, welcher auf die Elektronen übertragenwird, nimmt zu (siehe Abb. 11.7). Ab etwa 10 MeVbesitzt das Elektron den Hauptteil der Energie. We-gen der geringen Reichweite des Elektrons im Ge-webe bleibt die Energie daher lokal.

Je nach Streuwinkel ist die Aufteilung der Energiezwischen Elektron und Photon unterschiedlich. Fi-gur 11.8 zeigt Mittel- und Maximalwert der kineti-schen Energie des Elektrons.

Das Elektron wird bei niedriger Energie sowohl in

Medizinische Physik, Band 2: Medizinische Strahlenphyisk

J. Bille, W. Schlegel (Hrsg.)

Abbildung 11.8: Kinetische Energie des Elektrons.

Vorwärts- wie auch in Rückwärtsrichtung gestreut.Bei großen Energien überwiegt die Rückwärtsstreu-ung und die Comptonkante wird im e−-Spektrumausgeprägt.

Für die Dosimetrie wichtig ist das Verhalten des Wir-kungsquerschnitts: Die Abgabe der Photonenenergieist in erster Näherung proportional zur Elektronen-dichte und indirekt proportional zur Photonenener-gie,

σC ∝ZEγ

.

11.2.7 Paarbildung

Durch die Wechselwirkung hochenergetischer Pho-tonen (Schwellenenergie Eγ ≥ 2mc2 = 1.022 MeV)mit dem starken elektromagnetischen Feld desAtomkerns kann sich das einfallende Photon spon-tan in ein Elektron-Positron-Paar verwandeln.

Abbildung 11.9: Paarbildung.

Im freien Raum ist die Paarbildung verboten, daes nicht möglich ist, gleichzeitig die Energie- undImpulserhaltung zu gewährleisten. Dies sieht man,

211

11 Ionisierende Strahlung

wenn man das Quadrat des 4-Impulses von Photonund e−e+-Paar vergleicht:

P2 =(

~pγc

)2

=(

E+ +E−( ~p+ + ~p−)c

)2

.

Die linke Seite verschwindet, E2γ − p2

γ c2 = 0 da beiPhotonen E = pc. Auf der rechten Seite

(E++E−)2−( ~p++ ~p−)2c2 =(2mc2)2−(2mvc)2 > 0

steht hingegen eine positive Zahl. Die Gleichungkann somit nicht befriedigt werden.

Steht jedoch ein Atomkern zur Verfügung, so kanndieser einen Teil des Impulses aufnehmen und da-mit den Prozess ermöglichen. Der Stoßquerschnittist deshalb proportional zum Quadrat der Kernla-dungszahl, σPaar ∝ Z2. Der Impulsübertrag nimmtmit wachsender Photonenenergie ab.

Nach der Paarbildung kann sich das Positron frei be-wegen (mittlere freie Weglänge einige Millimeter)und formt dann mit dem Elektron eines Atoms ein sogenanntes Positronium. Das Positronium vernich-tet sich anschließend und es werden zwei Photonenemittiert (Vernichtungsstrahlung).

Paarbildung ist für die Dosimetrie meist von unter-geordneter Bedeutung, wichtig jedoch bei der Aus-legung von Abschirmungen für Betatrons.

11.2.8 Massenschwächungskoeffizienten

Da der Schwächungskoeffizient bei Röntgenstrahlenproportional zur Dichte des Materials ist, wird häufigder Massenschwächungskoeffizient µ/ρ von Ma-terialien betrachtet.

In dem diagnostischen Energiebereich um etwa 0,1MeV überwiegt bei Blei die Photoabsorption, insbe-sondere nach Überschreiten der K-Kante.

Bei Wasser und weichem Körpergewebe überwiegtdie Compton-Streuung, daher resultiert auch eine re-lativ große Streustrahlung. Die Konsequenzen dieserAbhängigkeit für die Bildgebung mit Röntgenstrah-len wurden bereits im Kapitel 6 diskutiert.

Bei Energien unter 0.1 MeV dominieren Photoef-fekt und Compton-Effekt. Der Streuquerschnitt is so

Abbildung 11.10: Massenschwächungskoeffizientvon Blei.

hoch, dass die Energie bereits in den ersten Zentime-tern des Gewebes deponiert wird.

Daher sind Photonen unter 0.1 MeV zur Behandlungvon tiefer liegenden Tumoren ungeeignet. Zwischen0.1 und 1 MeV dominiert der Compton-Effekt. (Ab-bildung 11.12) Leider verbleibt über 50% der Ener-gie in den gestreuten Photonen, aber über 1 MeVnimmt der Anteil der übertragenen Energie konti-nuierlich zu. Da der technische Aufwand für dieseEnergien zunimmt, werden üblicherweise 1.25 MeVin der Cobalt-60-Therapie eingesetzt, bis 6 MeV beiEinsatz eines 20 MV LINAC.

11.2.9 Sekundärprozesse und Tiefendosis

Bei der Dosisberechnung für die Therapie mussdie im Gewebe deponierte Dosis durch die gesam-te Kaskade von Photonen und Elektronen berech-net werden. Bei der Ionisierung von Gewebe durchhochenergetische Photonen werden die Sekundär-prozesse durch Elektronen dominiert, welche durchCompton-Streuung freigesetzt wurden. Diese besit-zen in Wasser eine Reichweite von ca. 100 µm beieiner anfänglichen kinetischen Energie von 0.1 MeV

212

11 Ionisierende Strahlung

Abbildung 11.11: Massenschwächungskoeffizientvon Wasser.

Abbildung 11.12: Anteil der verschiedenen Mecha-nismen an der gesamten Dosis alsFunktion der Photonenenergie.

bis zu ca. 5 cm bei einer Anfangsenergie von 10MeV.

Tiefendosiskurven zeigen, dass die relative Dosiszunächst für kleine Tiefen stark zunimmt. Dies istdarauf zurückzuführen, dass die Elektronen, welchedie Enerige lokal verteilen, zuerst erzeugt werdenmüssen. Ab einer gewissen Eindringtiefe entsprichtder Energieverlust der Elektronen ihrem Energiege-winn, und die Tiefendosiskurven besitzen ein Maxi-mum. Für größere Tiefen nimmt die Strahlintensitätund damit die deponierte Dosis durch die Photoab-sorption kontinuierlich ab.

Da die Maxima der Tiefendosiskurven nicht auf derOberfläche des bestrahlten Materials liegen (Abb.11.13) wird bei einer therapeutischen Bestrahlung

Abbildung 11.13: Tiefendosiskurven.

die Haut geschont. Um die Behandlung von Hauttu-moren durchführen zu können wird eine Plexiglas-schicht oder eine gewebeäquivalente Weichplastikbenutzt, die auf die Haut aufgesetzt wird.

11.3 Energiedeposition durchTeilchen

11.3.1 Streuung von Neutronen

Neutronen werden für die Therapie von verschie-denen Krebs-Erkrankungen eingesetzt. Eine wesent-liche Schwierigkeit ist, dass Neutronen im Allge-meinen nicht an den Kliniken zur Verfügung ste-hen. Deshalb hat z.B. das Fermilab eine eigeneNeutronen-Therapie Station aufgebaut. Dafür wer-den typischerweise Spallationsquellen verwendet:ein Cyclotron erzeugt einen Protonenstrahl, welcherauf ein Target (z.B. Beryllium) trifft, und dort Neu-tronen freisetzt.

Da Neutronen nicht die Coulomb-Kraft der Atom-kerne spüren, ist die Streuung und der Einfangvon langsamen Neutronen möglich. Die magneti-sche Wechselwirkung mit der Atomhülle kann ver-nachlässigt werden (VHuelle ∼ 5 ·10−7 eV vs. VKern ∼5 · 106 eV, daher erfolgt der Energieübertrag durcheinen Stoßprozess. Bei einem Stoß wird die Energie

∆E =4 mN

MK

(1+ mNMK

)2 En cos2θ

übertragen. Diese Funktion wird maximal für mN ≈MK . Die Formel vereinfacht sich dann in guter Nä-

213

11 Ionisierende Strahlung

herung zu

∆E = En cos2θ .

Im isotropen Mittel gilt cos2 θ = 12 und damit

∆E =En

2.

Somit ist der Energieübertrag für einen Neutron-Proton-Stoß besonders effektiv. Auch der Wirkungs-querschnitt ist für einen n− p Stoß besonders groß,für andere biologisch wichtige Kerne wie 12C und16O jedoch klein. Da biologische Materie viel Was-ser enthält, ist etwa 90% der deponierten Energie aufdiesen Stoß zurückführbar.

11.3.2 Absorption von Neutronen

Ein zweiter zur Energieabgabe führender Prozess istdie Absorption von Neutronen und die zwischen-zeitliche Bildung eines Compound-Kerns. Nach derAbsorption kann der Kern überschüssige Energie inForm von γ-Strahlung emittieren, oder er kann sichüber die Emission von p oder α-Teilchen stabili-sieren. Der überwiegende Teil der Energiedepositi-on erfolgt auf Rückstoßkerne und durch Sekundär-prozesse der erzeugten Produkte bei der Compound-Kern-Bildung.

Abbildung 11.14: Streu- und Absorptionsquer-schnitte für Neutronen.

Um die Energieabhängigkeit des Absorptionsquer-schnitts zu erhalten, machen wir den Ansatz, dassder Absorptionsquerschnitt proportional ist zur Auf-enthaltsdauer in der Nähe des Kerns, d.h.

σ ∝1v

∝1√En

.

Eine typische Reaktion ist

105 B+n→7

3 Li+42 He .

Solche Prozesse ermöglichen eine lokale Energiede-position. Anwendungsbeispiele umfassen Melano-me und Gehirntumore. Für ihre Behandlung werdenBioverbindungen in die Tumorzellen eingelagert.

11.3.3 Schwere geladene Teilchen

Bei geladenen Teilchen wie z.B. e−, p, α , ... er-folgt die primäre Wechselwirkung zwischen den ge-ladenen Teilchen und den Hüllenelektronen überdie Coulomb-Wechselwirkung. Als Sekundärteil-chen entstehen γ , Elektronen und Neutronen, diewiederum Energie deponieren. Der Energieübertragnimmt zu mit der Ladung z und mit abnehmen-der Geschwindigkeit des Teilchens. Dadurch habenschwere geladene Teilchen eine endliche Eindring-tiefe.

Für den Fall, dass die Masse groß ist gegenüber derElektronenmasse, kann die Energieübertragung be-schrieben werden durch die Bethe-Bloch Formel

−dEdx

= 4πz2r2e

mc2

(4πε0)2 ·β 2NA ρ Zmmol

·

·

ln2mc2β 2

I(1−β 2)−β

2

.

Hier ist NA = 6 · 1023 Teilchen/Mol die AvogadroZahl, re = e2

4πε0mc2 = 2.8 · 10−15 m der klassischeElektronenradius, ρ die Dichte des Mediums, A dieMassenzahl, Z die Kernladungszahl des Mediumsund I das mittlere Ionisierungspotenzial; dieses be-trägt etwa 13.5 eV ·Z. β = v

c ist die Geschwindigkeitdes Teilchens. Das Verhältnis n = NA ρ Z

mmolgibt die Zahl

der Elektronen pro Volumeneinheit an.

Als vereinfachten Ausdruck betrachten wir

−dEdx

∝Z2

v2 nln2mv2

I.

Offenbar nimmt die Energiedeposition zu mit demQuadrat der Ladung und ab mit dem Quadrat der Ge-schwindigkeit, d.h. mit der kinetischen Energie derTeilchen. Außerdem ist sie proportional zur Elektro-nendichte.

214

11 Ionisierende Strahlung

Häufig verwendet man die auf die Dichte normier-te Größe − 1

ρ

dEdx und bezeichnet dies als Massenab-

schwächungskoeffizienten. Für dessen Berechnungbenötigt man die Elektronendichte pro Gewicht, n

ρ=

NA Zmmol≈ 3 ·1023g−1.

Abbildung 11.15: LET Werte für verschiedeneStrahler.

S(E) = −dEdx wird auch als Bremsvermögen (stop-

ping power) bezeichnet. In der Dosimetrie wirddieser Ausdruck linearer Energietransfer (LET) ge-nannt. In der Tabelle sind die Massenbremsvermö-gen dargestellt: 1

ρ· dE

dx = LETρ

. In gemischten Medi-en kann man über die gewichteten Beiträge mitteln.Sie liegen je nach Strahler im Bereich von 0.2 bis zu1300 keV pro Mikrometer.

Für kleine Geschwindigkeiten ergibt sich eine qua-dratische Divergenz der Bethe-Bloch-Formel, aberfür sehr kleine Geschwindigkeiten erfolgt der Ein-fang von Elektronen, und die zunächst geladenenTeilchen werden elektrisch neutral. Man kann diesüber eine effektive Kernladung der Teilchen be-schreiben,

Zeff = Z1− e−125β 2Z−2/3→ 0 f uer β → 0 .

Im Wasser erreicht der Abschwächungskoeffizientals Funktion der Teilchenenergie ein Maximum beieiner Energie von 60 keV ... 100 keV.

11.3.4 Tiefenprofil

Aus der (vereinfachten) Bethe-Bloch Formel siehtman, dass die Energieübertragung mit abnehmen-der Energie zunimmt. Dies führt zu einer endlichenReichweite des Strahls: Je stärker die Energie ab-nimmt, desto schneller nimmt die Energieübertra-gung zu. Die Schädigung des Gewebes nimmt des-halb mit der Tiefe zu, bis ein Maximum erreicht wird

in der Region wo die Teilchen auf Null abgebremstwerden.

Abbildung 11.16: Tiefendosiskurve für 200 MeVProtonen in Wasser.

Die Tiefe, in der dieses Maximum auftritt hängt vonder Anfangsenergie ab. Dies erlaubt einem, die Ener-giedeposition im Bereich eines tief liegenden Tu-mors zu maximieren, während das darüber liegendeGewebe weniger geschädigt wird und das darunterliegende Gewebe praktisch keine Dosis erhält.

Bei der Berechnung der Variation der Dosis mit derEindringtiefe muss berücksichtigt werden, dass esstatistische Schwankungen der Energien des Teil-chenensembles gibt, die mit zunehmender Eindring-tiefe größer werden. Die Ionen ändern bei den Streu-prozessen außerdem ihre Richtung, was zu einerAufweitung des Strahls in der Tiefe führt. Das ganzewird als Straggling bezeichnet.

Die Tiefendosis ergibt sich aus der Superposition al-ler LETs. Aus der Zunahme des Energietransfers mitabnehmender Energie ergibt sich das Maximum derTiefendosiskurve, der Bragg-Peak. In der Tiefendo-siskurve für 200 MeV Protonen in Wasser (→ Ge-webe) erkennt man diesen bei einer Wassertiefe vonetwa 26 cm.

Vergleicht man schwere Ionen (zum Beispiel 12C)mit Protonen, so stellt man fest, dass schwere Io-nen eine bessere Dosiskonformation am Zielvolu-men besitzen, da der zugehörige Bragg-Peak schma-ler ist. Außerdem ist die laterale Streuung geringeraufgrund der grösseren Masse. Der Nachteil ist dieauftretende Fragmentierung schwerer Ionen, die zueinem Dosisuntergrund nach dem Bragg-Peak (intieferen Gewebeschichten) führt, die bei Protonennicht zu beobachten ist. Das hat Folgen für die Strah-lenbelastung des Patienten. Schwere Ionen sollen in

215

11 Ionisierende Strahlung

Abbildung 11.17: Tiefendosiskurve Protonen und12C.

Zukunft jedoch vermehrt verwendet werden, um bisjetzt nicht heilbare Karzinome in Gehirn und Augezu behandeln, wo in der Nähe empfindlicher Organe(Nerven, Zodialkörper) möglichst lokal viel Energiedeponiert werden soll.

11.3.5 Energieverlust von Elektronen

Bei Elektronen tragen zwei Prozesse zum Energie-verlust bei: Stoß und Bremsstrahlung. Gegenüberpositiv geladenen Teilchen ergeben sich 2 wichtigeUnterschiede:

• Das einlaufende Teilchen kann seine Richtungändern

• Der Stoß erfolgt zwischen identischen Teil-chen. Deshalb muss das Pauli-Prinzip berück-sichtigt werden.

Die Bethe-Bloch-Gleichung muss für Elektronen ab-geändert werden.

−dEdx|Stoss = 2πr2

emc2

β 2NA ρ Zmmol

·ln

τ2(τ +2)2(I/mc2)2 +F(τ)

.

Hier stellt τ = Tkinmc2 das Verhältnis von kinetischer zu

Ruheenergie dar und

F(τ) = 1−β2 +

τ2/8− (2τ +1) lnz2

(τ +1)2 .

Außerdem verlieren die Elektronen Energie überBremsstrahlung. Dieser Beitrag kann beschrieben

werden als

−dEdx|Bremsstrahlung= 4Z2 NA ρ

mmolr2

e E ln183Z1/3 .

Dieser Ausdruck wächst mit der Energie der Teil-chen. Deshalb dominiert bei kleinen Energien derBeitrag der Stöße, bei hohen Energien die Brems-strahlung. Als kritische Energie wird diejenigeEnergie bezeichnet, bei der der Energieverlust aufGrund von Stößen gleich dem auf Grund von Brems-strahlung ist. Kritische Energien erstrecken sich vonzum Beispiel 9,5 MeV bei Blei bis zu etwa 100 MeVfür Wasser und Polystyrol.

11.3.6 Energieübertragung auf Moleküle

In der Kern- und Teilchenphysik interessiert mansich für den Energieverlust dE/dx eines Teilchens.In der Medizinphysik ist der Energieübertrag aufMoleküle wichtig. Häufig wird die sog. Bragg-Regel benutzt:

S(E)Mol. =#Atome

∑i=1

niSi(E)

ni ist dabei die Konzentration des i-ten Elements undSi das jeweilige Bremsvermögen. Die Bragg-Regelgilt innerhalb einiger Prozent, mit einigen Ausnah-men wie z.B. H2 und NO.

Auf Grund der Vielzahl von Anregungsmöglich-keiten (Elektronenanregung, Rotationen, Vibratio-nen, Ionisation) wird eine Näherung verwendet, dieAnregung wird als Anregung von Oszillatoren be-schrieben, die die Frequenz ωs besitzen. Die Wahr-scheinlichkeit, mit der ein Oszillator angeregt wird,muss bekannt sein, ein Maß hierfür ist die Dipol-Oszillatorstärke fs, die proportional zum Absorpti-onskoeffizienten µs ist.

Die dimensionslose Oszillatorstärke ist proportionalzum Absolutquadrat des Übergangsmatrixelements:

f xf i =

2mω

h|〈 f |x|i〉|2 .

Die Thomas-Reiche-Kuhn Dipolsummenregel be-sagt, dass die Summe aller Oszillatorstärken gleichder Kernladungszahl Z ist.

216

11 Ionisierende Strahlung

Beim Energieübertrag von geladenen Teilchen folgtfür die Zahl der Moleküle, die bei dem Durchgangangeregt werden: Ns ∼ fs/(hωs).

Die Struktur der Moleküle hat einen Einfluss dar-auf, wie leicht sie angeregt werden können. So besit-zen Mehrfachbindungen (2- und 3-fach Bindungen)niedrige angeregt Zustände, welche leichter angeregtwerden können. Bei konjugierten Doppelbindungenist der Effekt noch ausgeprägter.

Der häufigste Primärprozess beim Durchgang gela-dener Teilchen durch Materie besteht in der Anre-gung/Ionisation der Valenzelektronen. Für Biomole-küle existiert zur Zeit nur wenig Information überdie jeweilige Oszillatorstärke. Der Schwerpunkt derOszillatorstärke liegt etwa bei 10 bis 30 eV. Dasbeobachtete Anregungsspektrum ist unabhängig vonder Geschwindigkeit, Masse und Ladung z des gela-denen Teilchens, das heißt auf molekularem Niveauhaben alle Arten von Teilchen qualitativ die gleicheWirkung.

11.3.7 Sekundärelektronen

In der ersten Stufe der Energieübertragung vongeladenen Teilchen in Materie werden geladeneSekundärteilchen erzeugt durch Stoß- und Streif-wechselwirkung. Die Sekundärelektronen werdenauch als δ -Elektronenstrahlung oder δ -Teilchenbezeichnet. Die Vorraussetzung für eine Stoß-Wechselwirkung (knock-on collisions) ist eine hin-reichend hohe Energie der Primärteilchen und eindichter Vorbeiflug am Molekül. Im Allgemeinen istdie Energie so groß, dass die Bindungsenergien derElektronen vernachläßigbar sind.

Die Wahrscheinlichkeit d2w, dass ein geladenesTeilchen auf dem Weg dx mit einem Elektron zu-sammenstößt, und eine Energie dE überträgt, ist

d2wdE dx

= 2mc2πr2

ez2

β 2 ZNA ρ

mmol· 1

E2 = πb2 nE

.

Sie ist proportional zur Elektronendichte n und indi-rekt proportional zum Quadrat des EnergieübertragsE und hängt nicht von der chemischen Zusammen-

setzung ab. Der Stoßparameter beträgt

b =

√2mc2 z2r2

e

β 21E

.

Ein typischer numerischer Wert ist√106eV

(2.8 f m)2

10−4 ·102 = 28 pm .

Bei der Streif-Wechselwirkung (glancing collisi-ons) hängt die Wahrscheinlichkeit von der Oszilla-torstärke, also von der chemischen Zusammenset-zung ab. Der Stoßparameter kann in diesem Fallgrößer als die Ausdehnung des Moleküls sein. DieStreif-Wechselwirkung ist um eine Größenordnunghäufiger als die Stoßwechselwirkung.

Bei der Energieverteilung der Sekundärelektronenist die Zahl der Elektronen pro Energieintervall undder Anteil der Elektronen an der Gesamtenergie zuunterscheiden. 70% der Primärenergie wird auf Se-kundärteilchen übertragen, die ihrerseits wieder io-nisieren. Viele Sekundärteilchen werden mit so klei-ner Energie erzeugt, dass die Energiedeposition inder Nähe der Primärionisation stattfindet, es ent-stehen Primärionisationshaufen (cluster). DiesesPhänomen wurde in Nebel- und Blasenkammern un-tersucht.

Als Definitonsgrenze für δ -Elektronen in Wasserwird 0.1 keV genommen (Reichweite in Wasser 12nm) oder auch 1 keV (Reichweite 290 nm). Proble-matisch ist bei der Bestrahlung, dass Sekundärelek-tronen entstehen, deren Energietransfer≤ 2 Größen-ordnungen größer ist als der der Primärteilchen. Soentstehen bei der Bestrahlung mit schnellen Elek-tronen (LET~200 eV/µm) Sekdundärelektronen mitEnergien von 100 eV bis 500 eV. Deren LET beträgt≈ 20 eV/µm. Bei schweren geladenen Teilchen kön-nen die Sekundärteilchen eine größere Reichweitehaben als die Primärteilchen. Für

400keV e− ∑Rδ = 0.03Rprimaer

während für

1MeV α−

∑Rδ = 2.5Rα .

217

11 Ionisierende Strahlung

11.4 Dosimetrische Grundbegriffe

11.4.1 Stärke der Quellen

Wie schon vorher erwähnt ist die Präparatstärkeoder Aktivität A definiert als die Anzahl der Zer-fälle pro Zeiteinheit und die Einheit ist Bequerel(Bq). Früher wurde die Einheit Curie (Ci) benutzt:1Ci = 3.7 · 1010Bq. Die Quellstärke ist die Aktivi-tät die tatsächlich aus der Quelle austritt. Diese istkleiner als die Präparatstärke, da ein Teil der Strah-lung in dem Material der Quelle oder dem Behälterabsorbiert wird.

11.4.2 Absorbierte Leistung

Die Energiedosis ist der Quotient aus absorbier-ter Energie dE eines Massenelementes und dessenMasse dm: D := dE

dm . Die Energiedosis hat die Ein-heit [D] = J

kg = Gray = Gy. Die Energiedosislei-stung ist definiert als die Energiedosis pro Zeitein-heit: D = dD

dt .

Für eine gegebene Strahlung hängt die absorbier-te Dosis von den Materialeigenschaften ab. Fürpunktförmige Quellen oder einen großen Abstandr von der Quelle gilt für die Dosisleistung D =k A

r2 . Die Proportionalitätskonstante k ist insbesonde-re für Gammastrahlenquellen für viele Radionukli-de tabelliert. Sie wird dort als spezifische Gamma-Dosisleistungskonstante k oder mit Γ = k/(4π) be-zeichnet.

Für niederenergetische Photonen- oder Neutronen-strahlung (indirekt ionisierende Strahlung) wird ausmesstechnischen Erwägungen auch oft das KermaK anstelle der Dosis verwendet: K := dEtrans

dm , wobeidEtrans die auf ein geladenes Sekundärteilchen über-tragene Bewegungsenergie ist.

Insbesondere beim Umgang mit Röntgenstrahlungwird häufig noch die Ionendosis J beziehungswei-se die Ionendosisleistung verwendet. Die Ionendo-sis gibt an, wieviel elektrische Ladung dQ pro Mas-seneinheit in Luft unter Normalbedingungen gebil-det wird: J := dQ

dm . Die Einheit ist [J] = C/kg. Bis1985 wurde die Einheit Röntgen verwendet (1R =2,58 · 10−4 C/kg). Der Zusammenhang zwischen

Energie- und Ionendosis in Luft ist D =UionJ, wobeiUion = 33,7 V die mittlere Ionisierungsspannung ist.

11.4.3 Quantitative Wirkung

Bei der Beschreibung der Wirkung ionisierenderStrahlung auf biologisches Material reicht die Anga-be der Energie- oder Ionendosis nicht aus. Es mussberücksichtigt werden, wie die Energie auf das bio-logische Material übertragen wird.

Dazu wurde die Äquivalentdosis H eingeführt, wo-bei die Dosis mit einem Qualitätsfaktor Q (auchRelative Biologische Wirksamkeit, RBW) gewichtetwird: H = Q ·D. Die Einheit ist [H] = J

kg = Sievert =Sv.

Wie im Kapitel ”Strahlenschutz” noch genauer aus-geführt wird, wird der Qualitätsfaktor als Messgrö-ße eingesetzt. Der Strahlenwichtungsfaktor wR, fürden ebenfalls H = wR ·D gilt, wird als Schutzgrößeverwendet. Sowohl die Mess- als auch Schutzgrö-ßen sind also radiologisch bewertete Energiedo-sen. Der Qualitätsfaktor hängt letztendlich von derim Gewebe deponierten Energiedichte ab. Als cha-rakteristische Größe wird der schon erwähnte linea-re Energietransfer LET benutzt (auch hierzu mehrim Kapitel ”Strahlenschutz”.

11.5 Molekulare Strahlenbiologie

11.5.1 Natürliche Strahlenbelastung

Ionisierende Strahlung führt auf unterschiedlicheWeise zu Schädigungen im Gewebe. Die Strahlen-schäden resultieren aus Anregung, Ionisation undDissoziation von Atomen und Molekülen. Langfri-stig die schwerwiegendsten Schäden sind die Schä-digungen an der Erbsubstanz DNS. Diese treten aufzusätzlich zu den übrigen Mechanismen, welche zuMutationen führen. Man schätzt, dass die Strahlen-schäden zu etwa 6% zur gesamten Mutationsrate bei-tragen.

Evolutionsgeschichtlich haben die Strahlenschädeneinerseits die Mutationsrate erhöht. Andererseits hat

218

11 Ionisierende Strahlung

der Selektionsdruck dazu geführt, dass die Orga-nismen Mechanismen entwickelt haben, welche dieStrahlenschäden begrenzen, resp. reparieren. Aller-dings haben diese Prozesse zum überwiegenden Teilin Organismen stattgefunden, welche sehr viel ein-facher waren als Menschen. Dadurch waren sie sehrviel weniger anfällig für Strahlungsschäden, ande-rerseits konnten sie tödliche Strahlenschäden sehrviel leichter durch eine höhere Fortpflanzungsratekompensieren.

Wir schätzen zunächst die typische Zahl der natürli-chen Ionisationsprozesse. Die heutige mittlere jähr-liche Strahlenbelastung eines Menschen (75kg) be-trägt etwa 2 mSv, d.h. die im gesamten Körper depo-nierte Energie ist etwa

2 ·10−3 ·75Ja

= 0.15Ja

oder

0.15365 ·24 ·3600

Js

= 4.8 ·10−9W = 3 ·1010 eVs

.

Bei einer mittleren Ionisationsenergie von 30 eV inGewebe und Wasser erhält man somit rund 109 Io-nisationsprozesse pro Sekunde im gesamten Kör-per. Die Tatsache, dass wir diese Belastung übereinen längeren Zeitraum überleben, ist ein Hinweisauf hochwirksame Reparaturmechanismen. Die-se existieren in allen biologischen Systemen wiedem menschlichen Körper.

11.5.2 Prozesse und Zeiskalen

Die Wirkungen ionisierender Strahlen auf ein biolo-gisches Objekt spielen sich in mehreren Phasen ab,auf sehr unterschiedlichen Zeitskalen.

Physikalische Vorgänge, Ionisation, Dissoziationund Anregung, finden auf der Skala 10−18...10−12sab; chemische Vorgänge auf der Skala 10−12...1sund die biologische Phase kann bis zu mehrerenJahren verlaufen.

Eine einfache Anregung kann bei kompliziertenbiologischen Molekülen bereits zu einer Instabili-tät und damit zu Schäden führen. Die Ionisation istder wahrscheinlichste Vorgang für hochenergetische

Abbildung 11.18: Wirkung ionisierender Strahlungauf Zellen.

Strahlung, die daher auch “ionisierende Strahlung”genannt wird. Dissoziation, die Trennung von Mo-lekülen in zwei oder mehr Bruchstücke, resultiertmeist erst sekundär, ist aber letztendlich für die bio-logische Schädigung verantwortlich.

Da nur der absorbierte Teil der auf ein biologischesObjekt treffenden Strahlung wirksam wird, rufen un-terschiedliche Strahlungsarten unterschiedliche An-zahl von biologisch wirksamen, geladenen Teilchenin einer Zelle hervor.

11.5.3 Quantifizierung

Als Maß für die zu erwartende biologische Wirkungkann die Anzahl der Ionisationen entlang des Wegesder Strahlung durch die Zelle, die Ionisationsdichte,dienen.

Die Ionisationsdichte ist allerdings messtechnischschwer zu erfassen, daher wird der LET benutzt, umdie Ionisationsdichte rechnerisch zu ermitteln.

Die Definition für den LET ist nach DIN 6814-z: Derlineare Energietransfer (LET) geladener Teilchen in

219

11 Ionisierende Strahlung

Abbildung 11.19: Unterschiedliche Strahlungsartenund Ionisierung.

einem Medium ist der Quotient aus dem mittlerenEnergieverlust dE, den das Teilchen durch Stöße er-leidet, bei denen der Energieverlust kleiner als einevorgegebene Energie ∆ ist, und dem dabei zurück-gelegten Weg des Teilchens ds: LET = L∆ =

(dEds

)∆.

Die Beschränkung auf die vorgegebene Energie ∆ istwichtig um Informationen über die lokal dichte Wir-kung benachbarter Ionisationsstöße zu erhalten, diefür die Schädigung von Zellen verantwortlich sind.

11.5.4 Biologische Wirksamkeit

Ein LET von 3,5 keV/µm gilt als Grenze zwi-schen locker (leicht) und dicht (hart) ionisieren-der Strahlung. Die biologische Wirkung kann nichtallein durch den LET prognostiziert werden. Esmuss zum Beispiel auch der physiologische undcytologisch-morphologische Zustand der Zelle be-rücksichtig werden, wie auch die räumliche und zeit-liche Verteilung der Dosis.

Daher wird eine relative Bezugsgröße eingeführt,die einen Vergleich mit einer definierten Strahlungs-quelle mit einer Referenz-Energiedosis Dre f er-laubt: die relative biologische Wirksamkeit RBW.Die RBW einer Strahlungsart X , die das gleiche bio-logische Strahlungsergebnis u ergibt (zum Beispiel

Abbildung 11.20: Ionisationsdichte.

die Wahrscheinlichkeit für die Überlebensfähigkeiteiner Zellart) ist RBWu =

(Dre fDX

)u.

Die Referenz-Energiedosis ist meist eine 250 keVRöntgenstrahlung oder eine 60Co-Gammastrahlung,sie ist also gering biologisch wirksam, daher ist dieRBW meist größer als 1.

Da die RBW nur für spezielle biologische Objekteund Strahlungsarten definiert ist, verwendet man inder Praxis den Qualitätsfaktor Q, der für die unter-schiedlichen Strahlungsarten per Konvention festge-legt ist. Ein Maß für das biologische Schädigungspo-tential ist die im Objekt deponierte ÄquivalentdosisH = RBW ·D beziehungsweise H = Q ·D.

Abbildung 11.21: Abhängigkeit von Q von der ki-netischen Energie verschiedenerTeilchen (a bis i).

220

11 Ionisierende Strahlung

Der Qualitätsfaktor Q nimmt allgemein mit zuneh-mender Energie der Teilchen ab, da dadurch dieAbsorptions- und Streuquerschnitte abnehmen. Dergenaue Zusammenhang zwischen dem LET und Qwird zur Zeit (?) immer noch durch die ICRP (Inter-national Commission of Radiation Protection) dis-kutiert. Ein großer LET wie zum Beispiel bei α-Strahlen, schnellen Neutronen oder Protonen (E > 2MeV) bis zu 200 keV/µm hat auch hohe Qualitäts-faktoren von 20 (bei Protonen ”nur” 5) zur Folge.Röntgenstrahlen, etc. mit um einen Faktor 2 bis 3kleineren LET haben ein Q=1.

Abbildung 11.22: Q verschiedener Institutionen undZusammenhang mit dem LET.

11.5.5 Molekulare Strahlenwirkung

Wegen ihrer großen molekularen Masse und desmengenmäßig häufigen Vorkommens sind 4 Artenvon Makromolekülen einer Zelle besonders treffer-gefährdet:

• Proteine haben eine relativ geringe Gefahr derstrahlungsbedingten Denaturierung, also desVerlustes der notwendigen Konfiguration fürdie Funktion. Durch den sogenannten turnoverwerden defekte, aber auch intakte, Moleküle re-gelmäßig, unterschiedlich schnell, durch Abbauund Neusynthese ersetzt.

• Polysaccharide sind extrem strahlungsresi-stente Verbindungen, die mögliche chemischeVeränderung ist in der Regel ohne Folgen fürden Stoffwechsel.

• Lipide bergen die mögliche Bildung von Per-oxiden, aber die Schäden sind meistens gering.

• Nukleinsäuren sind die labilsten biologischenMoleküle und damit entscheidend für dieAuswirkung ionisierender Strahlung auf dieZelle.

11.5.6 Mutationen

Eine Mutation stellt eine sprunghafte und irreversi-ble Veränderung des Genoms dar. Mutationen spie-len eine entscheidende Rolle für die Evolution, sindaber für das einzelne Individuum meist von Nachteil,resp. können tödlich sein. Rund 6% der natürlichenMutationen kommen auf Grund von Strahlung zuStande, aber auch viele andere Prozesse rufen Mu-tationen hervor.

Abbildung 11.23: Schädigungsmöglichkeiten derDNS.

Die Schädigungsmöglichkeiten der DNS sind:

• Einzelstrangbrüche

• Doppelstrangbrüche

• Basenveränderungen

• Basenverlust

• Quervernetzung der komplementären Stränge

• DNS-Protein-Vernetzungen

11.5.7 Reparaturmechanismen

Wegen der zahlreichen Prozesse, die zu Mutationenführen und der Folgen für die Zelle (den Organis-mus) besitzen selbst sehr primitive Lebewesen Re-paraturmechanismen. Diese sind:

221

11 Ionisierende Strahlung

• turnover. Alle lebenswichtigen Makromolekü-le werden nach einer gewissen Funktionsdau-er wieder in ihre Bausteine zerlegt und gleich-zeitig durch Neusynthese ersetzt. Zum Beispielwerden im Genom des Menschen pro Tag meh-rere 1000 Basen spontan entfernt und durchneue ersetzt.

• Strahlenschutzstoffe. Insbesondere SH-Gruppen-haltige Aminosäuren wie Cysteinund Methionin werden leicht oxidiert undkönnen so als Radikalenfänger bezeichnetwerden. Auch alkoholische VerbindungenR-OH gehören hierzu.

• Enzymatische DNS-Reparatur. Dieses ist dereffektivste Mechanismus zur Eindämmung zuhoher Mutationsraten

Abbildung 11.24: Enzymatische DNS-Reparatur.

Diese spezialisierten Enzyme schneiden die fehler-haften Bereiche der DNA aus dem Strang und erset-zen sie durch korrekte Kopien.

11.5.8 Hormesis

Die eben beschriebenen Reparaturmechanismenfunktionieren für alle Schäden gleich effektiv, ob

strahleninduziert oder nicht. Die Reparaturenzymesind nicht zu jeder Zeit in gleicher Menge und Akti-vität in Zellen enthalten, sie sind induzierbar. DieErhöhung der Reparaturrate kann durch beschleu-nigte Neusynthese oder reduzierten turnover erfol-gen. Insgesamt kann sich durch strahlungsinduzierteReparaturenzyme eine biopositive Wirkung (Hor-mesis) ergeben.

Untersuchungen dazu wurden durchgeführt in denRadiumbädern in Böhmen, dem Radon-Stollen inBad Gastein und Bad Kreuznach sowie den radio-aktiven Schlammpackungen auf der MittelmeerinselIschia. Der Hormesis-Effekt scheint nur bei lockerionisierender Strahlung aufzutreten, massive Schä-den durch hart ionisierender Strahlung können kaumausreichend repariert werden. Bei Menschen gibt esstarke Unterschiede in der Strahlungsempfindlich-keit bis zu einem Faktor 10. Bei Menschen mit er-höhter Strahlungsempfindlichkeit, zum Beispiel we-gen eingeschränkter DNA-Reparaturmechanismen,wird natürlich kein Hormesis-Effekt festgestellt.

Die biologische Strahlenwirkung ist stark abhän-gig von der Dosis, daher gilt die ProduktregelIntensität·Zeit=Wirkung nicht. Es ist zum Beispielein großer Unterschied, ob man 1 Sv in einer Stun-de aufnimmt oder 10mSv verteilt über 100 Stunden.Der Grund dafür liegt eben in der Induzierbarkeit derReparaturenzyme, für die Zeit benötigt wird: etwa 1bis 2 Stunden nach Beginn der Induktion beginnt dieErhöhung.

Bei der Bestrahlung in der Strahlenmedizin wirdunterschieden in

• Einmalige Dosis, das heit Aufnahme der Dosisin kurzer Zeit, damit wird die größte Wirkungpro Dosiseinheit erzielt.

• Fraktionierte Dosis bedeutet, dass kleine Ein-zeldosen mit Bestrahlungspausen benutzt wer-den. In den Pausen ist dann die Erholung undReparatur möglich. Dies wird in der Thera-pie verwendet, allerdings wird eine höhere Ge-samtdosis benötigt als bei einmaliger Anwen-dung, um die gleiche Wirkung auf die bösarti-gen Zellen zu erzielen.

• Protrahierte Dosis ist eine länger andauerndeBestrahlung mit niedriger Dosisleistung. Auch

222

11 Ionisierende Strahlung

hier ist die Erholungs- und Reparaturfähigkeiterhöht im Vergleich mit der einmaligen Dosis.

11.5.9 Indirekte Strahlenwirkung

Abbildung 11.25: Indirekte Strahlenwirkung.

Wegen dem mengenmäßigem Vorherrschen in allenLebewesen ist Wasser der bedeutendste Energie-überträger. Die Primärreaktionen sind

• Ionisation (Dissoziation, indirekte Radikalbil-dung) und

• Dissoziation (direkte Radikalbildung)

Es entstehen letztendlich diffusible Radikale,hauptsächlich aus H2O und H2O2, und sekundärwird dann dadurch die Strahlungsenergie an die Ma-kromoleküle weitergegeben. OH ·-Radikale domi-nieren bei der biologischen Strahlenwirkung. Ins-gesamt ergibt sich ein komplexes Bild für die chemi-schen Reaktionen nach dem Primärakt.

11.5.10 Arten von Strahlenschäden

Man unterscheidet zwischen zwei Wirkungsweiseneiner Bestrahlung, den stochastischen und nicht-stochastischen Strahlenwirkungen. Bei den stocha-stischen Strahlenwirkungen ist die Wahrschein-lichkeit des Auftretens von erkennbaren Strahlen-folgen direkt proportional zur Dosis, eine Schwel-lendosis existiert aus theoretischen Überlegungenheraus nicht. Bei nichtstochastischen Strahlen-schäden ist der Strahleneinfluss unterhalb einerToleranz-/Schwellendosis durch Reparaturmecha-nismen kompensierbar und es gibt keinen Strah-leneffekt. Überhalb der Schwellendosis sind die

Schwere der Folgeerscheinungen direkt proportionalzur Strahlendosis.

Die möglichen Folgen sind zum einen genetischeStrahlenschäden, diese betreffen Keimzellen vonIndividuen. Die Übertragung genetischer Schädenauf die 1. Filialgeneration konnte beim Menschennoch nicht nachgewiesen werden (siehe auch Einlei-tung/Übersicht). Somatische Strahlenschäden sindauf das bestrahlte Individuum beschränkt. Früh-schäden sind mit großen Strahlendosen, > 1 Sv, ver-bunden. Die Spätschäden sind in der Regel stocha-stisch (bei kleineren Dosen) und können aber auchnach der Erholung von Frühschäden auftreten.

Abbildung 11.26: Zusammenhang zwischenEinmal-Ganzkörperdosis undnichtstochastischen Frühschäden.

Abbildung 11.27: Äquivalentdosen, die bei Ganz-körperbestrahlung unbehandeltbei 50% der bestrahlten Lebewe-sen zum Tod innerhalb von 30Tagen führt.

223

11 Ionisierende Strahlung

11.6 Strahlenschutz

11.6.1 Praktischer Strahlenschutz

Der praktische Strahlenschutz betrifft den Schutzvon Menschen.

Abbildung 11.28: Praktischer Strahlenschutz.

Die Strahlenschutzverordnung (StrSchV) verlangtdie Vermeidung oder eine so geringe Bestrah-lung wie irgend möglich. Der praktische Strahlen-schutz (die StrSchV) regelt die Einrichtung vonÜberwachungs-, Kontroll- und Sperrbereichen unddie Einhaltung von Grenzwerten für nicht überwach-te Personen im allgemeinen Staatsgebiet und in nichtüberwachten Bereichen von Betrieben, etc. Es mussein Schutz vor Bestrahlung von Innen durch Inhala-tion, Ingestion, Haut- und Wundkontamination ge-währleistet werden. Beim Schutz vor Bestrahlungvon Außen gilt die 4-A-Regel: Abstand möglichstgroß, Aufenthaltszeit klein, Abschirmung so dickwie nötig, und eine Aktivität so klein wie möglich.

Die Aktivität wird durch einen Strahlungsdetektormit zählender Elektronik bestimmt.

Abbildung 11.29: Strahlenmessung.

Um die Dosis und Dosisleistung bestimmen zu kön-nen wird eine signalbewertende Elektronik verwen-det, die auch die Strahlungsart bestimmen kann.Die Nuklidbestimmung erfolgt durch eine zusätzli-che Energiespektrometrie.

11.6.2 Abschirmung

Geladene Teilchen besitzen nur eine begrenzteReichweite in Materie, danach ist die Dosis exaktNull. Neutrale Teilchen können hingegen nur belie-big in ihrer Intensität reduziert werden.

Abbildung 11.30: Abschirmung und Aufbaustrah-lung.

224

11 Ionisierende Strahlung

Durch Streu- und Wechselwirkungsprozesse imAbschirmungs- und Umgebungsmaterial entstehenSekundärphotonen, die Aufbaustrahlung. Diesehätte ohne den Absorber die exponierte Person garnicht erreicht. Daher kann man den Absorber nichtbeliebig gestalten. Der Absorber sollte daher mög-lichst dicht an der Quelle positioniert sein, undnicht größer als nötig sein. Als Faustformel zurAbschätzung der Dosisleistung für eine Quelle mitder Aktivität A in Luft kann die spezifische Gam-mastrahlenkonstante mit 0.25 mSv m2/(h GBq) ge-nähert werden.

Abbildung 11.31: Abschätzung der Gammastrahlen-aktivität.

Da sie in dem relevanten Energiebereich bis zu einerPhotonenenergie von 1 MeV dadurch überschätztwird, bedeutet dies mehr Sicherheit.

11.6.3 Strahlenbelastung des Menschen

In der neuen Strahlenschutzverordnung wird un-terschieden zwischen Schutzgrößen und Messgrö-ßen. Körperdosen werden als Schutzgrößen fürGrenzwerte benutzt.

Die Organ-(Äquivalent-)Dosis HT = wR ·DT,R ent-hält den Strahlen-Wichtungsfaktor wR.

Die effektive Dosis E = ∑T wT ·HT ist die mit denGewebe-Wichtungsfaktoren wT gewichtete Sum-me aller Organdosen. Die Faktoren wT und wR sindtabelliert in der StrSchV.

Abbildung 11.32: Strahlen-Wichtungsfaktoren.

Abbildung 11.33: Gewebe-Wichtungsfaktoren.

11.6.4 Operative Messgrößen

Die schon häufiger angesprochenen Äquivalentdo-sen sind die operativen Größen (Messgrößen) inder Dosimetrie mit dem Qualitätsfaktor Q.

Die operativen Größen werden für die Dosismes-sung verwendet, da die Körperdosen in der Re-gel nicht messbar sind. Sie liefern unter realisti-schen Expositionsbedingungen eine Abschätzungfür Körperdosen. Die Ortsdosis-Messgrößen die-nen dem präventiven Strahlenschutz und sind dieGrundlage zur Einrichtung von Strahlenschutzberei-chen. Ortsdosis-Messgrößen sind ein individuellesMaß für die Exposition einer einzelnen Person.

225

11 Ionisierende Strahlung

Abbildung 11.34: Messgrößen.

11.6.5 Strahlenexpoition: typische Werte

Abbildung 11.35: Natüriche Strahlenexposition.

In der Abbildung 11.35 ist die durchschnittliche ef-fektive Dosis der Bevölkerung der BRD von 1998tabellarisch aufgeführt. Die mittlere effektive Dosisbeträgt 2,4 mSv pro Jahr. Die Hälfte dieser Strahlen-dosis kommt durch die Inhalation von Radonfolge-produkten zustande, zu 86% vom Aufenthalt in Häu-sern. Die zivilisatorische Exposition ist vergleichs-weise gering.

Abbildung 11.36: Zivilisatorische Strahlenexpositi-on.

Im Mittel beträgt sie zwar 1,6 mSv pro Jahr (Ab-bildung 11.36), aber fast der gesamte Anteil kommtdurch die Anwendung radioaktiver Stoffe und ioni-sierender Strahlen in der Medizin, und ist daher indi-viduell sehr unterschiedlich. Die Strahlenbelastung

bei Transatlantikflügen (hier Paris-Rio) durch diegrößere Höhenstrahlung ist in der Abbildung 11.37zu sehen.

Abbildung 11.37: Höhenstrahlung.

Je nach geographischer Breite, und abhängig von derFlughöhe, variiert die Dosisleistung. Typischerweiseliegt sie im Bereich von 4 µSv pro Flugstunde.

Abbildung 11.38: Medizinische Strahlenbela-stung (E: effektive Dosis, KM:Knochenmark, SD: Schilddrüse).

In der Abbildung 11.38 ist die medizinische Strah-lenbelastung genauer aufgeschlüsselt. Man erkennt,dass die Standard-Röntgendiagnostik zu einer Strah-lenbelastung in der Größenordnung von 0,1−1 mSvführt, die sich schnell in Dosen, die der natürlichenStrahlenbelastung entsprechen, aufsummieren kann.Noch größer ist die Strahlenbelastung in der Nu-kleardiagnostik. Extrem hohe Dosen werden in derRöntgentherapie und Nukleartherapie benutzt. Siekönnen durchaus im Bereich der lethalen Dosis vonetwa 10 Sv für Ganzkörperbestrahlung oder sogardarüber liegen. Dann muss die Therapie mit beson-deren Schutz- und Vorkehrungsmaßnahmen durch-

226

11 Ionisierende Strahlung

geführt werden (sterile Umgebung, ...).

Abbildung 11.39: Dosisleistungen.

Dosisleistungen von unterschiedlichen Strahlungs-quellen sind in der Abbildung 11.39 zu sehen.

Abbildung 11.40: Variabilität der Strahlenexpositi-on des Menschen.

Die Variabilität der Strahlenexposition des Men-schen ist in der Abbildung 11.40 gezeigt. Dabei wer-den die externen mit den inkorporierten (Inhalationund Ingestion) Strahlenquellen verglichen.

In der letzen Abbildung ist das Spektrum einiger ty-pischer Äquivalentdosen in Form einer Skala zusam-mengestellt.

Abbildung 11.41: Typische Dosen.

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