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Unseren Kindernund Schwiegerkindern,

unseren Enkelinnen und Enkelngewidmet.

Ihr seid mit uns durch Freude und Leid gegangenund habt dazu beigetragen, dass wir Lernende blieben

und gerne leben.

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Heinz & Ann Zindel

P.S. Ich lebe gern!

Wie das Leben gelingenund Hoffnung gelernt

werden kann

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Bibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der

Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind imInternet über www.dnb.de abrufbar.

Die Bibelstellen in diesen Buch wurden folgenden Bibelübersetzungenentnommen:

Gute Nachricht � 1997 Deutsche Bibelgesellschaft, StuttgartHoffnung für alle � 1983, 1996, 2002 by

Biblica Inc.TM, Brunnen Verlag BaselLutherbibel � 1984, 1999 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart

Menge-Bibel � Deutsche Bibelgesellschaft, StuttgartSchlachter-Bibel � 2000 Genfer Bibelgesellschaft

� 2012 by Brunnen Verlag Basel

Umschlag: Spoon Design, Olaf Johannson, LanggçnsBild Umschlag: Cosma/Shutterstock.com

3 Bilder des Malers Max Hunziker:Mit freundlicher Genehmigung von Frau Gertrud Hunziker-Fromm

Satz: Innoset AG, Justin Messmer, BaselDruck: Bercker, Kevelaer

Printed in Germany

ISBN 978-3-7655-1505-7

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P Inhalt p

Vorwort von Dominik Klenk . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11

1. Auf die Wurzeln kommt es an . . . . . . . . . . . . . . . . . 15Vertrauen lernen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18«Ohne Wurzeln keine Flügel» . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23

2. Gemeinschaft: Traumbild oder Übungsfeld? . . . . . 37Die Hohe Schule der Ehe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37Eine gçttliche Kläranlage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39Frühnebel über der christlichen Gemeinschaft . . . . . . . . 44

3. Glauben lernen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49Ins Herz geschrieben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49Methode und Wegbereitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 52

4. Gottes Gegenwart erfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57In der Lebensschule Gottes. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57Umgestaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 58

5. Hçrhilfen für das Gespräch mit Gott . . . . . . . . . . . 65Freundschaft mit Jesus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65Stirnlampe gegen Stolpersteine . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 68Direkte Impulse von Gott. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69Kooperation mit dem Heiligen Geist . . . . . . . . . . . . . . . . 70

6. Vergebung und Versçhnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75Vergebung ist ein Entschluss:«Ich entlasse ihn aus seiner Schuld.» . . . . . . . . . . . . . . . 75

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Versçhnung ist ein Prozess: «Ich çffne ihm mein Herz.» 82Mit Gott versçhnt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87Versçhnung in der Rückschau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 88

7. Wer festhält, verliert – wer loslässt, gewinnt . . . . . 91Loslassen – ein Lernprozess . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91Die Kehrseite des Schmerzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93Loslassen oder überlassen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 96

8. Wer nicht genießen kann, wird ungenießbar . . . . 99Ein Leben zwischen Lust und Verzicht. . . . . . . . . . . . . . . 99«Es ist nun einmal so» . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104

9. Auf dem kürzesten Umweg zum Ziel . . . . . . . . . . . . 107Der Umweg wird zum Ausweg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107Das Hindernis als Lebenschance. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109

10. Im Spannungsfeld zwischen Heil und Leid . . . . . . . 115Heilserfahrungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115Im Leid wachsen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118Das Heil liegt in Gottes Hand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 120

11. Von einem geliebten Menschen Abschied nehmen 129Ein Briefwechsel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129Trauer – ein langer Weg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 136

12. Nochmals heiraten – was soll das? . . . . . . . . . . . . . . 139

13. «Altsein ist ein herrlich Ding! …» . . . . . . . . . . . . . . . 149Die Herausforderung wird zur Chance. . . . . . . . . . . . . . . 150Mit dem letzten Schlusspfiff ist die Meisterschaft vorbei 152Einfach da sein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 154Von Birnen, braunen Flecken und anderen Überraschungen 157

14. Auch Sterben muss gelernt sein . . . . . . . . . . . . . . . . 161

Anmerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167

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P Vorwort pvon Dominik Klenk

Was lebendig ist, verändert sich. Doch kaum eine Generationhat so viele Veränderungen verarbeiten müssen wie die Kinderdes Zweiten Weltkrieges. Das Unfassbare musste ertragen, ver-änderte Grenzverläufe mussten neu eingeprägt, jüdischeNachbarn ausgeliefert oder beherbergt werden – je nachdem,auf welche Seite der Geschichte man geworfen wurde. DieUmbrüche dieser Jahre waren gewaltig, und ihre Folgen sindbis heute prägend und spürbar: mit einer Innen- und mit einerAußenseite.

Heinz Zindel ist ein Kind dieser Umbruchsjahre. Als SchweizerJunge stand er nicht im Zentrum der politischen Auseinander-setzungen. Aber er war nah genug dran. Nah genug, um ihrekulturprägenden Eigenheiten einzufangen. Nah genug, umdie Generationsdynamik des schwindenden Patriarchats zu er-spüren. Nah genug, um das Ringen verunsicherter Menschenum Heimat, Freundschaft und Richtung zu erleben.

Das alles wird erzählt. Heinz und Ann Zindel beziehen uns einin die Blütenlese ihres Lebens. Sie verstricken uns in Geschich-ten, die ihnen kostbar geworden sind. Sie zeichnen ein Gene-rationengeschehen nach, in dem sich unsere eigenen Ge-schichten widerspiegeln.

Was hier aufleuchtet: Geschichten zu erzählen, das ist mehrals Zeitvertreib und Unterhaltung. Geschichten sind mehr alsInformation und Wissen. Sie stehen an der Wiege unserer

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Existenz, sie betten uns ein, und wir erahnen durch sie, werwir sind, woran wir uns im Leben und Sterben halten kçnnen– und wohin es geht, wenn dieses Leben vorüber ist.

Die Frucht gelingender Erzählung ist die lebensdienliche Er-fahrung eines Vorausgängers. Von lebenspraktischem Wissengesättigte Geschichten finden Haftflächen in der eigenenWahrnehmung. So entsteht eine Erzählgemeinschaft, undzwar eine Erzählgemeinschaft der Hoffnung.

Es sind die großen und tiefen Themen, an die sich das Ehe-paar Zindel heranwagt: Herkunft und Zukunft – Ehe und Ge-meinschaft – Aufbruch und Abbruch – Vergebung und Versçh-nung – Loslassen und Überlassen.

Die besondere Stärke des Buches ist die reflektierte Praxis, dienicht mit der Analyse von Vorgängen abschließt, sondernstets den Himmel mit ins Bild zieht. Dieser Horizont bringtLicht und Sauerstoff in die Geschichten. Und er gibt dem Gan-zen eine Richtung: himmelwärts. Das ist der atmosphärischeUnterton, der in immer neuen Variationen angeschlagenoder auch nur angezupft wird. Himmelwärts – das ist die Sehn-suchtslinie, die der Schweizer Heinz Zindel ausspannt und diedurch seine amerikanische Frau Ann mit eigenen Eindrückenverstärkt wird.

Rechts und links der Hoffnungslinie stehen dem Leser Weg-begleiter, Stichwortgeber und geistliche Verwandtschaft zurSeite: Matthias Claudius, Martin Buber, Dietrich Bonhoeffer,Therese von Avila, C.S. Lewis und viele andere. Mit den vonihnen bewahrten Blüten-Worten ist der Weg Richtung Him-mel nicht mit guten Vorsätzen, sondern mit Hoffnung undVorfreude gepflastert.

Dominik Klenk

P.S. Ich las es gerne!

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Dr. Dominik Klenk ist Leiter der çkumenischen Kommunität Offen-sive Junger Christen (OJC) in Reichelsheim. Früher Handballprofiund Unternehmer. Er ist Herausgeber der Zeitschrift «Salzkorn».Sein Buch «Lieber Bruder in Rom. Ein evangelischer Brief an denPapst» (Knaur-Taschenbuch) wurde 2011 ein Bestseller.

Kontakt: www.dominik-klenk.de

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P Einleitung p

Leben Sie auch gern? Vielleicht ist Ihnen diese Frage zudirekt und ungeschützt. Sie antworten deshalb zurückhal-tend: «Die Freude am Leben ist bei mir stark von meinerLebenssituation abhängig: von meiner momentanen Be-findlichkeit, dem aktuellen Gesundheitszustand und nochvon vielen anderen Faktoren. Übrigens, spielt nicht auchdie persçnliche Veranlagung eine entscheidende Rolle? Esgibt doch Menschen, die ihr Leben eher durch eine dunkleBrille betrachten. Andere sind von Natur aus heiter undoptimistisch.»

Und nun fragen Sie zurück: «Weshalb leben denn Sie gern?Sind Sie ein ‹Glückspilz›, dessen Leben unter besonders güns-tigen Voraussetzungen stand?»

Eigentlich nicht. Aber ich sehnte mich schon als Kind nacherfülltem Leben. Etwas von dieser Sehnsucht schlummertwohl in uns allen. Für viele Menschen ist sie zwar kaum mehrspürbar, vielleicht sogar schon gestorben. Sie haben sich da-mit abgefunden und hoffen nur noch, in ihrem Leben einiger-maßen über die Runden zu kommen.

Andere Leserinnen und Leser werden vom Buchtitel unmit-telbar angesprochen, weil sie sich in ihrem Alltag immerwieder von der Freude am Leben anstecken lassen. Vielleichtwar das nicht immer so. Aber sie haben einen Weg zurück-gelegt und stellen im Nachhinein fest, dass sich in ihneneiniges verändert hat. Es ist ihnen aufgegangen: Leben heißtlernen.

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Dieses Buch will auf solche Lernprozesse aufmerksam ma-chen. Sie beginnen mit dem Tag unserer Geburt und dau-ern bis an unser Lebensende. Ich denke an Menschen inmeinem persçnlichen Umfeld, die mich seit früher Kind-heit fçrderten und forderten. Das Vertrauen zu ihnen ließmich innerlich stark werden und weckte meine Freude amLeben.

Das Beste aber verdanke ich dem, der wirklich etwas vomLeben versteht, weil er dessen Schçpfer ist. Schon im AltenTestament verheißt er seinem Volk: «Der Herr wird dich alle-zeit geleiten und deine Seele auch in dürren Gegenden sichsättigen lassen und deine Glieder kräftig machen, so dass dueinem wohlbewässerten Garten gleichst und einem Wasser-quell, dessen Fluten nicht versiegen» (Jesaja 58,11). Und JesusChristus spricht mitten in unser Thema hinein, wenn er sagt:«Ich bin gekommen, um ihnen Leben zu bringen – Leben inganzer Fülle» (Johannes 10,10).

Beim Schreiben dieses Buches kamen Lebenserinnerungenin mir hoch. Ich habe einige in den Text eingefügt. Zuerstaber beschäftigten mich viele Fragen: «Durch welche Men-schen oder Erlebnisse wurde ich in der Entfaltung meinerPersçnlichkeit gefçrdert? Haben mich Schwierigkeiten undHindernisse in diesem Prozess beeinträchtigt, oder bin ichdurch sie stärker geworden? Wodurch ist mein Vertrauen zuGott geweckt worden? In welcher Weise habe ich mich ver-ändert?»

Auf der Suche nach Antworten schaute ich auf meineKindheit, auf zwei langjährige Partnerschaften mit eigenenKindern und auf meinen Berufsalltag zurück. Ich sah Men-schen vor mir, die Entscheidendes zu den Lernprozessen inmeinem Leben beigetragen haben. Ihnen gegenüber emp-finde ich große Dankbarkeit. Aber auch schmerzliche Erfah-rungen kamen zum Vorschein. Begegnungen, die ich als ver-letzend empfand, oder Lebensabschnitte, die ich bis heutenicht verstehen kann. Im Nachhinein sehe ich, dass sich

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auch einige dieser schwierigen Zeiten letztlich als hilfreicherwiesen haben.

Vielleicht sagen Sie jetzt: «Das kommt mir irgendwie be-kannt vor. Auch mein Leben verlief bis heute nicht gradlinig,ungestçrt und harmonisch. Ich erlebte sehr viel Widersprüch-liches: Oft bemühte ich mich ernsthaft darum, eine Bezie-hung zu pflegen oder eine Aufgabe zu erfüllen, und es schautenicht viel dabei heraus. Ganz anders war es damals, als ich mirim Umgang mit dem tiefen Leid eines Freundes vçllig hilflosvorkam. Ich konnte meine Anteilnahme nur durch schwei-gendes Dabeisein ausdrücken. Da kam unerwartet Hoffnungin mir auf, und unsere Beziehung gewann an Tiefe und Ver-bindlichkeit.»

Solche Erfahrungen, die uns widersprüchlich vorkommen,machen wir alle im Laufe unseres Lebens. Auch in biblischenTexten werden wichtige Grundwahrheiten nicht selten durchAntinomien ausgedrückt. Das sind Aussagen, die sich schein-bar widersprechen. Erst in der Zusammenschau erkennen wirihren vollen Sinn. So schreibt Paulus an die Philipper (2,12und 13): «Seid darauf bedacht … eure Rettung mit Furcht undZittern zu schaffen; denn Gott ist es, der beides, das Wollenund das Vollbringen, in euch wirkt.»

Die Aufforderung, sich im Leben voll einzusetzen, als wennalles von uns abhängen würde, gleichzeitig aber getrost daraufzu vertrauen, dass Gott es auch ohne unser Dazutun schafft,erscheint uns widersprüchlich. Sie erzeugt eine Spannung inuns. Wenn wir es lernen, mit solchen Widersprüchen umzuge-hen, wird unser Leben an Tiefe gewinnen. Diese Thematikwird uns in den folgenden Kapiteln immer wieder begegnen.

Ich schreibe dieses Buch nicht allein. Meine Frau Ann hat dasManuskript gelesen und mir auf meine Bitte hin Rückmeldun-gen gegeben. Sie nahm dann den Vorschlag des Verlages auf,ihre Gedanken in den Text einzubringen. Deshalb habenmeine Frau Ann und ich uns entschlossen, das Buch gemein-sam herauszugeben.

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«Weshalb leben denn Sie gern?», haben Sie mich gefragt. DasBuch hat seinen Zweck erfüllt, wenn es uns gelingt, diese Fragewenigstens ansatzweise zu beantworten – und gleichzeitig daund dort Freude am Leben zu wecken.

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P 1 pAuf die Wurzeln kommt es an

Es ist beklemmend still in unserer Küche, als ich eintrete. Ichspüre, dass etwas in der Luft liegt. Und schon steigt die Angst,die mich seit Monaten begleitet hat, wieder in mir hoch. Ichweiß, woher sie kommt: Mit Vater und Mutter ist es nichtmehr wie früher. Als Zehnjähriger spüre ich dies, auch wennfür mich die Hintergründe verschlossen sind. Nicht, dass dieEltern sich in letzter Zeit gestritten hätten. Bei uns zu Hausehat es, so weit ich mich zurückzuerinnern vermag, nie Aus-einandersetzungen gegeben. Konflikte werden in der Regelnicht ausgetragen. Auch über unsere Gefühle reden wir nicht.Es ist mir jedoch wohl im Kreis der Familie. Und mit meinemBruder verstehe ich mich gut.

Aber so gespannt wie heute ist die Atmosphäre noch nie ge-wesen. Wir stehen alle etwas verloren in der Küche herum. DieStille wird fast unerträglich. Ich spüre, dass jetzt irgendetwasgesagt werden muss. Mein Vater nestelt an einem Zigaretten-päckchen herum. Dann steckt er es wieder ein. Wenn nur dieMutter das Wort ergreifen würde. Sie ist es doch, die jeweilsden Anfang macht. Ich schaue in Vaters vertrautes Gesicht,von dem sonst eigentlich Ruhe ausgeht. Heute ist es gespanntund kommt mir fremd vor. Jetzt sieht er uns an. Es scheint, alsob er ein Gespräch, das er vor meinem Kommen mit der Mut-ter begonnen hat, weiterführen mçchte: «Dann zieht ihr ebenaus. Bei den Großeltern am Zürichsee hat es Platz genug füreuch drei. Ihr kçnnt ihnen im Garten helfen. Ich bleibe hier.»

Nun ist es ausgesprochen! Ich erschrecke. Meine ¾ngstehaben sich bestätigt. Werden wir jetzt keine richtige Familie

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mehr sein? Wie unsere Nachbarn, deren Vater weggegangenist?

Die von mir befürchtete Trennung unserer Eltern blieb aus.Aber für mich waren die nächsten Jahre durch diesen Vorfallüberschattet.

«Werden wir jetzt keine richtige Familie mehr sein?», das wardie Frage, die mich damals umtrieb. Was ist denn eine «richti-ge» Familie? Eine harmonische Gemeinschaft, in der Kindersorglos aufwachsen kçnnen und alle mit Freude im Leben ste-hen? Seit Jahrzehnten bin ich auf der Suche nach einer sol-chen Familie. Nicht in Lehrbüchern, sondern in der gelebtenWirklichkeit. Ich habe sie bis heute nicht gefunden. Wie derKonflikt meiner Eltern in unser Leben hinein wirkte, so hatjede Familie in ihrem Kern oder in der nahen Verwandtschaftkleinere oder große zwischenmenschliche Nçte zu ertragen.

Max Hunziker (1901–1976) nimmt in seinen drei Bildern, dieSie auf den Umschlagklappen des Buches finden, diesesThema auf. Auch er hat Schatten über seiner Familie erlebt.Als ich den Künstler vor etwa vierzig Jahren in seinem Atelierbesuchte, fragte ich ihn, weshalb in seinen Bildern das Motiv«Das Kind auf den Schultern seines Vaters» immer wieder vor-komme. Er antwortete mit der Schilderung eines Erlebnissesaus seiner Kindheit:

Sein Vater führte in Zürich ein Milch- und Käsegeschäft. Ei-nes Tages bewegte sich ein Umzug mit Musikkapellen an ih-rem Haus vorbei. Weil der kleine Max, jüngstes von zwçlf Kin-dern, mit Fieber im Bett lag, war es ihm nicht mçglich, vomBalkon aus dieses einmalige Schauspiel mitzuerleben. Da ge-schah etwas für ihn vçllig Unerwartetes: Sein Vater trat insZimmer. Er hüllte sein Kind sorgfältig in warme Wolldeckenein, nahm es auf die Arme und trat mit ihm auf den Balkonhinaus. Getragen von dessen starken Händen konnte Maxnun den ganzen Umzug miterleben. So nahe war er seinemwortkargen Vater noch nie gewesen.

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Kommt in Max Hunzikers Bildern wohl die Sehnsucht nacheiner solchen «richtigen» Familie zum Ausdruck?

Das erste Bild zeigt ein kleines Kind auf dem Schoß seiner Mut-ter. Hier erfährt es Zuwendung, Geborgenheit und Stillung sei-ner emotionalen Bedürfnisse. Es ist in ihren Armen aufgeho-ben und wird reich beschenkt. Das ist der Nährboden, ausdem es Vertrauen gewinnt und Kräfte schçpft. Es wird diesesErbe zu seiner Zeit an eigene Kinder und Menschen in seinerUmgebung weitergeben. Hunziker deutet an, dass auch dieMutter etwas empfängt. Das Vertrauen des Kindes zu ihr istals zartes Licht dargestellt, das sich im Gesicht der Frau wider-spiegelt.

Auf dem zweiten Bild sehen wir ein Mädchen auf den kräfti-gen Schultern seines Vaters. Es spürt seine Zuneigung, empfin-det aber auch etwas von seiner Stärke, seinem Durchsetzungs-vermçgen und seinem Stolz auf alles, was er bisher erreichthat. Das Kind wird seinem Vater nacheifern, der ihm als Vor-bild Kräfte vermittelt, mit denen es als künftige Frau, Ehepart-nerin und Mitmensch das Leben meistern und gestalten wird.

Das dritte Bild zeigt einen anderen Aspekt des lebenslangenEntfaltungsprozesses. Es stellt nicht dar, was wir als Menschenerarbeiten und vollenden oder emotional empfangen, son-dern weist darauf hin, dass ein anderer uns trägt und in unsVeränderungen bewirkt. Ein Gedicht von Matthias Claudiuspasst gut zu dieser Darstellung:

«Der Mensch lebt und bestehet nur eine kurze Zeitund alle Welt vergehet mit ihrer Herrlichkeit.Es ist nur einer ewig und an allen Endenund wir in seinen Händen.»1

Auf diesen Bildern ist etwas nicht zu erkennen: Die Mutter,die ihr Kind liebevoll an ihr Herz drückt, und der starke

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Vater, der es auf den Schultern trägt, haben die unterschied-lichsten Erfahrungen mit ihren eigenen Eltern gemacht. Siewerden im Umgang mit ihren Kindern, in der Partnerschaft,in der Zusammenarbeit mit Kollegen oder im Alltag einerGemeinschaft nicht nur ihren Stärken, sondern auch ihrenDefiziten begegnen. So stellt sich nicht nur ihren Kindern,sondern auch ihnen als Eltern die Aufgabe, immer weiter zulernen. Aber über dem Leben aller steht, wie eine Verhei-ßung:

«Ich wurde nicht gefragt bei meiner Geburt, und die michgebar, wurde auch nicht gefragt bei ihrer Geburt. Niemandwurde gefragt, außer dem Einen, und er sagte Ja.»2

Vertrauen lernen

Vertrauen ist eine der wichtigsten Pflanzen auf dem Nähr-boden menschlicher Entfaltung. Es wächst sehr unauffällig.Auch wenn äußerlich wenig spürbar ist, geht es dabei umeine Zeit des Lernens. Das Kind ist zwar vorerst gar nichtaktiv. Es ruht im Vertrauen seiner Eltern. Der jüdische Philo-soph Martin Buber spricht in diesem Zusammenhang vom«Panzerhemd des Vertrauens». Ein eindrückliches Bild: DerPanzer, gegen außen hart, schützt vor Gefahren. Das Hemd,nach innen weich und warm, schafft emotionale Sicherheitund Geborgenheit. Wenn das Kind eine solche Lehrzeit erle-ben darf, ist es für künftige Herausforderungen des Lebensoptimal gerüstet.

Dieser bildhafte Ausdruck ist mehr als nur eine pädagogi-sche Metapher. Er beschreibt die Voraussetzungen für eineCharaktereigenschaft, die im Neuen Testament mit dem Be-griff Sanftmut bezeichnet wird. Jesus war sanft und mutig zu-gleich. «Nehmt mein Joch auf euch und lernt von mir! Dennich bin sanftmütig und von Herzen demütig: so werdet ihrRuhe finden für eure Seelen; denn mein Joch ist sanft undmeine Last ist leicht» (Matthäus 11,29–30).

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Etwas von dieser Sanftmut Jesu kam zum Ausdruck, als eram Palmsonntag nicht hoch zu Ross, sondern auf einer Ese-lin reitend in Jerusalem einzog. «Sagt der Tochter Zion: Sie-he! Dein Kçnig kommt zu dir sanftmütig und auf einem Eselreitend» (Matthäus 21,4ff. und Sacharja 9,9). Unmittelbardanach kam bei der Tempelreinigung die andere Seite derSanftmut zum Ausdruck. Er «trieb alle hinaus, die im Tempelkauften und verkauften, warf die Tische der Geldwechslerund die Sitze der Taubenverkäufer um und sagte zu ihnen:Es steht geschrieben: ‹Mein Haus soll ein Bethaus heißen.›Ihr macht es zu einer Räuberhçhle!» Nicht nur sanft, son-dern auch mutig.

Die Sanftmut des Kindes wird im «Panzerhemd des Ver-trauens» vorbereitet. Die Erfahrung der Wärme und Weich-heit des «Hemdes» bewirkt Sanftheit, die Sicherheit des«Panzers» fçrdert den Mut. Das Kind bekommt die Chance,zu einem empfindsamen, einfühlsamen und solidarischenMenschen heranzuwachsen, der aber gleichzeitig auch ver-mag, Widerstand zu leisten, eigenständig zu sein und sich zubehaupten.

Das Vertrauen des Kindes zu den Eltern oder anderen Bezugs-personen festigt sich durch ihre tägliche Anwesenheit. Dabeigeht es nicht einfach um ihr besonderes Wissen oder Kçnnen,sondern vor allem um ihr aufmerksames und authentischesDa-Sein. Gottfried Keller beschreibt, wie die alleinerziehendeRegula Amrain mit ihrem jüngsten Sohn umging: «Wie siedies eigentlich anfing und bewirkte, wäre schwer zu sagen,denn sie erzog eigentlich so wenig als mçglich, und das Werkbestand fast lediglich darin, dass das junge Bäumchen, so vomgleichen Holze mit ihr war, eben in ihrer Nähe wuchs und sichnach ihr richtete.»3

Im Umgang mit dem Kind ist nicht tadellose Vorbildlich-keit der Eltern gefragt, sondern ein ehrliches Miteinander, dasauch Einblick in ihr Versagen einschließt. Kinder sollen nichtnur erleben, dass ihre Eltern mit dem Leben zurechtkommen

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und Erfolg haben, sondern auch erfahren, dass sie es da unddort nicht schaffen oder sogar scheitern. Dies drückt das Ge-dicht eines mir unbekannten jungen Menschen aus:

«Vater ich mag dichwenn du nicht so selbstsicher bistwenn du zçgerstwenn du durcheinander bistund nicht mehr alles im Griff hastwenn dich schwierigkeiten und fragen bewegendann fühle ich mich dir näher

bitte denke nichtdass wenn du schwach bistdu mir als schwach erscheinstich merke jawie viel stärke dazugehçrtseine schwäche zu zeigen

danke dass du nicht die rolle des starken spielstdass du nichts vortäuschstdanke für deine echtheitdie uns zueinanderfinden lässt.»

Das Gedicht stimmt mich nachdenklich. Wie oft habe ich alsVater den Starken herausgekehrt, statt zu meiner Schwäche zustehen. «Männer müssen stark sein! Wer auf Gott vertraut, hatkeine Angst!» Ich erinnere mich an solche Stimmen aus mei-ner Kindheit. Es kommt auch heute noch manchmal vor, dassich es vermeide, Schwäche zu zeigen, Ratlosigkeit zuzugebenoder Trauer wirklich zuzulassen.

In der schwierigen Zeit einer lebensbedrohenden Krankheitmeiner ersten Frau sagte einer meiner Sçhne zu mir: «Papa,du hast uns als Vater durch deine Begeisterungsfähigkeit unddie Freude, die du ausdrücken konntest, angespornt und ani-

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miert. Aber wir haben wenig Einblick in Trauer und Schwierig-keiten eures Alltags erhalten. Wir kannten euch als die Star-ken. Nun bin ich dankbar, euch einmal schwach zu erleben.»

Diese Aussage beschäftigte mich sehr. Sie führte dazu, dassich begann, mich mit den Vorbildern meiner Jugendzeit ver-tiefter auseinanderzusetzen. Dabei erfüllte mich zuerst einmalgroße Dankbarkeit vielen Menschen der älteren Generationgegenüber. Sie haben mein Leben reich gemacht. Durch dieArt und Weise, wie sie im Leben standen, wurde ich ermutigt,eigene Entscheidungen zu fällen. Ihr Vorbild hat mir gehol-fen, in gewissen Lebenssituationen Weichen richtig zu stellen.Andere prägten mich sehr stark, engten mir aber den Freiraumfür eine eigenständige Entwicklung ein. Von einigen mussteich mich mit Schmerzen trennen, weil ihre Fçrderung mitstarren Forderungen und übermäßigen Erwartungen verbun-den war.

Die innere Auseinandersetzung mit meiner Vergangenheitlçste in mir einen emotionalen Lernprozess aus. Das wurdemir bewusst, als mir ein anderer Sohn einige Zeit nach demTod meiner Frau schrieb: «Seit ich um deine Zerbrechlichkeitweiß, bin ich dir noch näher gekommen, und ich erkennemeine eigenen Grenzen in deiner Art.»

Selbst wenn im Leben eines Menschen kein Vater da war, derihn auf seine Schultern setzte, und keine Mutter, die ihn in dieArme schloss, und selbst wenn er nicht im Panzerhemd desVertrauens heranwachsen konnte, behält der Eine, der zu ihmJa sagte, den Überblick über sein Leben und vermag Verände-rungen einzuleiten.

Ein englischer Theologe, der in einem etwas herunter-gekommenen Stadtteil Londons Gemeindepfarrer war, schil-derte mir vor Jahren eine sehr eindrückliche Begegnung miteinem Jugendlichen, der eines Abends in sein Studierzimmerstürmte.

Der junge Mann hatte, ziellos und innerlich aufgewühltdurch die Gassen der Stadt streifend, neben dem Eingang ei-

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nes Hauses die Hinweistafel «Kirche und Pfarramt» entdeckt.Obwohl er vçllig ohne Bezug zum Glauben aufgewachsenwar, sah er im Gespräch mit einem Geistlichen so etwas wieeine letzte Chance. Und nun stand er in dessen Studierzim-mer. Es stellte sich heraus, dass er seinen Vater nie gekannthatte. Seine tiefe Sehnsucht nach diesem unbekannten Mannzeigte sich darin, dass er seit langer Zeit jede Nacht im Traumerfolglos unterwegs auf der Suche nach seinem Vater war. «Ichhalte diese Spannung nicht mehr aus. Bitte helfen Sie mir,sonst verliere ich noch den Verstand!»

Nachdem der Pfarrer Einblick in die trostlose Situation desjungen Mannes genommen hatte, begleitete er ihn ins Unter-geschoss, wo die Jugendgruppe eben ihre wçchentlicheZusammenkunft hatte. Vielleicht kçnnte der arme Kerl dortetwas Ermutigung erfahren. In diesem Kreis von jungen Men-schen bekam er zwar keine Antwort auf seine brennende Fra-ge. Aber er fühlte sich wohl und beschloss, wieder zu kom-men. Allerdings, so sympathisch ihm diese Kumpels waren,kamen sie ihm doch irgendwie eigenartig vor. Vor dem Ab-schluss ihrer Zusammenkünfte benahmen sie sich jeweils sokomisch. Die einen schlossen die Augen, andere falteten dieHände, und alle schienen mit jemandem zu reden.

«Was soll das?», fragte er einen Jungen, der neben ihm saß.«Wir beten.»«Beten?»Nun erklärten sie ihm, dass sie mit dem himmlischen Vater

redeten.Vater! Wie ein Blitz schlug dieses Wort bei ihm ein.Einige Wochen später und nach vielen Gesprächen mit den

neu gewonnenen Freunden hatte er einen inneren Weg zu-rückgelegt. Zum ersten Mal in seinem Leben wagte er es, inseinem einsamen Dachzimmer mit diesem «Vater im Him-mel» zu reden. Kurze Zeit später stürmte er ein zweites Malins Studierzimmer des Pfarrers:

«Ich habe von meinem Vater geträumt!»«Du kennst ihn ja gar nicht.»

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«Aber ich weiß, dass er es war.»«Was hast du denn geträumt?»«Ich bin auf ihn zugegangen und habe zu ihm gesagt: ‹Va-

ter, ich brauche dich nun nicht mehr zu suchen. Ich habe ei-nen Vater gefunden.›»

Seit jener Nacht war der junge Mann nie mehr im Traumunterwegs auf der Suche nach seinem Vater.

Es fällt uns Eltern nicht immer leicht, den inneren Zugang zuunseren Kindern zu finden, denn auch wir haben unser «ent-wicklungspsychologisches Handgepäck» mit in die Ehe ge-bracht. Wenn zwei Menschen den Entschluss fassen, zu hei-raten und Kinder zu haben, kennen sie ihre eigene Prägungmeist nur vage oder überhaupt nicht. Oft fehlt ihnen auchder Einblick in die Entwicklung der Persçnlichkeit ihrer Part-ner. Und die wenigsten wissen, dass die charakterlich so unter-schiedlichen Eigenschaften, die frisch Verliebte ungemeinanziehen, im künftigen Ehealltag zu den häufigsten Auseinan-dersetzungen führen. Erst viel später entdecken sie, dass dieseUnterschiede auch ihre persçnlichen Rollen im Ehe- und Er-ziehungsalltag mitbestimmen.

«Ohne Wurzeln keine Flügel»

Der Buchtitel Ohne Wurzeln keine Flügel4 weist darauf hin, dassjedes Kind auf das Eingebettetsein in eine tragfähige Gemein-schaft angewiesen ist. In den Armen seiner Mutter, auf denSchultern seines Vaters und im Zusammenleben mit seinenGeschwistern kann es Wurzeln schlagen, die dann innere undäußere Kräfte freisetzen. Für viele Kinder, die außerhalb ihrerFamilie aufwachsen müssen, ist dieser «sichere Ort» (ein Aus-druck aus der Trauma-Pädagogik) vielleicht eine Pflegefamilieoder eine pädagogische Institution. In einer verbindlichen Ge-meinschaft soll das Kind tragfähige Flügel entwickeln kçnnen,um eines Tages «flügge» zu werden. Alle Eltern wünschen sich,

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dass ihr Kind einmal mit guten Gefühlen auf sein bisherigesLeben zurückblicken kann und es ihm gelingt, seinen eigenenWeg selbständig zu gehen.

Seine Wurzeln kennen zu lernen und sich mit ihnen aus-einanderzusetzen ist oft erst im Laufe der Adoleszenz mçglich.Die zeitliche und räumliche Distanz muss aber kein Hindernissein. Ein chinesisches Sprichwort sagt: «Klar sieht, wer vonferne sieht, nebelhaft, wer Anteil nimmt.»

Ich kann mich nicht erinnern, mit meinem schweigsamen,warmherzigen Vater je ein längeres oder tiefes Gespräch ge-führt zu haben. Trotzdem entwickelte sich ein tragfähiges Ver-trauensverhältnis zu ihm. Die Art und Weise, wie er nach dererwähnten Ehekrise sein Leben neu ausrichtete, beeindrucktemich. Es konnte vorkommen, dass ich früh um fünf erwachteund den Vater im Badezimmer singen hçrte. Wenn ich dannnach dem Aufstehen in die Küche kam, sah ich neben demFrühstücksgeschirr seine aufgeschlagene Bibel liegen. Er hattefrühmorgens seinen Tag mit Gott begonnen. Wenig späterstand er in der geschlossenen Führerkabine der Straßenbahn.Oft sang er dann mit seiner kräftigen Stimme weiter. Nunwussten die regelmäßigen frühen Fahrgäste, dass sie mit Wa-genführer Zindel unterwegs waren.

Der Tod meines Vaters mit sechzig Jahren kam für uns allezu früh. Sein Sterben war ein Abbild seines Lebens. Trotz un-säglicher Schmerzen lebte er in seinen letzten Wochen getrostund zufrieden. Er war mit Gott und seinen Mitmenschen ver-sçhnt. Es ging eine Geborgenheit von ihm aus, die uns alle er-mutigte. Erst nach seinem Tod wurde mir so recht bewusst,was mein Vater für mich bedeutet hatte. Ich bin stolz auf ihnund vermisse ihn bis heute.

Meine Mutter war eine eher zurückhaltende, aber führungs-starke Frau. Wahrscheinlich hätte sie oft das Bedürfnis gehabt,sich anzulehnen, ausführliche Gespräche mit ihrem Mann zuführen, Entscheidungen gemeinsam zu fällen oder in der Er-

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ziehung ihrer beiden Jungen die pädagogische Führung ihmzu überlassen. Aber die unterschiedlichen Persçnlichkeitenließen keine andere Rollenverteilung zu.

So kam es, dass meine Mutter Führungsverantwortungübernehmen musste, während mein Vater sozusagen in ih-rem Schatten stand. Sie war es vor allem, die mich fçrderteund für die Entfaltung meiner ungestümen Kräfte Visionenentwickelte.

Sie sorgte aber auch dafür, dass mein Bruder und ich Auf-gaben im Haus übernahmen. Da war zum Beispiel der monat-liche Einsatz in der altmodischen Waschküche, für meine oftkränkliche Mutter jedes Mal eine Herausforderung. Mein Bru-der und ich hatten dafür zu sorgen, dass das Feuer unter demKessel nie ausging. Das Holz dazu hatten wir mit dem Vater imWald gesammelt.

Ich sehe meine Mutter heute noch vor mir, wie sie im dich-ten Dampf die schwere Trommel aus dem Kessel hebelte, dienasse Wäsche in die Schwinge warf und dann mit unsererHilfe den Wäschekorb vom Kellergeschoss zum Trockenplatzins Freie trug. Während wir auf unseren nächsten Einsatz war-teten, saßen wir auf dem Waschtisch und strickten. Dies hatteuns Mutter schon früh beigebracht. An Topflappen mangeltees in unserem Haushalt nie.

Für diese aufmerksame Fçrderung bin ich meiner Muttervon Herzen dankbar. Viel zu spät merkte ich, dass sie ihre Füh-rungsrolle – wahrscheinlich unbewusst, aber nachhaltig – bei-behielt. So musste ich mich, bereits erwachsen, in einemschmerzhaften Prozess von ihr lçsen.

Weshalb waren die Rollen in der Ehe meiner Eltern so einseitigverteilt? Übernahm meine Mutter die Führung, weil mein Va-ter sich so zurückhaltend gab? Hatte ihm die selbstsichere undzupackende junge Frau damals Eindruck gemacht, weil er sichmit Entscheidungen eher schwertat?

Andererseits hatte er es doch als junger Mann gewagt, alseiner der Ersten in Graubünden ein schweres Motorrad zu kau-

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fen, obwohl es damals in unserem Kanton noch verboten war,mit Motorfahrzeugen die Straßen zu befahren. So musste er,wenn er seine Verlobte im Unterland besuchen wollte, seinGefährt jeweils von Maienfeld aus mehr als einen Kilometerweit zur Kantonsgrenze auf die Rheinbrücke schieben, bevorer den Motor ankicken durfte.

Auch der spätere Entscheid, die Metzgerei zu verkaufenund nach Zürich zu ziehen, ging von ihm aus. Meine Mutterwäre gerne Geschäftsfrau geblieben. Offensichtlich konnteauch er gelegentlich seine Ansprüche anmelden und sichdurchsetzen.

Meistens aber gingen die Entscheidungen von unserer Mut-ter aus. Eine davon ist als besonderes Ereignis überliefert:Nachdem sich mein Vater Niklaus und meine Mutter Mariabei einem Fasnachtsball kennen gelernt hatten, war für beidebald klar, dass sie sich heiraten würden. Sie waren von ihrerLiebe überzeugt und bildeten mit Marias bester Freundin einlebenslustiges Freizeit-Trio. Die Hochzeitsreise, die zwei Tagedauerte, führte an den Bodensee. Und weil die Freundinnenso unzertrennlich waren und meine Mutter es so wollte, gin-gen sie zu dritt auf die Reise!

Die Verschiedenartigkeit meiner Eltern war in unserem Fami-lienalltag offensichtlich. Sie wurde nicht hinterfragt, sonderngelebt und erlitten. Es wurde überhaupt wenig geredet. Sichim Gespräch emotional zu çffnen war kein Thema. Diesmusste ich dann in den kommenden Jahrzehnten Schritt fürSchritt lernen und üben.

Trotz allem fühlte ich mich zu Hause wohl. Ich erinneremich an gemütliche Stunden in unserer Küche, wo mein Bru-der und ich jeweils den Abwasch zu besorgen hatten. Mutterverstand es, diese nicht sehr beliebte Arbeit abwechslungs-reich zu gestalten. Aus der notwendigen Pflicht wurde oft eininterfamiliäres Chorkonzert. Volkslieder klangen durch das of-fene Küchenfenster in die Nachbarschaft hinaus. Wir beidenJungen sangen die Melodie, Mutter fiel mit ihrer schçnen Alt-

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