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MENSCHENRECHTE KENNEN KEINE GRENZEN Foto: UNHCR / D‘Amato TAG DES FLÜCHTLINGS 2016

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  • MENSCHENRECHTE KENNEN KEINE GRENZEN

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    TAG DES FLÜCHTLINGS 2016

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  • GEMEINSAM GEGEN RASSISMUS

    Anschläge auf geplante und bewohnte Flüchtlingsunterkünf-te, Gewalttaten gegen Schutzsuchende, rassistische Hetze im Internet und auf der Straße: Dies ist inzwischen Alltag inDeutschland. Die Zahl der Gewalttaten gegen Flüchtlingesteigt. Die öffentliche De batte wird aggressiver. RassistischesDenken hat sich längst bis in die Mitte der Gesellschaft ausge-breitet. Etablierte Politiker*innen zündeln mit, wenn sie rassis-tische Ressentiments der Bevölkerung als »Sorgen und Ängs-te« verharmlosen, und wenn sie selbst flüchtlingsfeindliche Politik betreiben. Doch was lässt sich dagegen tun?

    PRO ASYL ruft dazu auf, rassistischer Hetze und Gewalt entschlossen ent gegen zutreten.

    Für eine offene, demokratische und vielfältige Gesellschaft.

    Informationen, hilfreiche Tipps und Materialien dazu gibt es unter www.proasyl.de/thema/rassismus

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    HAND IN HAND GEGEN RASSISMUS FÜR MENSCHENRECHTE UND VIELFALTBUNDESWEIT MENSCHENKETTEN AM 18./19. JUNI 2016

    Gemeinsam mit Organisationen wie Amnesty International, campact!, Oxfam,terre des hommes und anderen ruft PRO ASYL in einem breiten Bündnis da zu auf, ein Zeichen zu setzen – gegenFremdenhass und für Menschlichkeit,Vielfalt und Welt offenheit.

    In Berlin, München, Leipzig, Hamburgund anderen Orten wollen wir un mittel -bar vor dem internationalen Gedenktagfür Flüchtlinge unter dem Motto »Handin Hand gegen Rassismus – für Menschenrechte und Vielfalt« bundesweit Menschen-ketten starten. Sie sollen Moscheen, Kirchen, Synagogen, soziale Einrichtungen,Flüchtlingsunterkünfte, Museen, Theater und Rathäuser verbinden, um eine Kettevon Schutz und Solidarität zu bilden.

    Damit die Aktion ein Erfolg wird, braucht es Ihre/Eure Unterstützung!

    Informationen und Aktionsmaterial gibt es unter http://hand-in-hand-gegen-rassismus.de

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  • 3TAG DES FLÜCHTLINGS 2016

    5 VERANTWORTUNG TEILEN Grußwort der UNHCR-Vertreterin für Deutschland, Katharina Lumpp

    6 RECHTSSTAAT UND MENSCHENRECHTE STEHEN AUF DEM SPIEL Fehlende Solidarität in Europa, schmutziger Deal mit derTürkei, Abwehr maßnahmen im Inneren der Staaten:

    Europa verspielt seine Glaubwürdig-keit und die Basis, auf der dieGesellschaft fußt: Die uneingeschränkte Geltung der Menschenrechte. Günter Burkhardt, Karl Kopp

    10 DIE »SCHANDE VON EVIAN« 1938 UND DIE »SCHANDE VON BRÜSSEL« 2016 1938 konnten sich die Nationen nicht auf eine Aufnahmevon jüdischen Flüchtlingen aus NS-Deutschland einigen.

    Auch heute sind die Europäer nicht solidarisch, engagieren sich sogar fürdie Abwehr von Flüchtlingen. Dasmacht die Geschehnisse vergleichbar.Klaus J. Bade

    12 VON KHARTOUM BIS AGADEZ: NEUAUFLAGE DER EU-AUSLAGERUNGSSTRATEGIEN

    Die Lösung der »Flüchtlingskrise«sucht die EU jenseits europäischerGrenzen. Europas Politik der Exter -nalisierung soll Schutz suchende an derFlucht hindern und sie für Europaunsichtbar machen. Judith Kopp

    15 SCHLAGLICHTER 2015

    18 ABSOLUTE ABWESENHEIT DES STAATES In der Ägäis ringen Helfer*innen in einem verzweifelten Kampf um das Leben und die Gesundheit der dort gestrandeten Menschen. Alex Stathopoulos

    20 »DIE BILDER VON LESBOS HABEN MICH EINFACHNICHT MEHR LOSGELASSEN«

    Nirgendwo in Europa ist die Flücht -lingsaufnahme derart an ihre Grenzengelangt wie in Griechenland. Interviewmit Lisa Thielsch, einer freiwilligen Helferin. Anđelka Križanović

    22 REFUGEES WELCOME. DER SOMMER DER FLÜCHTLINGSHILFE IST NICHT VORBEI

    Das überwältigende Engagement für Flüchtlinge ist ungebrochen. Nicht alles läuft gut, aber vieles.Andrea Kothen

    24 SAGT MAN JETZT FLÜCHTLINGE ODER GEFLÜCHTETE?Eine RandnotizAndrea Kothen

    25 FAMILIENZUSAMMENFÜHRUNG? DARAUF KÖNNEN SIE LANGE WARTEN

    Deutschland bremst den Familien -nachzug aus: per Gesetz – und auf dem kalten Weg der Bürokratie. Kai Weber

    27 KEINE CHANCE AUF FAMILIENLEBEN? Syrische Flüchtlinge warten viele Monate darauf, ihre Familie wiederzu-sehen. Das Ende ist manchmal sehr bitter. Fälle aus der Praxis. Karim Al Wasiti

    28 GESUNDBETEN UND ABSCHIEBEN: WENDE IM UMGANG MIT AFGHANISCHEN FLÜCHTLINGENIm Herbst 2015 entdeckt die Bundes regierung »sichere«

    Fleckchen in Afghanistan und erklärt Abschiebungen wieder für denkbar.Tatsächlich ist die Lage für die Menschen dort schlimmer denn je.Bernd Mesovic

    INHALT

    16_04_26_B_TDFL_Layout 1 26.04.16 18:45 Seite 3

  • 30 MENSCHEN IN LEBENSGEFAHR. RECHTE HETZE UNDGEWALT GEWINNEN WIEDER AN BODENJeden dritten Tag wird in Deutschland eine Flüchtlings -

    unterkunft angezündet. Auch die persönlichen Attacken auf Flüchtlingenehmen zu – doch der öffentliche Aufschrei bleibt aus. Max Klöckner

    32 ASYLRECHTSVERSCHÄRFUNGEN: SOZIALE ENTRECHTUNG DER UNERWÜNSCHTEN

    Immer mehr Asylsuchende werden inAsylschnellverfahren abgelehnt, durchSonderrecht diskriminiert und vonsozialer Teilhabe ausgeschlossen. Marei Pelzer

    34 VON WEGEN »SICHER«: DIE NEUEN »SICHEREN HERKUNFTSSTAATEN«Die Einordnung von einigen Balkan- und nordafrikanischenStaaten als »sichere Herkunftsstaaten« ist aus asyl- undmenschenrechtlicher Perspektive inakzeptabel – dies zeigtein kurzer Blick auf die Situation dort.

    36 ZWEI-KLASSEN-ASYLRECHT? ABSCHRECKUNG IN BESONDEREN AUFNAHMEZENTREN Ein diskriminierendes Sonderasylverfahren für bestimmte

    Flüchtlingsgruppen und die Unter -bringung in isolierten Lagern, in denen Angst und Hoffnungslosigkeitproduziert werden, soll die Menschenaußer Landes treiben. Maximilian Pichl, Stephan Dünnwald

    39 DIE BUNDESREGIERUNG ALS INTEGRATIONS VERWEIGERER

    Das neue Arbeitserlaubnisrecht dient weder den Geflüchteten noch der Gesellschaft. Claudius Voigt

    42 ZWISCHEN JUGENDHILFEANSPRUCH UND WIRKLICHKEIT. DIE SITUATION VON UNBEGLEITETENMINDERJÄHRIGEN FLÜCHTLINGEN

    Seit 2015 gibt es zahlreiche neueAkteure in der Betreuung jungerFlüchtlinge. Von Qualitätsstandardskann vielerorts noch keine Rede sein. Dörthe Hinz

    44 ZAHLEN UND FAKTEN 2015Mehr Menschen als je zuvor suchten Asyl in Deutschland,die weitaus meisten aus Kriegs- und Krisengebieten. Innerhalb Europas übernahm Deutschland besondere Verantwortung. Dirk Morlok, Andrea Kothen

    48 KONSEQUENT ABSCHIEBEN? EINE KRITIK DER PROPAGANDA Die alte Klage von den »Vollzugsdefiziten« lautet, zu wenige

    abgelehnte Asylsuchende würden abgeschoben. Doch die Datenlage istdünn und Schuldzuweisungen an dieBetroffenen sind oft fehl am Platz. Bernd Mesovic

    51 MENSCHENRECHTSPREIS 2016: MUSSIE ZERAI Die Stiftung PRO ASYL verleiht ihren Menschenrechtspreis

    2016 dem Priester und Flüchtlings-helfer Mussie Zerai, der sich seit überzehn Jahren mit beispiellosem Einsatzum die Rettung von Flüchtlingen ausSeenot kümmert. Kerstin Böffgen

    52 »DIFFERENZIERUNG IST AUFWÄNDIG – ABER ANDERS GEHT ES NICHT«

    Mit- und weiterdenken, kritisch nach-fragen und Dialoge führen – das ist Sookees Programm. Interview mit derBerliner Rapperin. Nicole Viusa, Marlene Becker

    54 PRO ASYL SAGT DANKE

    55 ADRESSEN

    57 BESTELLFORMULAR

    59 IMPRESSUM

    4 TAG DES FLÜCHTLINGS 2016

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  • 5TAG DES FLÜCHTLINGS 2016

    Vor 65 Jahren wurde die Genfer Flüchtlingskonvention ver -abschiedet. Angesichts der Erfahrungen mit Flucht und Ver-treibung in der Weltkriegskatastrophe, die allein in Europa 60 Millionen Menschen zu Flüchtlingen und Vertriebenen gemacht hatte, wurde damals das Fundament für ein neues internationales Flüchtlingsrecht gelegt.

    Mit der Genfer Flüchtlingskonvention wurde ein im Völker-recht verankerter individueller Schutzanspruch von Flücht -lingen gegenüber dem Aufenthaltsstaat etabliert, verknüpftmit der ausdrücklichen Verpflichtung der Vertragsstaaten, sichan das Non-Refoulement-Gebot zu halten, also niemanden ineine Verfolgungsgefahr abzuschieben, und Flüchtlingen eineihrer Situation gemäße Rechtsstellung zukommen zu lassen.

    Darüber hinaus ist die Genfer Flüchtlingskonvention auch ein Manifest dafür, dass es keine nationalstaatlichen Lösungengibt, will man angemessene Antworten auf Flucht und Ver -treibung finden. Internationaler Schutz bedeutet Teilung derVerantwortung. Dementsprechend heißt es in der Präambelder Konvention, dass sich aus der Gewährung von Schutzschwere Belastungen für einzelne Länder ergeben können und deshalb eine Lösung der Probleme ohne internationaleZusammenarbeit nicht erreicht werden kann.

    Lösungen müssen den Opfern von Flucht und Vertreibungselbst wie auch den Staaten und Gesellschaften gerecht wer-den, die diese Menschen aufnehmen und schützen.

    Dieser Grundgedanke lässt sich unmittelbar auf das Hier undHeute übertragen, mit Blick auf die weltweit über 60 MillionenMenschen, die sich auf der Flucht vor Krieg, Bürgerkrieg, Ver-folgung und massiven Menschenrechtsverletzungen befinden,insbesondere auch mit Blick auf das größte Flüchtlingsdramaunserer Zeit vor den Toren Europas.

    Allein die Konflikte in Syrien und Irak haben 14 Millionen Menschen heimatlos gemacht – eine Größenordnung, der nur mit internationaler Teilung von Verantwortung begegnetwerden kann, in die sowohl die Erstaufnahmeländer vonFlüchtlingen in der Krisenregion als auch die internationaleStaatengemeinschaft, vor allem auch Europa, in einem soli -darischen und fairen Ausgleich eingebunden sind.

    Es braucht eine energische Unterstützung für die Erstauf -nahmeländer, um die Lebenssituation der Flüchtlinge zu ver-bessern, sowie für die Strukturen der Aufnahmestaaten undGemeinden selbst. Wesentlich dabei ist es, Flüchtlingen eineZukunftsperspektive durch Zugang zu Bildung, Ausbildung

    und Erwerbstätigkeit zu eröffnen. Um zur Stabilisierung in Erstaufnahmeländern beizutragen, ist es wichtig, neue Formender Finanzierung weiterzuentwickeln, die es ihnen ermögli-chen, humanitäre Hilfe durch längerfristige Unterstützung zuer gänzen. Insbesondere Erstaufnahmeländer mit mittleremEinkommen sollten angemessen unterstützt werden.

    Es braucht ferner die geordnete, in Zahlen großzügige Auf -nahme von Flüchtlingen in Staaten außerhalb der Konflikt -region, also die Eröffnung sicherer Wege für Flüchtlinge. Neben dem traditionellen Resettlement von Flüchtlingen, die besonders schutzbedürftig sind, haben humanitäre Aufnahmeprogramme und humanitäre Visaprogramme an Be deutung gewonnen und sollten ausgebaut werden. DesWeiteren setzt sich UNHCR dafür ein, dass Programme zurFamilien zusammenführung, auch von Mitgliedern der er weiterten Familie, flexibler gestaltet werden und die Auf -nahme von Flüchtlingen auch durch Stipendien oder im Rahmen von Arbeitnehmer-Programmen ermöglicht wird.

    Und schließlich braucht es auf dem Kontinent Europa, vondem aus die Genfer Flüchtlingskonvention universelle Be -deutung erlangte, einen gemeinschaftlichen Ansatz, der vonSolidarität und Verantwortungsteilung geprägt ist.

    Katharina LumppVertreterin des Hohen Flüchtlingskommissarsder Vereinten Nationen in Deutschland

    VERANTWORTUNG TEILEN GRUSSWORT DER UNHCR-VERTRETERIN FÜR DEUTSCHLAND, KATHARINA LUMPP

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  • Im Frühjahr 2016 sitzen an der grie-chisch-mazedonischen Grenze tau -sen de Flüchtlinge fest. Wochenlanghausen Junge und Alte, Frauen, Familienmit Kindern in Regen und Schlamm, vor unser aller Augen. Sie sind verzweifelt,viele sind krank. Sie wollen weiter, wer-den aber von den mazedonischen Gren-zern nicht durchgelassen. Es ist eine humanitäre Katastrophe mitten in Euro -pa – und niemand handelt, Europaschaut zu, in stillschweigendem Einver-ständnis. Gleichzeitig toben die Konflikt-herde in Syrien, Irak und Afghanistanweiter, aber das interessiert kaum noch.Niemals waren mehr Menschen auf derFlucht vor Krieg, Terror und Verfolgungals heute. Die Gründe dafür, warum soviele Menschen fliehen, geraten ausdem Blick. Denn im Jahr 2016 zählt nurnoch eines: Die Zahl der in Deutschlandund Europa ankommenden Flüchtlingemuss gesenkt werden, koste es, was eswolle.

    Noch im September 2015 hießen zehn-tausende von Menschen und auch nam-hafte Politiker Flüchtlinge in Deutsch-land willkommen. Inzwischen wirdRechtspopulisten immer mehr das Feldüberlassen, flüchtlingsfeindliche Positio-nen gewinnen an Zustimmung – auch in demokratischen Parteien.

    Im bürgerlichen Gewand wird gehetzt.Der geistigen Brandstiftung folgt die Tat: Seit Jahresbeginn gab es 248 An -griffe auf Flüchtlingsunterkünfte, davon 46 Brandanschläge. Tag für Tag werdenMenschen auf offener Straße bedroht,ohne dass ein Aufschrei durch Deutsch-land geht. Die rechtspopulistische AfDerhält in drei Bundesländern zweistelligeWahlergebnisse – ohne Parteiprogramm,

    allein aufgrund ihrer flüchtlingsfeind -lichen Parolen. Abschotten, abgrenzen,abschießen – wo fängt Unmenschlich-keit an?

    Domino-Effekt der Zäune

    Im Herbst 2015 greift europaweit Flücht -lingsfeindlichkeit um sich: Einer Grenz-schließung folgt die nächste. Ein Landnach dem anderen baut Zäune. Im Be-streben, sich abzuschotten und die Ver-

    antwortung dem jeweils anderen EU-Staat zuzuschieben, manövrieren sichdie Staaten der EU in eine Sackgasse. Ein Domino-Effekt wird ausgelöst.

    Die über Monate hinweg als flüchtlings-freundlich wahrgenommene Bundes-kanzlerin leitet den Kurswechsel ein, nahezu unbemerkt von der Öffentlich-keit. Sie plant einen Deal mit der Türkei:Diese soll Europa die Flüchtlinge künftigvom Hals halten und sie aus Griechen-

    6 TAG DES FLÜCHTLINGS 2016

    RECHTSSTAAT UND MENSCHENRECHTESTEHEN AUF DEM SPIEL Günter Burkhardt, Karl Kopp

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  • land wieder zurücknehmen. Im Gegen-zug sollen syrische Flüchtlinge im Rah-men eines Kontingents aus der Türkei in Europa aufgenommen werden.

    Der 18. März 2016, der Tag der Eini-gung mit der Türkei, ist ein bitterer Tagfür Flüchtlinge. Die EU verkauft die Menschenrechte von Flüchtlingen andie Türkei. Im Grenzstaat Griechenland drohen nun Pro-forma-Verfahren mit anschließender Masseninhaftierung und Massenabschiebung in die Türkei.Griechenland wird zum Asyllager der EU,die Türkei zum Vorposten. Das Flücht-lingsrecht und die Menschenrechtskon-vention werden dabei ausgehebelt undverbogen. Das ist eine moralische undrechtliche Bankrotterklärung und eineKehrtwende in der Geschichte der Euro-päischen Union. Dieses Abkommen isteine Schande für Europa.

    Daran ändert auch die geplante Auf nah -me eines Kontingents syrischer Flücht-linge nichts. Was ist mit den Flüchtlingen

    aus Afghanistan, Iran, Somalia, Eritrea?Nach der Genfer Flüchtlingskonventionoder der Europäischen Menschenrechts-konvention sind die individuellen Flucht-gründe maßgebend, nicht die nationaleHerkunft. In dem geplanten perfidenTauschgeschäft werden Schutzbedürf -tige gegeneinander ausgespielt.

    Niemand darf der Folter unterworfenund in Situationen abgeschoben wer-den, wo Menschenrechtsverletzungenund Lebensgefahr drohen. Das muss individuell in einem fairen Verfahren geprüft werden, einschließlich der Möglichkeit, negative Entscheidungenvor Gericht überprüfen zu lassen.

    Die Türkei ist kein sicherer Drittstaat

    Der EU-Türkei-Deal bricht europäischesRecht, er liefert Schutzsuchende einemStaat aus, der sich mit rasanter Ge-schwindigkeit vom Rechtsstaat entfernt.Zwar hat die Türkei fast drei Millionen

    Flüchtlinge vorübergehend beherbergt– eine großartige Leistung, für die sie zuRecht finanzielle Unterstützung fordert.Das Land kennt jedoch kein staatlichesAsylrecht, das zu einem Schutzstatusnach der Genfer Flüchtlingskonventionführt. Die Türkei ist kein »sicherer Dritt-staat« im Sinne des Europa- und Flücht-lingsrechts, weder auf dem Papier nochin der Realität.

    Bereits jetzt sind Flüchtlinge in der Tür -kei der Gefahr ausgesetzt, in Staaten ab-geschoben zu werden, in denen ihnenVerfolgung oder gar der Tod dro hen. Ge-genüber syrischen Flücht lingen verfolgtdie Türkei eine systema tische Praxis derZurückweisung. Die Grenzen zu Syrienwurden abgeriegelt. In haftie rungen, Ab-schiebungen und Zurückschiebungennach Syrien wurden in Hunderten vonFällen dokumentiert. Um Flucht zu ver-hindern, führte die Türkei die Visum-pflicht für Syrer ein und baut eine massi-ve Grenzbefestigung an der syrisch- türkischen Grenze.

    Und wie reagiert hierauf der Architektder europäischen Flüchtlingspolitik, Innenminister de Maizière? Auf eine kritische Frage vom Spiegel am 30. Janu-ar 2016 antwortet er: »Es spricht über-dies nicht grundsätzlich etwas gegenGrenzsicherung. Wir haben einen Zaunan der Landgrenze zwischen der Türkei und Griechenland (…). Wir erwarten zuRecht, dass jedes Land des Schengen-raums seine Außengrenze schützt. Undich habe Verständnis dafür, dass die Türkei alles dafür tut, damit der Bürger-krieg in Syrien nicht ins eigene Landüberschwappt.«

    Deutlicher hätte es kaum formuliertwerden können. Jedes Mittel ist recht,um Flüchtlinge fernzuhalten, koste es,was es wolle.

    Unbestritten stehen Deutschland unddie anderen europäischen Staaten, vorallem aber die Nachbarstaaten Syriens,vor einer großen Herausforderung. Konfliktreduzierende Lösungen müssenpolitisch erreicht werden. Die Politik der Bundesregierung, die sie in der EUdurchgesetzt hat, birgt jedoch auch sicherheitspolitisch enorme Risiken. DieTürkei hat längst offen formuliert, dass

    7TAG DES FLÜCHTLINGS 2016

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  • sie eine Schutzzone für Flüchtlinge inNordsyrien will. Der Nebeneffekt: Ein Erstarken staatlicher Strukturen der kurdischen Bevölkerung soll verhindertwerden. Der Autokrat Erdogan hat denKrieg im Südosten der Türkei gegen die kurdische Minderheit neu entfacht.Menschenrechtsverletzungen gegen-über Oppositionellen und Journalistenhäufen sich. All dies ist auch Bundes-kanzlerin Merkel bekannt. Gleichwohlhat sie die Kooperation mit der Türkeivorangetrieben. Europa verliert so aberjegliche Berechtigung, andere Staatenzur Einhaltung von Menschenrechten zudrängen. Europa verspielt seine Glaub-würdigkeit. Europa verspielt die Basis,auf der die Gesellschaft fußt: Die Würdedes Menschen und die uneingeschränk-te Geltung der Menschenrechte.

    Verantwortung übernehmen!

    Doch wie könnten Lösungen aussehen?Eines ist klar: Es gibt keine einfachen Lösungen. Wenn Millionen auf der Fluchtsind, sind alle Nachbarstaaten, aberauch die angrenzenden Regionen ge -fordert, gegebenenfalls auch andereStaaten weltweit. An der Übernahmevon Verantwortung durch jeden einzel-nen Staat geht kein Weg vorbei. Es istskandalös, dass sich die osteuropäischenStaaten weigern, Flüchtlingen Schutz

    zu gewähren. Nicht gesprochen wirdüber die de facto Verweigerung dernord- und westeuropäischen Industrie-staaten. Frankreich, Großbritannien, dieBeneluxstaaten und andere hätten weit-aus mehr Möglichkeiten, FlüchtlingenSchutz zu gewähren. Sie verstecken sichhinter Deutschland. Ein Land nach demanderen in Europa schiebt die Verant-wortung weiter. Sie handeln nach demMotto: Jeder für sich, gemeinsam gegenFlüchtlinge.

    Augen zu, Grenzen zu und hoffen, dassdie Situation vorübergeht: So sieht keineverantwortliche Politik aus. Es ist welt-fern zu glauben, dass Griechenland oderdie Türkei zum Flüchtlingslager Europaswerden und die Menschen dort bleiben.

    Es ist auch weltfern zu glauben, dass diejenigen, die Deutschland und an dere europäische Staaten erreichen, bald wieder zurückkehren. Rund 80 %der Ankommenden stammen aus denKriegs- und Krisenregionen Syriens,Irans, Iraks und Afghanistans. Politik undGesellschaft müssen sich darauf ein -stellen, dass die Ankommenden langeZeit bleiben – wenn nicht für immer.Und daraus gilt es, Konsequenzen zuziehen. Doch was geschieht, ist das Gegenteil.

    Rolle rückwärts in der Integrationspolitik

    Vor einem Jahr standen noch die Chan-cen und Potenziale der Flüchtlinge imMittelpunkt der Debatte, nun dominie-ren auf Abwehr gerichtete Maßnahmen.Flüchtlinge bringen enorme Potenzia-le mit. Sie sind willens und fähig, ein neues Leben zu beginnen und es aktivzu gestalten. Es liegt im Interesse aller – sowohl der aufnehmenden Gesellschaftals auch der Flüchtlinge, Hürden, die Integration verhindern, zu beseitigen.Doch das Gegenteil geschieht.

    Das vielleicht perfideste Beispiel der integrationspolitischen Kehrtwende istdie Aussetzung des Familiennachzugsfür subsidiär Schutzberechtigte bis März2018. Ihr erstes Ergebnis: Zu Jahres -beginn 2016 schnellt die Zahl der Totenin der Ägäis in die Höhe. Mehr als 350Menschen sterben allein von Januar bis Ende März. Es sind in dieser Zeit vor allem Frauen und Kinder, die in die Boote gehen, nach UNHCR mehr als 60 Prozent der Ankommenden, weitausmehr als in den Monaten zuvor. Die Ankündigung, den Familiennachzugkünftig zu ver hindern, sowie die sich abzeichnende Schließung der Grenzenhaben eine Torschlusspanik ausgelöst.Die Kontrollen der Türkei führen zu ge-

    8 TAG DES FLÜCHTLINGS 2016

    Idomeni, März 2016 © Björn Kietzmann

    16_04_26_B_TDFL_Layout 1 26.04.16 18:45 Seite 8

  • fährlicheren Seewegen und so zu mehrToten.

    Es gibt weitere politische Abwehrmaß-nahmen in der Innenpolitik. Stein umStein wird eingerissen, was über zehnJahre hinweg erreicht wurde. Deutsch-land ist offener geworden, Deutschlandist vielfältiger geworden und noch im-mer sehen viele die Ankunft der Flücht-linge positiv. Doch im September 2015setzte ein Rollback ein – sowohl auf dergesetzgeberischen Ebene als auch imöffentlichen Diskurs. Die Liste der Ver-schärfungen ist lang, und während dieseZeilen geschrieben werden, werden bereits die nächsten diskutiert.

    ● Die zwangsweise Isolierung in Mas-senunterkünften für sechs Monate undlänger behindert ein selbstbestimmtesLeben. Zu wenig wird für den sozialenWohnungsbau und die Integration in ein lebendiges Wohnumfeld getan.

    ● In vieler Hinsicht werden das Aufent-haltsrecht und die Integrationschancenfür Flüchtlinge beschnitten. Asylpaket Iund Asylpaket II heißen die Stichworte.Nur ein Beispiel: Mit willkürlichen Defini-tionen von einer Bleibeperspektive wirdeinem großen Teil der Ankommendenein früher Sprachkurs verweigert.

    ● Allen unfairen Schnellverfahren zumTrotz dauern die Asylverfahren viel zu lange – wo doch alle wissen: Je früherdie Menschen aufenthaltsrechtliche Sicherheit haben und je früher Integra -tionsmaßnahmen beginnen, desto besser gelingt die Integration.

    ● Anstatt Integrationsangebote wirk-sam und endlich in ausreichender Zahlbereitzustellen sowie positiv zu beglei-ten, setzt ein Abwehrdiskurs ein. Von angeblichen Integrationsverweigerern,die sanktioniert werden müssen, ist die Rede. Verschwiegen wird, dass alleSprachkurse innerhalb weniger Tageausgebucht sind und die staatlichenStrukturen versagen. Deutschland bauteine Bürokratie auf, die den Weg in dieSelbständigkeit der Menschen verhin-dert.

    Gefährlicher Abwehrdiskurs

    Das Familiennachzugsverbot, die Wiedereinführung der mündlichen Be fragung für Flüchtlinge aus Syrien,Schnellverfahren, die zwangsläufig ver-sagen, wenn es darum geht, Schutz -bedürftige zu erkennen – die Liste despolitischen Aktionismus ist lang.

    Sie bewirkt nicht nur eine Ausgrenzungund beschneidet nicht nur das Recht auf Asyl, sie zerstört die Lebenschancender Menschen und sie wirkt in die Ge-sellschaft: Flüchtlinge werden zusehendsals Bedrohung wahrgenommen, die esabzuwehren gilt, nicht als Menschen, die Schutz brauchen. Eingeleitet vomGerede der begrenzten Aufnahmekapa-zität durch den BundespräsidentenEnde September 2015 und permanentgesteigert durch die Rhetorik von CSU,AfD und Politikerinnen und Politikernanderer Parteien, werden Flüchtlingezur Gefahr verzerrt.

    Monatelang wird über eine Obergrenzedebattiert – ursprünglich eine fixe Ideeder CSU. Wie das gehen soll, dass es keine Obergrenze geben kann, wenn

    Menschenrechte ernst genommen wer-den – und dass niemand eine Antwortweiß, was denn mit dem ersten Flücht-ling geschehen soll, der diese Ober -grenze überschreitet: Dies bleibt weit -gehend außerhalb der Debatte. Wichtigerscheint allein die Artikulation des eigenen Interesses.

    Menschenrechte kennen keineGrenzen!

    Es ist höchste Zeit, die große Solidari-tät mit Flüchtlingen in Deutschland wieder ins öffentliche Bewusstsein zurücken. Im September 2015 dominier-ten die Signale des Willkommens in den Medien. Und gleichzeitig wurde immerwieder öffentlich sichtbar, wie verhee-rend die Situation in den Herkunftslän-dern von Flüchtlingen und wie brutaldie Flucht ist. Es gilt in dieser Situationnun zusammenzustehen und den öffentlichen Raum zurückzugewinnen. Ein breites gesellschaftliches Bündnisruft zur Aktion und Menschenkette unter dem Slogan »Hand in Hand gegenRassismus« auf. Am 19. Juni, dem Vor-tag des Weltflüchtlingstags, aber auchim Herbst, wenn der Flüchtlingstag inDeutschland stattfindet. ■

    9TAG DES FLÜCHTLINGS 2016

    Plakat zum Tag des Flüchtlings 2016

    Kostenfrei (zzgl. Versand) bestellbar bei PRO ASYL

    16_04_26_B_TDFL_Layout 1 26.04.16 18:45 Seite 9

  • Die EuropäischeUnion hat sich in Brüssel am 17. März 2016 aufein Angebot zu einem Flüchtlingsdealmit der Türkei geeinigt, in das die Türkeiam 18. März eingeschlagen hat: Von der Türkei aus über die Ägäis nach Grie-chenland Geflüchtete sollen, zu »illega-len Migranten« umdefiniert, in die Türkeideportiert (»rückgeführt«) werden. Für jeden ausgewiesenen »illegalen« Syrer soll ein wegen ordnungs gemäßerMeldung »legaler« Syrer nach Europagebracht werden, zunächst bis zu einerGrößenordnung von 72.000 Menschen.Die Aufnahme in Europa ist freiwillig,sonst hätten die Flüchtlingsverweigererunter den EU-Staaten das Abkommennicht akzeptiert. Nach der Schließungder Balkanroute soll auch die Flucht -route über die Ägäis blockiert werden,was in den Kontext der »Externalisie-rung« genannten Vorfeldverteidigungder Schengengrenzen gehört.

    Verschämte rechtsästhetische Nachbes-serungen sollen das möglich machen.Dazu wird ein Verfahren mit einer gro-ben individuellen »Prüfung« der Flucht-gründe jener »illegalen Migranten«ebenso gehören wie die Anerkennungder Türkei durch Griechenland als siche-rer Drittstaat; denn ohne Verfahren wären »Rückschiebungen« von illegali-sierten Geflüchteten selber illegal. Alsangeblich sicheren Drittstaat heiligtman so die aus ihrer sowieso defizitä-

    ren Rechts- und Verfassungskultur ins Bodenlose stürzende autoritäre Erdo-gan-Türkei mit ihrem Zertrampeln vonPresse-, Meinungs- und Wissenschafts-freiheit, mit ihrer Unterdrückung vonMinderheiten und der Beantwortungvon Milizenterror mit Staatsterror inner-halb und außerhalb ihrer Grenzen. Das wird demonstrativ übersehen, derZweck heiligt die Mittel.

    Die weinerliche Begründung mit demmaritimen Kampf gegen das »Schlep -per unwesen« ist erbärmlich schein -heilig; denn die Schlepper verdienen ihr großes Geld nicht auf dem kleinen Katzensprung über ein paar Seemeilenvon der Türkei zu den vorgelagertengriechischen Inseln, sondern auf der viel riskanteren Hochseeroute von Liby-en nach Italien und besonders nachLampedusa.

    Menschliche Kollateralschäden

    Die Flucht auf dieser besonders gefähr -lichen Hochseeroute wird wieder starkzunehmen, sobald die Frühjahrsstürmevorüber sind. Schon in den letzten Tagensind von dem vor den libyschen Küsten-gewässern operierenden größten pri -vaten Rettungsschiff Aquarius von SOS Méditerranée bei zwei Rettungseinsät-zen fast 200 Menschen aus Seenot ge-borgen worden. Seit der Erschwerungdes Familiennachzugs im HauptziellandDeutschland werden sich umso mehr

    Familienmitglieder, besonders Frauenund Kinder, den vorausgewandertenMännern anzuschließen suchen. Die Opfer werden also weiblicher und jün-ger werden. Menschliche Kollateralschä-den des Kampfes gegen Flüchtlinge.

    Das erinnert an die »Schande von Evian«: Im Juli 1938 verhandelten aufInitiative des amerikanischen Präsiden-ten Roosevelt Vertreter von 32 Staatenund von vielen, auch jüdischen Hilfs -organisationen im französischen Evianam Genfer See über eine Erleichterungder Einreise der vom NS-Staat terrori -sierten Juden aus Deutschland. Die Delegierten sahen sich aber fast durch-weg außerstande, den Verfolgten groß-zügig die Aufnahme in ihren Staaten zu erleichtern.

    Die einen stellten einem solchen An -sinnen schlicht antisemitische Argu-mente entgegen; andere begründetenihre Abwehrhaltung mit der Gefahr, dass rechtsextreme Kräfte im Land durchjudenfreundliche Haltungen gereiztwerden könnten; wieder andere redetensogar vom »Missbrauch des Asylrechts«.Einziges Konferenzergebnis war die Einigung auf ein ständiges Flüchtlings-komitee, das versuchen sollte, bei derdeutschen Regierung eine humanitärgeordnete Auswanderung von Juden zu erwirken.

    10 TAG DES FLÜCHTLINGS 2016

    DIE »SCHANDE VON EVIAN«1938 UND DIE »SCHANDE VON BRÜSSEL« 2016Auf der Konferenz von Evian 1938 konnten sich die versammelten Nationen nicht auf eine erleichterte Aufnahme von jüdischen Flüchtlingen aus NS-Deutschland einigen. In der »Flüchtlings krise« heute können sich die Europäer nicht auf eine Flüchtlings- aufnahme einigen. Sie engagieren sich sogar für die Abwehr von Flüchtlingen. Das macht, trotz aller Unterschiede, die »Schande von Evian« 1938 vergleichbar mit der »Schande von Brüssel« 2016.

    Klaus J. Bade

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  • 11TAG DES FLÜCHTLINGS 2016

    Die Flüchtlingskrise ist eineWeltkrise

    Vieles ist unvergleichbar zwischen Evian1938 und Brüssel 2016: 1938 ging es»nur« um eine verfolgte Gruppe aus einem Terrorland. Die Judenverfolgungwar 1938 aber schon eine Vorstufe zumGenozid als organisiertem Staatsver bre -chen von weltgeschichtlich katastro -phaler Einzigartigkeit. Heute geht es umFlüchtende aus den verschiedenstenKriegs-und Krisengebieten der Welt. ImUnterschied zu 1938 sind hier tatsäch-lich auch als »Wirtschaftsflüchtlinge« geschmähte Flüchtlinge aus existenziel-ler Not dabei.

    Denn die sogenannte »Flüchtlingskrise«ist in Wahrheit eine Weltkrise, die Flücht-linge auch vor die Tore der Festung Eu -ro pa treibt; und zwar aus Gründen, andenen der Westen nicht unbeteiligt warund ist:

    Das reicht von den Folgen der europäi-schen Kolonialgeschichte über die will -kürlichen Grenzziehungen im arabisch-nordafrikanischen Raum nach dem Ersten Weltkrieg bis hin zu den militäri -schen Interventionen des Westens von Afghanistan über den Iran bis zum

    Irak. Sie haben die Probleme, die sie angeb lich eindämmen sollten, nur nochvergrößert und zur Entstehung vonweltweit operierenden Terrormilizenbeigetragen.

    Der österreichische Schriftsteller AlfredPolgar schrieb unter dem Eindruck derKonferenz von Evian 1938: Internationa-le Verhandlungen, die zur Erörterungder Frage »Wie schützt man die Flücht-linge?« einberufen würden, beschäftig-ten sich in Wahrheit vor allem mit derFrage: »Wie schützen wir uns vor ihnen?«

    Und dieses bewusste Wegsehen machtEvian 1938 und Brüssel 2016 vergleich-bar: Weil sich die Europäer nicht einigenkönnen, wie und in welchem Umfang sieden an die Tore ihrer Festung klopfen-den Flüchtlingen helfen wollen, drängensie das Problem vor ihren Grenzen zu-rück, statt sich um die Bekämpfung sei-ner Ursachen zu kümmern.

    Wir müssen teilen lernen

    Die meisten aber ahnen, dass mit der sogenannten »Flüchtlingskrise« die Gret-chenfrage des weltweiten »Raubtier -kapitalismus« (Helmut Schmidt) gestelltist. Das hat auch der kluge und mutige,

    aus der nichtmarxistischen südamerika-nischen Befreiungstheologie stammen-de Papst Franziskus oft genug und zu-letzt wieder in seiner Enzyklika »Laudatosi« klar ausgesprochen.

    Um sich dieser Herausforderung nichtstellen zu müssen, paktieren die Euro -päer selbst mit den fluchttreibenden Regimen in Eritrea und im Sudan, diegegen Investitionen, besonders im sogenannten Sicherheitsbereich, Flücht-linge aus ihrem Land und durch ihr Landan der Flucht nach Europa hindern sol-len. Der tote Flüchtlingshändler Gaddafilässt grüßen. Er wusste als erster, Migra -tion in großem Stil als Waffe einzusetzenund war damit auf furchtbare Weise seiner Zeit voraus.

    Die Antwort auf die Gretchenfrage des»Raubtierkapitalismus« kann nur glo -bale Fairness sein: Wir müssen teilen lernen. Spenden hat mit Teilen so viel zutun wie Barmherzigkeit mit Gerechtig-keit. ■

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  • 12 TAG DES FLÜCHTLINGS 2016

    VON KHARTOUM BIS AGADEZ: NEUAUFLAGE DER EU-AUSLAGERUNGS-STRATEGIENIn Europa findet ein Wettkampf der Abwehrpolitiken statt, derkleinste gemeinsame Nenner zur vermeintlichen Lösung der»Flüchtlingskrise« soll jenseits europäischer Grenzen liegen. Während die Kooperation mit der Türkei im Fokus der Öffent -lichkeit ist, werden die skandalträchtigen Verhandlungen mit afrikanischen Regierungen kaum wahrgenommen. Europas Politik der Externalisierung soll Schutzsuchende an der Fluchthindern und sie für Europa unsichtbar machen.

    Judith Kopp

    Die Ankunft von einer MillionFlüchtlinge und der Zusammen-bruch des europäischen Grenz-regimes versetzte die europäischenStaats- und Regierungschefs 2015 inAlarmbereitschaft: Die Kontrolle überFlucht und Migration sollte so schnellwie möglich zurückgewonnen werden.Nicht zuletzt durch die Indienstnahmeder Transit- und Herkunftsländer, denneine solidarische europäische Antwortauf die weltweit größten Fluchtbewe-gungen seit dem Zweiten Weltkrieg erwies sich als illusorisch – national-staatliche Egoismen prägten Debattenund Taten.

    Bereits im Mai 2015 war in Brüssel dieEuropäische Migrationsagenda ver -abschiedet worden, in der die Absicht einer intensivierten Zusammenarbeitmit Herkunfts- und Transitländern zurBekämpfung »irregulärer Migration« alsgangbare Strategie beschworen wurde.Als sich die Fluchtbewegungen weitge-hend vom zentralen Mittelmeer in dieÄgäis verlagerten, konzentrierten sichdie Bemühungen der EU auf die Türkei –über 850.000 Schutzsuchende hatten

    innerhalb eines Jahres über das Land am Bosporus europäisches Territoriumerreicht. Mit dem Ziel, das Verbleibender hauptsächlich syrischen Flüchtlingein der Türkei sicherzustellen und ihreWeiterreise in Richtung Griechenland zu verhindern, wurde am 29. November2015 ein entsprechendes Abkommenunterzeichnet. Menschen- und flücht-lingsrechtliche Erwägungen blieben dabei außen vor – die ersten rechts -widrigen Abschiebungen in die Türkeierfolgten Anfang April.

    Treuhandfonds zur Flucht- undMigrationsverhinderung

    Auch auf der Route von Libyen nach Italien, über die 2015 mehr als 153.000Menschen in die EU gelangten, inten - sivierte man die Bemühungen zur Regu-lierung und »Eindämmung« von Fluchtund Migration. In den ersten Monaten2016 nahmen die Überfahrten auf derzentralen Mittelmeerroute weiter zu, sodass vor allem das vom Bürgerkriegzerrüttete Libyen erneut in den Fokusder europäischen Abschottungsarchi-tekten rückte.

    Im November 2015 trafen sich Staats-und Regierungschefs der EuropäischenUnion mit Vertreter*innen von 35 afrika-nischen Regierungen und der Afrikani-schen Union in Valletta. Der Aktions-plan, der am 12. November in Vallettaver abschiedet wurde, zeigt: Alte Rezep-te der Migrations- und Fluchtabwehr im Interesse Eu ropas dominierten dasTreffen und die Ergebnisse. Mit finanziel-len Zusagen versucht die EU Anreize zuschaffen, um afrikanische Länder in dieeigene Flucht-, Migrations- und Grenz-politik einzu binden – rund 1,8 Milliar-den Euro sollen in einem »Nothilfe-Treu-handfonds für Afrika« bereitgestellt werden. Ebenso viel sollen die Mitglied-staaten beisteuern – bisher wurden je-doch lediglich 81,7 Millionen Euro zuge-sagt. Gelder des Treuhandfonds sollenunter anderem in die Kooperation mitden Staaten am Horn von Afrika im Rah-men des »Khartoum-Prozesses« fließen.

    Khartoum-Prozess: Pakt mit Fluchtverursachern

    Dass die EU keine Tabus kennt, wenn esum Kooperationen zur Fluchtverhinde-

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  • 13TAG DES FLÜCHTLINGS 2016

    rung geht, wurde in der Vergangenheitzur Genüge bewiesen. Bis zu deren Sturzim Zuge des »arabischen Frühlings« 2011fungierten Libyens Machthaber Muam-mar al Gaddafi oder Tunesiens Regimeunter Ben Ali als wichtige Partner, umFlüchtlinge und Migrant*innen bereitsvor Erreichen europäischer Grenzen auf-zuhalten. Mit dem Khartoum-Prozessschufen die EU-Staats- und Regierungs-chefs einen neuen regionalen Koopera-tionsrahmen. Das erklärte Ziel: Mit Hilfevon Ländern am Horn von Afrika, wieEritrea, Sudan und Süd-Sudan »Fluchtur-sachen« und »Schlepper« zu bekämpfen.

    Im Rahmen des Khartoum-Prozesses ist internen EU-Dokumenten zufolge geplant, »Institutionen der Regierung in Eritrea zu stärken« und sie bei der Be-kämpfung von kommerziellen Flucht-helfern zu unterstützen. Im Sudan sollenBeamte im Migrationsmanagement ge -schult, im Süd-Sudan das Grenzmanage-ment verbessert werden. Darüber hinausist die Einrichtung eines Trainingszen-trums an der Polizeiakademie in Ägyptengeplant, um Polizeibeamte und Strafver-folgungsbehörden verschiedener afrika-nischer Staaten weiterzubilden. Der Prozess soll effektivere Grenzkontrollengarantieren sowie Schmuggel und Men-schenhandel ebenso angehen wie Migrationsursachen.

    Das Problem: Die autoritären Gewalt -regime gehören selbst zu den wichtigs-ten Fluchtursachen. Tausende Men-

    schen fliehen jeden Monat vor der Mili-tärdiktatur in Eritrea, vor allem nachSüd-Sudan und Äthiopien. Rund 11.000eritreische Schutzsuchende stellten2015 in Deutschland einen Asylantrag –die bereinigte Schutzquote liegt bei nahezu 100 Prozent.

    Menschenrechtsverletzer als Partner

    Anfang April 2016 wurden geheimeEmpfehlungen der EU-Kommission unddes Europäischen Auswärtigen Dienstesöffentlich gemacht, wie die Koopera-tion mit den Machthabern des Sudan,Äthiopiens, Eritreas und Somalias in denBereichen »Migration, Mobilität undRückübernahme« intensiviert werdenkönnte. So soll beispielswiese mit Äthio-pien ein »Rückübernahmeabkommen«verhandelt werden, obwohl das Europäi-sche Parlament die äthiopische Regie-rung im Januar 2016 aufgrund schwer-wiegender Menschenrechtsverletzun-gen vehement kritisiert hat.

    Insbesondere die sudanesische Regie-rung soll daran mitwirken, Migrations-und Fluchtbewegungen in RichtungEuropa aufzuhalten – gegen weitgehen-de Zugeständnisse. Neben den finan-ziellen Anreizen will man auch politischunterstützend tätig werden und bei-spielsweise die Lockerung der US-ame rikanischen Sanktionen gegen den Sudan oder gar die Streichung des Lan-des »von der Liste terrorunterstützender

    Staaten« erwirken. Dass der sudanesi-sche Präsident Omar Al-Baschir vom Internationalen Strafgerichtshof perHaftbefehl gesucht und der Sudan nachwie vor von gewalttätigen Konflikten erschüttert wird, scheint den EU-Institu-tionen vernachlässigenswert.

    Der Khartoum-Prozess verschafft nichtnur Gewaltregimen Legitimation. Wermit Fluchtverursachern paktiert, be-kämpft nicht die Ursachen von Vertrei-bung und Flucht, sondern die Schutz -suchenden selber.

    »Multifunktionale Migrations-zentren« als Abschreckungs-maßnahme

    In der Migrationsagenda ist außerdemdie Einrichtung eines »multifunktiona-len Migrationszentrums« in Niger bisEnde 2015 vorgesehen. Aus EU-Berich-ten und Frontex-»Risikoanalysen« gehthervor, worin die strategische Bedeu-tung des westafrikanischen Landes fürdie europäische Migrationskontrolleliegt: Trotz des Bürgerkriegs in Libyen ist die Route durch Niger die am häu-figsten genutzte von Westafrika Rich-tung Europa. Als wichtiger Knotenpunktgilt die Stadt Agadez in der Landesmitte.In Zusammenarbeit mit IOM (Internatio-nale Organisation für Migration), UNHCRund den nigrischen Behörden soll dasgeplante Zentrum »ein realistischeresBild der Erfolgschancen der Migranten(…) zeichnen, die sich auf den Weg nach

    Hat gut lachen: der sudanesischePräsident Omar Al-Baschir. Obwohlder InternationaleStrafgerichtshof ihn per Haftbefehlsucht, will die EUmit dem Sudan kooperieren.

    © Reuters / MohamedNoureldin Abdallah

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  • 14 TAG DES FLÜCHTLINGS 2016

    Europa machen, und irreguläre Migran-ten bei der freiwilligen Rückkehr (…) unterstützen«. Auch über Möglichkeiten,Schutz in der Region zu erhalten, sollhier informiert werden.

    Das Versprechen, dass dort auch legaleMöglichkeiten zur Weiterreise nachEuropa aufgezeigt werden, entbehrt jeder realistischen Grundlage. LegaleEinreisewege nach Europa sind so gutwie inexistent und die Lehren aus derVergangenheit eindeutig: In Mali wurde2008 ein ähnliches »Zentrum für Infor-mation und Management von Migrati-on« (CIGEM) eröffnet, doch im Jahr 2015bereits wieder geschlossen. Offiziell soll-ten dort Informationen zu den Risiken»irregulärer Migration« verbreitet undAlternativen dazu gefördert werden, unter anderem durch die Unterstützungpotentieller Migrant*innen bei der Be-antragung von Visa zur regulären Ein -reise in die EU. Doch Angebote legalerEin reise gab es praktisch nicht.

    Die regelmäßig in die Debatte einge-brachten Vorstöße sehen für die »Transit-oder Aufnahmelager« in »Drittstaaten«unterschiedlichste Aufgaben vor – vonder Durchführung von Asylverfahren auf afrikanischem Boden über Informa -tionskampagnen zur Verhinderung»irregu lärer Migration« bis zur Forcie-rung »freiwilliger Abschiebungen«. Siealle verfolgen dasselbe Ziel: Flucht- undMigra tionsbewegungen aus der Distanzzu kontrollieren und zu regulieren – »remote control« – fernab von der euro-päischen Öffentlichkeit.

    Prinzip Verdrängung auf Kostenvon Menschenrechten

    Die EU setzt auf eine Neuauflage be-kannter Politiken der Externalisierungvon Grenzkontrollen. Aus menschen-rechtlicher Sicht ist klar: Die von der EU als »Gatekeeper« auserkorenen, teil -weise autokratischen Staaten, sind keine legitimen Partner einer humanenFlucht- und Migrationspolitik. Die poli -tischen Antworten auf die Krise des europäischen Grenzregimes und dieFlucht- und Migrationsbewegungenwerden ausgelagert – auf menschen-rechtlich hochproblematisches Terrain.Flücht linge und MigrantInnen sollen in Herkunfts- und Transitregionen fest-gesetzt werden, unter Missachtung ihrerMenschenrechte. Menschenrechtsver-letzungen sollen aus der europäischenWahrnehmung verbannt und unsicht-bar gemacht werden.

    Die Reichweite europäischer Medienscheint an den Küsten der südlichen Anrainerstaaten zu enden: Während seiteiniger Zeit Bilder von Bootskatastro-phen und toten Flüchtlingen im Mittel-meer an die europäische Öffentlichkeitdringen und immer wieder massive Kritik an Europas Abschottungspolitikprovoziert haben, bleiben die Toten inder Ténéré-Wüste oder auf den Routendurch die Sahara unsichtbar. Die Kon-trollarchitektur jenseits des Mittelmeersbleibt weitgehend unerwähnt, die Maß-nahmen zum Festsetzen der Schutz -suchenden unterbelichtet.

    Mit ihrer Politik der Auslagerung vonGrenzkontrollen verfolgt die EU eine fatale Strategie des Unsichtbarmachensvon Schutzsuchenden und nimmt weitere Tote in Kauf. Doch Flucht- und Migrationsbewegungen lassen sichdurch Zäune, technisch versierte Kon-trollinstrumente und Transitlager nichtaufhalten – die Folge sind immer ge -fährlichere Odysseen. Nur die Öffnunggefahrenfreier Wege kann verhindern,dass Europa zum Handlanger schwererMenschenrechtsverletzungen vor sei-nen Toren wird. ■

    Gewalt gegen Flüchtlinge, die Verschärfungdes Asylrechts, Datenmissbrauch, Polizei ge -walt: Der Grundrechte-Report 2016 be richtetüber Grundrechtsver letzungen in allen Be -reichen des gesellschaftlichen Lebens undkommt zu dem Schluss: Die wirklichen Gefäh -rdungen unserer frei heitlichen demokrati-schen Grundordnung und damit der Grund-rechte und des Rechtsstaats gehen im Wesent -lichen von staatlichen Institutionen aus.

    Der »Grund-Rechtereport 2016 – Zur Lage der Bürger- und Menschenrechte in Deutsch-land« kostet 10,99 € und ist erhältlich bei PRO ASYL oder im Buchhandel.

    SCHMUTZIGES TAUSCHGESCHÄFT MIT MAROKKO:

    ABWEHR GEGEN VÖLKERRECHTLICHEN FREIPASS?

    Nach seiner Dienstreise durch die Maghreb-Staaten Ende Februar 2016 hatte Bundesinnen -minister Thomas de Maizière skandalträchtige Pläne im Gepäck. Das Interesse der Bundes -regierung: Marokko zum »sicheren Herkunftsland« zu erklären, um Abschiebungen zu forcie-ren. Die Gegenleistung besteht in fatalen Zugeständnissen in Bezug auf die seit 1975 be -stehende völkerrechtswidrige Besetzung der Westsahara durch Marokko. Europa nimmt nichtnur in Kauf, dass die sahrauischen Flüchtlinge unter immer dramatischeren Bedingungen in der algerischen Wüste verbleiben müssen. De Maizière signalisierte gar, Marokko dabei zu unterstützen, gegen ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs vorzugehen, das ein Agrar- und Fischereiabkommen mit der EU für ungültig erklärt hatte – und das aus gutem Grund: Das im Abkommen festgelegte Gebiet umfasst die Westsahara.

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  • 15TAG DES FLÜCHTLINGS 2016

    SCHLAGLICHTER 2015Januar: Nach vier Jahren Krieg ist dieHälfte der Bevölkerung Syriens zuFlüchtlingen geworden. Ab Jahresbe-ginn kürzt das World Food Programmedie Hilfe für 1,5 Millionen Flüchtlinge in Jordanien, Libanon, Türkei, Irak undÄgypten um bis zu 50 %. Weil die inter-nationale Hilfe nicht ausreicht, schließtder Libanon seine Grenze für Flüchtlinge.

    Im Februar macht der Tod von mehr als 300 Flüchtlingen vor LampedusaSchlagzeilen. Im Herbst zuvor ist die italienische Seenotrettung »Mare Nos-trum« beendet worden. Die EU-Nach -folgeoperation »Triton« ist nicht auf Rettung angelegt und operiert nur inKüstennähe.

    Im April sterben binnen weniger Tageüber 1.300 Flüchtlinge auf dem Wegüber das zentrale Mittelmeer.

    Auf dem EU-Sondergipfel am 23. Aprilbeschließen die Staats- und Regierungs-chefs Maßnahmen zur Schlepperbe-kämpfung und Fluchtverhinderung.

    Der Brandanschlag auf die geplanteFlüchtlingsunterkunft in Tröglitzschreckt die Öffentlichkeit auf. Es ist der dritte im laufenden Jahr. Im Jahres-verlauf kommt es immer häufiger zu Anschlägen und Gewalt gegen Asyl -suchende.

    Pegida Dresden beschäftigt wochenlangPolitik und Medien mit Parolen gegenFlüchtlinge, »Ausländer« und den Islam.Die politische Stimmung beginnt sichaufzuheizen.

    In Afghanistan starten die Talibanihre Frühjahrsoffensive. TausendeMenschen werden durch Kämpfe in derProvinz Kundus zur Flucht gezwungen.Die Provinzregierung im Norden sprichtvon der »schlimmsten Situation seit2002«.

    Im Mai erreichen fast 40.000 Flücht-linge Deutschland, darunter vermehrtsyrische und afghanische Flüchtlinge.

    Auf den griechischen Inseln kommentäglich mehrere tausend Flüchtlingean und stranden dort, ohne Unterkunft,ohne sanitäre Einrichtungen, ohne Ver-pflegung und ohne medizinische Ver-sorgung. Der Zuzug hält monatelang an.Ab August spricht UNHCR von einer humanitären Krise.

    Als Notfallmaßnahme will die EU-Kom-mission 40.000 Schutzsuchende ausGriechenland und Italien in andere EU-Staaten umsiedeln. Polen, Ungarn,Dänemark, Frankreich, Großbritannienu.a. lehnen den Vorschlag ab. Im Junientscheidet eine Mehrheit für die Um-siedlung innerhalb von zwei Jahren –verbindliche Quoten gibt es jedochnicht.

    Im Juni beginnt auch die erste Stufe der EU-Operation »EUNAVFOR Med«, die im Mittelmeer sowie später auch ander Küste Libyens mit militärischenMitteln gegen »Netzwerke von Men-schenschmugglern« vorgehen soll.

    Deutschland: Beim Flüchtlingsgipfel am 11. Juni verdoppelt der Bund diePauschalhilfe für die Länder auf eineMilliarde. Bund und Länder beschließenfür Gruppen mit einer »relativ hohen Anzahl von Asylsuchenden bei zugleichbesonders niedriger Schutzquote« – gemeint sind Balkanflüchtlinge – Maß-nahmen der Desintegration, Isolationin Großunterkünften und zeitnaheAbschiebungen.

    Anfang Juli beschließt der Bundestagdas »Gesetz zur Neubestimmung desBleiberechts und der Aufenthaltsbe-endigung«. Es enthält eine lange gefor-derte Bleiberechtsregelung für Gedulde-te, aber auch Möglichkeiten zur exzessi-ven Ausweitung der Abschiebungshaft.

    Flüchtlingscamp Suruc / Türkei: Ein syrisches Mädchen wäscht Geschirr ab. © UNHCR / Ivor Prickett

    Vollbrand einer geplanten Flüchtlingsunterkunftim August in Unterweissach / Rems-Murr-Kreis. © picture alliance / Benjamin Beytekin

    Vor Lesbos: Flüchtlinge kämpfen sich an Land © UNHCR / Ivor Prickett

    Geflüchtete Frau in Budapest © Bence Járdány

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  • Als Reaktion auf die gestiegenen Flücht-lingszahlen beginnt Ungarn, seine 175 km lange Grenze zu Serbien miteinem vier Meter hohen Stacheldraht-zaun abzuriegeln. Das Land verschärftdie Asylgesetze und verweigert dieRücknahme von Flüchtlingen im Dublin-Verfahren. Im ganzen Land lässt die Regierungspartei Fidesz ausländerfeind-liche Parolen plakatieren.

    Im August appelliert das World FoodProgramme erneut an die Staaten,mehr Geld für die syrischen Flüchtlingebereit zu stellen. Familien würden sichhoch verschulden, weniger essen undihre Kinder aus der Schule nehmen, um sie arbeiten zu lassen.

    Aus Mazedonien wird berichtet, dassFlüchtlinge Opfer von schwerer Ge-walt durch Polizei und kriminelle Ban-den werden. Das Land ruft den Ausnah-mezustand aus und schließt eine Zeitlang die Grenze zu Griechenland. Die Polizei geht an der Grenze mit Blend -granaten und Tränengas gegen Flücht-linge vor.

    Ungarn hindert Flüchtlinge an derWeiterreise nach Österreich undDeutschland. Eine ganze Woche harrenFlüchtlinge im Keleti-Bahnhof in Buda-pest aus. Dann machen sich Hundertezu Fuß über die Autobahn auf den WegRichtung Österreich.

    In Deutschland erhöht der Innenminis-ter die Prognose für die Zahl der Asyl -suchenden 2015 auf 800.000. Auf ihrerSommerpressekonferenz setzt Bundes-kanzlerin Merkel ein nachhallendes Signal für die Flüchtlingsaufnahme:»Wir schaffen das.« In der Nacht aufden 5. September entscheidet sie, diein Ungarn festsitzenden Flüchtlinge inDeutschland aufzunehmen.

    Am Münchener Hauptbahnhof ver -sorgen Hunderte Ehrenamtliche ankom-mende Flüchtlinge mit dem Nötigsten.Zehntausende kommen binnen wenigerTage. Bilder eines menschenfreundli-chen Deutschlands gehen um die Welt.Sie rufen die Hoffnungen der Verzweifel-ten hervor – und zynische Reaktionenanderer EU-Staaten.

    CSU-Chef Seehofer polemisiert gegendie Flüchtlingspolitik der Kanzlerin und führt einen monatelangen Streit um ei ne angeblich notwendige »Ober -grenze«. Die Stimmung wird zu se hendsfeindlich, die überwältigende Hilfsbe-reitschaft jedoch hält landesweit an.

    Die Medien kennen wochenlang nur einThema. In sämtlichen Talkshows wirdfast ausnahmslos über die »Flücht-lingskrise« diskutiert. Der immer offe-nere Hass und die steigende Gewalt ge-gen Flüchtlinge und ihre Unterkünftewerden nicht thematisiert.

    Dänemark stoppt zeitweise den Zug -verkehr mit Deutschland. Frankreichlehnt Verhandlungen mit Deutschlandüber eine Aufteilung der Flüchtlinge ab. Österreich winkt Flüchtlinge nachDeutschland durch. Italien und Däne-mark führen Grenzkontrollen ein.

    Mitte September vollzieht die Bun -des regierung die Wende: Deutschlandführt Kontrollen an der Grenze zu Öster-reich ein. Danach wird das Schengen-Recht auch in Österreich, der Slowa kei,Tschechien, Polen und den Nieder - landen faktisch außer Kraft gesetzt.

    Ungarn will auch die Grenze zu Kroatienund Rumänien abriegeln. Flüchtlingen,die den ungarisch-serbischen Grenz-zaun überwinden, droht Gefängnis. Siewerden mit Tränengas und Wasser-werfern beschossen.

    Der Weg der Flüchtlinge führt nun überKroatien. Dort und in Slowenien erhal-ten sie oft weder ein Dach über demKopf noch Nahrung und werden immerwieder tagelang von der Polizei festge-halten.

    Die Innenminister der EU-Staaten be-schließen eine weitere Notaufnahmevon Flüchtlingen – gegen die StimmenUngarns, Tschechiens, der Slowakei undRumäniens. Flüchtlinge sollen in soge-nannten »Hotspots« in Griechenlandund Italien festgesetzt, 120.000 von ihnen weiter in die EU-Länder verteiltwerden. Die Zahl der Flüchtlinge in Grie-chenland beläuft sich unterdessen aufknapp 350.000, in Italien auf 128.000.

    16 TAG DES FLÜCHTLINGS 2016

    Die ungarische Polizei verhaftet eine syrische Familie hinter der Grenze © Reuters / Bernadett Szabo

    Flüchtlinge sitzen im Budapester Bahnhof fest © Bence Járdány

    Auf dem Weg Richtung Österreich © picture alliance

    Im Frankfurter Hauptbahnhof werden Flüchtlinge empfangen © picture alliance

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  • Auf dem Bund-Länder-Gipfel am 25.9.wird das Asylverfahrensbeschleuni-gungsgesetz (»Asylpaket I«) verab -redet. Es umfasst Rechtseinschränkun-gen, die Definition einiger West -balkanstaaten als »sichere Herkunfts - länder« und erhebliche soziale Er-schwernisse für Flüchtlinge. Schon vierWochen später tritt das mit heißer Nadelgestrickte Gesetz in Kraft.

    Im Oktober ist die grüne Grenze Un -garns nach Kroatien dicht. Flüchtlingemüssen von Kroatien aus nach Slowe -nien ausweichen: Dort wartet das slowe-nische Militär. Auch Slowenien, Öster-reich und Mazedonien bauen jetztGrenzzäune. Die griechisch- mazedoni -sche Grenze wird polizeilich abgeriegelt,Menschen aus Syrien, Afghanistan unddem Irak dürfen noch durchreisen, ande -re Schutzsuchende nicht.

    Die EU bereitet mit der Türkei einenhistorischen und schmutzigen Dealvor: Für drei Milliarden Euro soll die Tür-kei die Grenzen abriegeln und Flücht -linge aus Griechenland wieder zurück-nehmen. Im Gegenzug will Europa ein-zeln ausgesuchte syrische Flüchtlingeaus der Türkei legal aufnehmen. Am 18. März 2016 kommt es zur Einigung.

    Auf Lesbos wird der größte europäische»Hotspot« Moria eröffnet. HunderteSchutzsuchende warten tagelang beiWind und Wetter auf ihre Registrierung.Es gibt weder ausreichend Unterkünftenoch eine geregelte Essensversorgungoder ausreichende medizinische Hilfe.

    Bundesinnenminister de Maizière willAbschiebungen nach Afghanistan forcieren und plant die Herabstufungdes Schutzstatus für syrische Flücht-linge, um deren Familiennachzugsrecht zu beschneiden.

    Ab Anfang November wird das Gesetzzur Einführung beschleunigter Asyl -verfahren (»Asylpaket II«) verhandelt.Im März 2016 wird es beschlossen. Daszweite Asylpaket stoppt den Familien-nachzug für subsidiär Geschützte undforciert die Abschiebung von Kranken.

    Wegen steigender Einreisezahlen plantdie norwegische Regierung ein Not-standsgesetz, mit dem Flüchtlingenach Russland zurückgeschoben wer-den können. Dänemark verschärft dieAufnahmebedingungen für Flüchtlinge.Schweden führt vorübergehend Grenz-kontrollen ein, betroffene Flüchtlingebleiben in Dänemark und Norddeutsch-land hängen.

    Zum Jahresende sind aus den Hotspotsin Griechenland und Italien statt der an-gestrebten 40.000 bzw. 120.000 Men-schen tatsächlich gerade einmal 272Menschen umgesiedelt worden.

    Über die Seeroute kamen im Jahr 2015rund 1 Million Flüchtlinge in Europa an.Mindestens 3.771 Menschen starbenbei der Überfahrt.

    In Deutschland wurden 1.072 Straf -taten an Flüchtlingsunterkünften ge-zählt, davon 136 Brandanschläge. Bei 183 Übergriffen wurden 267 Flücht-linge verletzt.

    2016

    Im Februar sitzen in Idomeni an der ge-schlossenen griechisch-mazedonischenGrenze Tausende Flüchtlinge wochen-lang im Schlamm fest.

    Am 9. März 2016 ist die Transitroute überden Balkan komplett geschlossen.

    Gemäß EU-Türkei-Abkommen werdenam 4. April die ersten 202 Menschen ausGriechenland mit Polizeigewalt in dieTürkei zurückgebracht. Deutschlandnimmt 32 ausgewählte syrische Flücht-linge aus der Türkei auf.

    Jeden dritten Tag wird in Deutschlandeine Flüchtlingsunterkunft angezün-det.

    Mitte April sterben bei einem Boots -unglück bis zu 500 Menschen auf derHochseeroute von Ägypten nachEuropa.

    Mehr Schlaglichter, alle Quellen und Links unterwww.proasyl.de\schlaglichter2015

    17TAG DES FLÜCHTLINGS 2016

    Die mazedonische Armee errichtet einen Grenz-zaun in der Nähe von Idomeni / Griechenland © UNHCR / Daniel Etter

    Idomeni: Flüchtlinge vor der geschlossenen Grenze. © Chrissi Wilkens

    Im »Hotspot« Moria herrschen katastrophale Bedingungen. © RSPA / Salinia Stroux

    Lesbos, Februar 2016 © Björn Kietzmann

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  • Der 28. Oktober 2015. An diesemTag kommt es in den Gewässernnördlich der Insel Lesbos zumfolgenschwersten Schiffsunglück desJahres auf der griechischen Seite derÄgäis. Es sterben 71 Menschen – darun-ter viele Kinder. 272 Schutzsuchendewerden gerettet. Gemeinsam mit grie-chischen und türkischen Fischern, loka-len Aktivisten und ausländischen Helfe-

    rinnen und Helfern beteiligen sich dieMitarbeitenden des PRO ASYL-Projekts»Refugee Support Program in the Aege-an« (RSPA) an der ersten Notversorgungder Überlebenden. Eine staatlich orga -nisierte Unterstützung bleibt aus. RSPA-Anwältin Natassa Strachini berichtet:

    »Gegen 18 Uhr erfuhren wir von einemgroßen Schiffsunglück in der Nähe von

    18 TAG DES FLÜCHTLINGS 2016

    ABSOLUTE ABWESENHEIT DES STAATESDIE ARBEIT DER HELFER*INNEN IN GRIECHENLAND

    Die Situation in der Ägäis ist ein menschliches Drama – für Flüchtlinge wie Helfende. Mitarbeitende von PRO ASYL ringen in einem verzweifelten Kampf um das Leben und die Gesundheit der in Griechenland gestrandeten Menschen.

    Alex Stathopoulos

    Zum Bild: Zwei Freundinnen aus Hessen, die 2015 zur Flüchtlingshilfe nach Griechenland und auf den Balkan gereist sind, teilen ihre Erlebnisse auf der Facebook-Seite »Impressions of an Odyssey«.

    © Erik Marquard

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  • Molyvos. Man sagte uns, das Meer seivoller Lebender und voller Toter. Über -lebende würden ins Krankenhaus vonMytilini geschickt werden. Etwa andert-halb Stunden später füllte sich die Klinikmit unterkühlten Kleinkindern und Babys, die Atembeschwerden aufzeig-ten. Es herrschte Panik, wie in einemKriegsgebiet. Ärzte und Krankenschwes-tern hatten kaum Mittel, sie zu versor-gen. Sie gaben uns Anweisungen, wiewir die blauen kleinen Körper wärmensollten. Wir mussten ihre Kleider wech-seln, sie in Decken wickeln, ihnen in derMikrowelle gewärmte Tropfe verabrei-chen. Dann rieben wir stundenlang ihreKörper, die Wachsfiguren glichen. (…)Nach zwei Stunden verloren wir ein klei-nes Mädchen. Jemand flüsterte: Guck,der Arzt weint. Wir waren wie erstarrt.Drei Kinder wurden in die Intensivsta -tion gebracht und mussten später nachAthen transportiert werden. Eines vonihnen starb am nächsten Tag dort.«

    Den ganzen Tag und die ganze Nachtstehen Rechtsanwält*innen und Dol-metscher*innen von RSPA den Über -lebenden der Katastrophe und ihren Angehörigen zur Seite. Sie sprechen mitdem Krankenhauspersonal, Helfer*in-nen und Behörden. Sie legen selbstHand an bei der Versorgung der Men-schen, versuchen Familien, die bei derAnkunft getrennt wurden, wieder zu-sammenzuführen, spenden, so gut esgeht, Trost und gehen dabei weit überihre Belastungsgrenzen hinaus.

    Über 350 Tote in drei Monatenseit Jahresbeginn

    Die Katastrophe vom 28. Oktober warbesonders tragisch, aber bei Weitemnicht die einzige Tragödie, die sich 2015ereignet hat. Innerhalb des vergange-nen Jahres sind knapp 860.000 Flücht-linge über die Türkei nach Griechenlandgekommen. Allein auf der Insel Lesbos –dem Haupteinsatzort von RSPA – regis-trierte UNHCR über 500.000 Neuankünf-te. Nach Daten der Internationalen Organisation für Migration (IOM) sind791 Menschen bei der Überfahrt von der Türkei nach Griechenland ertrunkenoder verschwunden. Trotz aller Bemü-hungen der EU, die Türkei dazu zu brin-gen, Schutzsuchende von der Überfahrt

    abzuhalten, setzt sich die Entwicklungauch 2016 fort: Von Januar bis MitteMärz 2016 kamen laut UNHCR bereitsmehr als 140.000 Schutzsuchende –trotz der winterlichen Wetterverhältnis-se – hinzu. Bereits mehr als 350 Tote undVermisste sind seit Beginn des Jahres inder Ägäis zu beklagen.

    Schon im Frühsommer 2015 hatten PRO ASYL und die Mitarbeitenden vonRSPA aufgrund der hohen Zahl neu An-kommender auf den griechischen Inselnvor einer humanitären Krise gewarnt.Seitdem haben die griechische Regie-rung und Europa keine angemesseneAntwort auf die katastrophale Situationgefunden. Stattdessen sind es einheimi-sche Helferinnen und Helfer, Freiwilligeaus der ganzen Welt sowie eine großeAnzahl von Hilfsorganisationen, welchedie Schutzsuchenden so gut es geht versorgen.

    Absolute Abwesenheit des Staates

    Auch der Charakter des PRO ASYL-Pro-jekts RSPA hat sich der anhaltenden Ausnahmesituation angepasst. Vor demhistorischen Anstieg der Flüchtlingszah-len bestand das Projekt vor allem darin,schutzbedürftige Menschen mit Rechts-hilfe zu unterstützen und dabei beson-ders eklatante menschenrechtlicheMissstände aufzudecken, zu dokumen-tieren und zur Anklage zu bringen. Nununterstützen RSPA-Mitarbeitende täg-lich viele besonders schutzbedürftigePer sonen, die im Krankenhaus behan-delt werden oder in den sogenanntenHotspots auf ihre Registrierung warten. Die Zustände in diesen Lagern sind weiterhin untragbar, weswegen RSPA-Mitarbeitende immer wieder besondersschutzbedürftige Menschen von dort in das offene, selbstverwaltete Willkom-menszentrum PIKPA der lokalen Solida-ritätsgruppe »Dorf der Gemeinschaft Aller« bringen.

    »Am meisten erschreckt mich die ab -solute Abwesenheit des Staates«, soRSPA Mitarbeiter Naiem Mohammedi im Oktober 2015, der auch im PIKPA mit-wirkt. »Alle Menschen, die wir hierhergebracht haben, haben wir zufällig ge-troffen: auf der Straße, im Hafen, außer-

    halb der Lager von Moria und Kara Tepe.Manchmal schicken die NGOs oder derUNHCR besonders verletzliche Fälle her,aber es ist alles Zufall. Viele Menschen,die besonderer Hilfe bedürfen, werdennicht identifiziert – ihnen kann nicht geholfen werden. (…) Es macht mich jedes Mal wieder fassungslos, wenn ichSchwangere vor mir habe, Kranke, be-hinderte Menschen oder Babys undsehe, wie sie versuchen, sich durch dieProzeduren auf Lesbos zu quälen unddiese Etappe, die nur eine von vielen aufihrer Flucht ist, zu überleben. Ich seheunsere Aufgabe darin, diesen Menschenzu helfen, und zwar ganzheitlich: durchdas ganze Verfahren auf der Insel undnicht nur ausschnittweise. Darin liegtunsere Stärke, dass wir da weiterma-chen, wo alle anderen aufhören. Manmuss den Menschen auch nach ihrer Registrierung helfen oder nach demKrankenhausbesuch... und dann erlebtman auch manchmal ein Happy End.«

    Humanitäre Katastrophe mit Ansage

    Trotz aller Abschreckungs- und Abschot-tungsversuche der Europäischen Unionsind bis zum 15. März 2016 bereits über83.000 Flüchtlinge auf Lesbos gelandet,über zwei Drittel davon Frauen und Kinder. Durch die Schließung der maze-donischen und bulgarischen Grenzen zu Griechenland sitzen diese Menschenfest. Die Flüchtlinge und die griechischeBevölkerung werden von der Europäi-schen Union im Stich gelassen. Dass daraus unweigerlich weiteres Leid undElend entstehen werden, ist für alle, diedie Situation sehen, unzweifelhaft. Diehumanitäre Katastrophe in Griechen-land ist keine Naturgewalt, sondern dasResultat eines zynischen Kalküls der EU-Staaten. Um Flüchtlinge von Europafernzuhalten, scheint jedes Mittel rechtzu sein, Menschenrechtsverletzungenwerden billigend in Kauf genommen. ■

    19TAG DES FLÜCHTLINGS 2016

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  • 20 TAG DES FLÜCHTLINGS 2016

    »DIE BILDER VON LESBOS HABEN MICH EINFACH NICHTMEHR LOSGELASSEN«EINE FREIWILLIGE HELFERIN IN GRIECHENLAND

    Nirgendwo in Europa ist die Flüchtlings -aufnahme derart an ihre Grenzen gelangt wiein Griechenland. Das Land verfügt nicht überein funktionierendes Asylsystem und ist mitder Versorgung der Flüchtlinge komplett über- fordert. Viele Flüchtlinge in Idomeni, Athenund andernorts haben keinen Zugang zur Basis- Versorgung und müssen unter freiemHimmel schlafen.

    Ohne freiwillige Helfer*innen würde dieGrundversorgung der Menschen vollends zu -sammenbrechen. Tausende Freiwillige habensich 2015 auf den Weg nach Griechenland gemacht, um Flüchtlinge mit dem Notwen-digsten zu ver sor gen. Sie kommen aus aller Welt – Europa, aber auch aus Kanada, den USA, Neuseeland oder Australien, und auchdie lokale griechische Be völkerung setzt sichein. Mobile Küchenteams wie »Grenzenlos Kochen Hannover«, »Soups and Socks« Heidel-berg oder »Aid Delivery Mission« bereitenMahl zeiten für Tausende von Menschen zu.Frei willige Helfer*innen verteilen Kleidung,Essen und Hygienebedarf oder bauen Zelte auf.

    Eine davon ist Lisa Thielsch.Sie war im vergangenenHerbst dreieinhalb Wochenlang auf Lesbos aktiv. Anđelka Križanović hat mitihr gesprochen.

    Anđelka Križanović: Wie hast Du Dich entschieden, nach Lesbos zu fahren?

    Lisa Thielsch: In der Flüchtlingshilfe bin ich schon eine Weileaktiv. Aber die Bilder von Lesbos und die Schlagzeilen habenmich einfach nicht mehr losgelassen. Ich dachte nur: Da musstdu hin! Ich wusste, wenn ich nicht früher oder später dorthingehe, dass ich mir immer sagen würde: »Was wäre, wenn …«und »Ach, wärst du doch gegangen!« Trotzdem war ich mir unsicher, ob ich dort überhaupt von Nutzen bin, ich bin ja weder Ärztin noch Seelsorgerin. Also habe ich eine Mail anPRO ASYL geschrieben und die Antwort erhalten: Ja, es wür-den händeringend Leute gebraucht, zusammen mit Tipps, anwen ich mich wenden kann. Am nächsten Tag war mein Fluggebucht. Zwei Wochen später saß ich im Flugzeug. Ich hattemich darauf eingestellt, die Reisekosten selbst zu tragen. Danngaben mir andere Freiwillige den Tipp mit dem Crowdfunding.Von den positiven Reaktionen, dem Zuspruch und der Groß -zügigkeit der Menschen um mich herum war ich einfach überwältigt! Ich wäre zwar auch ohne diese Hilfe nach Lesbosgereist, aber ich hätte es finanziell sehr viel mehr gespürt. Sokonnte ich nicht nur meine Reisekosten decken, sondern auchvor Ort Dinge kaufen, die im Kleiderzelt benötigt wurden. Oder auch Süßigkeiten für die Kinder.

    Wie hast Du vor Ort Anschluss an die anderen Freiwilligen gefunden?

    Die Helfer organisieren sich hauptsächlich in Facebook-Grup-pen. Ich habe mich der Starfish Foundation in Molyvos an -

    Die Heidelberger Initiative Soup & Socks e.V. verteilt Nahrungsmittel und Kleidung auf der Balkanroute. © Soup & Socks e.V. / Anton Knoblach

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  • 21TAG DES FLÜCHTLINGS 2016

    geschlossen. Mit anderen Freiwilligen habe ich mir ein Zimmergeteilt, wir haben zusammen ein Auto gemietet und wurdenvon erfahrenen Helfern in die Abläufe eingewiesen. Wir arbei-teten meistens in 8-Stunden-Schichten.

    Wie war die Situation an der Küste?

    Wenn ein Boot zu uns kam, war es davor in aller Regel in See-not gewesen. Die griechische Küstenwache fuhr von Molyvosaus aufs Meer und brachte die Flüchtlinge mit dem Boot in den Hafen. Das bedeutete, dass die Menschen, die bei uns an-kamen, oftmals nasse Kleider hatten, entweder weil das Bootmit Wasser vollgelaufen war oder sie sogar ins Wasser gefallenwaren. Zuerst untersuchten die Ärzte, ob jemand ernsthaft verletzt war, dann wurden die Flüchtlinge vorregistriert unddann konnten sie sich bei uns Essen und Kleider holen. Dannhieß es für sie stundenlang warten auf Busse, die sie in das Registrierungscamp Moria bringen.

    Wie ging es den Flüchtlingen nach der Ankunft?

    Viele waren unterkühlt und froren. Ich habe gleich am erstenTag mitgeholfen, einem Kind die nassen Sachen zu wechseln,weil seine Mutter zu schwach dafür war. Manche standen unterSchock, wussten erst einmal nicht, ob sie wirklich in Europawaren. Andere waren froh, die Überfahrt überlebt und es nachEuropa geschafft zu haben. Dabei stehen die Menschen, wennsie in Griechenland ankommen, erst am Anfang. Sie habennoch lange nicht Zuflucht gefunden. Alle haben sich tausend-mal bei uns bedankt. Sie sagten uns, dass sie zum ersten Malwie Menschen behandelt wurden. Einige erzählten, dass im

    Iran auf sie geschossen wurde. Und in der Türkei sei es ihnenschlecht gegangen.

    Wie ging es Dir in diesen dreieinhalb Wochen?

    Ganz am Anfang war ich nervös. Ich dachte, hoffentlich mache ich keine Fehler! Bei der Kleiderausgabe tat es mir rich-tig leid, wenn ich für die Menschen keine Schuhe in der richti-gen Größe hatte. Manchmal hatte ich völlig das Zeitgefühl verloren, weil um mich herum so viel passierte. Ich war abermit einem wirklich tollen Freiwilligenteam unterwegs, dasmich dann aufgefangen hat.

    Welche Momente bleiben Dir besonders in Erinnerung?

    Einmal haben wir Kisten mit Hygieneartikeln und anderennützlichen Dingen verteilt. Es ist wirklich toll, wie viel gespen-det wird und die strahlenden Gesichter, wenn man jemandemSeife oder Creme in die Hand gibt – oder einer allein reisendenFrau mit Baby und Kleinkind eine Babytragetasche – das isteinfach unbezahlbar! Einmal kam ein Mädchen zu mir und sag-te etwas auf Arabisch. Ich bat einen Helfer zu übersetzen under sagte, dass sie gern Stifte zum Malen und ein Malbuch hätte.Da ich wusste, dass wir so etwas im Zelt hatten, holte ich sie ihr.Wie sie daraufhin strahlte, werde ich nie vergessen!

    Habt Ihr als Freiwillige mitbekommen, was politisch in Europa los war?

    Den EU-Deal mit der Türkei haben wir sofort gespürt. Von einem Tag auf den anderen kamen in Molyvos plötzlich keineBoote mehr an. Vom Hörensagen wussten wir, dass die Men-schen auf türkischer Seite festsaßen und nicht rüber konnten,weil die Strände überwacht wurden. Wenn sie dann doch in die Boote stiegen, wurden sie auf See aufgegriffen und zurück-gebracht. Die Boote kamen vermehrt nachts oder in der Früheund sie landeten weiter im Süden, wo es zwar keine Nacht -wache auf den Stränden gab, aber die Strecke zwischen denbeiden Küsten viel länger war. Nach Griechenland zu kommen,wurde für die Menschen viel gefährlicher.

    Was nimmst Du für Dich aus Lesbos mit?

    Ich bin froh, dass ich da war und vor Ort ungeschönt sehenkonnte, was in Griechenland passiert. Ich bin froh, dass ich zumindest für eine kurze Zeit helfen konnte. Einige derFlüchtlinge, die ich auf Lesbos getroffen habe, habe ich hier in Deutschland wiedergesehen. Sie haben es geschafft, es geht ihnen gut. Wir haben immer noch Kontakt. Wenn es Zeitund Geld erlauben, würde ich wieder nach Lesbos fahren.

    Bleibst Du in der Flüchtlingshilfe aktiv?

    Klar, das bin ich schon seit langem. In meinem Heimatort Oftersheim leite ich in einer Notunterkunft die Bildungsarbeitfür Flüchtlinge und gebe dort Deutschkurse. Wenn ich in Oftersheim bin, bin ich jeden Tag in der Unterkunft, manchmalbis zu acht Stunden am Tag. Da fragen die Security-Leuteschon mal: Mädel, willst du nicht auch mal nach Hause? Aberich bin gern dort. Mir machen die Arbeit und der Kontakt zuden Menschen viel Spaß. ■

    Helfer*innen und neu ankommende Flüchtlinge im Februar 2016 am Strand von Lesbos. © Björn Kietzmann

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  • Refugees Welcome« hieß das Mottodes Flüchtlingstags 2015. Es wardas Motto einer Vielzahl von Men-schen, die ab 2014 und noch stärker abSommer 2015 begannen, in Europa undin Deutschland ankommende Flücht -linge zu unterstützen. Diese Bewegungentstand als spontane Reaktion auf einvielerorts feststellbares staatliches Versagen bei der Unterbringung undVersorgung von Flüchtlingen.

    Die Engagierten, darunter zahlreiche»ehemalige« Flüchtlinge, fanden einschwieriges Umfeld vor: unvorbereiteteoder un organisierte Kommunen, fehlen-de professionelle Ansprechpartner*in-nen, einen Mangel an elementaren Sach-und Lebensmitteln. So wurde von Frei-willigen getan, was offen kundig getanwerden musste: Versorgungsketten

    und Lotsendienste wurden aufgebaut,Be ratungen und Begleitungen zu Be -hörden organisiert, private Deutschkur-se aus der Taufe gehoben und Alltags -unterstützung geleistet. Flüchtlingewurden an Bahnhöfen willkommen ge-heißen und mit Lebensmitteln wie Infor-mationen zu Aufenthalt und Weiterreiseversorgt. Manche Gruppen machtensich sogar auf, im Mittelmeer Seenot -rettung zu betreiben oder Flüchtlingeauf der Balkanroute mit Kleidung undEssen zu versorgen. Das Signal war klarund eindeutig: Wir schaffen das. Selbst-los, pragmatisch, zu packend.

    Dieses Bekenntnis zur Flüchtlingshilfe istkein Szeneprojekt. Binnen Wochen ent-wickelte sich eine Vielzahl lokaler Netz-werke und Kooperationen, Projekte undAngebote für Flüchtlinge von Menschen

    aus den unterschiedlichsten Bereichenund Professionen, von engagierten Einzelnen, kleinen und großen Vereinen,sogar aus mittelständischen Unterneh-men heraus bis hin zu Konzernen. DerSommer 2015 hat verdeutlicht, wie breitder gesellschaftliche Konsens für eineoffene und solidarische Flüchtlingspoli-tik in Deutschland sein kann.

    Die praktische Arbeit vor Ort war oftnicht einfach, nicht selten wurden frei-willigen Helfer*innen Steine in den Weggelegt. Mancher Unterkunftsbetreiberverweigerte ihnen den Zugang, andern-orts wurden sie von den Verantwortli-chen instrumen talisiert, etwa um alsStreitschlichter*innen tätig zu werden,Wohnungen zu möblieren oder anderestaatliche Aufgaben zu erfüllen. Schließ-lich ging auch die große emotionale

    22 TAG DES FLÜCHTLINGS 2016

    REFUGEES WELCOME DER SOMMER DER FLÜCHTLINGSHILFE IST NICHT VORBEI

    Andrea Kothen

    © Hanseatic Helpoben: Benjamin Patela

    unten: Niklas Heimbokel

    © Björn Kietzmann

    © Björn Kietzmann

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  • 23TAG DES FLÜCHTLINGS 2016

    Belastung der Geflüchteten – ihre Ge-schichten, ihr Gesundheitszustand undihre Sorgen – an den Helfer*innen nichtspurlos vorüber.

    Viele Ehrenamtliche übernahmen er-hebliche Verantwortung – und forder-ten die staatlichen Instanzen auf, ihrenTeil zu leisten: Die Grundversorgung der Menschen ist staatliche Auf gabe. Ehrenamtliche sind weder Ersatz nochHilfskräfte der Behörden, sie handelnnicht im staatlichen Auftrag und nicht zwingend in der Sphäre des staatlichGewünschten. Sie leisten etwas Drittes,sehr Wertvolles: Sie sorgen dafür, dassFlücht linge Alltag ankommen, An-schluss finden und in unsere Gesell-schaft einbezogen werden.

    Durch das Anwachsen der flüchtlings-feindlichen Stimmung infolge der Ober-grenzendebatte und der Aggressiondurch AfD, Pegida und andere schien die Flüchtlingsbewegung zeitweise dis-kreditiert: Die Medien berichteten zu-nehmend über überforderte Ehrenamt -liche, unglückliche Anwohner*innenund Alarm schlagende Bürgermeis -ter*innen. Wer jedoch darauf wartete,dass mit fortschreitender Zeit die Frei-willigenstrukturen zusammenbrechenwürden, sah sich getäuscht.

    Die »Willkommenskultur« 2015 war keinStrohfeuer. Viele Engagierte sind dabeigeblieben und mittlerweile in längerfris-tigem Freizeit-Engagement gebunden.Nicht alles läuft gut, aber vieles. Das Angebot umfasst zahllose soziale Treff-punkte und Patenschaften, Stadtpläne

    und Welcome-Guides, Sportangebote,Musik- und Theaterprojekte, Bildungs -angebote, die organisierte Einrichtungvon Internetzugängen, kostenfreie Inter-netdeutschkurse, freie Wörterbücherund Handy-Apps, Wohnraum- und Job-vermittlung und vieles mehr.

    Die neuen Gesetze indes erschweren die Integration von Flüchtlingen eher als sie zu fördern. Die Stigmatisierungbestimmter Flüchtlingsgruppen und dieVerschärfung des Abschiebungsregimesempören viele Unterstützer*innen, diedie Lebensgeschichten der Flüchtlingekennen und sich die Grenzen ihres Engagements nicht von den Behördenvorschreiben lassen wollen. Viele Ehren-amtliche sind in Kirchengemeinden aktiv, die in Notfällen auch Kirchenasylgewähren. Früher oder später werdendie Freiwilligen über die Alltagshilfe hinaus mit dramatischen Dingen kon-frontiert werden: einem abgelehntenAsylantrag, krank machenden Zustän-den in der Massenunterkunft, einemverhinderten Familiennachzug. Das verlangt von den Laien hohe emotiona-le Kompetenz, unter Umständen dieAus einandersetzung mit kompliziertenRechtsfragen und nicht selten auchpraktischen und politischen Wider-spruchsgeist.

    Auch wenn Flüchtlingsunterstützer*in-nen für Behörden und Politik oft unbe-quem sind: Sie treten den praktischenBeweis dafür an, dass nicht diejenigenRecht behalten, die behaupten, die Ge sellschaft sei mit der Aufnahme vonFlüchtlingen überfordert. Das breite zivilgesellschaftliche Engagement ist eine große Chance – für eine Demo-kratie, in der nicht Ressentiments undAusgrenzung dominieren, sondern ge lebte Solidarität und ein friedlichesMiteinander. ■

    ■Wer engagierte Flüchtlingsinitiativen in der Nähe sucht, findet unter www.proasyl.de/mitmacheneine Deutschland karte mit freien Initiativen sowie weitereTipps, Material und Hinweise für das Engagement.

    ■ PRO ASYL hat Angebote für Flüchtlinge, die über das Internet zugänglich sind, zusammengestellt: www.proasyl.de/angebote-fuer-fluechtlinge

    rechts: © picture alliance / dpaunten: © Moabit hilft

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  • 24 TAG DES FLÜCHTLINGS 2016

    Mehr und mehr Engagierte verwenden den Be-griff »Ge flüchtete«. Denn das Wort »Flüchtling« istangeklagt. Der Vorwurf lautet: Das Wort habe einebedenkliche Wortstruktur, deren Endung -ling sichin vorwiegend negativ konnotierten Wörtern (Fies-ling, Schreiberling) wiederfinde. Allerdings lassensich auch für die Ausnahme von der vermeintlichenRegel leicht Beispiele finden (Liebling, Schmetter-ling). Auch wird – nicht wirklich zum ersten Argu-ment passend – moniert, die Endung hätte vernied-lichenden Charakter. Wer die Kritik an der Wortstruk-tur verstehen will, muss tiefer in die in dieSprachwissenschaft einsteigen.

    Zugegeben: Das Gendern des »Flücht-lings« fällt schwer,denn eine explizit

    weibliche Form des Begriffs gibt es nicht. Und »Ge-flüchtete*r« hat im Unterschied zum Flüchtling denVorzug, dass die Ableitung vom Partizip Perfekt ein potenzielles Ende der Flucht schon integriert.Niemand will auf Dauer ein Flüchtling sein.

    Doch schauen wir in die sprachliche Praxis: Wirddenn das Wort Flüchtling vor allem in abwertenderWeise gebraucht, von Zuhörenden überwiegendnegativ verstanden? Wer sich umhört, stellt fest,dass dem nicht so ist, auch wenn das Wort seit derZuspitzung der öffentlichen Debatte vermehrt auchin negativen Zusammenhängen zu finden ist.

    Schon in den 1990er Jah-ren haben die Engagiertenin der Flüchtlingsarbeit,Vereine wie PRO ASYL und

    die Flüchtlings(!)räte den Flüchtlingsbegriff be-wusst dem eindeutig abwertenden »Asylanten«gegenübergestellt, um klar zu machen: Die dakommen nicht, weil sie es auf unser schönes Landabgesehen haben, sondern weil sie auf der Fluchtsind vor Horror und Leid – und auf der Suche nachSchutz. Der Begriff der »Schutzsuchenden« hat sichdementsprechend in Fachkreisen als Alternativeetabliert.

    Der Begriff »Asylant« ist heute indiskutabel, der des Flüchtlings hat es dagegen in die Main-streammedien, in die Politik und in die Alltags-gespräche geschafft. Das ist ein Verdienst der alten Flüchtlingsinitiativen und ein Symbol dafür,dass diese Gesellschaft nicht in den 1990ern ste-cken geblieben ist – auch wenn rechte Populist*in-nen heute erneut erfolgreich ihr rhetorisches Giftverspritzen.

    Die jedenfalls ärgert der Siegeszug des »Flücht-lings«. In rechten Kreisen wird generell lieber von»illegalen Einwanderern« gesprochen, oft werdennoch weit negativere Begriffe verwendet. Der»Flüchtling« ist offensichtlich einer, der es einemschwer macht, herabwürdigend über ihn zu reden.

    Außerdem: »Flüchtlinge« erinnern an die Folgender NS-Diktatur und damit an unsere eigene kollek-tive Geschichte von Flucht und Vertreibung. Flücht-linge – das waren Bertolt Brecht, Kurt Tucholsky,Willy Brandt, Else Lasker-Schüler oder Albert Ein-stein. Flüchtlinge waren vor allem unsere Eltern und Großeltern, die nach dem Krieg ihr Eigentumver loren, mit Karren zu Fuß nach Westen zogen undSchauerliches erlebten. Die Erinnerung daran ist in vielen Familien noch heute sehr lebendig. Undnicht wenige Engagierte erklären heute ihr Tunauch mit dem Satz: »Meine (Groß-)Eltern waren damals auch Flüchtlinge.« Die Gemeinsamkeitensolcher Erfahrungen mit denen der Kriegsflüchtlin-ge heute zu sehen, öffnet die Tür für Empathie.

    Im juristischen Sinn ist ein Flüchtling einer, derRechte hat. Durch einen internationalen und euro-päischen Rechtsrahmen, dessen Entwicklung nachdem Zweiten Weltkrieg mit der Genfer Flüchtlings-konvention begann. Dieses Recht gesteht Flüchtlin-gen noch vor Feststellung des »Flüchtlingsstatus«den Anspruch auf eine individuelle Schutzprüfungzu. Inzwischen wird der Begriff der »anerkanntenFlüchtlinge« teilweise abgelöst durch die »Inter -national Schutzberechtigten«. Doch schon allein wegen des Hinweises auf die verbürgten Rechteder »Flüchtlinge« in der Genfer Konvention kann er– zumindest vorerst – nicht aufgegeben werden.

    Wer »Flüchtling« sagt, transportiert auch denhistorischen und rechtlichen Bedeutungshori-zont. »Geflüchtete« zu sagen, ist hipper, der Begriff in Wortsinn und Wortstruktur wohl un-problematisch, aber auch noch ohne historischeBedeutung. Vielleicht steht er ja einmal für all dieMenschen, die sich ab Sommer 2015 in großer Vielzahl nach Europa aufmachten, woraufhin dieStaaten Europas den in sie gesetzten Hoffnungenflugs ein Ende machten. Sind die Geflüchteten derZukunft diejenigen, die vor den Toren Europas darum betteln müssen, bei uns Flüchtlinge werden zu dürfen? Hoffentlich nicht. Denn diese Menschensind – auch – Flüchtlinge. Worum es aktuell gehenmuss, bei aller Aufmerksamkeit für Sprache, ist der gemeinsame Kampf gegen den Ausverkauf der Flüchtlingsrechte. ■

    Sagt man jetzt …RANDNOTIZAndrea Kothen

    … Flüchtlinge

    Geflüchtete

    oder

    ?

    16_04_26_B_TDFL_Layout 1 26.04.16 18:45 Seite 24

  • Skrupellos hat der Gesetz-geber den Familiennachzug für subsidiär Schutzberechtig-te für zwei Jahre ausgesetzt.Auch auf andere Weise bremstDeutschland den Familien-nachzug insbesondere für syrische Flüchtlinge aus – auf dem kalten Weg der Büro-kratie.

    Kai Weber

    Im Zuge des Asylpakets II wurde An-fang 2016 die Aussetzung des Famili-ennachzugs für subsidiär Schutzbe-rechtigte für die Dauer von zwei Jahrenbeschlossen – bis zum 17. März 2018.Für sie wird die Familientrennung nachmonatelanger Flucht und nicht minderlang gezogenem Asylverfahren damitweiter erheblich hinausgeschoben. Be-troffen sind auch unbegleitete Minder-jährige. Sollten sie während der zweijäh-rigen Wartezeit volljährig werden, wirdein legaler Nachzug der Eltern – trotz eines von der SPD aufgeklebten Härte-fall-Pflasters – wohl ganz verhindert.

    Erst hieß es beschwichtigend, der Anteilder betroffenen Flüchtlinge sei klein:2015 wurden nur 0,7 % der Asylantrag-steller*innen als subsidiär Schutzbe-rechtigte (§4 AsylG) eingestuft. Fast alleFlüchtlinge aus Syrien erhielten bis März2016 einen Flüchtlingsstatus gemäß §3 AsylG nach der GFK.

    Im November war ein Vorstoß von Bun-desinnenminister de Maizière, der allenSyrien-Flüchtlingen nur noch subsidiä-ren Schutz zubilligen und auch diesendamit den Familiennachzug für zweiJahre verbieten wollte, am Widerstandder SPD noch gescheitert. Im März 2016hat das dem BMI unterstellte Asylbun-desamt (BAMF) nun aber seine Entschei-dungspraxis geändert: Flüchtlingen ausSyrien wird nach neuer Weisungslagenicht mehr regelmäßig ein GFK-Statuszuerkannt. Zu befürchten ist, dass im-mer mehr syrische Flüchtlinge nur nochals »subsidiär Schutzberechtigte« ein -gestuft und auf diese Weise vom Famili-ennachzug ausgeschlossen werden.

    Allein die Nachricht über die bevorste-hende Gesetzesänderung bewirkte beiden potenziell Betroffenen eine Panik -reaktion: Zu Jahresbeginn stieg der An-

    teil der Frauen und Kinder, die sich aufeinen abenteuerlichen Fluchtweg überdie Ägäis begeben, drastisch an – darun-ter auch solche, die einen gesetzlichenAnspruch auf einen legalen Zuzug ge-habt hätten. Wie viele von ihnen dabeiums Leben kamen, ist nicht bekannt.

    Auch der legale Familiennach-zug wird ausgehebelt

    Der Schutz der Familie hat im interna -tionalen – und eigentlich auch im deut-schen – Recht einen hohen Stellenwert.Im Unterschied zu subsidiär Geschütz-ten ist für anerkannte GFK-Flüchtlingeder Nachzug des Ehegatten und derminderjährigen Kinder unbestrittenesRecht. Die Praxis indes sieht anders aus.Flüchtlinge, die sich um einen legalenFamiliennachzug bemühen, werden auf die Wartebank geschoben, mit res-triktiven Auflagen konfrontiert, mit unerfüllbaren Anforderungen gequält,im Stich gelassen. Ein Blick auf die Zah-len verdeutlicht das Resultat: ZwischenAnfang 2011 und 2016 wurde knapp230.000 Personen aus Syrien in Deutsch-land Schutz gewährt. Dagegen wurdenim Zeitraum Anfang 2014 bis Oktober2015 nur 18.400 Visa für syrische Staats-

    25TAG DES FLÜCHTLINGS 2016

    FAMILIEN ZUSAMMEN-FÜHRUNG? DARAUF KÖNNEN SIE LANGE WARTEN.

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  • angehörige zum Familiennachzug zuSchutzberechtigten erteilt.

    Die bürokratische Warteschleife

    Anträge auf Familiennachzug müssenvon den nachzugswilligen Angehörigenbei den deutschen Auslandsvertretun-gen persönlich gestellt werden. Nur: In den Botschaften im Libanon, in Jorda-nien und der Türkei beträgt die Warte-zeit auf einen Vorsprachetermin derzeitrund 14 Monate, Tendenz steigend.

    Im Irak befindliche Flüchtlinge, insbe-sondere vom IS bedrohte Minderheiten-angehörige, konnten bis April 2016 vorOrt gar keinen Antrag stellen. Obwohl es im kurdischen Teil Iraks anders als inSyrien ein funktionstüchtiges Konsulatgibt, wurden in Erbil nur Geschäftsvisabearbeitet, während Familienangehöri-ge an die Botschaft in der Türkei ver -wiesen wurden. Damit schickte man die Betroffenen auf eine teure und gefähr -liche Reise – und in die nächste Sack -gasse.

    Tausende von Flüchtlingen wurden ander syrisch-türkischen Grenze gestopptund unter Bezugnahme auf die seit Anfang 2016 geltende Visumspflicht für Syrer*innen in der Türkei nicht ins Landgelassen. Erst auf massiven Druck vonPRO ASYL hat sich das Auswärtige Amtim April 2016 endlich bereit erklärt, ab Mai 2016 auch Anträge auf Familien-nachzug in Erbil zu bearbeiten.

    In Jordanien sieht es kaum besser aus:Regelmäßig sind im Buchungsportal alleTermine ausgebucht. Selbst bei Härte -fällen wird die vorzeitige Terminvergabeverweigert. Und auch hier wird die Ein-reise von Syrer*innen inzwischen in etlichen Fällen verweigert. TausendeMenschen verharren in der Wüste vorder Grenze.

    Selbst wenn ein Termin zustandekommt, ist