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Eberhard Kalb Revolutionsbilder: 1918/19 im zeitgenössischen Bewußtsein und in der historischen Forschung Kleine Schriften Stiftung Reichspräsident-Friedrich-Ebert-Gedenkstätte Heidelberg 1993

1918/19 im zeitgenössischen Bewußtsein und in der ... · Mal der Ausbruch der Revolu ... Erfahrung der französischen Nation; ... Verlauf und Ausgang der Revolution 1918/19 orientieren

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Eberhard Kalb

Revolutionsbilder: 1918/19

im zeitgenössischen Bewußtsein und in der historischen Forschung

Kleine Schriften Stiftung Reichspräsident-Friedrich-Ebert-Gedenkstätte

Heidelberg 1993

Kolb, Eberhard geb. 1933; seit 1979 Professor für Neuere Geschichte an der Universität zu Köln (vorher, 1970 - 1979, an der Universität zu Würzburg); Veröffentlichun­gen zur deutschen und europäischen Geschichte im 19. und 20. Jahrhun­dert, zuletzt: Die Weimarer Republik, München 3 1993; Umbrüche deutscher Geschichte. 1866 I 71 - 1918 I 19 - 1929 I 33, München 1993.

Bei dem vorliegenden Beitrag handelt es sich um die erweiterte Fassung eines Vortrages, den der Autor anläßlich der Eröffnung der Ausstellung „Die Deutsche Revolution 1918 I 19" am 9.11 .1993 an der \Jniversität Heidel­berg gehalten hat.

Bildnachweis: Deutsches Historisches Museum, Berlin Archiv der sozialen Demokratie, Bonn Landesbildstelle, Berlin

Kolb, Eberhard:

Stiftung Archiv der Parteien und Massenorganisationen der DDR im Bundesarchiv, Berlin Archiv der Reichspräsident-Friedrich-Ebert-Gedenk­stätte, Heidelberg Dirk Nishen Verlag, Berlin Wilhelm Stöckle, Filderstadt

Revolutionsbilder: 1918 I 19 im zeitgenössischen Bewußtsein und in der historischen Forschung

(Kleine Schriften I Stiftung Reichspräsident-Friedrich-Ebert-Gedenkstätte: Nr. 15)

© 1993 Stiftung Reichspräsident-Friedrich-Ebert-Gedenkstätte Untere Straße 27 • D-69117 Heidelberg v (O 62 21) 9 10 70

Redaktion: Realisation :

Ulrich Graf, Michael Epkenhans TLD • Manfred H. G. Furchner

ISSN 0940-4201 ISBN 3-928880-14-4

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Vorwort

Im November 1993 jährt sich zum 75. Mal der Ausbruch der Revolu­tion in Deutschland. In dieser Umbruchphase vom Kaiserreich zur Weimarer Republik hat Friedrich Ebert als Parteiführer, Reichskanzler, Volksbeauftragter und Reichspräsident an herausragender Stelle poli­tische Verantwortung getragen. Aus diesem Anlaß zeigt die Stiftung Reichspräsident-Friedrich-Ebert-Gedenkstätte die Ausstellung "Die Deutsche Revolution 1918/19". Die Revolution zählt nach wie vor zu den umstrittensten Abschnitten deutscher Geschichte. Diese Ausstel­lung ist ein Versuch, die Vorgeschichte und den Verlauf der Revolution schlaglichtartig, auch in ihren Widersprüchen, darzustellen.

Der hier wiedergegebene Beitrag von Prof. Dr. Eberhard Kolb (Köln) führt in die Thematik der Ausstellung ein und kann als bebi lderte Be­gleitschrift betrachtet werden.

Den Leihgebern, ohne deren freundliche Überlassung von Originalen und anderen Ausstellungsmaterialien dieses Projekt nicht hätte reali­siert werden können, sei an dieser Stelle herzlich gedankt: dem Archiv der sozialen Demokratie der Friedrich-Ebert-Stiftung (Bonn), dem Bundesarchiv (Koblenz), dem Deutschen Historischen Museum (Berlin), der Deutschen Numismatischen Gesellschaft (Speyer), dem Landesmuseum für Technik und Arbeit (Mannheim), Herrn Oliver von Mengersen (Heidelberg) , dem Stadtarchiv Kiel, dem Stadttheater Hei­delberg, der Stiftung Archiv der Parteien und Massenorganisationen der DDR im Bundesarchiv (Berlin), der Stiftung Bundeskanzler­Adenauer-Haus (Rhöndorf) und Herrn Wilhelm Stöckle (Filderstadt).

Der Dank gilt auch dem Deutschen Nationaltheater in Weimar, in des­sen Räumen die Ausstellung 1994 präsentiert werden kann. In den Dank einbeziehen möchte ich aber auch den Vorstand der Stiftung und meine Mitarbeiter Bernd Braun und Dr. Michael Epkenhans, die maßgeblich an der Vorbereitung und Realisierung des Projekts mitge­wirkt haben.

Heidelberg, November 1993 Ulrich Graf

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Eberhard Kolb

Revolutionsbilder: 1918/19 im zeitgenössischen Bewußtsein und in der

historischen Forschung

Am 10. November 1918, als sich in Berlin die Revolutionsregierung konstituierte, der vom Sozialdemokraten Friedrich Ebert geführte "Rat der Volksbeauftragten", las man im Leitartikel des angesehenen "Berliner Tageblatts" folgende Sätze: "Die größte aller Revolutionen hat wie ein plötzlich losbrechender Sturmwind das kaiserliche Regime mit allem, was oben und unten dazu gehörte, gestürzt. Man kann sie die größte aller Revolutionen nennen, weil niemals eine so fest ge­baute, mit so soliden Mauern umgebene Bastille so in einem Anlauf genommen worden ist". Und der Verfasser des Artikels fährt dann fort: "Es gab noch vor einer Woche einen militärischen und zivilen Verwal­tungsapparat, der so verzweigt, so ineinander verfädelt, so tief einge­wurzelt war, daß er über den Wechsel der Zeiten hinaus seine Herr­schaft gesichert zu haben schien. Durch die Straßen von Berlin jagten die grauen Autos der Offiziere, auf den Plätzen standen wie Säulen der Macht die Schutzleute, eine riesige Militärorganisation schien alles zu umfassen, in den Ämtern und Ministerien thronte eine scheinbar unbesiegbare Bürokratie. Gestern früh war, in Berlin wenigstens, das alles noch da. Gestern nachmittag existierte nichts mehr davon" 1.

Der dies schrieb, war einer der damals angesehensten deutschen Pu­blizisten: Theodor Wolff, bürgerlicher Demokrat, ein erfahrener und urteilssicherer Beobachter der politischen Szene. Hatte er recht, wenn er die Ereignisse vom 9. November als die "größte aller Revolutionen" bezeichnete? Verdienen die Novemberereignisse im Deutschland des

"Berliner Tageblatt" vom 10.11 .1918 (Morgenausgabe); als Faksimile abge­druckt in : Panorama 1918. Ein Jahr im Spiegel der Presse, hrsg. von A. Gräfin Wallwitz, eingel. von Karl Dietrich Bracher, München 1968, S. 120f.

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Jahres 1918 wirklich den Namen einer Revolution, die dann sogar als eine erfolgreiche Revolution einzustufen wäre, weil an die Stelle des Kaiserreichs eine Republik trat, an die Stelle der Monarchie eine par­lamentarische Demokratie? Oder handelte es sich vielmehr um eine gescheiterte Revolution, weil die weitergesteckten politischen und so­zialen Zielvorstellungen der revolutionären Massenbewegung nicht verwirklicht wurden? Wie stand es überhaupt um Zielsetzungen und Kräftepotential der Umsturzbewegung? Sah sich Deutschland im Winter 1918/19 mit einer drohenden Machtergreifung linksradikaler Gruppen konfrontiert, war Deutschland damals in Gefahr, vom Bol­schewismus verschlungen zu werden? Oder bestand im Gegenteil in diesen Monaten die Chance, in Deutschland den Obrigkeitsstaat ab­zubauen und eine stabile Demokratie zu begründen - eine Chance, die vertan wurde, nicht zuletzt durch Konzeptionslosigkeit, mangelnde Energie und mangelnden Weitblick der neuen Machthaber, der sozialdemokratischen Volksbeauftragten?

Schwieriger, als diese Fragen zu stellen, ist es, Antworten zu finden, Antworten zumal, die auf breite Zustimmung rechnen können. Das darf nicht überraschen. Denn jede moderne Revolution - die erfolgreiche, die teilweise erfolgreiche und selbst die schließlich scheiternde - zer­stört Altes und schafft Neues, bewirkt einen Kontinuitätsbruch oder gefährdet zumindest nachhaltig die Kontinuität, kennt Gewinner und

• Verlierer - und welche sozialen Gruppen sich am Ende auf der einen oder anderen Seite finden, ist oft nicht von vornherein ausgemacht. Alle diejenigen, seien es bestimmte soziale Gruppen oder einzelne Personen, die der alten, in ihrem Bestand bedrohten oder gestürzten politischen und gesellschaftlichen Ordnung anhängen, die von einem revolutionären Umbruch Nachteile befürchten müssen oder tatsächli­che Nachteile erleiden, haben wenig Anlaß, die Revolution zu begrü­ßen oder - wenn sie denn siegreich war - sie als ein positiv zu be­wertendes Geschehen zu betrachten. Insbesondere solange die Frontstellungen einer Revolutionszeit mit den zeitgeschichtlichen Er­fahrungen und den politischen Überzeugungen der jeweiligen Gegen­wart aufs engste verknüpft sind, kann das Bild einer Revolution daher niemals unkontrovers sein. Es muß viel Zeit vergehen, bis der Stel-

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lenwert einer Revolution im Selbstverständnis und in der kollektiven Erinnerung einer Nation einigermaßen klar fixiert ist.

Nicht nur die Deutschen tun sich schwer mit ihren Revolutionen. Den Franzosen ging und geht es nicht anders. Ein Jahrhundert lang und länger bildete die Revolution von 1789 eben nicht die große einende Erfahrung der französischen Nation; sie war vielmehr ein Ereignis, bei dessen Bewertung sich die Nation in zwei Lager spaltete; und bis heute gilt dies für die Pariser Commune-Revolution des Jahres 1871. In Deutschland gingen viele Jahrzehnte ins Land, ehe sich bei der Einschätzung der 48er Revolution ein weitgehender Grundkonsens herausbildete; eigentlich erst seit dem Ende des "Dritten Reiches" ist sie - bei aller Divergenz in Einzelfragen - grundsätzlich akzeptiert als ein Stück verpflichtenden demokratischen Erbes, zu dem man sich quer durch die politischen Lager bekennt.

Eine so eindeutige Aussage läßt sich hinsichtlich der Novemberrevo­lution von 1918 nicht treffen - zumindest gegenwärtig noch nicht. Diese Problematik soll hier thematisiert werden. Unter Verzicht auf eine ausführliche Rekapitulierung des Ereignisablaufs2 konzentriere ich mich auf zwei Fragen: Wie schlug sich das Revolutionsgeschehen im Erleben und in der Erinnerung der Zeitgenossen nieder? Wie ent­wickelte sich die wissenschaftliche Beschäftigung mit dieser Revolu­tion und welches Revolutionsbild entwirft die neuere Forschung?

2 Die Zahl der Arbeiten zur deutschen Revolution 1918/19 ist Legion. Die bis 1976 erschienenen wichtigeren Titel sind verzeichnet bei Georg P. Meyer, Bibliographie zur deutschen Revolution 1918/19, Göttingen 1977; vgl. auch Eberhard Kolb, Die Arbeiterräte in der deytschen Innenpolitik 1918-1919, Frankfurt/Berlin/Wien 21978, S. 430ff. Uber Entstehungsbedingungen, Verlauf und Ausgang der Revolution 1918/19 orientieren zuverlässig (und mit ausführlichen bibliographischen Angaben) die neueren Ge­samtdarstellungen von Ulrich Kluge, Die deutsche Revolution 1918/19. Staat, Politik und Gesellschaft zwischen Weltkrieg und Kapp-Putsch, Frankfurt 1985, und Heinrich August Winkler, Von der Revolution zur Stabi­lisierung. Arbeiter und Arbeiterbewegung in der Weimarer Republik 1918-1924, Berlin/Bonn 1984 21985; jetzt auch - knapper, aber sehr prägnant -ders., Weimar 1918-1933, München 1993, Kap. 2-6. Zu Forschungsent­wicklung und Forschungsstand siehe auch Eberhard Kolb, Die Weimarer Republik, München 31993, S. 157-168.

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Von der "größten aller Revolutionen" sprach Theodor Wolff im No­vember 1918. Ein Jahr später wäre es - zumal im bürgerlichen Lager -ganz unmöglich gewesen, in dieser Weise die Novemberereignisse zu charakterisieren. Die Stellungnahmen reichten jetzt von Bekundungen der Verlegenheit bei Einordnung und Bewertung des Revolutionsge­schehens bis zu haßerfüllten Tiraden über die Revolutionsbewegung und die politischen Akteure der Revolutionsmonate. Oswald Spengler hat sicherlich vielen der politisch Rechtsstehenden aus dem Herzen gesprochen, wenn er - in seinem vielgelesenen, Ende 1919 veröffent­lichten Traktat "Preußentum und Sozialismus" - erklärte, in den Revo­lutionsmonaten sei "das Pack mit dem Literatengeschmeiß an der Spitze" in Aktion getreten; "wo man Helden erwartete, fand man be­freite Sträflinge, Literaten, Deserteure, die brüllend und stehlend, von ihrer Wichtigkeit und dem Mangel an Gefahr trunken, umherzogen, absetzten, regierten, prügelten, dichteten. Man sagt, diese Gestalten beschmutzten jede Revolution. Gewiß. Nur daß in anderen das ge­samte Volk mit solcher Urgewalt hervorbrach, daß die Hefe ver­schwand. Hier handelte sie allein"3.

Ein Jahr nach dem "deutschen November" zeichnete sich bereits deutlich ab, was für die Revolutionsdeutung in der Folgezeit konstitutiv werden sollte: Mit der Revolution von 1918/19, so wie sie verlief und endete, vermochte sich keines der großen politischen Lager voll zu

• identifizieren. In keiner politischen Tradition erlangte die Novemberre­volution einen eindeutig positiven Stellenwert, sie konnte daher nicht zum Kristall isationskern eines lebendigen Staatsbewußtseins werden. Um es mit einer prägnanten Formulierung von Reinhard Rürup zu sa­gen: "Die demokratische Republik gründete ihr Selbstverständnis nicht auf die Revolution, sondern allenfalls auf deren Überwindung. [ ... ] Nicht die Revolution, sondern die der Revolution abgerungene Konti­nuität war die Basis der Weimarer Demokratie"4. Hinzu kam ein wei­teres: Infolge eines schon früh, bereits im Jahr 1919, einsetzenden Verdrängungs- und Verformungsprozesses erfuhren die realen

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Oswald Spengler, Politische Schriften, München 1933, S. 9f.

Reir:ihard Rürup, Probleme der Revolution in Deutschland 1918/19, Wies­baden 1968, S. 4f.

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Ereignisabläufe und Kausalzusammenhänge des Revolutionsgesche­hens eine Umdeutung unter Gesichtspunkten politischer Opportunität und Apologetik, so daß sich einem Großteil der Zeitgenossen die Revolutionstage schon sehr bald in einem stark verzerrten Erinnerungsbild präsentierten.

Zwei Momente haben bei diesem - teils unbewußt erfolgenden, teils sehr bewußt betriebenen - Prozeß zweifellos eine wichtige Rolle ge­spielt. Das war zum einen die Bekanntgabe der Friedensbedingungen im Mai und die Unterzeichnung des Friedensvertrags im Juni 1919. Weil der Friedensvertrag in Deutschland - quer durch die politischen Lager - als extrem hart und grausam ungerecht empfunden wurde, rückte die Frage der Schuld an der Niederlage und der deutschen Ka­pitulation verstärkt ins Zentrum der politischen Auseinandersetzungen. Der zeitliche Abstand zwischen den Oktober-/Novemberereignissen und dem Abschluß des Friedens erleichterte es den Apologeten des kaiserlichen Deutschlands, den wirklichen Zusammenhang von Ursa­chen und Folgen systematisch zu verdunkeln: Die mit großem agitato­rischen Aufwand propagierte "Dolchstoß"-Legende suggerierte, die deutsche Niederlage sei letztlich durch die Revolution herbeigeführt worden, mithin seien auch die Bedingungen des Friedens und die ganze wirtschaftliche und soziale Gegenwartsmisere von den neuen Machthabern verschuldet - während es sich dabei in Wahrheit doch um die unvermeidlichen Folgen der Kriegsniederlage handelte, die von den Führungseliten des Kaiserreichs zu verantworten war. Die "Dolchstoß"-Legende, mit der die Revolution zur eigentlichen Verursa­cherin der "deutschen Not" gestempelt wurde, fand in weiten Bevölke­rungskreisen zustimmende Resonanz, bei all jenen, die die Tatsache der militärischen Niederlage Deutschlands nicht wahrhaben wollten5.

5 Zur Dolchstoß-Legende vgl. die älteren Arbeiten: Friedrich Frhr. Hiller v. Gaertringen, "Dolchstoß"-Diskussion und "Dolchstoßlegende" im Wandel von vier Jahrzehnten, in: Waldemar Besson (Hrsg.), Geschichte und Ge­genwartsbewußtsein. Festschrift für Hans Rothfels zum 70. Geburtstag, Göttingen 1963, S. 122-160; Joachim Petzold, Die Dolchstoßlegende. Eine Geschichtsfälschung im Dienst des deutschen Imperialismus und Militaris­mus, Berlin (Ost) 1963. Wie neuere Untersuchungen ergeben, war die Dolchstoßlegende zwar nicht dem Buchstaben, aber dem Geist nach früher in den deutschen Rechtskreisen verbreitet, als gemeinhin angenommen, nämlich bereits im Oktober 1918; bemerkenswert ist auch , daß dem Zen­trum nahestehende Blätter schon im November 1918 die Dolchstoßlegende

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Im November 1919 erhielt die "Dolchstoß"-Legende ihre sozusagen "höheren Weihen" dadurch, daß Hindenburg sich diese Deutung des Kriegsendes in seiner Aussage vor dem Untersuchungsausschuß der Deutschen Nationalversammlung zu eigen machte6. Ein sensibler Be­obachter der politischen Szene, der Berliner Philosophieprofessor und Theologe Ernst Troeltsch, registrierte im Dezember 1919: "Die große historische Legende, auf der die ganze Reaktion beruht, daß eine siegreiche Armee meuchlings und rücklings von den vaterlandslosen Gesellen der Heimat erdolcht sei, ist damit zum Dogma und zur Fahne der Unzufriedenen geworden"?.

Ein weiterer Umstand war, wie mir scheint, für den Umdeutungsprozeß von erheblicher Bedeutung. Die Revolution von 1918/19 durchlief mehrere PhasenB. Die Radikalisierung der Revolutionsbewegung, in deren Verlauf es zu großen Streikaktionen, zu Machtergreifungsversu­chen der radikalen Linken in einigen Teilen Deutschlands, zu bewaff­neten Kämpfen und blutigen Auseinandersetzungen kam, setzte erst nach der Jahreswende 1918/19 ein und kulminierte im Frühjahr 1919. Die Eindrücke, die diese zweite Phase der Revolution hinterließ, wur­den offenbar vielfach zurückprojiziert auf die wesentlich ruhiger ver­laufenen November- und Dezemberwochen, deformierten und überla­gerten also die Erinnerung an die erste Phase der Revolution. Dies

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artikulierten: Die rechtskatholische "Kölner Volkszeitung" schrieb am 16.11.1918: "Es ist, als ob es [das Deutsche Reich] hinterrücks aus den ei­genen Reihen einen tödlichen Dolchstoß erhalten hätte und nun als starrer Leichnam an der Heerstraße läge" - siehe Detlef Lehnert, Propaganda des Bürgerkrieges?, in: Detlef Lehnert/Klaus Megerle (Hrsg.}, Politische Teil­kulturen zwischen Integration und Polarisierung, Opladen 1990, S. 61-101, Zitat S. 66, ebd. S. 63ff. weitere Zitate. Dessenungeachtet wird man fest­stellen dürfen, daß erst ab Frühjahr/Frühsommer 1919 die Dolchstoßle­gende ihre volle Wirkung entfaltete und zum massenwirksamen Agitations­thema avancierte.

Schultheß' Europäischer Geschichtskalender 1919/1, S. 481ff.

Ernst Troeltsch, Spektator-Briefe, Tübingen 1924, S. 92.

Vgl. Gerald D. Feldman/Eberhard Kolb/Reinhard Rürup, Die Massenbewe­gungen der Arbeiterschaft in Deutschland am Ende des Ersten Weltkrieges (1917-1920), in: Politische Vierteljahresschrift 13 (1972), S. 84-105. Die dort entwickelte Akzentuierung der Phasen des Revolutionsverlaufs ist inzwi­schen allgemein akzeptiert.

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machten sich die Gegner der staatlichen Neuordnung zunutze. In ihrer hemmungslosen Agitation gegen den Staat von Weimar brandmarkten sie das revolutionäre Geschehen als eine einzige wüste Revolutions­orgie, chaotisch von Anfang bis Ende, das Werk einer Handvoll ver­kommener Desperados an der Spitze zügelloser amorpher Massen. Bei nicht wenigen Zeitgenossen fand eine derartige Sicht der Dinge durchaus Anklang.

Nach Abschluß der Republikgründung dürften diejenigen in der Min­derheit gewesen sein, die die Gesamtbilanz der Revolutionsmonate alles in allem positiv bewerteten, auch dann, wenn sie gegenüber ein­zelnen Erscheinungen, Entscheidungen und Ergebnissen kritische Vorbehalte anzumelden hatten.

Die zeitgenössischen Revolutionsbilder der verschiedenen politischen Lager können zwar derzeit noch nicht in allen Facetten nachgezeich­net werden, weil sie bisher nie genauer untersucht wurden; aber über die Grundtatbestände lassen sich klare Aussagen treffen9.

überblickt man die Äußerungen und Reflexionen, dann kommt man zu dem Schluß, daß im Lager der verfassungstreuen Kräfte der revolutio­näre Ursprung der Weimarer Demokratie in der konkreten Gestalt der Novemberrevolution viel eher Unbehagen bereitete, als daß er freudig und stolz bejaht wurde. Diese Feststellung gilt ohne Einschränkungen für die Liberalen und für den politischen Katholizismus 10, sie gilt in ho­hem Maße aber auch für die Sozialdemokraten, die eigentliche Staatspartei der Weimarer Republik.

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Da eine breitangelegte systematische Untersuchung über die "Revolutionsbilder" in der Weimarer Zeit bisher fehlt, ist hilfreich ein Sam­melband, in dem mehrere Autoren das Selbstverständnis der pqlitischen Teilkulturen in Weimar-Deutschland anhand der publizistischen Außerun­gen anläßlich der nationalen Gedenktage (Reichsgründungstag, Verfas­sungstag, Revolutionstag) analysieren: Detlef Lehnert/Klaus Megerle (Hrsg.), Politische Identität und nationale Gedenktage. Zur politischen Kultur in der Weimarer Republik, Opladen 1989.

Siehe dazu die Beiträge von Elfi Bendikat und Georg Kotowski in dem von Detlef Lehnert und Klaus Megerle herausgegebenen Sammelband [wie Anm. 9]; zum politischen Katholizismus vgl. auch den in Anm. 5 angeführten Beitrag von Detlef Lehnert.

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Gewiß: Die Sozialdemokraten reklamierten die Ausrufung der Republik als einen Ehrentag der deutschen Sozialdemokratie, und sie bemüh­ten sich, das Feld nicht kampflos der Dolchstoß-Demagogie zu über­lassen, indem sie z. B. alljährlich am 9. November eine beträchtliche Versammlungsaktivität entfalteten. Aber in ihrer Bewertung der Revo­lution von 1918 kamen sie nicht aus der argumentativen Defensive heraus. Denn es ließ sich nicht wegdisputieren, daß für viele Sozialdemokraten Verlauf und Ausgang der Revolution eine herbe Enttäuschung bedeuteten: Die gesellschaftlichen Machtverhältnisse hatten sich in der Republik längst nicht so stark zugunsten der Arbei­terschaft verschoben, wie nach dem 9. November 1918 erwartet wurde; die alten Führungseliten behaupteten sich weiterhin in den Schlüsselpositionen von Wirtschaft und Wehrmacht, Verwaltung und Justiz. Den halben Sieg zu einem ganzen zu machen, die politische durch die soziale Revolution zu vollenden, lautete daher in den An­fangsjahren der Republik die Parole - aber ein schlüssiges Konzept für die Realisierung dieses Programms gab es nicht und konnte es bei der seit 1919 bestehenden Kräftekonstellation auch kaum geben. Die An­tinomie zwischen aktiver Republikverteidigung und dem Einge­ständnis, daß das 1918/19 Erreichte in sozialdemokratischer Sicht un­zulänglich war, blieb unaufgelöst. Das Revolutionsbild der Weimarer Sozialdemokratie ist also bestenfalls als zwiespältig zu bezeichnen 11.

Kein zwiespältiges, sondern ein eindeutiges, und zwar ein eindeutig negatives Bild der Revolution von 1918 war hingegen bei der äußer­sten Linken und bei der politischen Rechten anzutreffen - mit aller­dings völlig unterschiedlichen Konturen. Die deutschen Kommunisten bewerteten die Revolution von 1918 in der Rückschau als einen "schwarzen Tag" der Niederlage und des Verrats. Enttäuschung und Verbitterung über die Halbheiten der Revolution, über den "Verrat" der Sozialdemokratie, über die angeblich verpaßte Chance zu einer sieg­reichen proletarischen Revolution überwogen bei weitem die Wert­schätzung der relativen Fortschritte gegenüber dem Kaiserreich. Der kläglichen deutschen Revolution wurde die glorreiche russische Ok-

11 Vgl. dazu den Beitrag von Detlef Lehnert in dem in Anm. 9 angeführten Sa1Timelband.

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toberrevolution gegenübergestelJt als das große, uneingeschränkt po­sitive, geradezu verklärte Urereignis, das für die KPD historische und politische Legitimation und damit Identität stiftete. Je weiter man sich vom November 1918 entfernte, desto mehr nahmen die politisch-pu­blizistischen Stellungnahmen zum 9. November an Schärfe noch zu, insbesondere der Verratsvorwurf gegen die SPD wurde für den aktu­ell-politischen Konfrontationskurs instrumentalisiert 12.

Mit gleicher, womöglich noch größerer Radikalität, aber ganz anderer Motivation und Stoßrichtung artikulierte die politische Rechte aller Schattierungen ihre Revolutionskritik. "Dolchstoß" und "November­verbrechen" waren die Eckpfeiler ihrer Deutung von Kriegsende und Revolution. Und die vehemente Aburteilung der Novemberereignisse und dessen, was in den anschließenden Monaten folgte, war zugleich immer auch massiver Angriff auf den verhaßten Weimarer Staat der parlamentarischen Demokratie, dessen Legitimitätsbasis in Frage ge­stellt wurde, indem man seinen Geburtsakt als Verbrechen diffamierte. Bei der Stigmatisierung der Revolution als eines Verbrechens handelte es sich keineswegs um bloße Metaphorik; eine Kriminalisierung der gesamten Revolutionsbewegung ist das durchgängige Kennzeichen der Stellungnahmen des rechten Lagers zum Gründungsgeschehen der Weimarer Republik.

Mit der Zusammenstellung entsprechender Zitate ließen sich ganze Bände füllen; einige Kostproben müssen genügen. Im November 1924 schrieb die "Deutsche Tageszeitung", Sprachrohr vor allem des agra­rischen Flügels der DNVP, mit dem 9. November "muß sich das deut­sche Volk auseinandersetzen, denn er hat ihm in jeglicher Beziehung sein gesundes Blut vergiftet. Diese Auseinandersetzung ist gar keine Frage der Staatsform, sondern sie ist eine Frage der Kriminalität. Es gibt keine Staatsform, die Verbrecher schützt. Sie werden zur Verantwortung gezogen, wenn ihre Zeit da ist, in der Republik oder in der Monarchie". Es habe sich, so heißt es diesem Blatt ein anderes Mal, gar nicht um eine Revolution gehandelt, um eine "aus den Tiefen

12 Siehe dazu den Beitrag von Manfred Gailus in dem in Anm. 9 angeführten Sammelband.

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des Volkes kommende soziale Bewegung und Umwälzung [ ... ], son­dern um eine politisch angemalte und geschickt aufgebaute Meuterei'', um "einen Ausbruch niedrigster Masseninstinkte"; es war insofern in seinem "ganzen Charakter, mit Deserteuren und sonstigem Gelichter im Vordergrund, nichts als eine Pöbelmeuterei" . Von "marxistischem Abschaum", von der "roten Flut", die während der Revolution "unge­hindert ihren Schlamm über ganz Deutschland hinwegwälzen konnte", ist in der "Deutschen Tageszeitung" die Rede 13, und in anderen Blät­tern der Rechten begegnen Formulierungen wie diese: "Nicht aus dem Volk kam diese Bewegung und keine gewaltige Idee hat sie getragen. Volksfremde Elemente waren es[ ... ]", "plötzlich auftauchende Horden halbasiatischer Färbung", "auffällig stark war der Anteil moralisch und geistig Minderwertiger an ihrer Zahl"14.

Die Nationalsozialisten brauchten für ihr Bild der Revolution nicht viel hinzuzufügen. Was sie hinzufügten, war - neben einem noch hem­mungsloseren Verbalradikalismus - vor allem eine extrem aggressive antisemitische Komponente. Der nationalsozialistische Chefideologe Alfred Rosenberg bezeichnete die Novemberrevolution als eine "mit antikapitalistischen, ausgeplünderten und verhetzten Arbeitern durch­geführte Börsenrevolution mit dem seit langem verfolgten Zweck, die noch nicht ganz von den Weltbanken in Besitz gebrachte nationale Industrie und Landwirtschaft Deutschlands in die Hände des über-

• staatlichen Leihkapitals zu spielen"15. Mit dieser absurden Ansicht befand sich Rosenberg in völligem Einklang mit Hitler. Für ihn war "der wirkliche Organisator der Revolution und ihr tatsächlicher Drahtzieher der internationale Jude". Dieser Satz steht im zweiten Band von Hitlers "Mein Kampf"16, der 1927 erschien; und ganz auf der Linie dieser Feindbildbeschwörung rief Hitler auf einer NSDAP-Versammlung im

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Die Zitate finden sich im Beitrag von Jürgen Bergmann, s. den in Anm. 9 angeführten Sammelband, hier S. 191f.

Die Zitate bei Megerle [wie Anm. 9), S. 225.

Zit. nach Hermann Balle, Die propagandistische Auseinandersetzung des Nationalsozialismus mit der Weimarer Republik und ihre Bedeutung für den Aufstieg des Nationalsozialismus, Diss. phil. Erlangen 1963, S. 41f.

Adolf.Hitler, Mein Kampf, München 1938, S. 585.

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Münchener Bürgerbräukeller am 9. November 1927 aus: "Auf vielerlei Art sind schon Staaten gegründet worden, aber noch selten wurde wohl ein Staat ins Leben gerufen von einer Koalition von Zuhältern, Dieben, Deserteuren, Einbrechern und Schiebern, und an der Spitze der Organisator dieser genialen Methode, der internationale Hebräer, der Jude" 17.

Die rüde Abqua lifizierung der Träger der Revolutionsbewegung als eine Bande von Kriminellen gehörte zu Hitlers Standardrepertoire in seinen Reden und Schriften. Unzählige Male wurden sie wiederholt, die von den Anhängern offensichtlich gern gehörten Ausfälle gegen die "Zuhälter und Deserteure". Um nur noch eine Formulierung zu bieten: Die "Stoßarmee der Revolution" war für Hitler "diese seltene Mischung von Salonliteraten, Salonmarxisten, Zuhältern, Dieben, Deserteuren", wie er im Januar 1928 in einer Rede im Münchener Hofbräuhaus verkündete 18. Schon in seiner Aussage vor dem Mün­chener Volksgericht nach dem gescheiterten Novemberputsch hatte er 1924 erklärt, die Revolution 1918 sei durchgeführt worden "von dem Auswurf der Nation, nicht von der Armee und auch nicht von der Hei­mat, sondern von dem elendesten Lumpengesindel, von Deserteuren und dem ganzen Mist, den Deutschland damals hatte"19_ Wieder und wieder tönte der "Völkische Beobachter" von der "Judenrevolte des 9. November 1918"20, vom "Tag des größten Verbrechens der deut­schen Geschichte", dem "Jahrestag der Lumpen- und Judenrevolte", dem Tag, "an dem dem gegen mächtige Gegner ringenden Volk" von

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Hitler. Reden, Schriften, Anordnungen. Februar 1925 bis Januar 1933, hrsg. vom Institut für Zeitgeschichte, Bd. 2/ 11 (bearb. von Bärbel Dusik), Mün­chen/London/New York/Paris 1992, S. 533.

Ebd. , S. 644.

Eberhard Jäckel (Hrsg.), Hitler. Sämtliche Aufzeichnungen 1905-1924, Stuttgart 1980, S. 1094. Auch in "Mein Kampf" [wie Anm. 16], S. 584 sprach Hitler von einer "Gesellschaft von Zuhältern, Dieben , Einbrechern, Deser­teuren, Drückebergern usw.". Weitere gleich- oder ähnlichlautende Zitate ließen sich beibringen.

Von Hitler gezeichneter Artikel im "Völkischen Beobachter" vom 7.3.1925, abgedruckt bei Hitler [wie Anm. 17), Bd. 1 (bearb. von Giemens Vollnhals), München/London/New York/Paris 1992, S. 34.

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"Deserteuren, Zuchthäuslern, Juden und Sittlichkeitsverbrechern" der Dolch in den Rücken gestoßen wurde"21.

Selbst vor dem höchsten deutschen Gericht, dem Reichsgericht in Leipzig, machte Hitler aus seinem Herzen keine Mördergrube: Im sog. "Reichswehrprozeß", der wenige Tage nach dem spektakulären Wahl­erfolg der NSDAP bei den Septemberwahlen 1930 stattfand, äußerte Hitler, als Zeuge vernommen, ganz unverblümt - und alle großen Ta­geszeitungen zitierten diese Formulierung in ihren Prozeßberichten -: "Wenn die nationalsozialistische Bewegung in ihrem Kampfe siegt, dann wird ein nationalsozialistischer Gerichtshof kommen, und der November 1918 wird seine Sühne finden, und es werden auch Köpfe rollen0022. Er wiederholte damit nur, was er zuvor schon häufig öffent­lich verkündet hatte, z. B. in seinem Aufruf an die Parteigenossen vom 21. Oktober 1925: "Denn wenn das deutsche Volk in seiner überwälti­genden Mehrheit eines Tages die wirklichen Urheber, die wahren Triebkräfte und echten Ziele der November-Revolution 1918 erkannt hat, wird ein anderer 'Staatsgerichtshof' kommen, um dem größten Gaunerstreich der Menschheit auch die gebührende Sühne gegen­überzusetzen0023.

Beinahe jede Hitler-Rede, auch noch nach der Machtergreifung, be­gann mit einer Anklage gegen das "Verbrechen vom 9. November"

• und brachte in irgendeiner Form eine "Abrechnung" mit den "Novemberverbrechern". Man kann durchaus sagen, daß die National­sozialisten die Errichtung des "Dritten Reiches" als "Antwort auf die Novemberrevolution" verstanden24.

21 Formulierungen in Artikeln des "Völkischen Beobachters", zit. im Beitrag von Gerhard Paul im Anm. 9 angeführten Sammelband, dort S. 271f.

22 "Frankfurter Zeitung" Nr. 717 vom 26.9.1930; vgl. auch Peter Sucher, Der Reichswehrprozeß. Der Hochverrat der Ulmer Reichswehroffiziere 1929/30, Boppard 1967, S. 260.

23 Hitler (wie Anm. 17], Bd. 1 (bearb. von Clemens Vollnhals), Mün­chen/London/New York/Paris 1992, S. 177.

24 Hans Mommsen, Die verspielte Freiheit. Frankfurt/Berlin 1989, S. 8. Vgl. auch Reinhard Rürup, Revolution und demokratische Neuordnung 1918/19, in: Z_eitschrift für Württembergische Landesgeschichte 37 (1978), S. 295.

19

Das Horrorgemälde der Revolution von 1918, das die National­sozialisten in ihrer Agitation während der sogenannten "Kampfzeit" entwarfen, wurde im "Dritten Reich" in den Rang eines regimeoffiziel­len Geschichtsbildes von dogmatischer Gültigkeit erhoben, das den Deutschen zwölf Jahre lang bei jeder Gelegenheit eingehämmert wurde. Es ist verständlich, daß in diesen Jahren kein in Deutschland wirkender seriöser Historiker besondere Neigung verspürte, sich mit der Novemberrevolution zu beschäftigen. Was die Akzeptanz des regimeoffiziellen Revolutionsbildes anbetrifft, darf allerdings nicht übersehen werden, daß dessen wesentliche Elemente schon vor 1933 viel weiter verbreitet waren als die im engeren Sinne nationalsozialisti­sche Ideologie. Weite Kreise des rechtsorientierten nationalistischen Bürgertums huldigten, wie angedeutet wurde, den Propagandamythen von Dolchstoß und Novemberverbrechen, sie mußten zu einer solchen Sicht der Revolution nicht erst "bekehrt" werden. Eben weil das so war, ist davon auszugehen, daß mit dem Ende des "Dritten Reiches" das auf Haßprojektionen beruhende Bild der Revolution von 1918 nicht schlagartig von einem Tag zum anderen aus der kollektiven Er­innerung verschwunden ist, sondern über das Jahr 1945 hinaus bei vielen Menschen zumindest residual fortlebte.

Es erscheint angebracht, sich diese Ausgangslage der nach 1945 all­mählich einsetzenden wissenschaftlichen Forschung über die Revolu­tion von 1918 sehr deutlich vor Augen zu halten. Die Formulierungen der NS-Propaganda und der nationalistischen rechtsbürgerlichen Pu­blizistik, die uns heute grotesk anmuten, die aber seit den zwanziger Jahren das Revolutionsbi ld vieler Deutscher, wenn nicht gar einer großen Mehrheit prägend bestimmten, wurden auch deshalb ausführ­lich zitiert, um ins Bewußtsein zu heben, welche Gebirge von Nega­tivbewertungen und hemmungslosen Verunglimpfungen der Revolu­tionsbewegung bei der wissenschaftlichen Beschäftigung mit der Re­volution von 1918/19 abzutragen waren. Die Forschung hatte gegen massive Vorurteile anzukämpfen, die über viele Jahre hin kultiviert worden waren, sie hatte verfestigte Klischees aufzubrechen und sich mit Deutungsstereotypen auseinanderzusetzen, die durch die lange Dauer ihrer Existenz weithin bereits als gesicherte Erkenntnis be­trachtet wurden.

20

Gegenstand eines intensiven Forschungsinteresses war die No­vemberrevolution in den ersten Jahren nach 1945 allerdings nicht. Bei der jetzt vielfach geforderten "Revision" des deutschen Geschichtsbil­des25 blieb sie zunächst ausgespart. In den späten 40er und in den 50er Jahren wurden die gängigen Klischees nach zwei Richtungen hin modifiziert, dies aber nicht so sehr in Verarbeitung neuer Forschungs­ergebnisse, sondern eher durch eine Veränderung der Optik und der Bewertungsmaßstäbe.

Erstens: Die Dolchstoß-Legende wurde nach 1945 nicht mehr explizit verfochten, insbesondere nicht im wissenschaftlichen Schrifttum. Sie war ja nie etwas anderes gewesen als eine Legende, und bereits in der Weimarer Zeit war diese durch die Arbeiten des Untersuchungs­ausschusses des Deutschen Reichstags völlig widerlegt worden26 -nur hatte damals ein Großteil der Deutschen die unbequeme Wahrheit nicht zur Kenntnis nehmen wollen. Indem die Dolchstoßlegende nun auch von der politischen Rechten preisgegeben wurde, stellte sich umso dringlicher die Frage, wie es denn möglich war, daß - um die Formulierung Theodor Wolffs aufzugreifen - die "so fest gebaute, mit so soliden Mauern umgebene Bastille so in einem Anlauf genommen" werden konnte - wenn diese Mauern eben nicht durch eine lange und systematisch betriebene Wühlarbeit unterminiert worden waren. Um Antworten auf diese Frage zu finden, hätte es einer genauen Untersu-

' chung des sich im Herbst 1918 vollziehenden Zusammenbruchs von staatlicher Autorität und organisiertem Machtapparat bedurft. Entspre­chende Forschungen über die politischen, wirtschaftlichen, sozialen und massenpsychologischen Entwicklungen während der Kriegsjahre, die eine absolut plausible Erklärung für die Entstehung der Revolution zu liefern vermögen, ließen aber vorläufig auf sich warten.

25

26

Siehe dazu: Winfried Schulz, Deutsche Geschichtswissenschaft nach 1945, München 1989, ferner die Beiträge bei Ernst Schulin (Hrsg.), Deutsche Ge­schichtswissenschaft nach dem Zweiten Weltkrieg, München 1989.

Das Werk des Untersuchungsausschusses, hrsg. im Auftrage des Deut­schen Reichstages, 4. Reihe: Die Ursachen des deutschen Zusammen­bruchs im Jahre 1918, 12 Bände, Berlin 1925ff.

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Demonstrierende Matrosen, Soldaten und Arbeiter in Wilhelmshaven am 6. November 1918

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Straßenszene in Berlin am 9. November 1918

Bewaffnete Arbeiter und Soldaten patrouillieren in Berlin am 10. November 1918

Der Rat der Volksbeauftragten (v. 1. n. r. :) Emil Barth, Otto Landsberg, Friedrich Ebert, Hugo Haase, Wilhelm Dittmann, Philipp Scheidemann

1 l

Beisetzung der Opfer der Revolution in Berlin am 20. November 1918

Eröffnung des Reichsrätekongresses in Berlin durch Richard Müller am 16. Dezember 1918

1

Karl Liebknecht spricht auf der Kundgebung gegen die Entlassung des Berliner Polizeipräsidenten Emil Eichhorn in der Siegesallee

am 5. Januar 1919

Reichspräsident Friedrich Ebert an seinem Schreibtisch im Weimarer Schloß

21

zweitens: Die Sozialdemokraten waren nicht länger "Novemberver­brecher". Gerade von konservativer und liberaler Seite wurde die Poli­tik der Mehrheitssozialdemokraten während der Revolutionsmonate nun positiv beurteilt; vor allem der von Ebert und seinen Mitstreitern verfolgte Kurs einer scharfen Abgrenzung nach links und einer engen Kooperation mit den alten Führungseliten fand jetzt bei den Konserva­tiven lebhafte Zustimmung, weil dadurch 1918/19 - so diese Deutung -die "Abwehr des Bolschewismus" gelang. Die "Abwehr des Bol­schewismus" stand aber im beginnenden "Kalten Krieg" erneut auf der politischen Tagesordnung, insofern muß die konservative Neubewer­tung der sozialdemokratischen Politik in den Revolutionsmonaten auch im Kontext aktueller politischer Anliegen begriffen werden. Die Absage der Konservativen an die von ihnen so lange Zeit betriebene Diffamie­rung der sozialdemokratischen Revolutionspolitik (die gelegentlich bis zu einer regelrechten "Vere innahmung" Eberts durch die Konservati­ven gedieh)27, ist gewiß als ein Positivum zu werten. Die konservative Neubewertung der sozialdemokratischen Revolutionspolitik führte aber auch zu einer deutlichen Verengung des Blickfeldes bei der Beurtei­lung von Revolutionsverlauf und Handlungsspielräumen der politi­schen Akteure 1918/19.

Der nach 1945 in der westlichen Forschung nahezu unangefochten dominierenden Revolutionsinterpretation lag eine Annahme zugrunde, die bis dahin zwar noch nie an den Quellen überprüft worden war, die gleichwohl aber im Gewand einer gesicherten wissenschaftl ichen Er­kenntnis auftrat: Die äußerste Linke der deutschen Arbeiterbewegung, so hieß es, habe in den Revolutionsmonaten aufgrund ihres Kräfte­potentials und der labilen Gesamtsituation eine ernsthafte Chance be­sessen, die auf die Errichtung einer parlamentarischen Republik zulau­fende Entwicklung aufzuhalten oder gar umzukehren, die Einberufung der Nationalversammlung zu verhindern und eine völlige soziale Um­wälzung nach bolschewistischem Vorbild durchzusetzen. Daher habe

27 So zutreffend Reinhard Rürup, Friedrich Ebert und das Problem der Hand­lungsspielräume in der deutschen Revolution 1918/19, in: Rudolf Kö­nig/Hartmut Soell/Hermann Weber (Hrsg.), Friedrich Ebert und seine Zeit. Bilanz und Perspektiven der Forschung, München 1990, S. 69-87; hier: S. 69.

22

sich die Freiheit der Handelnden damals beschränkt auf die "Wahl zwischen einem konkreten Entweder-Oder: die soziale Revolution im

Bund mit den auf eine proletarische Diktatur hindrängenden Kräften

oder die parlamentarische Republik im Bund mit konservativen Ele­menten wie dem alten Offizierskorps"28 - so stellte sich Karl Dietrich Erdmann die einzige Entscheidungsalternative von 1918/19 dar, und

seine Deutung darf als durchaus repräsentativ für die Beurteilung der

Revolution durch die westdeutsche Geschichtswissenschaft in den fünfziger Jahren gelten. Potential und Aktionsmöglichkeiten der äußer­sten Linken wurden in dieser Deutung außerordentlich hoch veran­

schlagt29.

Es war nur folgerichtig, wenn die in der Bundesrepublik um 1960 ein­setzende wissenschaftliche Forschung zur Geschichte der Revolution von 1918 gerade bei dieser zentralen Prämisse des damals gängigen

Revolutionsbildes ansetzte: Nur eine genaue, auf breiter Quellen­

grundlage durchgeführte Untersuchung der Kräfteverhältnisse und Zielsetzungen innerhalb der revolutionären Bewegung konnte Auf-

28 Karl Dietrich Erdmann, Die Geschichte der Weimarer Republik als Problem der Wissenschaft, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 3 (1955), S. 1-19; hier: S. 7.

29 Was die Einschätzung des Potentials der äußersten Linken anbetrifft, be­fand sich die "bürgerliche" Revoll.l!ionsdeutung der fünfziger Jahre parado­xerweise in einer weitgehenden Ubereinstimmung mit der in eben diesen Jahren dogmatisch fixierten marxistisch-leninistischen Interpretation der Novemberrevolution, denn in ih r figurierte der Spartakusbund ebenfalls als eine erstrangige Potenz. Auf die Revolutionsinterpretation der marxistisch­leninistischen Historiographie kann hier nicht näher eingegangen werden. Repräsentativ für diese Interpretation: Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED, Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, Bd. 3, Berlin (Ost) 1966; Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED (Hrsg.), Illustrierte Geschichte der deutschen Novemberrevolution 1918/19, Berlin (Ost) 1978. Kritisch analysiert wird die DDR-Geschichtsschreibung zur Revolution 1918/19 bei Alexander Decker, Die Novemberrevolution und die Geschichtswissenschaft der DDR, in: Internationale wissenschaftliche Korrespondenz zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung 10, Juni 1974, S. 269-299, sowie bei Andreas Dorpalen, German History in Marxist Perspective. The East German Approach, London 1985, S. 308ff. ; vgl. fer­ner Rüdiger Schütz, Proletarischer Klassenkampf und bürgerliche Revolu­tion. Zur Beurteilung der deutschen Novemberrevolution in der marxistisch­leninistischen Geschichtswissenschaft, in: Alexander Fischer/Gerd Heyde­mann (Hrsg.), Geschichtswissenschaft in der DDR, Bd. 2, Berlin 1990, S. 759-795.

23

schluß darüber geben, wie es um Potential und Aktionsradius der äu­

ßersten Linken stand, ob die Bolschewisierung Deutschlands in diesen Monaten tatsächlich, wie behauptet wurde, eine reale Möglichkeit und eine drohende Eventualität dargestellt hat. Damit rückten auch die Ar­

be iter- und Soldatenräte in den Brennpunkt des Interesses, denn sie

waren vom November 1918 bis ins Jahr 1919 hinein die eigentlichen Repräsentanten der revolutionären Massenbewegung. Durch zahlrei­che quellennahe Studien der 60er und 70er Jahre wurde die Revoluti­

onsbewegung erstmals klar konturiert und nicht nur das herkömmliche Bild der Rätebewegung entscheidend modifiziert, sondern auch die bis dahin dominierende Gesamtinterpretation der Revolution 1918/ 19 in

Frage gestellt30. Vor allem zwei Befunde der einschlägigen Studien sind in diesem Zusammenhang zu akzentuieren31.

Erstens: Durch Eruierung genauer Angaben über die Zusammen­setzung sowohl der Arbeiterräte wie der Soldatenräte konnte eindeutig nachgewiesen werden, daß weitaus die meisten Arbeiterräte von

Mehrheitssozialdemokraten und gemäßigten Unabhängigen be­

herrscht wurden und in den Soldatenräten neben Sozialdemokraten

auch bürgerliche Elemente einen nicht geringen Einfluß ausübten.

30

31

Zu nennen sind vor allem folgende Arbeiten: Eberhard Kalb, Die Arbeiter­räte in der deutschen Innenpolitik 1918 bis 1919, Düsseldorf 1962, Frank­furt/Berlin/Wien 21978; Peter v. Oertzen, Betriebsräte in der Novemberre­volution, Düsseldorf 1963, Bonn 21976; Wolfgang Eiben, Das Problem der Kontinuität in der deutschen Revolution. Die Politik der Staatssekretäre und der militärischen Führung vom November 1918 bis Februar 1919, Düssel­dorf 1965; Erich Matthias, Zwischen Räten und Geheimräten. Die deutsche Revolutionsregierung 1918-1919, Düsseldorf 1970; Eberhard Kalb (Hrsg.), Vom Kaiserreich zur Weimarer Republ ik, Köln 1972; Francis L. Garsten, Revolution in Mitteleuropa 1918-1919, Köln 1973; Reinhard Rürup (Hrsg.), Arbeiter- und Soldatenräte im rheinisch-westfälischen Industriegebiet, Wup­pertal 1975; Ulrich Kluge, Soldatenräte und Revolution. Studien zur Militär­politik in Deutschland 1918/19, Göttingen 1975; Susanne Miller, Die Bürde der Macht. Die deutsche Sozialdemokratie 1918-1920, Düsseldorf 1978; ferner die in Anm. 4 und 8 angeführten Studien sowie zahlreiche Lokal- und Regionalstudien. Wichtig auch die Anfang der 80er Jahre veröffentlichte Untersuchung von Detlef Lehnert, Sozialdemokratie und Novemberrevolu­tion. Die Neuordnungsdebatte 1918/19 in der politischen Publizistik von SPD und USPD, Frankfurt/New York 1983.

Ich resumiere im folgenden meinen an anderer Stelle gegebenen For­schungsbericht: Eberhard Kalb, Die Weimarer Republik [wie Anm. 2). S. 161ff.

24

Hingegen verfügte die äußerste Linke (Spartakusbund, Bremer Links­radikale) - entgegen weitverbreiteter Annahme - nur in wenigen Arbei­terräten über einige Vertreter, über größeren Einfluß lediglich in zwei, drei Großstädten. Insgesamt wurden in rund 3/4 aller deutschen Groß­städte die Räteorgane von Mehrheitssozialdemokraten allein oder ge­meinsam mit den kooperationsbereiten Kräften der gemäßigten USPD geleitet. Diese Dominanz von SPD und gemäßigter USPD in den Rä­tegremien kam dadurch zustande, daß bei der Improvisierung der Ar­beiterräte in den Novembertagen die örtlichen Räte im allgemeinen entsprechend der politischen Orientierung der Arbeiterschaft in der je­weiligen Stadt bzw. Gegend durch Wahl oder Delegierung konstituiert wurden.

Ein erdrückendes Übergewicht von SPD und USPD in den Arbei­terräten (und Soldatenräten), die äußerste Linke innerhalb der revolu­tionären Massenbewegung der November- und Dezemberwochen weitgehend isoliert und nach Zahl der Anhänger und Grad der Organi­sierung relativ schwach - diese "Entdeckung" bedeutete den eigentli­chen Wendepunkt in der Beschäftigung mit der Räte- und Revoluti­onsbewegung von 1918/19. Denn zum einen war damit die bis in die fünfziger Jahre hinein immer wieder offen geäußerte oder unter­schwellig suggerierte Auffassung, die Arbeiter- und Soldatenräte seien im November und Dezember 1918 Instrumente in der Hand linksradi-

• kaler Minderheiten oder Vorreiter einer bolschewistischen Revolution gewesen, klar widerlegt. Zum anderen bot der Befund über die Mehr­heitsverhältnisse in den Rätegremien den Schlüssel zu einem ad­äquaten Verständnis der "Rätewirklichkeit", der praktischen Tätigkeit der Räte im lokalen Bereich sowie der programmatischen Zielsetzung für die gesamtstaatliche und gesellschaftliche Neuordnung nach dem Zusammenbruch des Kaiserreichs.

In ihrer überwältigenden Mehrheit verstanden sich die Mitglieder der Räte nicht als Kontrahenten der sozialdemokratischen Koalitionsregie­rungen aus SPD und USPD im Reich und in den Ländern, sondern als die lokalen und regionalen Sachwalter dieser Regierungskoalition. In der zentralen Streitfrage der ersten Revolutionswochen "Nationalver­sammlung oder Rätesystem" bezogen sie eine eindeutige Position:

25

Sie traten für die Wahl der Nationalversammlung zum frühestmögli­chen Termin und damit für die parlamentarische Demokratie ein; in diesem Sinne entschied mit überwältigender Mehrheit der von allen deutschen Arbeiter- und Soldatenräten beschickte Rätekongreß, der vom 16. bis 20. Dezember in Berl in tagte. Zugleich aber erhoben die Rätedelegierten eine ganze Reihe von Forderungen, die eine durch­greifende Reform der bestehenden staatlichen und gesellschaftlichen Ordnung zum Ziele hatten ("Demokratisierung" der Verwaltung, sub­stantielle Umgestaltung der Heeresverfassung, Sozialisierung der "hierzu reifen Industrien"). Das waren deutl iche Signale, die anzeigten, welcher Erwartungsstau hinsichtlich konkreter politischer und gesell­schaftlicher Reformmaßnahmen sich auch in den Reihen der Mehr­heitssozialdemokraten aufgebaut hatte, bei Mitgliedern und Anhän­gern, die prinzipiell für die parlamentarische Demokratie eintraten.

zweitens: Die genauere Ana lyse des Revolutionsverlaufs ergab, daß die Räte- und Revolutionsbewegung der Jahre 1918/19 mehrere Pha­sen durchlaufen hat, die klar voneinander unterschieden werden müs­sen. Die erste Phase reichte von den Tagen des Staatsumsturzes bis zum Bruch der Regierungskoalition aus SPD und USPD Ende De­zember oder längstens bis zu den Januarunruhen und der Wahl zur Nationalversammlung am 19.1. 1919. In dieser Phase waren die Ar­beiter- und Soldatenräte Repräsentanten einer breiten, vorwiegend von Arbeitern und Soldaten getragenen Volksbewegung. Die in den Räten tätigen Politiker erstrebten in ihrer überwiegenden Mehrheit kein "Rätesystem", sondern betrachteten die Räte als zeitlich befristete Institutionen und setzten sich mit Nachdruck für die baldige Wahl der Nationalversammlung ein. In diesen Wochen arbeiteten weitaus die meisten Räte mit den Revolutionsregierungen im Reich und in den Ländern loyal zusammen.

Die im Januar 1919 einsetzende und im Frühjahr kulminierende zweite Phase der Revolution war gekennzeichnet durch eine rasch voran­schreitende Radikalisierung großer Tei le der Arbeiterschaft, die - ent­täuscht über das Ausbleiben der geforderten und erwarteten Verände­rungen im Militärwesen, in Bürokratie und Großindustrie - jetzt ent­schieden gegen den Regierungskurs Front machten. Diese Phase

26

stand zunehmend im Zeichen einer scharfen Konfrontation zwischen der radikalen Massenbewegung und der Reichsregierung, die durch Einsatz militärischer Machtmittel ihre Autorität durchzusetzen ver­mochte. Die Massenbewegung dieser Monate, die eine radikale Umgestaltung des politischen und wirtschaftlichen Systems forderte, entwickelte sich weitgehend außerhalb der Räteorganisationen, die nun rasch an politischem Einfluß verloren. Nach überwiegender Auf­fassung der neueren Forschung ist das Potential für die - im Vergleich mit der Novemberbewegung - entschieden radikalere Massenbewe­gung der Frühjahrsmonate erst im Verlauf der Revolution und auf­grund der Ereignisse und Entscheidungen in den ersten Wochen nach dem Staatsumsturz entstanden.

Akzeptiert man diese Befunde, dann sind konsequenterweise auch die Entscheidungsalternativen von 1918/19 und der Handlungsspielraum der Revolutionsregierung neu zu bestimmen. Wenn einerseits die so­ziale Basis für eine politische und gesellschaftliche Neuordnung in den ersten Wochen nach dem 9. November relativ breit war und dieses Faktum nur durch die dramatisch zunehmende Polarisierung innerhalb der Arbeiterschaft seit Januar 1919 verdeckt wird; wenn andererseits das Kräftepotential der äußersten Linken in den entscheidenden er­sten· Revolutionswochen objektiv wesentlich geringer gewesen ist, als es subjektiv vielen Zeitgenossen, einer aufgeregten Publizistik und ei-

• nem erheblichen Teil der handelnden Politiker erschien oder von inter­essierter Seite suggeriert wurde - dann kann die ältere Auffassung nicht aufrechterhalten werden, die Machtergreifung des Bolschewis­mus oder eine "proletarische Diktatur" habe im Deutschland der Win­termonate 1918/19 eine unmittelbar drohende Eventualität dargestellt. Diese Feststellung hat aber Konsequenzen für die Einschätzung des Handlungsspielraums der politischen Entscheidungsträger: Sie besa­ßen bei der inneren Neuordnung nach dem Zusammenbruch des Kai­serreichs einen zwar näher zu bestimmenden, aber insgesamt doch zweifellos größeren Handlungsspielraum, als jene Deutung unterstellt, welche nur eine Entscheidungsalternative der Wintermonate 1918/19 anerkennen will : Bolschewisierung Deutschlands oder intensives Zu­sammenwirken der Mehrheitssozialdemokratie mit den traditionellen Machteliten zur Sicherung der inneren Ordnung und zur Errichtung der

27

parlamentarischen Republik. Dieser Handlungsspielraum hätte es der Revolutionsregierung u. a. erlaubt, gegenüber der Führung der alten kaiserl ichen Armee mit mehr Selbstbewußtsein und Entschiedenheit aufzutreten, vorbereitende Schritte zu einer Sozialisierung wenigstens des Bergbaus zu unternehmen, das Potential der Arbeiter- und Sol­datenräte zugunsten einer sozialdemokratischen Reformpolitik einzu­setzen. Aber insbesondere die SPD-Führung versagte sich strikt ei­nem solchen politischen Kurs, nicht primär unter dem Diktat über­mächtiger Sachzwänge, wie inzwischen konstatiert werden kann, son­dern einerseits im Vertrauen auf die dauerhafte Loyalität der alten Machteliten gegenüber den neuen Machthabern, andererseits aus grundsätzlichem Mißtrauen gegenüber einer spontanen Massenbe­wegung, die zwar teilweise gewiß ein amorphes Gepräge aufwies, die aber im November und Dezember weitestgehend von den Mitgliedern und Anhängern der Sozialdemokratie getragen wurde und sich in ihren politischen Forderungen innerhalb des Spektrums sozialdemokrati­scher Programmatik bewegte. Nicht zuletzt aufgrund der von der SPD­Führung verfolgten politischen Linie endete so, was im November 1918 als demokratische Volksbewegung begonnen hatte, im Frühjahr 1919 in Radikalisierung bei den einen und Resignation bei den ande­ren.

Damit geraten die Führer der Mehrheitssozialdemokratie und an ihrer Spitze Friedrich Ebert ins Schußfeld der Kritik. Diese Kritik - das ist zu betonen - unterscheidet sich jedoch grundsätzlich von der kommuni­stischen Polemik gegen den "Arbeiterverräter" Ebert und von den her­absetzenden Urteilen über die deutsche Sozialdemokratie, die in der DDR-Historiographie zur Revolution gang und gäbe waren32. Ebert und seinen Mitstreitern wird in der neueren Revolutionsforschung kei­neswegs vorgeworfen, daß sie nicht auf die Etablierung einer proleta­rischen Diktatur hinarbeiteten, die sie ja entschieden ablehnten, oder daß sie der revolutionären Perspektive eines Lenin ermangelten. Die kritischen Vorbehalte gegenüber der von der mehrheitssozialdemokra­tischen Führung in den Wochen nach dem Staatsumsturz betriebenen Politik orientieren sich an nichts anderem als dem Maßstab einer op-

32 VgJ. Anm. 29.

28

timalen Durchsetzung sozialdemokratischer Positionen in einer einma­ligen historischen Konstellation. Dieser Kritik liegt die methodisch an­gemessene Frage zugrunde, "warum es dieser Partei nicht gelang, mit den ihr zur Verfügung stehenden Mitteln die von ihr erstrebten Resul­tate zu erreichen"33.

Wie wurden die Forschungsergebnisse aufgenommen, die das bis da­hin dominierende Bild der Revolution von 1918/19 einer umfassenden Revision unterzogen? Bedenkt man, daß das Negativ-Image der Re­volutionsbewegung über Jahrzehnte hinweg kaum angefochten war, wird man es als bemerkenswert bezeichnen dürfen, daß das "neue Bild" der Revolution innerhalb der Forschung und darüber hinaus er­staunlich rasch rezipiert und zumindest in wesentlichen Teilen auch akzeptiert wurde. Dazu haben sicherlich zwei Umstände beigetragen. Zum einen bestand in den 60er und 70er Jahren sowohl in der Fach­wissenschaft als auch in breiteren Kreisen eine Bereitschaft, das tra­dierte Bild der deutschen Geschichte im allgemeinen zu überprüfen und damit im besonderen auch die revisionistische Revolutionsinter­pretation ernst zu nehmen. Zum anderen war kaum zu bestreiten, daß sich diese Interpretation aus den neuen, wissenschaftlich gesicherten Befunden über Charakter, Ziele und Phasen der Re­voluti~nsbewegung mit einem hohen Maß an Stringenz ableiten ließ. Bis gegen Ende der 70er Jahre wurde die neue Deutung des Revolu-

1tionsgeschehens von deren Kritikern nur selten frontal attackiert, son­dern ohne eigentliche Sachargumentation eher beiläufig mit einem Fragezeichen versehen. Erst seit Ende der 70er Jahre wird die Kritik grundsätzlicher und entschiedener vorgebracht, allerdings vorwiegend von Autoren, die sich mit dem Zeitraum 1918/19 nicht intensiver und auf der Grundlage der Quellen beschäftigt haben (was den argumen­tativen Diskurs nicht eben erleichtert) .

Trotz eines bemerkenswert hohen Maßes an Übereinstimmung unter den Spezialforschern wäre es jedoch verfehlt zu behaupten, es exi­stiere heute ein Bild der Revolution von 1918/19, über das in einem breiteren Publikum weitgehender Konsens bestehe. Verfestigte Kli-

33 Miller [wie Anm. 30], S. 101.

29

scheevorstellungen leben vielfach fort, in manchen Handbüchern und Schulbüchern behauptet sich die ältere Auffassung, teils unverändert, teils in leicht modifizierter Form. Kontroverse Antworten gibt es weiter­hin auf die zentrale Streitfrage, ob in den November-, Dezember- und Januarwochen die Einleitung einschneidender Strukturreformen zur stärkeren politischen und sozialen Fundierung der neuen Staatsord­nung {bei grundsätzlicher Bejahung der parlamentarischen Demokra­tie) wünschbar, ob sie unter den gegebenen Umständen überhaupt möglich gewesen wäre, ohne daß die innenpolitische Situation außer Kontrolle geriet34_

Daß dies ein Feld der Kontroversen ist und aller Voraussicht nach auch bleiben wird, ungeachtet möglicher weiterer Fortschritte der For­schung, hat einen le icht einsehbaren Grund: Bei der Erörterung so dif­fizi ler Probleme wie derjenigen von Handlungsspielräumen und Ent­scheidungsalternativen muß immer in Grenzen auch hypothetisch ar­gumentiert werden. Der Disput ist hier - anders als etwa bei der Frage, wie die Arbeiter- und Soldatenräte gebildet wurden und wie sie zu­sammengesetzt waren - nicht allein durch Rückgriff auf die quellen­mäßige Evidenz zu entscheiden. Der Historiker ist nicht in der Lage, eine durch unwiderlegliche "Beweise" abgesicherte Aussage darüber zu machen, wie die weitere geschichtliche Entwicklung verlaufen wäre, wenn in einer bestimmten historischen Situation die verantwortl ich Handelnden einen anderen Weg als den tatsächlich beschrittenen eingeschlagen hätten. Der Historiker ist aber sehr wohl in der Lage, eine Entscheidungssituation als solche nach allen Seiten hin auf der Grundlage der Quellen präzise zu analysieren. Dazu gehört z. B. eine möglichst genaue Erfassung der im Entscheidungszeitraum verfochte­nen Konzeptionen und der zu ihrer Realisierung verfügbaren Kräfte-

34 Zur Diskussion um die Handlungsspielräume sozialdemokratischer Politik 1918/19 vgl. die kontroversen Beiträge von Reinhard Rürup und Eckhard ~.esse in dem in Anm. 27 angeführten Sammelband. Rürup vertritt - jede Uberspitzung vermeidend und um gerechtes Urteil bemüht - die ebertkriti­sche Position und akzentuiert eindringlich die Möglichkeit einer alternativen politischen Strategie der MSPD. Jesse hebt auf die innere und äußere Zwangslage ab und bewertet es positiv, daß die Revolutionsregierung ihren schmalen Handlungsspielraum nicht zur Einleitung einschneidender Struk­turreformen ausgeschöpft hat.

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potentiale; eine sorgfältige Prüfung der divergenten Lagebeurteilungen sowie der aus diesen abgeleiteten Prognosen über die voraussichtli­che weitere Entwicklung - unter dem Gesichtspunkt, ob sich diese Prognosen später als richtig oder falsch erwiesen haben; Feststellun­gen über die Zweck-Mittel-Relation bei den verschiedenen, am politi­schen Ringen beteiligten Gruppierungen, d. h. die Frage, inwieweit sie die ihnen jeweils zu Gebote stehenden Ressourcen effektiv eingesetzt haben, um das erstrebte Ziel zu erreichen.

Bei umfassender Quellenauswertung unter Einsatz derartiger Analy­seinstrumente kann die neuere Revolutionsforschung für ihre Ein­schätzung von Handlungsspielräumen und Entscheidungsalternativen nach meiner Auffassung die stichhaltigeren Argumente ins Feld füh­ren. Es läßt sich m. E. überzeugend dartun, daß die SPD-Führung in den November-, Dezember- und Januarwochen den ihr zur Verfügung stehenden Handlungsspielraum nicht ausreichend genutzt hat, um den Abbau obrigkeitsstaatlicher Strukturen voranzutreiben und unüberseh­bare Zeichen zu setzen, die nicht zuletzt der eigenen Anhängerschaft deutlich signalisiert hätten, daß in der neuen staatlichen Ordnung eine merkliche Verschiebung der politischen und gesellschaftlichen Macht­verhältnisse zugunsten der Arbeiterschaft erfolgte. Um es mit einer Formulierung Heinrich August Winklers zu sagen: "Die Sozialdemo­kraten hätten bei stärkerem politischen Gestaltungswillen mehr verän-

' dern können und weniger bewahren müssen"35_ Am Schluß seines monumentalen dreibändigen Werkes "Arbeiter und Arbeiterbewegung in der Weimarer Republik" zieht Heinrich August Winkler folgendes Fazit: "Die Sozialdemokraten erstrebten 1918 die parlamentarische Demokratie und damit eine Staatsform, die der deutschen Gesellschaft ein ihrem kulturellen und materiellen Entwicklungsstand entsprechen­des Maß an politischer Freiheit zu geben verhieß. Sie verkannten, daß Parlamentarismus nirgendwo nur mit parlamentarischen Mitteln durch­gesetzt worden ist. Die Chance, durch Reformen Strukturen zu verän­dern, die einer Demokratie entgegenstanden, war unmittelbar nach dem 9. November 1918 am größten. Sie wurde nicht genutzt. Die

35 Heinrich August Winkler, Vorbemerkung, in: Geschichte und Gesellschaft 8 (1 982), s. 5.

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Folge, ein Übermaß an gesellschaftl icher Kontinuität zwischen kaiser­lichem Obrigkeitsstaat und demokratischer Republik, hinderte viele Sozialdemokraten daran, sich mit dem neuen Staat zu identifizieren. Die sozialdemokratische Machtscheu schwächte die parlamentarische Demokratie und gab so den ohnehin starken antiparlamentarischen Kräften im Bürgertum zusätzlichen Auftrieb"36.

In der Tat: Wenn auch einzu räumen ist, daß jede Aussage über Mög­lichkeiten und Erfolgsaussichten einer alternativen Politik ein hypothe­tisches Element enthält, so ist doch ein eindeutiges Urteil möglich über die eingetretenen Folgen derjenigen Politik, die tatsächlich betrieben wurde. Seit Januar 1919 stand die politische Entwicklung im Zeichen einer zunehmenden Abwendung weiter Tei le der Industriearbeiter­schaft von der Mehrheitssozialdemokratie und einer starken Radikali­sierung. Bei den Wahlen zur Nationalversammlung am 19. Januar 1919 konnte die MSPD noch einen beachtlichen Wahlsieg davon tra­gen; aber bereits die Ergebnisse einiger Landtags- und Kommunal­wahlen im Frühjahr 1919 sprechen eine beredte Sprache: Die SPD er­litt erhebliche, teilweise dramatisch zu nennende Stimmenverluste; die linke Konkurrenzpartei USPD erzielte große Gewinne und konnte in vielen Orten, zumal in den eigentlichen Arbeiterbezirken, die Mehr­heitssozialdemokraten überflügeln37. Diese sahen sich nun, neben der vehementen Gegnerschaft der politischen Rechtskräfte - die den So-

36

37

Heinrich August Winkler, Der Weg in die Katastrophe. Arbeiter und Arbei­terbewegung in der Weimarer Republ ik 1930 bis 1933, Berlin/Bonn 1987, S. 952. Diese Interpretation - so Klaus Megerle mit Recht - "ist heute in der Geschichtsforschung nahezu unumstritten" (Zum Handlungsspielraum der Sozialde!')"lokratie in der Frühphase der Weimarer Republik, in: Werner Süß (Hrsg.), Ubergänge. Zeitgeschichte zwischen Utopie und Machbarkeit, Ber­lin 1989, S. 177-193, hier: S. 177).

Auf Reichsebene wurde die massive Kräfteverschiebung innerhalb des lin­ken Spektrums erst bei der Reichstagswahl im Juni 1920 manifest: Die SPD erzielte nur noch 6, 104 Millionen Stimmen gegenüber 11,509 Millionen bei der Nationalversammlungswahl 1919, die USPD 5,046 Millionen gegenüber 2,317 Millionen 1919; in Prozentanteilen: einem Verlust der SPD von 16,2 % stand ein Gewinn der USPD von 10,3 % gegenüber. Selbst wenn man die 2, 1 % der KPD mitberücksichtigt, büßte die Linke insgesamt Stim­men und Prozentanteile ein. Eine präzise wahlhistorische Untersuchung zu den Landtags- und Gemeindewahlen 1919 ist ein dringendes Forschungs­desiderat.

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zialdemokraten ihre moderate Politik während der Revolutionsmonate nicht dankten -, mit einer nicht minder vehementen, prinzipiell sy­stemfeindlichen Opposition der äußersten Linken konfrontiert. Schon in den ersten Monaten der jungen Republik entwickelte sich so die fa­tale Grundkonstellation einer doppelten Bedrohung der Weimarer De­mokratie, einer Bedrohung von links und von rechts.

Die Deutschen tun sich schwer mit ihren Revolutionen, wurde ein­gangs gesagt. Weshalb sie sich mit der Revolution von 1918 in be­sonderem Maße und in besonderer Weise schwer taten und schwer tun, sollte aus dem Dargelegten deutlich geworden sein. Revolutions­geschichte - diese generelle Behauptung dürfte zulässig sein - ist kein Feld, auf dem die einfachen Wahrheiten und die konsensträchtigen Urteile zu Hause sind, denn die historische Bewertung einer Revolu­tion bewegt sich immer in einem delikaten Spannungsverhältnis zwi­schen gegenwartsbezogener politisch-gesellschaftlicher Einstellung und dem Bemühen um sachgerecht-emotionsfreie Vergangenheits­deutung. Die "Nachgeschichte" der Novemberrevolution wurde dar­über hinaus aber durch spezifische Momente bestimmt, die es bisher nicht dazu kommen ließen, daß diese Revolution einen festen Platz in einem auf die freiheitlich-demokratischen Traditionen orientierten Ge­schichtsbild erhalten hat. Die Novemberrevolution blieb behaftet mit dem Makel des Scheiterns - im Verständnis all derjenigen, die in den

• Revolutionsmonaten politisch aktiv waren, um einen wesentlich stärke­ren politischen und gesellschaftlichen Machtwechsel zugunsten der Arbeiterschaft zu bewirken als jene Machtverteilung, die in der Weima­rer Republik schließlich realisiert wurde. Gescheitert waren eben nicht nur die Bestrebungen der äußersten Linken; auch von dem, was viele, vielleicht die meisten Sozialdemokraten gewünscht und in der "sozialdemokratischen Phase" der Revolutionsbewegung während der November- und Dezemberwochen artikuliert hatten, wurde nur sehr wenig verwirklicht. Noch wirkungsmächtiger war indessen der Um­stand, daß die Kräfte der politischen Rechten nicht erfolglos waren bei ihrem Bemühen, die Revolution - und den aus ihr hervorgegangenen Staat von Weimar - zum Symbol der deutschen Niederlage im Ersten Weltkrieg zu stempeln, und daß sie es vermochten, dieses Bild der Revolution tief der kollektiven Erinnerung einzuprägen.

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Gerade vor dem Hintergrund einer jahre- und jahrzehntelangen Diffa­mierung der Revolutionsbewegung und der in den Revolutions­monaten maßgebenden politischen Akteure ist die Rekonstrukti­onsleistung der neueren Revolutionsforschung nicht gering zu veran­schlagen. Sie beweist, daß auch für die deutsche Revolution von 1918/1 9 gilt, was hinsichtlich der Erforschung der französischen Re­volution von 1789 konstatiert wurde, "daß wissenschaftliche Erkennt­nisfortschritte gemacht worden sind und gemacht werden können un­abhängig von der politisch-gesellschaftlichen Einstellung, d. h. eine Demonstration, daß und wie Objektivierbarkeit möglich ist"38. Und wenn die Forschung zur Geschichte der Revolution von 1918 sehr klar auch die Defizite in Verlauf und Ergebnis dieser Revolution herausge­arbeitet hat, so bietet das von ihr bereitgestellte Material doch vielfäl­tige Ansatzpunkte, um die Revolutionsbewegung von 1918, die größte Massenbewegung der deutschen Geschichte, als eine Erscheinung zu würdigen, die gerade unter Gesichtspunkten einer freiheitlich-demo­kratischen Traditionsstiftung des Erinnerns wert ist.

38 Ernst Schulin, Die Französische Revolution, München 1988, S. 51.

Kleine Schriften Stiftung Reichspräsident-Friedrich-Ebert-Gedenkstätte

~ Johannes Rau Friedrich Ebert. Sein Platz in der deutschen Demokratie­geschichte 2. unveränd. Aufl„ Heidelberg 1990 ISBN 3-928880-00-4

~ Dieter Grimm Die Bedeutung der Weimarer Verfassung in der deutschen Verfassungsgeschichte 2. unveränd. Aufl„ Heidelberg 1992 ISBN 3-928880-01-2

~ C. Wolfgang Müller Wohlfahrtsstaat und Sozialdemokratie. Zur Geschichte der Arbeiterwohlfahrt in der ersten deutschen Republik 2. unveränd. Aufl., Heidelberg 1992 ISBN 3-928880-02-0

~ Jochen Goetze Heidelberg zur Zeit Friedrich Eberts (1871 - 1888) Heidelberg 1990 ISBN 3-928880-03-9

~. Willy Albrecht Ende der Illegalität. Das Auslauten des Sozialistengesetzes und die deutsche Sozialdemokratie im Jahre 1890 Heidelberg 1990 ISBN 3-928880-04-7

Hoch das Maienf est der Arbeit! Die Anfänge der Maifeiern in Heidelberg und Bremen (1890 - 1914) Mit Beiträgen von Udo Achten, Walter Mühlhausen und Klaus Schönhoven Heidelberg 1990 ISBN 3-928880-05-5

August Bebel. Repräsentant der deutschen Arbeiter­bewegung Mit Beiträgen von Dieter Langewiesche, Klaus Schönhoven, Peter-Christian Witt und einem Vorwort von Johannes Rau Heidelberg 1991 ISBN 3-928880-06-3

Horst Möller Folgen und Lasten des verlorenen Krieges. Ebert, die Sozial­demokratie und der nationale Konsens Heidelberg 1991 ISBN 3-928880-07-1

~ Heinrich August Winkler Klassenkampf oder Koalitionspolitik? Grundentscheidungen sozialdemokratischer Politik 1919 - 1925 Heidelberg 1992 ISBN 3-928880-08-X

Walter Mühlhausen Friedrich Ebert und seine Partei 1919 - 1925 Heidelberg 1992 ISBN 3-928880-09-8

(§ Peter-Christian Witt Das Zerbrechen des Weimarer Gründungskompromisses (1919- 1923 / 24) Heidelberg 1992 ISBN 3-928880-10-1

Dieter K. Buse Friedrich Ebert - Sein Weg zum Politiker von nationaler Bedeutung (1915 - 1918) Heidelberg 1992 ISBN 3-928880-11-X

Klaus Tenfelde Arbeitersekretäre Karrieren in der deutschen Arbeiterbewegung vor 1914 Heidelberg 1993 ISBN 3-928880-12-8

Ernst Schulin I Wolfgang Michalka Walther Rathenau im Spiegel seines Moskauer Nachlasses Heidelberg 1993 ISBN 3-928880-13-6

Schriftenreihe der Stiftung --~ Reichspräsident-Friedrich-Ebert­

Gedenkstätte Band 1 Band 2 Band 3

Friedrich Ebert Ronald A. Münch Friedrich Ebert und seine Zeit Von Heidelberg und

nach Berlin: seine Familie Bilanz und Perspektiven Friedrich Ebert der Forschung 1871-1905 Private Briefe 1909-1924

Herausgegeben von Herausgegeben und Rudolf König, Hartmut Mit einem Vorwort von

Soell und Hermann Peter-Christian Witt eingeleitet von Walter

Weber Mühlhausen unter Mit-

Mit Beiträgen von 1991 . 144 Seiten und arbeit von Bernd Braun

D. K. Buse, G. Jasper, 8 Seiten Abbildungen. 1992. 179 Seiten mit 66

E. Jesse, K. Megerle, S. DM 48,-

Miller, H. Potthoff, D. Re- ISBN 3-486-55889-7 Abbildungen. DM 28,-

bentisch, R. Rürup, P.-C. ISBN 3-486-55946-X

Witt und mit einem Vor- Über Friedrich Eberts

wort von Johannes Rau Familie, seine Kindheit Die Edition von zum

und Jugend und über größten Teil erstmals

2. Aufl. 1991 . seine politischen Antän- veröffentlichten Briefen

182 Seiten, DM 48,- ge gab es bisher nur Friedrich Eberts an

ISBN 3-486-55812-9 wenige gesicherte lnfor- seine Familie, an Ver-

mationen. Dies hat zu wandte und Bekannte

Die Autoren legen eine zählebiger Legendenbil- erlaubt einen Einblick in

umfassende Bestands- dung über den späteren sein Privatleben, seine

aufnahme der Forschun- Reichspräsidenten der Lebensweise und Wert-

gen zur Biographie Weimarer Republik ge- vorstellu ngen.

Friedrich Eberts vor. Sie führt. Der Privatmann abseits

vermitteln neue Einblicke Ronald Münch gibt hier vom politischen Tages-

in die Persönlichkeit und auf der Basis neuer geschäft steht dabei im

in die Politik Eberts und Quellen einen anschauli- Vordergrund. Zahlreiche

beschreiben seinen Weg chen Überblick über Fotos veranschaulichen

zum Vorsitzenden der Friedrich Eberts Werde- diese bisher unbekannte

Sozialdemokratie im Kai- gang bis zur Wahl in den private Seite des Politi-

serreich und zum ersten SPD-Parteivorstand. kers, dessen Herkunft,

Präsidenten der Weima-Persönlichkeit und Fami-

rer Republik vor dem lie in einer umfassenden

Hintergrund der politi-Einleitung dargestellt

sehen und gesellschaftli-werden.

chen Strukturen der Zeit.

R. Oldenbourg Verlag • München ____ _J

Die Stiftung Reichspräsident-Friedrich-Ebert-Gedenkstätte

Wegen der Bedeutung Friedrich Eberts für die deutsche Geschichte hat der Deutsche Bundestag am 19. Dezember 1986 ein Gesetz zur Errichtung der Stiftung Reichspräsident-Friedrich-Ebert-Gedenkstätte mit Sitz in Heidelberg beschlossen. Zweck der Stiftung ist es, das Andenken an das Wirken des ersten deutschen Reichspräsidenten Friedrich Ebert zu wahren, und einen Beitrag zum Verständnis der deutschen Geschichte seiner Zeit zu leisten.

Die ehrenamtlichen Gremien dieser bundesunmittelbaren Stiftung öffentlichen Rechts sind: das vom Bundespräsidenten berufene Kura­torium, der Vorstand und der Beirat, beide vom Kuratorium bestellt. Die Bundesrepublik Deutschland hat sich zur Finanzierung der Stiftung verpflichtet. Die Stiftung untersteht der Aufsicht des Bundesministers des Innern.

Friedrich Ebert wurde am 4. Februar 1871 in Heidelberg geboren, und zwar in einer kleinen Wohnung im Hause Pfaffengasse 18. Die dort seit vielen Jahren von der Stadt Heidelberg unterhaltene kleine Erinne­rungsstätte ist in den letzten Jahren durch Einbeziehung der benach­barten Wohnungen zu einer Gedenkstätte ausgestaltet worden. In Anwesenheit des Bundespräsidenten Dr. Richard von Weizsäcker wurde die Gedenkstätte am 11. Februar 1989, dem 70. Jahrestag der Wahl Eberts zum Reichspräsidenten, der Öffentlichkeit übergeben.

Eine ständige Ausstellung "Friedrich Ebert - sein Leben, sein Werk, seine Zeit" dokumentiert das Leben und Werk Friedrich Eberts. Dabei wird der jeweilige zeitgeschichtliche Hintergrund deutlich gemacht. Zu den Aufgaben der Stiftung gehört auch die Fortführung der Forschung zu Friedrich Ebert und seiner Zeit. Eine Präsenzbibliothek, deren

Schwerpunkt auf der Zeit von 1871 bis 1933 liegt, und eine Sammlung zeitgenössischer Broschüren bieten dem interessierten Fachwissen­schaftler Möglichkeit zu eigenen Forschungen. Im Rahmen ihrer wissenschaftlichen Tätigkeit führt die Stiftung Tagungen und Vortrags­veranstaltungen durch, deren Ergebnisse veröffentlicht werden. Ein weiterer Aufgabenschwerpunkt liegt in der politischen Bildungsarbeit. Damit sollen auch einer breiteren Öffentlichkeit Kenntnisse über eine wichtige Phase der deutschen Geschichte vermittelt und Friedrich Ebert wieder stärker in das Bewußtsein der Öffentlichkeit gehoben werden.