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15. MAI 2014 DIE ZEIT No 2152 FEUILLETON
Eines Tages, irgendwann in den acht-ziger Jahren, erkrankte der berühm-te Philosoph und Kulturkritiker Ivan Illich an Krebs und entschied sich gegen eine Operation. Und so wuchs ihm, dem von der Medizin Totgesagten, über Jahre ein Tumor
im Gesicht, der schließlich die Größe einer Männer-faust annahm. Und als ihn einmal, in irgendeinem Flugzeug, ein Chirurg vom Nebensitz aus an die von der Wucherung befallene Backe fasste und ihn zu einer Operation nötigen wollte, da wurde Illich weiß vor Wut über diese totalitäre Geste, die dem Individuum sein Recht nimmt auf ein selbstbe-
stimmtes, auf eigenen Wunsch ertragenes Leid. Viel lieber dagegen war ihm die Idee eines vierjährigen Jungen, der ihm wenig später mitteilte, dass ihm seine Backe ganz wunderbar gefiele. Sie sei so groß, so schön. Eine richtige, dicke Kussbacke.
Man muss die Weltsicht des kleinen Jungen nicht glorifizieren, um zu verstehen, dass Sozialisation auch das Verschwinden von Kussbacken bedeuten kann, bis irgendwann die eine, völlig selbstverständlich erschei-nende Deutung zum einzig möglichen Faktum wird: Tumor und Tod. Hinter der Wahrheitsfrage lauert die Machtfrage. Und hinter der Machtfrage lauert der Wunsch, die eigene Weltsicht durchzusetzen.
In den achtziger und neunziger Jahren hatten die Relativisten und Konstruktivisten ihre große Zeit, und es schien, als hätten sie auf dem Terrain der Erkenntnis-theorie die Machtfrage für sich entschieden. Es erschie-nen manifestartige Texte, und große Tagungen ver-kündeten den Abschied vom Absoluten. Für einen
langen Augenblick war alles möglich – elegante Elastizität, ideologiefreie, optimistische Intelligenz und eine Phi-losophie des radikalen Pluralismus, deren Thesen sogar von der Neuro-biologie bestätigt wurden. Doch ir-gendwann wurde die Stimmung in den Seminaren der Geistes- und Kultur-wissenschaftler düsterer. Und mancher Dozent musste sich selbstkritisch fra-gen, ob auch der Relativismus zur Sektenbildung neige. Kurzum, mit einem Mal wurde der Antidogmatis-mus selbst dogmatisch. Menschen, die noch von »Wahrheit« sprachen, wur-den als Fanatiker lächerlich gemacht. Und während im Irakkrieg Menschen starben, behauptete der französische Philosoph Jean Baudrillard 1991, der Golfkrieg finde gar nicht statt. Mit heiligem Eifer beugten sich Studenten und Professoren über Jacques Derridas Texte, und selbst der subversive Anar-chismus eines Paul Feyerabend (»Any-thing goes«) wurde, zum Kummer sei-nes Erfinders, in manchen Zirkeln als Heilslehre aufgefasst, die etwas latent Tyrannisches annahm.
Im Moment aber haben die Neu-en Realisten um Markus Gabriel und Maurizio Ferraris sowie die spekulati-ven Realisten um Quentin Meillas-soux das Wort. Sie wollen der post-modernen Epoche frei flottierender Interpretationen und der rauschhaf-ten Feier der Differenz ein Ende be-reiten – sie wollen hin zu einem »star-ken Denken«, zurück zu den eben noch verfemten Begriffen wie Onto-logie, Wahrheit und dem Absoluten. In ihren Essays zeigt sich ein vorphi-losophisches Erschrecken und ein In-szenierungsekel. Er lässt deutlich
werden, dass die Renaissance des Realismus auch von der Rückkehr der »echten« Krisen und Kriege beför-dert wird, nicht zuletzt vom Crash der Finanzmärkte als Symbol brandgefährlicher, selbstrefenzieller Welt-ferne. »Der Neue Realismus«, so Markus Gabriel,
»beschreibt eine philosophische Haltung, die das Zeitalter nach der sogenannten ›Postmoderne‹ kenn-zeichnen soll (das ich, streng autobiographisch ge-sprochen, im Sommer 2011 – genau genommen am 23. 6. 2011, gegen 13:30 Uhr – bei einem Mittag-essen in Neapel zusammen mit dem italienischen Philosophen Maurizio Ferraris eingeläutet habe).«
Postmoderne Philosophen? Angeblich nur verbissene Beliebigkeitsdenker
Nun veranstalten also, nach der Verkündigung des Epochenbruchs, die Neuen Realisten die großen Ta-gungen, und die angesagten Verlage drucken ihre manifestartigen Texte. Mit einem Mal gelten die Pro-tagonisten der Postmoderne als verbissene Irrationa-listen, die Konstruktivisten erscheinen als Beliebig-keitsfanatiker und die Hirnforscher als Imperialisten der Bewusstseinsforschung, die alle auf ihre neuro-biologischen Weltformeln einschwören wollen. Man sagt beziehungsweise behauptet, dass man Tatsachen an sich erkennen könne, und legt durch die an Im-manuel Kant angelehnte Begrifflichkeit nahe, dass leider auch dieser Philosoph schlicht falsch läge (Markus Gabriel). Damit nicht genug. Die Neuen Realisten sprechen von den »segensreichen Wirkun-gen« der einen Wahrheit (Paul Boghossian) oder at-tackieren Silvio Berlusconi und die Kriegstreiber und Falschspieler um George W. Bush, kurios genug, als typisch postmoderne Illusionskünstler (Maurizio Ferraris). Man muss kein großer Prophet sein, um zu erkennen, dass auch in diesen Kreisen die Stimmung bald ins düster Missionarische kippen kann und er-neut das Ende der Leichtigkeit droht, die zu Beginn noch jedem Aufbruch eigen ist.
Aufschlussreich ist, dass Konstruktivisten und Neue Realisten, unabhängig von spektakulär inszenierten Unterschieden, einander elementar ähnlich sind. Natürlich, beide Seiten vertreten gänzlich unterschied-liche Wahrheitstheorien: Konstruktivisten halten eine beobachterunabhängige Erkenntnis von Wirklichkeit für unmöglich, Neue Realisten tun dies nicht. Und doch gleichen sich beide Fraktionen in einer entschei-denden Hinsicht: Sie wollen eine als gefährlich erkann-te Diskursdominanz durch eine prinzipiell gemeinte Klärung der Wahrheitsfrage brechen, das heißt: Sie betreiben reaktive Erkenntnistheorie mit ethisch-moralischen Absichten. Konstruktivisten und Relati-visten dagegen sahen und sehen ihr eigenes Denken auch als eine Art antidogmatische Medizin und als ein philosophisches Schutzschild für jene, die keine Stim-me haben oder an den Rand gedrängt werden. Sie streiten gegen die Dominanz eines naiven Objektivi-tätsglaubens; und viele von ihnen haben ihre Erfah-rungen mit einer blutig-ideologischen Wahrheits-emphase gemacht, auch dies ein vorphilosophisches Erschrecken in Gestalt eigener Gewalterlebnisse.
Ganz anders die Neuen Realisten: Sie begreifen ihre Erkenntnistheorie und ihr Plädoyer für das Realitäts-prinzip ebenso wie die wütend attackierten postmoder-nen Philosophen als eine »Gegenmacht« (Maurizio Ferraris) – nur eben als eine Art intellektuelle Notwehr
gegen ein träges, moralisch fragwürdiges, manipulati-onsanfälliges Beliebigkeitsdenken. Beiden Fraktionen geht es um gefährliche Diskursgifte. Und man muss gleich hinzufügen: Beide können recht haben, denn es gibt sie, die achselzuckend-gleichgültigen Wahrheits-relativisten genauso wie die totalitär gestimmten Rea-listen, die nichts und niemand neben sich gelten lassen mögen. Und beide brauchen im Sinne einer produkti-ven Dialektik die jeweils andere Seite und stehen ohne Korrektiv im Anschein des Absoluten da, was unver-meidlich schlechtes, ungelüftetes Denken fördert, eine Neigung zur Einkapselung in ein irgendwann nur noch modisches Philosophieren.
Allgemeiner formuliert: Die Behandlung der Wahr-heitsfrage ist nicht nur ein Spezialproblem für exami-nierte Philosophen, sondern sie steht im echten Leben auch unter dem Vorbehalt situativer Notwendigkeit. Und das bedeutet, dass es gelegentlich äußerst sinn-voll und geboten sein kann, erbittert für die eigene Wahrheit zu streiten. Aber manchmal kann es eben auch heißen, dass man einfach nur zuhört oder be-hutsam für eine Pluralisierung der Wahrnehmungs-formen wirbt. Und gewiss sollte einen schon eine Art Minimalrespekt davon abhalten, einem Erwachse-nen ins Gesicht zu fassen und ihn mit Vorschlägen zur Operation seiner Backe zu verfolgen. Und in manchen Momenten ist es einfach nur schön und unendlich liebevoll, in einem Tumor eine Kussbacke zu sehen. Und bei anderer Gelegenheit wäre dies wie-derum ganz falsch. Kurzum: Es kommt darauf an.
Während ich diese Zeilen schreibe, ist es Oster-montag, der 21. April, 6.30 Uhr, und ich habe noch nicht gefrühstückt, aber ich möchte nun das Zeitalter des Neuen Situationismus einläuten, das die dogma-tische Selbstversiegelung von Konstruktivismus und Realismus und praktisch aller anderer Ismen spielerisch überwindet und dem entkrampfenden Lachen und dem kommunikativen Takt wieder zu seinem Recht verhilft. Sämtliche Wahrheitsbehauptungen stehen für die noch sehr kleine, aber gewiss schon bald sehr mächtige Bewegung der Neuen Situationisten unter dem Vorbehalt einer situativ erkannten, individuell verantworteten Angemessenheit. Und doch, bei allem Zäsurgetöse, ganz im Ernst: Es ist auf der satten Seite der Welt und für die glücklichen Bewohner demokra-tischer Staaten eine Entscheidung, welche Gesellschaft sie redend und handelnd erschaffen. Es ist die Ent-scheidung aller Beteiligten. Dabei kann die Klärung der Wahrheitsfrage helfen. Manchmal ist vielleicht das Absolute (beziehungsweise die Idee des Absoluten) nützlich, manchmal die Tradition und manchmal die Geschichte. Und manchmal braucht es einen beweg-lichen, vielleicht unseriös erscheinenden Tanz des Denkens, der dabei hilft, große und kleine Gewiss-heiten, eigene Wahrheiten und fremde Ideologien so lange zu drehen und zu wenden, bis sie unscharfe Ränder bekommen. Und man mehr sieht als zuvor.
BERNHARD PÖRKSEN ist Professor für Medienwissenschaft an der Universität Tübingen. Sein erstes Buch schrieb er mit dem Kybernetiker Heinz von Foerster. Es heißt: »Wahrheit ist die Erfindung eines Lügners«
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Unter Philosophen, Künstlern und Architekten macht der Begriff des Neuen Realismus die Runde. Eine Serie im ZEIT-Feuilleton fragt nach den Folgen dieser Debatte. Bislang veröffent-lichten wir Beiträge von Thomas E. Schmidt,Ullrich Schwarz und Bernd Stegemann
Sind die Dinge, wie sie sind? »Strandgade 30« von Vilhelm Hammershøi, 1901
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Es braucht den Tanz des DenkensEinst regierten die postmodernen Clubs in den Geisteswissenschaften, und für sie war Wahrheit eine Chimäre. Nun kämpfen die Neuen Realisten um Deutungshoheit. Beide Richtungen haben einen Hang zum Dogmatismus VON BERNHARD PÖRKSEN
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15. MAI 2014 DIE ZEIT No 21 FEUILLETON 53
Ich liebe Dolly Parton. Jahrelang habe ich behauptet, mein Herz schlüge ausschließ-lich für Alternative Country. Ich habe meine Gegenüber mit Platten von Gene Clark und Townes Van Zandt eingelullt, nur um ihnen dann in einem wehrlos-schläfrigen Moment Dollys zwitschrigs-
ten Hit Love is Like a Butterfly um die Ohren zu knallen. Inzwischen aber mache ich keine Gefan-genen mehr und lege im oll besetzten Tourbus Dollys größte Hits auf. Mitgehangen, mitgefangen. LOVE! IS! LIKE! A! BUTTERLFY! Und zu Hause: Es gibt wenig Erhebenderes, als morgens in der Küche Dollys größte Hits mitzuschmettern, auch wenn jedem normalen Menschen dabei die Stimm-bänder durchknallen müssen – und die Synapsen.
Es ist ein süßes, berauschendes, seelenvolles Ver-gnügen, sich von Dolly Parton in den Tag flöten zu lassen. Ein Vergnügen, das dem kopflastigen Euro-päer eine gewisse Fähigkeit zur Selbstnegation ab-nötigt und das sich nicht gut mit allzu viel Dünkel verträgt. Aber es ist kein guilty pleasure. Denn an meiner Verehrung ist nichts Postmodernes, kein Augenzwinkern. Die Frau, die vor Jahren einen »Dolly Parton Look-Alike Contest« gegen eine Drag-queen verlor, die von sich sagt, es koste »viel Geld, so billig auszusehen«, deren erster wirklicher Hit den Titel Dumb Blonde trug – diese Frau ist für mich eine der aufrichtigsten und beeindruckendsten Persönlich-keiten der Popgeschichte. Und ich würde sie, ohne mit der – heimlich angeklebten – falschen Wimper zu zucken, als eine meiner wichtigsten Inspirations-quellen bezeichnen. You heard me right, honey.
Missionierungswillige sollten sich nicht direkt Blue Smoke, das neue Album von Dolly Parton, vor-nehmen. Das ist zwar, seinem Airbrush-Cover zum Trotz, besser, als man glauben könnte, und im Ver-gleich zu anderem Mainstream-Country gar nicht so schlimm produziert. Einsteigern sei trotzdem erst mal der Besuch ihres Berlin-Konzerts im Juni ans Herz gelegt. Und zur Vorbereitung: eines der umfangrei-
chen Best-ofs. Wer sich auf das Partonsche Œuvre einlassen will, hat damit alle Hände voll zu tun.
Klein Dolly, relativ mittiges von zwölf Kindern, 1946 geboren in einer ländlichen Gegend von Ten-nessee, aufgewachsen in tiefer Armut und auf den hohen Hacken der Mutter, trat mit 13 das erste Mal in der Grand Ole Opry Show auf und verkaufte bald darauf ihre ersten Schallplatten aus dem Kofferraum des onkelschen Autos. Ihren unverwechselbaren Stil fand sie früh, und sie sollte ihm treu bleiben: »Ich mache Witze darüber«, sagt sie selbst, »aber ich habe meinen Look offensichtlich der örtlichen Kleinstadt-hure nachempfunden. Ich wusste nicht, wer sie war, aber sie war blond und türmte ihr Haar auf, trug hohe Absätze und kurze Röcke, und für mich war sie das hübscheste Ding, das ich jemals gesehen hatte. Mama sagte: ›Oh, die ist doch fürchterlich trashig.‹ Und ich dachte: ›Das will ich sein, wenn ich groß bin: Trash.‹ «
Die große Dolly (die nicht größer als 1,52 Meter werden sollte) stand zu ihrem pubertären Wort, half
ordentlich nach mit Kunsthaar und plastischer Chi-rurgie und legte so den Grundstein für ihren späteren Status als wahrscheinlich einzige simultane Trucker- und Schwulenikone. Letzteres Attribut übrigens ist eine glitzernde Krone, die sie mit großem Stolz trägt – und mit im Country bis dahin ungesehener Of-fenheit, was gelegentlich zu Ku-Klux-Klan-Aufmär-schen vor ihrem Themenpark »Dollywood« führt. Trotzdem haut sie Jahr für Jahr weitere Bonmots raus wie: »Gut, dass ich ein Mädchen geworden bin, sonst hätte ich wohl Dragqueen werden müssen.« Den ersten Platz im Ähnlichkeitswettbewerb hätte sie einer Frau wahrscheinlich zögerlicher überlassen als jenem Zwei-Meter-Mann in blonder Perücke.
Bei all der offensiv gelebten Liebe zum Artifiziel-len, nur um das gleich aus dem Weg zu schaffen: Die legendären Brüste der Parton, die sie selbst in tiefer Einsicht als ihre »weapons of mass distraction« bezeich-net, sind echt – gewesen, zumindest. Die Parton der Gegenwart besteht bekanntermaßen hauptsächlich aus Ersatzteilen. Sie selbst sagt: »Wenn ich mich noch einmal liften lasse, dann habe ich einen Bart.« Aber selbst wenn die Frau inzwischen aussieht wie »Barbie: die Halloween-Edition«, auch diesen Look kann man kaum mit mehr Humor und Integrität tragen. Hu-mor und Herz sind die häufigsten Attribute, die der Parton von »Augenzeugen« zugeschrieben werden. Der Filmkritiker Roger Ebert schrieb einmal, sie zu treffen habe sich angefühlt, als sei er in den Bann einer gütigen Macht geraten. »Ich verließ den Raum in einer Wolke von guter Laune.«
Aber Frau Parton verbirgt hinter der beeindru-ckenden Oberweite offenbar nicht nur ein legendär großes Herz, sondern vor allem: beeindruckend vo-luminöse Lungen – zumal für eine so winzige Person. Und ja, ich weiß: Gerade der schallernde Sopran ist es, der den meisten meiner Missionierungsversuche in Bus und Freundeskreis schnell ein Ende bereitet. Wie bei all meinen Idolen, bei Elvis Costello, Bob Dylan und David Bowie, scheiden sich die Geister am Gesang. Bei Dolly Parton muss man natürlich
den glasklaren Country-Twang, das überschnappen-de, naive Pathos zu schätzen wissen – beziehungs-weise abkönnen. Nur die Harten kommen in den Garten der Parton. Aber: An dieser Naivität ist nichts Regressives, an der Kindlichkeit nichts Kindisches. Für mich reiht sich Parton ein in eine Riege großer, natürlicher Stimmen, wie es sie so in westlicher Pop-musik, jenseits des Country, nicht allzu oft gibt.
Diese Offenheit (und zwar im physischen Sinne, wie in »offene Brust, offener Hals, freie Stimm-bänder«), mit der Kinder singen, bevor ihnen jemand gesagt hat, sie sollen aufhören zu plärren, die unver-stellte, seelenvolle Direktheit – das ist typisch für die größten Stimmen im Country, bei den Männern übrigens genauso wie bei den Frauen. Ich habe diese Stimmfarbe so ansonsten hauptsächlich in afrikani-scher Musik und bei bulgarischen Frauenchören gefunden. Und bei Diana Ross und Marianne Rosen-berg. Und bei Beth Ditto, übrigens selbst bekennen-der Dolly-ite. Mich entzücken diese Stimmen schon
»Ich willTrash sein«
Eine Liebeserklärung an die Country-Königin Dolly Parton, eine der aufregendsten Frauen der Pop-Geschichte
VON JUDITH HOLOFERNES
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Dolly Parton 2011 (großes Bild), um 1970 (Mitte), im Farbenrausch der Acht ziger (links) und als altersloses Covergirl 1995
immer, und sie rühren mich zu Tränen. Bei Dolly Parton kommt bei aller Natürlichkeit noch jenes ur-amerikanische, absurde Level von skill, von mühe-losem Können, dazu, das hierzulande Gesangslehrern die Kinnlade ausrenken würde, dortzulande aber eher zur Grundausstattung gehört, mit der im Gepäck man als Zwölfjährige pfeifend die heimische Farm/das heimische Ghetto verlässt.
Mit diesem Skill bewegt sich Parton seit fünf Jahr-zehnten schwerelos zwischen Country, motownigem Soul, Disco und knallharter Mainstream-Schmetter-ballade. Wer sich Gospel-Grenzgänger wie The Seeker anhört, versteht sofort, warum man Country als »weißen Soul« bezeichnet. Mit ihren Hits alleine könnte man jede Karaokebar voll auslasten, bis mor-gens um vier. Wer allerdings Sängerinnen nur dann eine Daseinsberechtigung zuspricht, wenn sie klin-gen, als würden sie morgens Whiskey mit Rollsplitt gurgeln, der sollte sich bei Dolly lieber mit den Cover versionen begnügen.
Dolly Parton ist eine der produktivsten und viel-seitigsten Songwriterinnen der Musikgeschichte. Sie hat über zehntausend Songs geschrieben, darunter einige der herzzerreißendsten, mitreißendsten und witzigsten Songs der Welt. Zu den bekanntesten Cover versionen gehören I Will Always Love You in der Fassung von Whitney Houston und Jolene in der Version von den White Stripes. Nebenbei darf die Par ton auf dem toupierten Fremdhaar gerne eine weitere Krone tragen: die der ersten selbstbestimm-ten, toughen Künstlerin ihrer Zeit, zumindest in ihrer soziokulturellen Nische. Nicht ohne Grund gilt sie vielen, ihrem »irreführenden« Äußeren zum Trotz, als feministische Ikone. Mit ihrem 68er-Hit Just Because I’m a Woman, in dem sie die doppelten mora-lischen Standards für Männer und Frauen besingt, war sie ihrer Zeit um Jahre voraus, der Song setzte sich durch, obwohl die Radiosender ihn wegen der »frauenrechtlerischen« Message nicht spielen wollten.
In 9 to 5 besang sie die Nöte und den Stolz ar-beitender Frauen – im gleichnamigen Film spielte sie überzeugend eine Sekretärin. Auch hinter den Kulis-sen nahm ihr nie jemand die Butter vom Brot. So verweigerte sie Elvis Presley ebenjenen von ihr ge-schriebenen Hit I Will Always Love You, weil dessen Manager die halben Autorenrechte einstreichen wollte – wie für alle Songs, die sein rapide verfallen-der Schützling singen sollte. Ihre eigene Version wurde einer ihrer ersten großen Hits im Mainstream-Pop. Als sie ihn später an Whitney Houston weiter-reichte, war von Rechteübertragung keine Rede, Parton inzwischen Verlagseigentümerin und das Imperium Dolly um ein paar Trillionen reicher. Sängerin, Songwriterin, Schauspielerin, Geschäfts-frau, Schwulen ikone, Country-Diva: Die vielen ver-schiedenen Hüte und Glitzerkronen der Dolly Part-on sind beeindruckend, aber am Ende nicht viel aussagekräftiger als ihre Perückensammlung.
Mein Herz hat sie gewonnen, weil sie zu jeder Zeit genau das zu sein scheint, was sie sein will. Genauer gesagt: weil sie eine der wenigen Frauen im Pop ist, die darauf bestehen, unzählige Dinge gleichzeitig sein zu können. Quietschig, aufrichtig, tief, seelenvoll, albern, selbstironisch, tough, messerschlau, kokett, artifiziell und ultrareal. Auf jeden Fall aber: frei und selbst erfunden in einem Maß, von dem die meisten Leute nicht mal träumen.
Bröhan-MuseumLandesmuseum für Jugendstil,ArtDeco undFunktionalismusSchloßstraße1a,14059Berlin (amSchloßCharlottenburg)
www.broehan-museum.de
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Deutsches Historisches Museum, Unter den Linden 2, 10117 Berlin, Tel. 030/2030444, www.dhm.de, tägl. 10-18 Uhr Dauerausstellung: Deutsche Geschichte in Bildern und Zeugnissen bis 31.08.2014: Farbe für die Republik. Auftragsfotografie vom Leben in der DDR bis 05.10.2014: Targets. Fotografien von Herlinde Koelbl
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REISENOTIZENBARBARA KLEMMFOTOGRAFIENJOHANN WOLFGANG GOETHEZEICHNUNGEN
BERLINBERLINISCHE GALERIE, LANDESMUSEUM FÜR MODERNE KUNST, FOTOGRAFIE UND
ARCHITEKTUR, Alte Jakobstraße 124 - 128, 10969 Berlin, Tel. +49(0)30 78 902 600, www.berlinischegalerie.de, [email protected], Mo, Mi-So 10-18 Uhr 13.09.2013 bis 23.06.2014: Kunst in Berlin 1945 bis heute Sammlungspräsentation 20.02. bis 02.06.2014: Dorothy Iannone This Sweetness Outside of Time 11.04. bis 30.06.2014: Nik Nowak Echo. GASAG Kunstpreis 2014 30.04. bis 26.05.2014: IBB-Videolounge: kate hers RHEE ab 03.05.2014: Ignacio Uriarte Acht Stunden zählen, Soundinstallation
Bröhan-Museum, Schloßstraße. 1a, 14059 Berlin, Tel. 030-32 69 06 00, www.broehan-museum.de, Di-So 10-18 Uhr 15.05. bis 31.08.2014: Das Ende der Belle Époque
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Judith Holofernes war Sängerin der Band Wir sind Helden. 2014 veröffentlichte sie ihr erstes Solo-album »Ein leichtes Schwert«